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Als Yara an ihrem 14. Geburtstag erfährt, dass sie ein Nordlicht in menschlicher Gestalt ist, fällt sie aus allen Wolken. Die Magie der Nordlichter wird durch starke Emotionen gelenkt! Um ihre Kräfte kontrollieren zu können, soll Yara fortan ein Internat für Nordlichter aus aller Welt besuchen, die Aurora Academy. Dort trifft sie auf den Sohn der Direktorin, Davin, welcher ganz anders ist als der actionreiche Finn, der mit seinem Vater den Polarkreis erforscht. Doch an der Akademie gibt es eine unumstößliche Regel: Verliebe dich nie, denn deine Gefühle machen deine Kräfte unberechenbar! Und Yara muss sich entscheiden: Soll sie ihrem Herzen folgen oder gefährdet sie dadurch womöglich die streng geheime Existenz der Nordlichter?
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Seitenzahl: 406
Veröffentlichungsjahr: 2024
Für alle, die sich manchmal nach ein bisschen Magie sehnen. Vielleicht sollten wir uns viel öfter daran erinnern, dass die Welt schon voller Magie ist. Man muss nur genau hinsehen.
O Mann, dröhnte mir der Kopf!
Als ich am Morgen aufwachte, fühlte ich mich, als wäre ich bei lebendigem Leib von einem Zug überrollt worden. Meine Glieder schmerzten, mein Schädel hämmerte, als hätte sich ein Specht darin eingenistet, und meine Augenlider waren so schwer, dass ich am liebsten zurück ins Kissen fallen wollte. Die Nacht vor meinem vierzehnten Geburtstag hatte ich mir eindeutig anders vorgestellt.
Ich war klatschnass geschwitzt, das Schlafshirt klebte mir unangenehm auf der Haut. Mühsam schwang ich meine wackeligen Beine über die Bettkante, hievte mich hoch und tapste auf den bodentiefen Spiegel zu, der an meinem Kleiderschrank angebracht war.
Meine brustlangen braunen Locken fielen mir strähnig in die Stirn.
»Na, du hast auch schon mal besser ausgesehen«, teilte ich meinem Spiegelbild verschlafen mit.
Selbst nachdem ich kalt geduscht hatte, war mir noch immer unnormal warm. Ich schlüpfte in einen dünnen Pullover und zerschlissene Jeans und streifte mir zu guter Letzt meine schwarze Beanie über den Kopf. Ich hatte die Mütze vor zwei Jahren von meiner besten Freundin Naemi geschenkt bekommen, seitdem trug ich sie jeden Tag.
Erneut betrachtete ich mein Spiegelbild.
Auch wenn ich nicht genau sagen konnte, warum … an diesem Tag kam ich mir fremd vor. Irgendetwas war anders als sonst, und eine innere Unruhe hatte von mir Besitz ergriffen.
Als ich mich gerade abwenden wollte, bemerkte ich ein seltsames Leuchten in meinen Augen – ein roter Schimmer, der um meine Pupillen tanzte.
Ich beugte mich etwas näher an den Spiegel, doch plötzlich war von dem Leuchten nichts mehr zu sehen.
»Echt, Yara, du spinnst doch«, murmelte ich.
***
»Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, liebe Yara, happy birthday to you!«
Meine Eltern empfingen mich freudestrahlend in der Küche. Meine Mutter hielt einen großen, mit flackernden Kerzen verzierten Schokoladenkuchen in der Hand, bei dessen Anblick mir normalerweise schon das Wasser im Mund zusammengelaufen wäre. Doch heute war mir einfach nur flau im Magen.
»Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz.« Meine Mutter stellte den Kuchen auf dem Küchentisch ab, um mich kurz darauf fest an sich zu drücken, mein Vater tat es ihr gleich.
Anstandshalber ließ ich die ganzen Umarmungen, Küsse und Glückwünsche über mich ergehen, obwohl mein gesamter Körper unter Spannung stand. Es fühlte sich an, als würden elektrische Stromschläge durch ihn hindurchjagen. Mittlerweile war mir nicht nur warm, sondern regelrecht heiß. Noch dazu war mir schwindelig, und vor meinen Augen flackerten rote Punkte auf und ab.
Meine Mutter sah mich forschend an und hatte die Stirn in Falten gelegt. »Schätzchen, geht es dir nicht gut?«
»Ich hab die Nacht bloß nicht so viel geschlafen«, log ich und zwang mich zu einem Lächeln.
»Das war bestimmt die Aufregung vor deinem Geburtstag«, meinte meine Mutter sanft, und ich ließ ihre Vermutung unkommentiert. Ich wollte nicht, dass sich meine Eltern unnötig um mich sorgten, noch dazu an meinem Geburtstag.
Mein Vater warf mir einen zerknirschten Blick zu. »Yara, bitte sei deiner Mutter und mir nicht böse, aber wir müssen leider zur Arbeit. Wir feiern deinen Geburtstag dafür heute Abend ausgiebig, in Ordnung? Nur wir drei, das wird toll!«
»Kein Problem. Ich wollte sowieso noch etwas mit Naemi unternehmen. Sie meinte, sie hätte eine Überraschung für mich geplant.«
Mein Vater war Tischler, und meine Mutter hatte ein eigenes Blumengeschäft im Ort. Da die beiden selbstständig waren und wir das Geld benötigten, war es ihnen nicht möglich, ihre Firmen einen kompletten Samstag lang zu schließen. Papa arbeitete zwar regulär nur von Montag bis Freitag, aber er hatte einen Sonderauftrag von einem Kunden bekommen, den er heute noch fertigstellen musste.
Mama strich mir liebevoll über den Arm. »Mach dir einen schönen Tag mit Naemi, ja? Und heute Abend koche ich dir dein Lieblingsgericht, und anschließend machen wir einen gemütlichen Spieleabend, was meinst du? Natürlich bekommst du dann auch deine Geschenke.«
Ich lächelte gepresst, da mich der Schwindel inzwischen voll im Griff hatte. Als die Tür hinter meinen Eltern ins Schloss fiel, hielt ich mich verzweifelt am Küchentisch fest. Ich konnte die Hitze kaum noch ertragen.
Stürmisch riss ich die Fenster auf und ließ die frische, klare Winterluft in meine Lunge strömen, doch die Hitze wollte partout nicht verschwinden, ebenso wenig wie der Schwindel. Was war bloß los mit mir? Panik machte sich in mir breit.
Ich hatte das Gefühl, dass kochend heiße Lava durch meine Venen schoss und mich von innen heraus verbrannte. Meine Hände prickelten, als würde eine Horde Ameisen darüber rennen. Als das Kribbeln immer stärker wurde, schob ich den rechten Ärmel meines Pullovers nach oben – und sog scharf die Luft ein.
Mein Arm glühte feuerrot, die Adern stachen unnatürlich hervor, und leuchtend rote Lichtschimmer pulsierten hindurch. Alarmiert schob ich den anderen Ärmel nach oben. Auch hier das gleiche Bild.
O Gott, was passierte mit mir?
Plötzlich wurde mein Körper von einer so heftigen Hitzewelle erfasst, dass mir kurzzeitig schwarz vor Augen wurde. Ich schnappte hektisch nach Luft und hielt mich erneut an dem massiven Eichenholztisch fest, da meine Beine unter meinem Gewicht nachzugeben drohten. Dabei rutschte ich ab und riss die Tischdecke mit. Irgendetwas zerbarst klirrend auf dem gefliesten Boden.
Mir brach der Schweiß aus. Allmählich bekam ich Todesangst!
Ich zwang mich dazu, tief ein- und auszuatmen, und zählte innerlich bis zehn, um mich zu beruhigen. Doch nur einen Wimpernschlag später erregte ein zischendes Geräusch meine Aufmerksamkeit.
Mein Blick glitt prüfend durch die Küche. Der Wasserkocher auf der Anrichte brodelte bedenklich vor sich hin.
Wann hatte ich ihn überhaupt angestellt? Oder hatten meine Eltern ihn dort versehentlich vergessen? Verlor ich jetzt schon den Verstand?
Der Wasserkocher bebte förmlich auf der Station und stieß eine gewaltige Dampfwolke aus.
Instinktiv duckte ich mich unter den Küchentisch. Keine Sekunde später ertönte ein ohrenbetäubender Knall, und ein kochend heißer Schwall Wasser ergoss sich über den Küchenboden.
Mein Herz trommelte wild in meiner Brust. Reglos kauerte ich einige Sekunden lang da. Ich konnte mich nicht bewegen und keinen klaren Gedanken fassen.
Erst nach einer Weile wagte ich es, auf allen vieren unter dem Küchentisch hervorzukrabbeln und mich an der Tischkante hochzuziehen. Meine Beine zitterten wie Espenlaub. Schockiert betrachtete ich das Chaos in der Küche.
Scherben verteilten sich über die Fliesen, und Wasser tropfte von den Wänden und Regalen. Auf dem Boden hatte sich eine große Pfütze gebildet, aus der Dampfwolken emporstiegen.
Das war knapp gewesen.
Ich hechtete zum Wasserkocher, von dessen ursprünglicher Form nicht mehr allzu viel vorhanden war, und riss den Stecker aus der Steckdose, um weitere Unfälle zu vermeiden. Schnaufend lehnte ich mich gegen die Anrichte.
Schweißperlen standen auf meiner Stirn.
Ich sah auf meine Hände und Arme hinab. Zu meiner Überraschung war von dem roten Leuchten kaum noch etwas zu erkennen, das Blut in meinen Adern pulsierte nur noch schwach. Selbst die innere Hitze und der Schwindel waren abgeklungen.
Ein weiteres Mal wanderte mein Blick über das Durcheinander.
Was zur Hölle war da gerade passiert?
Ich hatte keinen blassen Schimmer. Aber es war verdammt gruselig gewesen.
Es kostete mich viel Zeit, die letzten Spuren des Chaos in der Küche zu beseitigen. Den Wasserkocher hatte ich im Mülleimer entsorgen müssen. Wie ich das meinen Eltern beibringen sollte, wusste ich selbst nicht.
Derweil versuchte ich, die Vorkommnisse, die ich mir nicht erklären konnte, auszublenden und vorerst in die hintersten Winkel meines Gedächtnisses zu verbannen. Ich würde mir meinen Geburtstag doch nicht von einem verrücktspielenden Wasserkocher vermiesen lassen!
Um sicherzugehen, kontrollierte ich erneut meine Arme. Das Leuchten war inzwischen vollkommen abgeklungen. Möglicherweise hatte ich mir das Ganze auch nur eingebildet. Vielleicht hatte ich wegen des Schwindels nicht klar denken können?
Da ich etwas Ablenkung benötigte, stapfte ich durch den Schnee auf unsere Scheune zu und zog das große Tor auf. Ein Knarzen ertönte.
Meine Augen brauchten ein bisschen, bis sie sich an das schwache Licht gewöhnt hatten. Zu einer Seite der Scheune fiel ein sanfter Lichtstrahl durchs Fenster, auf dem sich Eisblumen gebildet hatten.
Rosalie saß auf dem umgedrehten Holzkorb in der Ecke und sah mich wachsam aus ihren hellen Augen an. Anmutig reckte die Schneeeule ihren Hals in die Höhe, plusterte sich auf und drehte ihren Kopf einmal um 180 Grad, bevor sie mich wieder ins Visier nahm.
»Hallo, Rosalie«, begrüßte ich meine Freundin und ließ mich neben ihr auf einer alten Truhe nieder. Ihre Anwesenheit hatte wie immer eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich streckte meine Hand aus und strich über ihr weiches, weißes, mit schwarzen Färbungen durchzogenes Gefieder.
Rosalie war zu uns gekommen, als ich ein Kind gewesen war. Papa und ich hatten das verwaiste Eulenjunge damals im Wald gefunden und es anschließend aufgepäppelt. An dem Tag, als wir Rosalie auswildern wollten, kam sie am selben Abend zu uns zurückgeflogen. Von da an war klar, dass sie zur Familie gehörte. Ich konnte Rosalie von all meinen Sorgen, Wünschen und Sehnsüchten erzählen. Und von denen hatte ich einige, insbesondere als ich noch jünger gewesen war.
Denn seit meiner Kindheit hatte ich immer mal wieder mit Schwindelanfällen zu kämpfen. Genau genommen hatte es in der Grundschule angefangen. Die unerträgliche Hitze und das Aufleuchten meiner Arme heute waren allerdings neu. Wobei ich immer noch hoffte, dass ich mir letzteren Teil nur eingebildet hatte.
Früher war es häufig vorgekommen, dass meine Eltern mich wegen meines Schwindels aus der Schule abholen mussten oder dass ich wegen meiner Beschwerden nicht am Sportunterricht teilnehmen konnte. Viele meiner Mitschüler dachten, ich würde nur simulieren, und mieden mich daher. Meine Eltern waren damals mit mir bei etlichen Ärzten gewesen, doch niemand hatte mir helfen, geschweige denn etwas finden können, womit sich die plötzlichen Anfälle erklären ließen.
Meine Klassenkameraden hatten mir so lange das Gefühl gegeben, dass mit mir etwas nicht stimmte, bis ich es irgendwann selbst glaubte. Ich war für alle einfach nur das komische Mädchen mit den Schwindelanfällen. So oft hatte ich mich einsam gefühlt, verbrachte die Pausen allein.
Das änderte sich erst, als Naemi in der dritten Klasse zu uns stieß. Für sie war die neue Umgebung eine große Umstellung, da sie aufgrund von beruflichen Veränderungen ihrer Eltern mit der Familie von Südafrika nach Finnland an den Polarkreis gezogen war.
Seitdem waren Naemi und ich unzertrennlich. Genau wie Rosalie und ich.
Ich strich erneut über Rosalies Kopf, und sie schloss die Augen, als würde sie es genießen. »Findest du eigentlich, dass ich komisch bin, Rosalie?«
Die Schneeeule blinzelte, und ich seufzte. »Vergiss meine Frage.«
Ich blieb noch eine ganze Weile lang neben Rosalie sitzen und streichelte sie, um auf andere Gedanken zu kommen.
***
Ich vergrub meine Hände tief in den Jackentaschen und beobachtete, wie mein Atem in der kalten Winterluft als feine Wölkchen sichtbar wurde. Bei jedem Schritt knirschte der Schnee unter den Sohlen meiner flauschig weichen Boots, während ich mich auf den Weg zu Naemi machte.
Ich war ein absolutes Winterkind.
Auch wenn einem der Nordwind manchmal kräftig um die Ohren pfiff und die Tage sehr kurz waren, konnte ich mir kein schöneres Fleckchen Erde als dieses vorstellen.
Der nördliche Polarkreis war mein Zuhause. Ich liebte die Kälte und die unvergleichlich klare Luft. Jedes Mal, wenn die Sonne auf den Schnee fiel und die weiße Weite dann einem Meer aus Glitzerstaub glich, fühlte ich mich wieder unbeschwert wie ein kleines Kind.
Es machte mich glücklich, wenn der Schnee leise zu Boden rieselte und die Flocken durch die Luft wirbelten, als würden sie zu einer bestimmten Melodie tanzen. Das ganze Dorf sah dann aus wie ein Winterwunderland.
Zur Weihnachtszeit war es besonders schön. Die Häuser waren festlich geschmückt und hell erleuchtet, und von überall drang einem der köstliche Geruch von Tannennadeln und frischen Plätzchen in die Nase.
Als ich verträumt über den Dorfplatz lief, glitt mein Blick an dem großen Tannenbaum empor. Seine Spitzen waren weiß gepudert, als hätte man sie in Zuckerguss getunkt.
In wenigen Tagen würde die Adventszeit beginnen, und am ersten Adventssonntag kamen alle Bewohner zusammen, um gemeinsam den großen Weihnachtsbaum zu schmücken. Es war eine altbewährte Tradition, auf die ich mich jedes Jahr freute. Dann wurden Kekse gegessen, heißer Kakao getrunken, gesungen und gelacht.
Noch lag das Dorf ruhig da, doch in wenigen Minuten würde es zum Leben erwachen. Die Sonne blinzelte bereits zwischen den Häusergassen hindurch.
Mein Blick fiel auf das rustikale Restaurant Lakka. Das Thermometer an der Außenwand des Lokals zeigte minus zehn Grad an. Heute war noch ein vergleichsweise warmer Wintertag.
Ich bog nach rechts auf einen steilen Pfad ab und ließ das Dorf hinter mir. Naemis Eltern besaßen etwas abseits vom Dorfzentrum ein eigenes Glas-Iglu-Resort und waren beruflich daher ebenso eingespannt wie meine Eltern.
Ich konnte es kaum erwarten, Naemi zu sehen. Mit beschwingten Schritten lief ich den Hang hinauf.
Doch plötzlich kam es mir so vor, als würde ich beobachtet werden. Die Vögel in den Bäumen waren verstummt, und eine fast schon gespenstische Stille senkte sich über den Wald.
Ich drehte mich um meine eigene Achse.
Und da sah ich ihn.
Einen Polarfuchs.
Sein schneeweißes Fell hob sich fast gar nicht von der Umgebung ab. Dennoch strahlte er eine solche Erhabenheit aus, dass ich zusammenzuckte.
Es wunderte mich, dass er sich so nah an die Siedlung herantraute. Normalerweise waren die Tiere recht scheu.
Seltsam.
Sein Blick ruhte unnachgiebig auf mir. Fast bildete ich mir ein, er würde mich intensiv mustern. Aber das war Quatsch … oder?
Noch immer rührte er sich nicht.
Was war das heute bloß für ein komischer Tag?
Erst sah ich Lichter durch meine Augen schwirren, dann glühte ich wie ein Feuerball, und jetzt halluzinierte ich auch noch, dass mich ein Polarfuchs beobachtete.
Bestimmt waren die Hitzewallungen schuld daran, und ich bildete mir das alles nur ein!
Ich wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen, als ich auf einmal eine Stimme hörte.
Yara!
Ich wirbelte herum. Da hatte doch jemand meinen Namen gerufen!
Noch immer starrte der Polarfuchs mich aus seinen eisblauen Augen an. Obwohl ich nicht den Eindruck hatte, dass Gefahr von ihm ausging, lief es mir eiskalt den Rücken herunter.
Erst jetzt fiel mir auf, dass das Tier etwas um den Hals trug. Ein dünnes Band, an dem etwas befestigt zu sein schien. War das eine Schriftrolle?
Hatte ich womöglich einen Fieberwachtraum? So etwas sollte es ja geben …
Yaaaaraaaa!
Wieder diese Stimme. Sie vibrierte in meinen Ohren und ging mir durch Mark und Bein. Mir schlug das Herz bis zum Hals. Ich war wie festgefroren und konnte mich keinen Millimeter rühren.
Als der Polarfuchs sich mir schließlich langsam näherte und zwischen den Bäumen auf mich zukam, war es, als würde sich ein Schalter in meinem Kopf umlegen.
Ich nahm die Beine in die Hand und begann zu rennen, so schnell, wie ich noch nie in meinem Leben gerannt war.
Ich hatte nicht mal auf die Klingel gedrückt, da öffnete Naemi mir auch schon die Haustür. Noch immer war ich ein bisschen durch den Wind, die Begegnung mit dem Polarfuchs steckte mir nach wie vor in den Knochen. Doch ich zwang mich dazu, vorerst nicht mehr daran zu denken.
Naemi umarmte mich so fest, dass ich fast keine Luft mehr bekam.
»Alles, alles Liebe zum Geburtstag, meine Süße!«
Meine beste Freundin löste sich von mir, strahlte mich an und überreichte mir einen Karton. »Du warst so traurig, als deine letztes Mal kaputt gegangen sind. Und da dachte ich … Ach, sieh einfach selbst nach!«
Ich klappte den Karton auf – und zum Vorschein kamen zwei nagelneue, schneeweiße Schlittschuhe, die mit Blütenranken aus Perlen verziert waren.
»Bist du verrückt?«, fragte ich und strahlte übers ganze Gesicht. »Die haben doch sicher ein halbes Vermögen gekostet. Du bist einfach die Beste! Danke!«
»Hast du Lust, dass wir dein Geschenk direkt ausprobieren?« Naemi sah mich erwartungsvoll an.
»Da fragst du noch? Na klar!«
Nachdem Naemi ihre Schlittschuhe von drinnen geholt hatte, konnte es losgehen. Unterwegs begegneten wir einem Käuzchen und einem Schneehasen. Mein Blick blieb an einem Spinnennetz hängen, das von der Kälte über und über mit feinen Eiskristallen besetzt war. Das Licht der Sonne brach sich darin und ließ die dünnen Fäden in sämtlichen Farben des Regenbogens funkeln.
»Erde an Yara, bist du schon wieder am Träumen?«, zog mich Naemi auf.
»Erwischt!« Ich musste lachen. Niemand kannte mich so gut wie sie.
Nach wenigen Minuten erreichten wir den zugefrorenen See.
Wir tauschten unsere Boots gegen unsere Schlittschuhe und machten das Eis unsicher. Die Oberfläche war teilweise so klar, dass ich darunter vereinzelt Algen und Unterwasserpflanzen vom Seegrund hervorschimmern sah.
Mit einem Juchzen drehte Naemi ein paar schwungvolle Pirouetten, und ich sah ihr grinsend zu.
Ich hielt einen Moment inne und genoss die Stille hier oben. Außer dem Schleifen unserer Kufen war kein einziger Laut zu hören, alles wirkte so friedlich.
Ich richtete meinen Blick zwischen den Baumkronen hindurch auf das Dorf, das sich zu meinen Füßen erstreckte. Langsam senkte sich die Sonne schon wieder, obwohl es gerade einmal Mittag war. In dieser Jahreszeit hielt das Tageslicht nur zwei bis drei Stunden an.
Die Zeit verging wie im Flug.
Fast hatte ich die seltsamen Ereignisse von heute Morgen verdrängt. Doch da begann wie aus dem Nichts meine Haut wieder zu pulsieren. Wir hatten November, draußen waren Minusgrade, und trotzdem war mir unerträglich heiß. Das war doch nicht normal!
Ich sagte Naemi, dass ich eine Pause brauchte, und setzte mich auf einen umgefallenen Baumstamm am Uferrand. Kurz darauf war Naemi bei mir und sah mich besorgt an.
»Yara, alles okay bei dir?«, fragte sie.
Ich zögerte eine Weile. Sollte ich ihr wirklich erzählen, was passiert war? Ich hatte Angst, dass auch sie irgendwann glauben könnte, dass ich nicht richtig tickte. Und ich konnte es nicht riskieren, sie zu verlieren. Sie war meine beste Freundin. Meine einzige, von Rosalie einmal abgesehen.
Naemi schien zu merken, dass mich etwas beschäftigte. Sie setzte sich neben mich und sah mich eindringlich an. »Yara, du weißt, du kannst mir alles erzählen.«
Ich knibbelte an meiner Unterlippe. Wie sollte ich ihr begreiflich machen, was heute vorgefallen war, wenn ich selbst nicht einmal verstand, was hier vor sich ging?
Wortlos krempelte ich die Ärmel meiner Winterjacke nach oben und hielt Naemi meine Arme entgegen. Wieder stachen meine Venen unnatürlich hervor.
Mit offenem Mund starrte Naemi auf die roten Lichtschimmer, die unter meiner Haut pulsierten. Sie strich darüber, nur um gleich darauf ihre Hand fortzuziehen, als hätte sie sich an mir verbrannt. »Yara, du glühst ja!«
»Ich weiß nicht, was mit mir los ist, Naemi«, antwortete ich mit brüchiger Stimme. Tränen sammelten sich in meinen Augen.
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und erzählte ihr, was am Morgen passiert war. Von der Hitze in meinem Körper, den roten Lichtern um meine Pupillen und von dem Schwindel. Naemi hörte mir aufmerksam zu.
»Und dann habe ich es sogar geschafft, unseren Wasserkocher zum Explodieren zu bringen, kannst du dir das vorstellen?«, beendete ich aufgebracht meinen Bericht.
Naemi stieß hörbar die Luft aus. »Krass … Das ist wirklich krass. Keine Ahnung, was ich dazu sagen soll.«
Sie sah aus, als würde sie jeden Moment vom Baumstamm kippen.
»Das ist aber noch nicht alles …«
Naemi sah mich ungläubig an. »Was? Erzähl!«
»Da war dieser Polarfuchs.«
Naemi runzelte die Stirn. »Polarfuchs? Was für ein Polarfuchs?«
»Auf dem Weg zu dir stand er plötzlich vor mir. Er hatte überhaupt keine Angst. Und irgendwie … Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass er mich beobachtet und versucht hat, Kontakt zu mir aufzunehmen. Ich weiß, das hört sich total bescheuert an!«
»Bist du dir sicher, dass der Polarfuchs dich beobachtet hat?«, fragte Naemi zögerlich.
»Glaubst du mir nicht?« Ich merkte selbst, wie gekränkt ich wirken musste.
»Schon, aber … Das klingt echt verrückt. Und unheimlich, Yara!«
Ich zuckte hilflos mit den Schultern. »Ach, ich hab doch auch keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat. Aber diese Stimme in meinem Kopf … die kann ich mir nicht eingebildet haben. Es hat sich fast schon beängstigend echt angefühlt.«
Naemi musterte mich. »Du hattest schon länger keine Schwindelanfälle mehr, oder? Und die Hitze ist wirklich zum ersten Mal aufgetreten?«
Ich nickte. »Der letzte Schwindel liegt schon eine ganze Weile zurück. Aber diesmal ist es anders. Noch nie war mir dabei so heiß. Es war fast schon unerträglich. Ich hatte überhaupt keine Kontrolle mehr darüber.«
Mittlerweile wurde Naemis Miene immer sorgenvoller.
»Vielleicht solltest du dich noch mal von einem Arzt durchchecken lassen? Oder deinen Eltern davon erzählen?«
Ich schüttelte heftig den Kopf. »Ich war in den letzten Jahren bei so vielen Ärzten. Niemand von ihnen konnte mir helfen. Alle glauben doch, ich bilde mir das nur ein!«
Naemi drückte meine Hand. »Was auch immer es ist, wir werden es herausfinden. Gemeinsam. Als Freundinnen!«
»Danke«, wisperte ich.
Meine beste Freundin konnte mir mit meinem Problem zwar nicht weiterhelfen, doch am Ende war einzig und allein wichtig, dass sie bei mir war. Dass ich sie an meiner Seite wusste.
Irgendwann stellte ich überrascht fest, dass mittlerweile die Dunkelheit über uns hereingebrochen war. Unzählige Sterne funkelten in der Schwärze. Fasziniert schaute ich in den Himmel, der aussah, als wäre er in dunkelblaue Tinte getränkt worden. Die Sterne darin waren helle Farbtupfer.
»Guck mal!«, rief Naemi, und ich folgte ihrem Zeigefinger, den sie oberhalb der Berge im Norden in den Himmel gestreckt hatte. Ich blickte nach oben.
Zunächst waren nur rote Schimmer zu erkennen, bis sich irgendwann schließlich auch gelbe, blaue und violette dazugesellten, die die Bergspitze umtanzten.
»Die Nordlichter«, hauchte ich ehrfurchtsvoll.
***
Auf dem Weg zurück ins Dorf hingen Naemi und ich unseren Gedanken nach. Ich glaube, sie war genauso durch den Wind wie ich wegen all der Dinge, die ich ihr erzählt hatte. Wenigstens hatte sich die Hitze wieder gelegt. Sie kam und ging völlig unvorhersehbar, und ich hatte Angst davor, dass es wieder passieren könnte.
Da blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen, als wie ein Geist er wieder zwischen den Bäumen auftauchte: der Polarfuchs.
Ich stieß Naemi mit dem Ellenbogen an. »Naemi, schau mal!«
»Au, warum rempelst du mich an?«, fragte sie, verstummte aber abrupt, als auch sie das Tier entdeckte.
»Glaubst du mir jetzt?«, zischte ich.
Der Polarfuchs nahm uns beide ins Visier.
»Okay, das ist echt gruselig, wie der uns anstarrt«, flüsterte Naemi zurück. »Lass uns von hier verschwinden!«
In meinem Kopf summte es wieder.
Yara!
»Hörst du das auch?«, fragte ich Naemi leise. »Er hat meinen Namen gesagt.«
»Hä?«, machte sie. »Ich höre nichts. Der glotzt doch einfach nur.«
Ich starrte meine beste Freundin an. Wie konnte es sein, dass nur ich diese Stimme hörte? War das ein Zeichen dafür, dass ich nur fantasierte?
In meinem Kopf kicherte es. Mann, guckt deine Freundin vielleicht blöd. Als hätte sie ihre Zunge verschluckt. Fast wirkte es so, als würde der Polarfuchs sein Maul zu einem Grinsen verziehen. Seine Ohren wackelten munter. Lachte der mich etwa aus?
Aber das … das war doch nicht möglich!
»Das hier ist alles nicht real«, redete ich leise auf mich ein. »Polarfüchse können nicht sprechen.«
Einbildung ist auch eine Bildung, erklang da wieder die Stimme in meinem Kopf.
Fassungslos starrte ich den Fuchs an. »Los, hau ab!«, rief ich und wedelte mit der Hand, um ihn zu verscheuchen. »Verschwinde!«
Ich hielt inne, als ich ein Brummen aus weiterer Ferne vernahm, das stetig lauter wurde. Auch der Polarfuchs spitzte seine Ohren.
Dein Glück, heute werde ich dich nicht länger nerven. Aber ich komme wieder, sagte er noch, bevor er sich umdrehte und im Dickicht verschwand.
Ich hatte keine Gelegenheit, das Ganze zu verdauen, weil auf einmal ein Schneemobil aus dem Wald gebrettert kam.
Es raste mit Vollgas auf uns zu, sodass Naemi und ich uns nur noch mit einem Sprung zur Seite in Sicherheit bringen konnten.
Ich fiel kopfüber in den Schnee und prustete. Auch von Naemi ertönte ein Ächzen.
»Sorry, das wollte ich nicht«, entschuldigte sich kurz darauf eine Jungenstimme mit süßem Akzent und gebrochenem Finnisch über mir. »Irgendwie habe ich das Lenken auf dem Schnee noch nicht so richtig raus. Warte, ich helfe dir hoch.«
Verwirrt blickte ich auf – und blieb im Scheinwerferlicht des Schneemobils direkt an einem unwahrscheinlich blauen Augenpaar hängen. So leuchtend und hell, dass es mir für einen Moment den Atem raubte. Ein Blau von einer solchen Intensität hatte ich bei uns am Polarkreis noch nie zu sehen bekommen, obwohl die Natur hier farblich von den verschiedensten Weiß- und Blautönen beherrscht wurde.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich auch den zu den Augen gehörigen Menschen richtig wahrnahm. Es war ein Junge in meinem Alter mit strohblondem Haar und einem Lächeln auf den Lippen. Erwartungsvoll hielt er mir seine Hand entgegen.
Noch immer fehlten mir die Worte. Geistesabwesend ließ ich mich von ihm hochziehen, während sein Blick auf mir ruhte. In seinen Augen lag ein Funkeln, das mich an das Glitzern eines zugefrorenen Sees erinnerte.
Erst als sich Naemi neben mir räusperte, erwachte ich peinlich berührt aus meiner Starre.
»Danke, mir muss keiner helfen, falls es jemanden interessiert«, bemerkte sie schnippisch und rappelte sich selbst auf.
Der Junge wandte seinen Blick von mir ab und sah stattdessen zu meiner besten Freundin. Er lachte leise auf. »Sorry, das war keine Absicht.«
»Schon gut«, murrte Naemi etwas sanfter und klopfte sich den restlichen Schnee von ihrer Kleidung. »Pass das nächste Mal einfach ein bisschen besser auf. Ziemlich rasanter und fragwürdiger Fahrstil. Vielleicht solltest du es erst mal bei Trockenübungen belassen.«
Der immer noch namenlose Junge fasste sich in sein Haar und lachte verlegen, wobei zwei niedliche Grübchen auf seinen Wangen erschienen. »Bei uns gibt es meist keinen Schnee, daher bin ich das nicht so gewohnt.«
Naemi runzelte die Stirn. »Wo kommst du denn her? Und was machst du überhaupt hier? Ich hab dich vorher noch nie gesehen.«
»Ich wohne eigentlich in Köln. Mein Vater erforscht schon seit vielen Jahren den Polarkreis, und da ich dieses Jahr ein Schulpraktikum absolvieren muss, bin ich mitgekommen«, erklärte der Fremde. »Ich bin übrigens Finn.« Das Lächeln auf seinen Lippen wurde etwas breiter. »Und ihr seid?«
Seine Augen brachten mich komplett aus dem Konzept. Naemi verpasste mir kurzerhand einen Stoß in die Rippen, woraufhin ich ein gehaspeltes »Yara« von mir gab. Naemi stellte sich ebenfalls vor.
»Woher kannst du so gut Finnisch?«, hakte ich verblüfft nach.
Finn legte den Kopf schief. »Na ja, als gut würde ich es nicht bezeichnen, aber ich kann mich einigermaßen verständigen. Mein Großvater wurde hier geboren und spricht fließend Finnisch. Ich hab viel von ihm gelernt.«
Naemi nickte anerkennend. »Cool. Ich bin eine absolute Niete in Sprachen.«
Finn lachte, ging zurück zu seinem Schneemobil und setzte sich seinen Helm auf. »Ich muss mich wieder auf den Weg machen, mein Koffer packt sich leider nicht von selbst aus. Und mein Vater fragt sich bestimmt schon, wo ich bleibe. Aber ich bin mir sicher, dass wir uns noch mal über den Weg laufen werden. Hat mich gefreut, euch kennenzulernen, Yara und Naemi.«
Naemi deutete auf Finns Gefährt. »Du hast nicht vor, noch jemanden umzumähen, oder? Darfst du so ein Teil überhaupt schon fahren?«
Finn grinste beschämt, offensichtlich hatte Naemi ihn soeben auf frischer Tat ertappt. Normalerweise war es erst ab 18 Jahren erlaubt, ein Schneemobil zu fahren. Aber wer sollte das hier mitten in der Wildnis schon kontrollieren?
»Da habe ich einen tollen Tipp: Wer sein Fahrzeug liebt, der schiebt.« Naemi zog eine Grimasse.
Das Funkeln kehrte in Finns Augen zurück, und für einen winzigen Moment blieb sein Blick noch einmal an mir haften. Dann tippte er sich zur Verabschiedung an seinen Helm, schwang sich auf das Schneemobil und fuhr anschließend etwas holprig und in Schlangenlinien den Hang hinauf.
»Hoffen wir mal, dass nicht gleich die nächste Fichte dran glauben muss«, murmelte Naemi trocken und schaute ihm kopfschüttelnd hinterher, bevor sie mich ansah. »Schräger Typ, findest du nicht auch?«
»Ich fand den eigentlich ganz nett«, sagte ich. Mein Herz klopfte wie verrückt, dabei war diesmal kein Polarfuchs weit und breit.
»Nett?«, schnaubte Naemi. »Der hat uns gerade fast umgefahren!«
»Aber er hat sich sofort entschuldigt.« Aus irgendeinem Grund hatte ich das Bedürfnis, ihn zu verteidigen.
Naemi zuckte nur mit den Schultern und hakte sich bei mir unter. »Wenigstens ist der Polarfuchs weg. Hoffentlich bekomme ich von dem heute Nacht keine Albträume.«
Ich schluckte und schwieg.
Dein Glück, heute werde ich dich nicht länger nerven. Aber ich komme wieder, hallten seine Worte in mir nach.
Mittlerweile war auch mir klar, dass der Fuchs irgendwas von mir wollte. Aber was?
Ich hatte Angst davor, es herauszufinden.
Obwohl ich letzten Endes noch einen schönen Geburtstag hatte und abends wie geplant mit meinen Eltern feierte, konnte ich in der Nacht nicht einschlafen. In meinem Kopf wüteten so viele Gedanken, die ich nicht ordnen konnte. Der Vorfall mit dem Wasserkocher, meine Hitzewallungen, der Polarfuchs … und Finn. Der Junge mit den wahnsinnig schönen blauen Augen. Noch immer sah ich sein verschmitztes Grinsen vor mir, als er mir aus dem Schnee hochgeholfen hatte.
Bei dem Gedanken musste ich lächeln.
Ich wälzte mich in meinem Bett gerade auf die andere Seite, als ich wieder die Stimme hörte.
Yara!
Binnen Sekunden saß ich aufrecht, mein Herz klopfte wie wild in meiner Brust. Obwohl niemand in der Nähe war, hatte ich das Gefühl, dass die Stimme direkt neben mir war und zu mir sprach. Oder war sie nur in meinem Kopf?
Yara! Yara, komm zu mir!
Ich presste meine Hände an die Schläfen, in der Hoffnung, die Stimme damit endlich vertreiben zu können. Und wieso war mir schon wieder so unerträglich heiß? Ich strampelte die Bettdecke unruhig von mir weg und lief auf nackten Zehen zum Fenster hinüber. Als ich hinaus in die Dunkelheit spähte, blitzte im fahlen Mondlicht zwischen den Schatten der Bäume etwas auf.
Ein weißer Kopf schob sich durch das dichte Geäst, als Nächstes folgten kurze Beine. Der Polarfuchs! Er streckte die Schnauze in die Luft, bis sein Blick schließlich zu mir glitt.
Mir stockte der Atem. Erschrocken wich ich einen Schritt zurück, mein Puls beschleunigte sich. Das war nicht möglich, oder? Dass mich der Polarfuchs wirklich beobachtete und mit mir zu kommunizieren versuchte? Wie verrückt war das bitte?!
Yara, hör mir zu. Du bist etwas Besonderes. Komm zu mir, und ich erkläre dir alles. Vertrau mir!
Mittlerweile glaubte ich nicht mehr an Zufälle. Ich wusste nicht, ob ich aus Neugierde oder vollkommen ferngesteuert handelte, als ich mir tatsächlich einen Mantel überwarf und in meine warmen Boots schlüpfte.
Auch wenn ich Angst hatte, meine Neugierde war größer. Ich musste endlich herausfinden, ob ich meinen Verstand verlor oder ob hier etwas Komisches vor sich ging.
Möglichst leise huschte ich durchs Haus, um meine Eltern nicht zu wecken.
Als ich die Haustür öffnete, stob mir eisige Winterkälte entgegen. Ich schloss meine Augen und sog tief die klare Luft ein. Für einen winzigen Moment fühlte es sich so an, als würde sich das Durcheinander in meinem Kopf lichten.
Als ich meine Lider wieder öffnete, war der Polarfuchs noch immer an Ort und Stelle und behielt mich fest im Visier.
Meine Beine zitterten, als ich mich langsam an ihn herantastete. Er zeigte nach wie vor keine Scheu, sondern spitzte aufmerksam seine abgerundeten Ohren. Mittlerweile standen wir uns in einer Distanz von gerade mal zwei Metern gegenüber.
Du brauchst keine Angst vor mir zu haben! Es ist meine Aufgabe, dir eine wichtige Nachricht zu überbringen.
Als ich meinen Blick über das schneeweiße Fell des Tieres gleiten ließ, sah ich diesmal ganz deutlich das rote Band um seinen Hals, an dem eine Schriftrolle hing. Ich hatte sie mir beim letzten Mal also nicht eingebildet.
Kannst du das Halsband lösen?
Ob sich hier jemand einen Streich mit mir erlaubte? Wer sollte mir denn eine geheime Nachricht zukommen lassen? Und dann auch noch von einem Polarfuchs?
Zaghaft näherte ich mich dem Tier.
Ich hatte Sorge, dass es zubeißen könnte, doch nichts dergleichen passierte. Der Polarfuchs verhielt sich völlig ruhig, bis ich den Knoten gelöst und die Schriftrolle an mich genommen hatte.
»Ich träume das hier nicht nur, oder? Ich bin nicht verrückt?«, fragte ich laut.
Allein, dass ich diese Frage an einen Polarfuchs stellte, war eigentlich Beweis genug, dass ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte.
Meine Stimme bebte.
Der Fuchs legte den Kopf schief und sah mich aus seinen eisblauen Augen an. Nein, Yara, du träumst nicht. Und du bist auch nicht verrückt. Na ja, ein bisschen vielleicht schon, aber das dürfte an dem ganzen Teenager-Gedöns und den Hormonen liegen. Mach den Brief auf.
Der Polarfuchs verstand mich tatsächlich und sprach in Gedanken zu mir. Und ein freches Mundwerk hatte er noch dazu. Ich konnte es nicht fassen.
Mein Hals fühlte sich schlagartig staubtrocken an.
Mit zittrigen Händen strich ich über den weißen Umschlag, auf dem sich ein wunderschönes Wappen in Form eines Polarsterns befand. Der Polarstern bestand aus vier großen Spitzen, zwischen denen vier kleine abgingen. In den großen Spitzen erkannte ich verschiedene Symbole. Eine Flamme, eine Schneeflocke, ein Auge und eine Sonne. Auf dem Polarstern saß ein Eisvogel, und in der Mitte des Wappens befand sich der Kopf eines Polarfuchses.
Ich blickte zu dem Tier vor mir.
Ja, ja, wenn du mich fragst, hätte meine Darstellung ruhig ein bisschen schöner ausfallen können. Das Bild wird meinem Aussehen nicht gerecht, bemerkte der Polarfuchs. Ich bin übrigens Suki.
Er hob seine Pfote und leckte sich darüber.
Das war doch alles vollkommen absurd! Ein Polarfuchs, der mit mir redete und noch dazu übermäßig von sich selbst überzeugt war? Klasse. Ich rechnete fest damit, dass jeden Moment die Männer in weißen Kitteln um die Ecke stürmten, um mich zu holen.
»Suki, ja?«, wiederholte ich tonlos.
Korrekt. Habe die Ehre.
Ich hob den Brief in meiner Hand. »Was bedeutet das hier? Was ist das für ein Wappen?«
Kannst du nicht lesen?, fragte der Fuchs in tadelndem Tonfall. Er klopfte mit seiner Pfote auf den Schnee. Das steht da doch dick und breit für Doofe:Aurora Academy!
Ich betrachtete das Wappen etwas genauer. Tatsächlich, unter dem Polarfuchs schlängelte sich ein Band entlang, auf dem der Name stand.
»Aurora Academy?«, fragte ich. Ich hatte noch nie davon gehört.
Himmel, wie kann man nur so begriffsstutzig sein? Ich glaub, ich bekomme Migräne. Der Polarfuchs hob in fast schon menschlicher Manier seine Pfote, als wollte er sie sich vor die Stirn klatschen. Fehlte nur noch, dass er genervt mit den Augen rollte.
Ohne weiter auf Sukis bissige Kommentare zu achten, öffnete ich den Umschlag, und eine Klappkarte kam zum Vorschein. Die Vorderseite war lediglich mit einem einzigen mystischen Satz in schnörkeliger Schrift verziert.
Bist du bereit, in den geheimen Bund der Nordlichter aufgenommen zu werden?
Ich stockte. Geheimbund der Nordlichter?! Sollte das irgendeine Sekte sein?
Lies weiter, befahl mir der Polarfuchs ungeduldig.
Meine Fingerspitzen kribbelten, ich fühlte die Nervosität und Aufregung in jeder einzelnen Faser meines Körpers. Ich atmete tief ein und aus, dann klappte ich bedächtig, als würde ich etwas sehr Wertvolles und Kostbares in meinen Händen halten, die Karte auseinander.
Plötzlich leuchteten zig Farben vor meinen Augen auf, bunte Schimmer schwebten über der weißen Innenseite auf und ab. Bei dem Anblick musste ich sofort an Nordlichter denken, die am Himmel tanzten. Ich wollte mit dem Finger darüberfahren und diesen Moment in mich aufsaugen, als sich auf einmal ein Lichtstrahl aus der Karte löste und durch mich hindurchfuhr. Um mich herum blitzten kleine Sterne auf.
Staunend betrachtete ich meine Hände. Die Haut leuchtete strahlend rot auf und pulsierte. Der Effekt hielt jedoch nur wenige Sekunden an.
Irritiert streckte ich meinen rechten Arm aus. Meine Haut sah wieder ganz normal aus.
»Was … Was passiert hier mit mir?«, flüsterte ich.
Mein Blick fiel zurück auf die Karte, auf der wie von Geisterhand plötzlich Worte in schwarzer Schrift auftauchten.
Die Aurora Academy wartet auf dich!
Bitte finde dich zum Wintersemester am 23. November um 8 Uhr bei dem Wegweiser an der alten Eiche ein. Du wirst dort abgeholt.
Hochachtungsvoll
Mrs Bailey, Direktorin
Ich las die Zeilen mehrfach. Mir wurde schlecht, und die Welt zog in schnellen Bildern an mir vorbei. Die schneebedeckten Fichten waren plötzlich nichts weiter als grüne Tupfer in einem Meer aus Weiß, und der dunkle Himmel über mir verschwamm vor meinen Augen zu einem tiefschwarzen Tunnel.
»Was hat das alles zu bedeuten?« Meine Stimme war mittlerweile nicht mehr als ein Wispern. Das Rauschen des Windes kam mir auf einmal unerträglich laut vor.
Yara, du bist ein Nordlicht. Die Menschen abseits des Polarkreises halten die Nordlichter für etwas physikalisch Erklärbares, doch in Wahrheit sind sie von menschlicher Gestalt. Und du bist eine von ihnen. Mrs Bailey, die Direktorin der Aurora Academy, schickt mich, um dich zu holen. An der Academy kannst du lernen, deine Kräfte besser zu kontrollieren.
Ich starrte den Polarfuchs an, während die Worte nur langsam in mein Bewusstsein sickerten. Nordlicht in menschlicher Gestalt? Kräfte unter Kontrolle bekommen?
»Das soll ja wohl ein Witz sein, oder?«
Hast du dich nicht gefragt, woher auf einmal die Hitze in deinem Körper stammt? Die Lichter, die um deine Pupillen tanzen? Der Schwindel, der dich schon seit deiner Kindheit begleitet? Deine Arme, die rot pulsieren?
Das hysterische Lachen, das mir bereits auf den Lippen lag, blieb mir im Hals stecken. Dann hatte ich mir all das also doch nicht eingebildet.
Und der Polarfuchs wusste eindeutig mehr darüber.
Er machte einen Schritt auf mich zu.
Ich weiß, dass du Fragen hast, Yara. Aber nur Mrs Bailey kann sie dir vollständig beantworten.
In dem Moment segelte ein Flyer aus dem Briefumschlag, den ich bisher übersehen hatte. Bevor er zu Boden gehen konnte, fing ich ihn in der Luft auf und besah ihn mir näher.
Es war eine Broschüre der Schule. Kleine Bilder waren darauf abgebildet, von einem prächtigen Schloss, hübschen Zimmern und einem großen eingeschneiten Innenhof. Ich las den Text vor, der darunterstand.
»Leben und Lernen in der Aurora Academy – Bildung und persönliche Entwicklung stehen bei uns an erster Stelle. Unser Internat bietet eine erstklassige Ausbildung, individuelle Betreuung und ein breit gefächertes Freizeitprogramm. Wer hier lebt und lernt, erfährt einen besonderen Gemeinschaftsgeist.«
Auch wenn ich nicht genau sagen konnte, warum, überkam mich beim Lesen der Broschüre ein warmes Gefühl, das in völligem Gegensatz zu meinen wirren Gedanken stand. Fast kam es mir vor, als wäre es nicht mein eigenes Empfinden – was mich noch mehr verwirrte und meine Skepsis letztlich nur verstärkte.
Suki blickte mich an. Gib den Flyer deinen Eltern. Dann werden sie verstehen. Der Rest regelt sich von selbst.
Ich tippte mir an die Stirn und schnaubte. »Ja, klar doch. Ich halte meinen Eltern eine Broschüre unter die Nase, und dann lassen sie ihre vierzehnjährige Tochter mal eben auf eine andere Schule gehen, kein Problem.«
Der Polarfuchs grinste. Lass den Teil einfach mein Problem sein. Also, bist du bereit, mir in die geheime Nordlichterstadt Auroria zu folgen?
Auf gar keinen Fall würde ich diesem vierbeinigen Großmaul in irgendeine geheime Stadt folgen! Wer weiß, vielleicht war das lediglich eine Falle? Was, wenn dieser Suki mich entführen wollte?
Ich wusste zwar selbst nicht, warum ein Polarfuchs eine widerspenstige Jugendliche entführen sollte, aber man konnte ja nie wissen.
Es war mitten in der Nacht, als ich mich vor unseren Kamin setzte. An Schlaf war nicht mehr zu denken.
Unschlüssig betrachtete ich den Brief und drehte ihn in meinen Händen. Suki hatte mich noch einmal inständig gebeten, mir seine Worte durch den Kopf gehen zu lassen, bevor ich zurück ins Haus gegangen war.
Aber ich war mir sicher: Von nichts und niemandem würde ich mich auf diese fragwürdige Academy in irgendeiner sonderbaren Nordlichterstadt schleifen lassen! Mein Zuhause war hier, bei meinen Eltern, Rosalie und Naemi.
Auroria, wie das schon klang! Vielleicht hatte Suki ja auch einfach ein bisschen zu viel Schnee eingeatmet. Ich warf einen Blick auf die Broschüre, woraufhin merkwürdigerweise erneut ein warmes Gefühl meinen Bauch flutete. Genervt legte ich den Flyer zur Seite.
Kurzerhand griff ich nach meinem Smartphone und rief Naemi an. Ihre Stimme klang sehr schläfrig, als sie abnahm.
»Yara?«, nuschelte sie. »Alles in Ordnung?«
»Hättest du Lust, heute bei mir zu übernachten?«, fragte ich. Meine Stimme zitterte.
Naemi begriff sofort, dass ich gerade nicht allein sein wollte.
»Gib mir zwanzig Minuten. Ich frag Ma, ob sie mich bringen kann. Die ist sowieso noch wach, und sicher kann sie die Rezeption auch mal für ein paar Minuten allein lassen.«
»Danke«, wisperte ich und legte auf.
Keine Viertelstunde später hatte ich eine Nachricht bei WhatsApp, dass Naemi vor meiner Haustür stand. Sie hatte absichtlich nicht geklingelt, um meine Eltern nicht zu wecken.
Wir machten es uns in unseren Schlafklamotten vor dem Kamin im Wohnzimmer bequem. Ich reichte Naemi das Einladungsschreiben und die Broschüre.
»Und den Brief hat dir ernsthaft der Fuchs vorbeigebracht?«, fragte sie fassungslos und strich sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn. Die Flammen im Kamin warfen sanfte Schatten auf Naemis bronzefarbenen Teint.
Ich nickte.
»Bist du bereit, in den geheimen Bund der Nordlichter aufgenommen zu werden?«, las Naemi die Zeilen aus dem Brief laut vor. Dann drehte sie die Broschüre in ihren Händen. »Das Schloss und die Zimmer sehen auf jeden Fall sehr hübsch aus. Vielleicht ist das voll die Elite-Schule.«
»Klasse, wo ich mich dann mit einem nervigen Fuchs und lauter Snobs rumschlagen kann«, murrte ich.
»Was soll das überhaupt bedeuten, geheimer Bund der Nordlichter? Ist das irgendeine AG? Ein Kurs, den man belegen kann?«, fragte Naemi.
Ich zuckte mit den Schultern. »Frag mich was Leichteres. Allerdings hat der Fuchs was Komisches gesagt. Dass ich ein Nordlicht wäre und man mir meine Fragen in Auroria beantworten könnte. Ich hab schon versucht, die Schule zu googeln, im Internet findet man aber weder etwas über die Akademie noch über Auroria. Sehr schräg.«
»Du musst da trotzdem hin, Yara«, sagte Naemi bestimmt. »Vielleicht können sie dir beantworten, was mit deinen Armen ist. Oder diesem komischen Leuchten. Und was mit dir passiert. Möglicherweise ist es wirklich eine Elite-Schule, die exklusiv bleiben möchte und deshalb nicht im Internet zu finden ist.«
In mir sträubte sich alles bei der Vorstellung, dem Fuchs zu folgen. Mein Magen verkrampfte sich, und ich ballte meine Hände zu Fäusten. Hitze wallte in mir auf. »Niemals! Ich bleibe hier, bei Mama, Papa und dir! Und bei Rosalie! Außerdem wissen wir doch gar nichts über diese Akademie. Nicht mal, ob es sie wirklich gibt!«
Naemi fasste mich bei den Schultern. »Ich möchte ja auch, dass du hierbleibst. Aber ich habe Angst um dich!«
Ich sprang auf, da ich nicht länger still sitzen konnte. Unruhe erfasste mich, noch dazu hinderte mich die Hitze in meinem Inneren daran, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Ich will nicht von hier fort!«, wiederholte ich aufgebracht, als Naemi auf einmal blass wurde und auf den Kamin zeigte. Ich folgte mit dem Blick ihrem ausgestreckten Finger.
Ich zuckte erschrocken zusammen. Rot-orangefarbene Flammen schlugen wütend gegen die Scheibe, als wollten sie versuchen, das Glas zu durchbrechen. Was war denn jetzt auf einmal los? Das Feuer hatte doch eben noch ganz gemächlich vor sich hin geflackert!
Ich hastete zum Kamin und versuchte, das Feuer einzudämmen, indem ich die Luftzufuhr drosselte. Aber die Flammen wurden nicht kleiner, nein, ganz im Gegenteil. Sie wurden immer größer und bäumten sich bedrohlich auf. Das war allerdings nicht das Einzige, was meine Aufmerksamkeit beanspruchte. Unter dem Stoff meines Schlafshirts breitete sich ein helles Leuchten aus. Mit einer bösen Vorahnung schob ich die Ärmel nach oben. Ein Schluchzer drang aus meiner Kehle, als ich meine rot pulsierenden Arme betrachtete. Die Adern stachen wie auch schon beim ersten Mal unnatürlich grell hervor.
Bisher hatte ich mir vielleicht noch einreden können, dass ich mir all das nur einbildete. Aber nun ließ es sich nicht mehr leugnen: Irgendetwas passierte mit mir. Etwas Unheimliches, über das ich keine Kontrolle hatte.
Nackte Angst zerrte an mir. Es fühlte sich an, als würden spitze Klauen aus der Dunkelheit nach mir greifen.
Während ich selbst heller leuchtete als jedes Warnlicht, stellte ich entsetzt fest, dass die Flammen im Kamin meinen Bewegungen zu folgen schienen. Sie schlugen nach rechts und links aus, je nachdem, wie ich gerade stand.
O Gott, was sollte ich denn jetzt bloß machen? Was war, wenn das Glas brach und gleich das halbe Haus in Flammen stand?
»Wir müssen das Feuer löschen«, entschied Naemi, sprang ebenfalls auf ihre Füße und griff nach der Packung Löschsand, die vorsorglich neben dem Kamin stand.
»Naemi, nicht!«, rief ich und schoss zu ihr, doch da war es schon zu spät. Sie öffnete die Kamintür, und die Flammen peitschten nach vorn.
Naemi riss abrupt ihren rechten Arm fort und schrie aus Leibeskräften auf. Sie taumelte rückwärts, ihre Augenlider flatterten. Unbedacht presste sie ihre unverletzte linke Hand auf die Stelle, an der die Flammen sie erwischt hatten, was sie nur noch lauter aufschrien ließ.
»Naemi!« Ich half meiner Freundin dabei, sich zu setzen, schloss den Kamin mit einem Ruck und war sofort wieder an Naemis Seite. »Geht es dir gut?«
»Ich hab mich verbrannt«, wimmerte sie vor Schmerz. Tränen liefen ihr Gesicht herunter.
Das war alles nur meine Schuld!
»Ich … Ich hol was zum Kühlen und Verbandszeug«, stammelte ich.
Doch als Naemi einen Blick auf die Wunde an ihrem Arm warf, gab sie nur einen erstickten Laut von sich – und wurde bewusstlos!
»Naemi? Naemi!« Ich rüttelte an ihr.
Hinter mir hörte ich die Holzscheite im Kamin bedrohlich knistern und knacken. Die Hitze in mir wurde immer schlimmer, bis ich drohte, selbst von Ohnmacht übermannt zu werden. Aber es war nicht nur die Hitze und die Verzweiflung in meinem Inneren, die immer unkontrollierbarer wurden. Auch die Flammen im Kamin züngelten ungezähmt hoch.
Yara, du musst ruhig bleiben! Du machst alles nur noch schlimmer, wenn du dich in solchen Momenten von deinen Emotionen überwältigen lässt, vibrierte Sukis Stimme plötzlich in meinen Ohren. Wo kam die denn jetzt her? Ich presste mir die Hände an die Schläfen.
»Du bist ja witzig!«, zischte ich. »Wie soll ich denn ruhig bleiben in so einer Situation? Ich habe meine beste Freundin verletzt! Und ich sehe aus wie ein Leuchtturmscheinwerfer!«
Konzentrier dich! Um deine Freundin kümmern wir uns gleich, erst müssen wir das Feuer unter Kontrolle bringen, bevor noch größerer Schaden angerichtet wird!, entgegnete er streng. Offenbar ist dir das Ausmaß deiner Gabe nicht bewusst.Es sind deine aufgewühlten Emotionen, die die Flammen entfachen. Und jetzt hör mir zu und tu, was ich sage. Atme ganz tief durch.
Ein schrilles, hysterisches Lachen perlte von meinen Lippen.
Schließ deine Augen und höre in dich hinein, befahl Suki mir. Ich bin bei dir.
Ich blinzelte, als die Flammen sich immer enger gegen die Scheibe drängten. Mein Puls schnellte in die Höhe. Naemi lag bewusstlos am Boden, und ich konnte an nichts anderes denken als daran, dass es meine Schuld war, dass Naemi sich verbrannt hatte.
Doch ich zwang mich dazu, mich einzig und allein auf Sukis Stimme und auf mich zu konzentrieren, obwohl die Flammen nach mir zu rufen schienen.
Ich lauschte in mich hinein, hörte auf meinen Puls, der viel zu schnell ging. Mein Herzschlag glich einer Horde Rentiere, die aufgebracht ihre Hufe über den Schnee donnern ließen.
Und jetzt denk an etwas, das dich wieder erdet. An etwas Schönes, vielleicht eine Kindheitserinnerung. Stell dir vor, sie wäre dein Anker, und du hältst dich an ihr fest.
Ich gab mir Mühe, meine wirren Gedankengänge zu verdrängen. Atmete tief ein und aus, immer und immer wieder. Ich durchforstete meinen Kopf nach schönen Erinnerungen, wie Suki es mir aufgetragen hatte, und blieb unweigerlich bei Rosalie hängen, wie Papa und ich sie im Wald gefunden hatten. Ich merkte, wie ich durch jeden Atemzug freier wurde und sich mein Puls allmählich beruhigte. Sukis Technik zeigte Wirkung.
Als ich meine Augen wieder öffnete, war das Feuer im Ofen nur noch orangefarbene Glut und das Licht auf meinen Armen ein sanfter Schimmer.
Bist du dir immer noch sicher, dass du nicht auf die Academy gehen willst?, fragte Suki.
Und plötzlich wusste ich es. Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste diese Akademie besuchen, wenn ich herausfinden wollte, was mit mir geschah.
Im nächsten Moment wurde die Wohnzimmertür aufgerissen, und meine Eltern standen beide im Schlafanzug im Türrahmen.
»Um Gottes willen, was ist denn passiert?« Meine Mutter musterte mein verheultes Gesicht und die bewusstlose Naemi.
»Mama!«, schluchzte ich auf.
Sie griff nach dem Arm meines Vaters. »Ruf den Krankenwagen, sofort!«
Aufgeregt und mit gepackten Sachen stand ich zwei Tage später am vereinbarten Treffpunkt. Etwas irritiert musterte ich den verwitterten Wegweiser. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Über eine halbe Stunde war ich zu Fuß bis hierhin gelaufen. Hier oben war nicht einmal der Schnee geräumt, sodass ich meinen Koffer mehr oder weniger elegant über das weiße Feld hatte zerren müssen. Was leider zur Folge hatte, dass er jetzt nur noch drei Räder besaß.