Aus dem Nichts - Irene Scharenberg - E-Book

Aus dem Nichts E-Book

Irene Scharenberg

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Beschreibung

"Sie sind mir ja ein ganz Gewitzter. Wat Sie alles aus mir rauskitzeln tun." Was die Zeugin da sagt, nimmt Bernhard Barnowski als aufbauendes Lob. Er muss sich beweisen, soll in absehbarer Zeit den Posten von Kriminalhauptkommissar Pielkötter übernehmen. Und er will alles geben in ihrem neuen Fall, dem Mord an einer jungen Schutzpolizistin aus Moers. Doch dann wird seine Kollegin in Duisburg überfallen. Obwohl sie dem Täter entkommen kann, gilt Pielkötters Team nun als befangen und man will ihnen die Ermittlungen wegnehmen. Das entfacht noch einmal den Ehrgeiz von Pielkötter, der bisher jeden Mord aufgeklärt hat. Aber jetzt läuft ihnen die Zeit davon, bevor Kollegen aus Düsseldorf übernehmen. Sie bleiben dem Mörder auf der Spur und ahnen nicht, welch perfides Spiel er sich für sie ausgedacht hat.

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Inhalte

Titelangaben

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Epilog

Danksagung

Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Veranstaltungen, Institutionen, Straßen und Schauplätze im Ruhrgebiet.
Alle Rechte vorbehalten,
auch die des auszugsweisen Nachdrucks
und der fotomechanischen Wiedergabe
sowie der Einspeicherung und Verarbeitung
in elektronischen Systemen.
© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2022
Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29
Titelfoto: © Günter Pilger
E-Book: Prolibris Verlag
ISBN E-Book: 978-3-95475-252-2
Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.
ISBN:978-3-95475-242-3
www.prolibris-verlag.de
Die Autorin
Irene Scharenberg ist in Duisburg aufgewachsen und hat hier Chemie und Theologie für das Lehramt studiert.
Seit 2004 sind zahlreiche ihrer Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften erschienen und in Wettbewerben ausgezeichnet worden. 2009 gehörte die Autorin zu den Gewinnern des Buchjournal-Schreibwettbewerbs, zu dem mehr als 750 Geschichten eingereicht wurden. Im selben Jahr erschien ihr erster Kriminalroman im Prolibris Verlag.
Irene Scharenberg ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Auch wenn sie heute am Rande des Ruhrgebiets in Moers lebt, so ist sie doch nach wie vor ihrer alten Heimat Duisburg und dem gesamten Pott sehr verbunden.»Aus dem Nichts« ist ihr elfter Kriminalroman mit dem liebenswert-kauzigen Kommissar Pielkötter.
Für meine Familie
Prolog
Imke Bielstett warf ihre langen blonden Haare nach hinten und steuerte eilig auf einen Seitenausgang des Polizeipräsidiums zu. Sie hatten hier einen gemeinsamen Einsatz mit Duisburger Kollegen geplant. Der leicht füllige Martin Wiese, wie sie aus der Polizeiwache Moers, lief dicht hinter ihr. Ehe sie die Tür erreicht hatte, holte er sie ein. Leise seufzte sie. Sie mochte es nicht, wenn er ihr so nahe kam. Ohnehin war sie genervt von dem heutigen Dienst mit mindestens einer Situation, die beinahe eskaliert wäre. Und dann diese Besprechung, mit der sie drei weitere Überstunden angesammelt hatte.
Vielleicht hätte sie das alles locker weggesteckt. Aber die ständigen Pöbeleien gegen sie und ihre Kollegen zeugten von einer wachsenden Respektlosigkeit gegenüber der Polizei. Das trübte mehr und mehr Imkes Freude an dieser Arbeit. Dazu die Aussicht, dass es im Laufe der Dienstjahre wahrscheinlich nicht besser, allenfalls schlimmer werden würde. Ein junger arroganter Mann mit vollständig tätowiertem Hals, dafür ohne Licht am Fahrrad, hatte heute versucht, sie anzuspucken, weil sie es gewagt hatte, ihn zu belehren. Sie sollte diese Erlebnisse für ein Buch zusammenstellen. Es würde wohl ziemlich dick.
»Du willst also wirklich kein Bier mit mir trinken?«, fragte Martin Wiese, während sie zügig an seinem neuen Mazda vorbeilief, mit dem sie gemeinsam von Moers nach Duisburg gefahren waren. Dabei drückte er seine Hand so fest gegen die geöffnete Fahrertür, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Nach dieser beschissenen Schicht. Sich einmal den ganzen Ballast und Frust von der Seele reden, sich gemeinsam davon erholen. Nicht sofort in den gewohnten vier Wänden alleine vor der Glotze hocken. Imke, bitte.« Martin Wiese suchte ihren Blick, aber sie wich ihm konsequent aus. »Irgendwo bei dir in Duisburg«, versuchte er es trotz dieser deutlichen wortlosen Abfuhr weiter, »wo du es anschließend nicht weit zu deiner Wohnung hast. Natürlich fahre ich dich auch gerne nach Hause.« Er stieß einen zischenden Ton aus und ließ die Hand sinken.
Wusste er denn, wo sie wohnte? Duisburg war schließlich eine Großstadt mit etlichen Stadtteilen und kein kleines Dorf. »Nein, ich bin müde und überhaupt …«, erklärte sie laut. Warum verstand ihr Kollege nicht, dass sie keinerlei Interesse an einer Beziehung mit ihm hegte und die Trennung von Patrick daran nichts geändert hatte?
»Na dann, bis morgen«, erwiderte Wiese mit neutraler Stimme.
Trotzdem spürte sie, dass es ihm schwerfiel, mit der Enttäuschung umzugehen. Sie merkte es an der steilen Falte auf seiner Stirn, der leicht hervorgetretenen Ader an seinem Hals und an der Art, wie er beide Daumen gegeneinanderpresste, eine Angewohnheit, die sie noch bei keinem anderen Menschen beobachtet hatte. Zum Abschied tippte sie kurz mit zwei Fingern an die Stirn, dann drehte sie sich abrupt um und trat den Heimweg an.
Imke Bielstett wohnte wenige Gehminuten vom Theater entfernt. Normalerweise fuhr sie mit dem Zug zur Polizeiwache Moers, obwohl man die Pünktlichkeit des Niederrheiners in letzter Zeit nur als katastrophal bezeichnen konnte. Wenn sie dienstlich in Duisburg zu tun hatte, was ab und an durchaus vorkam, genoss sie den kleinen Marsch vom Präsidium zu ihrer Wohnung. Jeder Meter schien Distanz zu ihrer Arbeit zu schaffen.
Heute war das vollkommen anders. In ihrem Kopf kreisten so viele beunruhigende Gedanken. Martins Versuche, sie zu einem Drink nach Feierabend oder gar einem privaten Treffen in der Freizeit zu überreden, häuften sich. Dabei hatte sie ihm schon einige Male zu verstehen gegeben, dass sie erst einmal das Singledasein ohne Verpflichtungen genießen wollte. Und bei einer lockeren Affäre mit einem Arbeitskollegen, genau wie mit Vorgesetzten, waren Komplikationen vorprogrammiert. Nach der Trennung von Patrick hatte sie sich dummerweise mit Mister Big eingelassen. Auch wenn sie das Verhältnis rasch beendet hatte, würde sie denselben Fehler nicht noch einmalbegehen. Mensch, was hatte der sie gegängelt, nur weil er beruflich mehr Erfahrung aufweisen konnte als sie.
Die Trennung von Patrick war wirklich schwer genug gewesen. Im Gegensatz zu Mister Big hatte er lange gebraucht, um den Schlussstrich zu akzeptieren, besonders weil er gleichzeitig die Demütigung vor den Kollegen wegstecken musste, wie er immer wieder betont hatte. Sie erinnerte sich mit Schaudern an die vielen Anrufe, mit denen Patrick sie bombardiert hatte, an das ständige Beschatten. Nirgendwo hatte sie sich sicher gefühlt. Normalerweise hätte sie die Polizei eingeschaltet, aber wie hätten die Kollegen bei einem Vorwurf gegen einen von ihnen reagiert? Sie konnte sich lebhaft vorstellen, dass fast die komplette männliche Mannschaft nicht auf ihrer Seite gewesen wäre.
Allenfalls Christian Stolpe hätte wohl zu ihr gehalten. Er zeigte sich immer so verständnisvoll. Nach einem nervenaufreibenden Streit mit Patrick hatte er sie einmal voller Mitgefühl in den Arm genommen und ihr ganz kameradschaftlich auf die Schulter geklopft. »Ich bin dir hoffentlich nicht zu nah gekommen«, hatte er hinterher gefragt und sie schuldbewusst angesehen. Zu ihrem Erstaunen merkte Christian ihr ein Problem immer an und versuchte, ihr so weit wie möglich zu helfen. Einen Mann wie ihn an der Seite zu haben, hätte schon was. Leider zog er sie körperlich kein bisschen an. Nicht unattraktiv, aber zu durchschnittlich.
Eigentlich ging es mit ihrem Seelenleben erst wieder aufwärts, seit Patrick beabsichtigte, die Stelle zu wechseln, und die Fühler in Richtung seiner Heimatstadt Datteln ausstreckte. Imke Bielstett schob eine vorwitzige Locke hinter das Ohr.
Aus einem unergründlichen Impuls heraus schaute sie sich um. Abgesehen von einigen Jugendlichen auf der anderen Straßenseite bemerkte sie knapp Hundert Meter entfernt ein älteres Paar. In ihrem Windschatten lief eine weitere Person, die sie jedoch nicht deutlich sehen konnte. Imke gab ein Geräusch von sich, das wie eine Mischung aus Seufzen und Schnaufen klang. Warum fiel es ihr so schwer, sich zu entspannen? Lag das an der heute extremen Belastung durch die Arbeit oder eher an Martin Wieses zunehmender Aufdringlichkeit?
Erneut drehte sie den Kopf. Das Paar schickte sich an, die Fahrbahn zu überqueren, die dritte Person befand sich immer noch hinter den beiden. Gemeinsam liefen sie los. Imke starrte ihnen nach, bis der kleine Trupp in einer Seitenstraße verschwunden war. Der dritte Typ hatte irgendwie den Eindruck erweckt, als wolle er sich lieber verborgen halten. Sie hatte ihre Augen angestrengt, aber sie hatte ihn nicht deutlich sehen, geschweige denn beschreiben können. Ein Mann mittlerer Größe, mehr hätte sie nicht zu Protokoll zu geben. Jetzt komm mal schleunigst runter von dem Trip, sagte sie laut zu sich selbst.
Manchmal fragte sie sich, ob sie richtig gehandelt hatte, sich für den Polizeidienst zu entscheiden. Sie hatte dafür eine Ausbildung zur Goldschmiedin aufgegeben, die ihr großen Spaß bereitet hatte. Aus heutiger Sicht konnte sie die Gründe kaum nachvollziehen. Ihr erster Freund war Polizist gewesen, sie hatte ihn bewundert und noch mehr geliebt. So oft sie sich an Tom erinnerte, wurde sie traurig. Selbst nach so langer Zeit. Warum hatte sie diese blöde Intrige einer vermeintlichen Freundin nicht durchschaut und mit diesem liebenswerten Mann Schluss gemacht? Für einen Neuanfang hatte sie das falsche Spiel zu spät erkannt. Um ihm trotzdem wieder nah zu sein, war ihr nichts Gescheiteres eingefallen, als selbst Polizistin zu werden. Statt sich vor Verleumdungen besser zu schützen, war sie auf Patrick reingefallen. Sie hatte sich eingebildet, in ihm einen zweiten Tom zu finden, nur weil er denselben Beruf ausübte. Sie versuchte zu lachen, es klang jedoch eher wie der Beginn eines Klageliedes.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Außerdem hatte sie das Gefühl, jemand liefe dicht hinter ihr. Sie drehte sich ruckartig um. Obwohl sie niemanden erkennen konnte, spürte sie, dass sich eine Person in ihrer Nähe befand. »Paranoia lässt grüßen«, sagte sie laut und verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen.
Imke hatte inzwischen den Kant-Park erreicht. Immer wenn sie im Duisburger Präsidium zu tun hatte, durchquerte sie nach Dienstschluss die kleine grüne Lunge der City – selbst in der Dunkelheit. Um einige Meter abzukürzen und etwas sauerstoffreichere Luft einzuatmen. Okay, gelegentlich hielten sich hier Junkies auf, aber die hatten sie bisher nicht belästigt. Außerdem war sie durchaus in der Lage, sich zu wehren. Heute zögerte sie, den Park zu betreten. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Was war nur mit ihr los? Hatte ihr der Arbeitstag mehr zugesetzt, als sie wahrhaben mochte? Imke eilte weiter. Auf einmal hörte sie dicht hinter sich ein Knacken. Hastig wandte sie sich um. Mit den Augen suchte sie den beleuchteten Teil des Parks ab, dann die abseits des Weges liegenden Bäume und Sträucher.
Knack, da war es wieder. Sicher nur ein Kleintier, versuchte sie sich zu beruhigen. Trotzdem beschleunigte sie ihren Schritt. Auch ihr Atem ging schneller. Das Gefühl, dass sich jemand in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt, wollte nicht weichen. Erneut drehte sie sich um. In diesem Moment sah sie eine Gestalt im Gebüsch verschwinden. Einer der Junkies, der mal urinieren musste? Nein, dazu war die Person zu kräftig, nicht so ausgemergelt wie ein Drogensüchtiger. Eher wie ein normal gebauter Mann mittlerer Größe, von denen sie Dutzende kannte. Zu ihrer Beruhigung trug er keine Polizeiuniform. Bei dieser Überlegung verzog sie den Mund zu einem schiefen Grinsen, dann lachte sie auf. Es klang seltsam verkrampft. Sie dachte an ihre Dienstwaffe, die ordnungsgemäß auf der Wache lag. Mit ihr in der Hand hätte sie in dem Gebüsch totsicher nachgesehen, so erschien ihr das zu gefährlich.
Imke wartete kurz ab, dann setzte sie ihren Weg fort, konzentriert und wachsam. In der Ferne heulte ein Martinshorn und übertönte alle Geräusche in ihrer Umgebung. Der Heulton wurde zunehmend lauter. Wenn sie selbst oder eine andere Person jetzt in Not geriete, hätte sie kaum eine Chance, sich bemerkbar zu machen, schoss es ihr durch den Kopf und ließ sie frösteln. Ruckartig drehte sie sich um. Imke erkannte den beleuchteten Weg und starrte dann zu beiden Seiten in die Dunkelheit. Angst schnürte ihr unerwartet die Kehle zu, aber es bereitete ihrem Verstand große Mühe, sich dieses Gefühl einzugestehen. Schließlich war sie eine toughe Polizistin und nicht irgendeine wehrlose Frau.
Imke hatte einige Meter zurückgelegt, da nahm sie eine Bewegung hinter ihrem Rücken wahr. Adrenalin überflutete augenblicklich ihren Körper. Angreifen oder Flucht? Für den Bruchteil einer Sekunde wog sie die Möglichkeiten ab, dann spurtete sie los. Es geschah instinktiv, normalerweise hätte sie sich erst einmal vergewissert, wer ihr so nah getreten war. Etwas in ihrem Inneren spürte jedoch Gefahr und befahl ihr, fortzulaufen. Sie gehorchte dem Gefühl und rannte. In ihrem Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn. Sie keuchte, ihr Herz klopfte heftig, aber sie glaubte, Abstand zu gewinnen. Bald konnte sie es riskieren, sich umzusehen. Sie wollte sich gerade im Laufen drehen, da stolperte sie. Ein höllischer Schmerz durchschoss ihr linkes Knie. Imke blieb keine Zeit, die Stelle zu ertasten.
Im nächsten Moment beugte sich jemand über sie. Ein kräftiges Bein drückte auf ihren rechten Unterarm. Ehe sie einen klaren Gedanken fassen konnte, versuchte der Angreifer, auch den anderen Arm zu fixieren. Imke wehrte sich heftig. Sie boxte gegen die Wade ihres Gegners und rief laut um Hilfe. Der Schrei ging in dem Heulton des Martinshorns unter. Während sich das Einsatzfahrzeug entfernte, legte sich etwas um ihren Hals. Ein Strick, ein Seil? Panik ergriff sie. Schweiß drang aus allen Poren, ihr Herz pochte heftig. Hilfe, sie bekam keine Luft mehr. Mit der freien Hand zerrte sie an dem Strang. Vergeblich. Die Schlinge zog sich unerbittlich zu, bis ihre Muskeln schließlich erschlafften.
Kapitel 1
Pielkötter zog sich die Jacke an, schielte zu seinem ungewöhnlich aufgeräumten Schreibtisch und verließ das Büro. Im Flur begegnete ihm Barnowski.
»Chef, welch seltener Anblick.« Sein Mitarbeiter, der sich für Pielkötters Geschmack oft zu flapsig gab, sah ihn aus großen Augen an. »Sie machen tatsächlich schon Feierabend? Sonst scheren Sie sich doch nicht darum, ob Sie die vorgegebene Stundenzahl einhalten. Also, in dieser Phase … wie heißt die noch? Und ob unser allseits beliebter Vorgesetzter Kriminaloberrat Plötsche Ihnen deswegen mal wieder die Hölle heißmacht.«
»Sie meinen die Wiedereingliederungsmaßnahme«, erwiderte Pielkötter nüchtern. »Aber ich verlasse das Präsidium nicht, um Plötsche zufriedenzustellen, sondern aus privaten Gründen.«
»So, so!« Barnowskis Gesicht mit dem jugendlichen Lächeln und den reizenden Grübchen kam bei Frauen jeden Alters gut an, in diesem Moment wirkte es jedoch nicht gerade intelligent.
Pielkötter überlegte, ob er seinen Mitarbeiter mit dem erstaunten, fast schon etwas dümmlichen Gesichtsausdruck zurücklassen durfte, entschloss sich dann aber, eine kurze Erklärung abzugeben. »Ich brauche ein Geschenk für meine Frau. Vielleicht finde ich etwas bei einem Juwelier auf der Königstraße oder sonst irgendwo in der Innenstadt. Eigentlich war ich schon ewig nicht mehr in der City.«
Barnowski schien eine Frage auf den Lippen zu liegen, schluckte sie jedoch hinunter. Wahrscheinlich ging ihm durch den Kopf, ob Pielkötters getrennt lebende Frau inzwischen wieder bei ihm eingezogen war. »Na dann, wünsche ich Ihnen ein glückliches Händchen bei der Auswahl«, brachte er nach einigem Zögern hervor.
Pielkötter hatte das Präsidium noch nicht verlassen, da klingelte sein Diensthandy. Missmutig verzog er das Gesicht. Der Anruf kam von Kriminaloberrat Plötsche. Was wollte der denn? Jetzt hielt er sich an die Vorschrift und machte Feierabend wie vom Arzt verordnet, und was passierte? Sein Vorgesetzter kam ihm in die Quere. Mit heruntergezogenen Mundwinkeln änderte er die Richtung und steuerte auf Plötsches Büro zu.
»Sie wollten mich sprechen?«, kam Pielkötter ohne Begrüßung zur Sache.
»Ja, es geht um eine Fortbildung«, antwortete Plötsche mit einem einladenden Lächeln. »Aber setzen Sie sich doch erst einmal. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee vielleicht oder etwas Kaltes?«
Pielkötters Alarmglocken schrillten. Auf keinen Fall würde er sich von dem freundlichen Getue einlullen lassen. Plötsche teilte ihm garantiert etwas mit, das ihm nicht behagen würde. Und das war bestimmt noch untertrieben. Die Information, Anweisung oder Aufgabe, egal, um was es sich handelte, würde ihn tierisch ärgern, dessen war sich Pielkötter sicher. »Nein danke, ich möchte nichts trinken«, erwiderte er in einem Ton, der eine Spur eisig klang.
»Um es kurz zu machen. Jede Kreispolizeibehörde und jedes Polizeipräsidium wird angehalten, einen Vertreter zu einer zentralen Fortbildung zu schicken, die diesmal in Münster stattfinden wird.«
»Und dabei haben Sie direkt an mich gedacht.« Pielkötters Muskeln spannten sich an.
Plötsche faltete seine Hände und drehte die Innenseiten nach außen, als veranstalte er irgendwelche Dehnübungen. »Nun, ich sehe da keinerlei Einwände. Eher Vorteile. Sie stammen doch aus Münster und ein paar Tage in Ihrer alten Heimatstadt zu verbringen, müsste doch auch …«
»Das ist doch nicht der eigentliche Grund«, fiel Pielkötter seinem Vorgesetzten ins Wort. Ärgerlich wischte er sich den Schweiß von der Stirn, der sich urplötzlich gebildet hatte. »Das können Sie mir nicht ernsthaft erzählen.«
»Nein, das ist natürlich nur ein Punkt, der für Sie als Kandidaten spricht.« Aus Plötsches Stimme war inzwischen jede Spur von Freundlichkeit gewichen. »Rein vom Thema ist das K11 am besten geeignet. Und ich möchte hier keinen Mann entbehren, der voll funktionsfähig ist. Auf Sie trifft das ja nun mal leider nicht zu.«
Pielkötter wäre am liebsten aufgesprungen und aus dem Büro gestürmt, allerdings war Plötsche nicht nur sein Vorgesetzter, sondern hatte in diesem Punkt sogar Recht. Im Notfall würde er sich immer noch nicht hundertprozentig verteidigen können. Aber glich seine Spürnase das nicht zum großen Teil aus?
»Sie dürfen dabei auch nicht vergessen, dass Ihre Wiedereingliederungsmaßnahme noch nicht ganz abgeschlossen ist, auch wenn Sie den Dienst nun fast wieder im vollen Umfang versehen dürfen.« Plötsche blätterte in einem Papierstapel auf seinem Schreibtisch herum, als ließen sich dort weitere Argumente finden. »Das Thema der nächsten Fortbildung ist höchst interessant«, erklärte er. »Gerade für Sie als Ermittler. Einblick in die Psyche von Serienmördern. Soweit ich mich erinnere, hatten Sie es bei Ihrem ersten Fall in Duisburg doch auch mit einem Serienmörder zu tun.«
Pielkötter nickte gezwungenermaßen. Sicher schadete ein solcher Einblick nicht, auch wenn zum Glück im Moment kein derartiger Täter in ihrem Zuständigkeitsbereich sein Unwesen trieb.
»Na also, dann sind wir uns ja einig. Und wenn Sie von der Fortbildung zurückgekehrt sind, wirken Sie hier als Multiplikator.« Plötsches Miene drückte ein gewisses Wohlgefallen aus. »Mit der Weitergabe, zum Beispiel in Form eines Seminars, dürfen Sie sich natürlich Zeit lassen.«
Pielkötter zerbrach sich den Kopf, wie er dem Ganzen entgehen könnte, leider fiel ihm nichts Passendes ein. Missmutig erhob er sich. »Wann soll es losgehen?«, fragte er schon im Stehen.
»Hmm … übermorgen. Nun, ich weiß, dass das sehr kurzfristig ist, aber es lässt sich leider nicht ändern. Die Einladung ist auf dem falschen Schreibtisch gelandet und von dort nicht weitergeleitet worden.«
»Ich hätte nichts dagegen, wenn das mit den Anmeldedaten auch passiert, und ich erst zu spät erfahre, wann ich wo hätte sein sollen.«
Vor Plötsches Bürotür atmete Pielkötter kräftig durch. Sein Chef war nun gewiss sauer auf ihn, damit konnte er jedoch leben. Schließlich hatte auch er selbst guten Grund, verärgert zu sein. Dass er zu dieser Fortbildung abkommandiert wurde, hatte einen hässlichen Beigeschmack. Abgeschoben kam er sich vor. Hoffentlich passierte wenigstens kein Mord, während er sich in Münster die Finger wundschrieb.
Kapitel 2
Eine Flut von Erinnerungen strömte auf Pielkötter ein, als er vom Münsteraner Schloss in Richtung Innenstadt bummelte. In der ersten Zeit mit Marianne hatte er oft den Ring überquert, um zum Prinzipalmarkt zu gelangen. Sie hatte dort in einer Boutique gearbeitet und er hatte sie öfter nach Geschäftsschluss abgeholt. Pielkötter lächelte, wurde dann aber wieder ernst. Wie hatte es nur so weit kommen können, dass sie sich getrennt hatten? Insgeheim hoffte er darauf, dass sie sich ihm wieder annäherte und später ganz zu ihm zurückkehrte. Pielkötter passierte die Überwasserkirche und steuerte auf den Domplatz zu. Seine Gedanken schweiften von Marianne zur Fortbildung, die wider seine Erwartung bisher interessante Inhalte vermittelte. Dass es drei verschiedene Arten von Psychopathen gab, hatte er vorher nicht gewusst, nur dass sie alle zu den Narzissten gehörten.
In seinem Kopf geisterten noch die Täter herum, die immer wieder nach einem neuen Kick strebten, da fiel ihm plötzlich ein Mann auf, der ihn an einen ehemaligen Mitstudenten von der Polizeiakademie erinnerte. Das kantige Gesicht, die krausen dunklen, nun grau melierten Haare und vor allem die leicht nach vorn gebeugte Körperhaltung. Der Typ schaute auf die Auslagen eines Geschäfts schräg gegenüber dem historischen Rathaus. Konnte das wirklich Volker Brinkmann sein? Pielkötter fand schnell die Antwort, als der Mann in seine Richtung blickte und grinste. Wenige Augenblicke später stand er neben ihm und klopfte Pielkötter kräftig auf die Schulter, es war die kranke.
»Mensch Willibald, dass man dich immer noch hier antrifft, hätte ich mir ja denken können. Ich meine, so als echtes Münsteraner Urgestein, während die meisten von uns in alle Winde verstreut sind.«
»Da liegst du völlig falsch«, entgegnete Pielkötter sachlich. »Ich bin nämlich nur zufällig wegen einer Fortbildung in der Stadt. Ansonsten lebe ich in Duisburg. Meine Arbeit als Hauptkommissar hat mich dorthin verschlagen. Und du?«
»Lange Geschichte. Deshalb erzählst du besser erst einmal. Ich finde es total spannend, dass du wirklich Ermittler geworden bist.« Volker Brinkmann grinste erneut. »Willibald auf Mörderjagd. Ich kann mir so richtig vorstellen, wie du dich in die Arbeit hineinkniest und den bösen Burschen das Leben zur Hölle machst.«
Pielkötter wusste nicht, wie er das auffassen sollte. Meinte sein ehemaliger Kommilitone das ironisch oder hatte er eben einen Funken Bewunderung herausgehört?
»Auch wenn ich damals bereits im Ausland war, habe ich durch meine Mutter mitbekommen, welche Lorbeeren du schon früh eingeheimst hast«, legte Brinkmann nach. »Ich meine für die Aufklärung des Mordes an dieser ausländischen Studentin. Ihr Vater sozusagen mit ner Ölquelle im Garten. Das hat natürlich zusätzlich für Wirbel gesorgt. Und … für eine steile Karriere. Willibald in Windeseile vom Anwärter zum Kommissar.« Er stockte. »Warum bist du eigentlich nicht in Münster geblieben?«
»Weil das mit der Karriere so eine Sache war«, antwortete Pielkötter nachdenklich. »Ich habe mich mit meinem Vorgesetzten zerstritten. Kaum zu glauben, aber dabei ging es um Kirchenfragen. Er hat die Meinung vertreten, dass die Institution unbedingt zu schützen sei. Zu dieser Zeit war der Missbrauchsskandal zwar noch kein so großes Thema wie heute, trotzdem fand ich seine Einstellung höchst bedenklich. Nachdem er mich bei einer Beförderung zum Hauptkommissar ungerechtfertigt übergangen hatte, habe ich mich wegbeworben. Zunächst hat mich in Duisburg nur die Stelle gereizt, dann auch die Stadt, die ganze Region. Inzwischen schätze ich die besondere Mischung aus Industrie, Kultur und Natur immer mehr und vor allem die Offenheit der Menschen.«
»Du musst mir unbedingt mehr von deiner Arbeit erzählen. Ich hoffe, du hast Zeit und wir können zusammen irgendwo einkehren. Wenn du hier zur Fortbildung bist, musst du sicher keine Verbrecher jagen.« Er lachte und entblößte dabei eine Reihe von Zähnen mit leichtem Sanierungsbedarf. Mit der rechten Hand deutete er auf die offensichtlich teure Kamera, die an einem rot-schwarz-gestreiften Gurt um seinen Hals hing. »Die Fotos kann ich – bei besserem Wetter – auch morgen noch machen. Soll ein Album werden, für meine Mutter zum Geburtstag.«
»Und ich wollte eigentlich ein Geschenk für Marianne kaufen, weil ich dazu in Duisburg keine Zeit mehr hatte. Aber das kann ich verschieben.«
»Die Marianne?«
»Ja.« Pielkötter fand, dass er das Die zu sehr betont hatte.
Volker Brinkmann schüttelte den Kopf. »Da bist du tatsächlich noch mit Marianne zusammen? Ich kann mich noch gut an sie erinnern und an diese Plateauschuhe, in denen sie kaum laufen konnte.«
Pielkötter nickte. Dabei überlegte er, ob er seinen alten Kommilitonen über die komplizierte Familiensituation mit zwei getrennten Wohnungen einweihen sollte. Das geht ihn nichts an, entschied er.
»Arbeitet Marianne eigentlich?«
»Wie kommst du auf diese Frage?«
»Na ja, vielleicht weil ich mir das nicht recht vorstellen kann. Zumindest damals warst du sehr konservativ. So nach dem Motto: Ich verdiene die Brötchen und meine Frau hält mir den Rücken frei.«
»Marianne arbeitet in einer Boutique in der Duisburger Innenstadt«, entgegnete Pielkötter nach einigem Zögern. Auch das ging Volker Brinkmann nichts an. Gut, dass er vorhin die Trennung verschwiegen hatte. Nachher würde sein ehemaliger Kommilitone daraus schließen, dass seine Einstellung der Grund für Mariannes Auszug gewesen sei. Eigentlich verspürte er nicht mehr viel Lust auf einen gemeinsamen Abend, aber nun hatte er zugesagt.
»Schön, dass du dir etwas Zeit nehmen willst«, ließ Volker das Thema Marianne endlich fallen. »Am besten kehren wir bei Stuhlmacher ein, dann haben wir nur ein paar Schritte zu laufen.«
Das Traditionshaus neben dem Rathaus war stark besucht, doch sie fanden noch einen Platz an einem runden Tisch im Schankraum. Volker bestellte ein Pinkus und er einen Kaffee. Nachdem die Bedienung verschwunden war, sahen sie sich für einige Sekunden schweigend an.
»Jetzt bist du aber an der Reihe«, erklärte Pielkötter. »Ich habe mich immer gefragt, warum du die Ausbildung ohne Vorwarnung einfach von einem Tag auf den anderen hingeworfen hast? Dabei habe ich immer gedacht, zur Polizei zu gehen, wäre dein Traumberuf, zumal das bei euch ja schon so eine Art Familientradition war.«
»Tradition wird allgemein überbewertet«, entgegnete Volker. Nachdenklich nahm er einige Schlucke von dem Bier, das die Kellnerin inzwischen gebracht hatte. »Wie erkläre ich dir das jetzt am besten?« Er strich mehrmals an seinem kurz geschnittenen dunklen Bart entlang. »Das war mir alles zu bürokratisch. Zu viele Zwänge. Und als mein Onkel mir angeboten hat, in seiner Mietwagenfirma in England einzusteigen, war das zu verlockend. Weißt du, wie sehr ich mir immer gewünscht habe, ins Ausland zu gehen? Das geht gar nicht, wenn du bei der Polizei bist. Und dann gleich Oxford. Nicht so ’n Kaff, sondern eine attraktive Stadt mit vielen Studenten und einer noch besseren Kneipenszene als Münster.«
»Aber warum hast du nicht mit mir und den anderen darüber gesprochen?«
»Vielleicht hatte ich Angst, dass ihr mich zum Bleiben überredet und ich meine Chance ungenutzt verstreichen lassen würde.«
»Und? Hat es sich gelohnt, alles aufzugeben?«
»Ich denke schon.«
»Doch jetzt bist du wieder nach Deutschland zurückgekehrt?«
»Zum Glück nicht.« Er grinste. »Nur zu Besuch. Mein Vater ist inzwischen verstorben, aber meine Mutter lebt noch. Ich bin zu ihrem Achtzigsten hergeflogen und habe dann gleichzeitig wieder einmal alle Verdächtigen besucht.«
»Waren welche von der Akademie dabei?«
Volker schüttelte den Kopf. »Damit habe ich damals radikal abgeschlossen, auch wenn das sicher nicht richtig gewesen ist. Und jetzt sind die ehemaligen Kommilitonen überallhin verstreut und ich kann sie nur durch Zufall treffen, so wie dich.« Volker lachte, wurde jedoch schnell wieder ernst. »Jetzt erzähle ich dir mal etwas, was ich bis vor Kurzem völlig aus meinem Gedächtnis gestrichen hatte. Nach den ersten Jahren in England habe ich eine Weile mit dem Gedanken gespielt, eine Detektei aufzumachen.«
»Und warum hast du die Idee nicht in die Tat umgesetzt?«
»Die Arbeit als Teilhaber in der Firma meines Onkels war zu lukrativ. Allerdings wäre das vielleicht etwas für dich. So unendlich viele Jahre sind es ja nicht mehr bis zu deiner Pensionierung. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du das Rentnerdasein genießen wirst, ohne deine Spürnase einzusetzen.« Er grinste. »Sofern du dich nicht radikal geändert hast.«
Den Kaffee hatte Pielkötter mit einigen Gläsern Pinkus nachgespült und jede Menge Fragen zu seiner Arbeit beantwortet. Das Lokal verließ er nicht mehr nüchtern. Während er zum Hotel lief, strömte eine Flut von Erinnerungen aus der Ausbildungszeit auf ihn ein. Ehemalige Kommilitonen in wechselnder Runde, einige Male mit Marianne. Mit Volker Brinkmann war er nie besonders eng zusammen gewesen. Hatte er ihn überhaupt gemocht? Pielkötter wusste es nicht mehr. Heute hatte Volker ihn auf jeden Fall animiert, genauer über seine berufliche Zukunft nachzudenken. Brinkmann war freiwillig ausgestiegen, bevor seine Karriere bei der Polizei begonnen hatte. Er selbst würde spätestens in wenigen Jahren den Dienst sogar dann aufgeben müssen, wenn er die Wiedereingliederung ohne Komplikationen überstand. Bisher hatte er nur bis zu diesem Zeitpunkt geplant. Das würde sich ändern.
Kapitel 3
Pielkötter war seit einigen Tagen von der Fortbildung zurückgekehrt und Plötsche möglichst aus dem Weg gegangen. In Duisburg hatte sich zum Glück nichts ereignet, was seine Anwesenheit erfordert hätte. Er hängte seinen Mantel auf, da klingelte das Telefon. Pielkötter hastete zu seinem Schreibtisch und nahm das Gespräch an.
»Im Kant-Park, sagten Sie?« Auf seiner Stirn bildete sich eine steile Falte. »Ja, ja, wir brechen sofort auf.«
Er hatte kaum aufgelegt, da tauchte sein junger Mitarbeiter Barnowski im Türrahmen auf. Und wie immer hatte er nicht angeklopft. »Haben Sie schon gehört, Chef? Eine weibliche Leiche ist im Kant-Park gefunden worden.«
Pielkötter nickte ärgerlich. Wahrscheinlich hatte man seinen Untergebenen wieder einmal vor ihm informiert. War er für die Kollegen etwa schon halb aus dem Dienst? Hatte Plötsche ihnen befohlen, sich zuerst an Barnowski zu wenden? Vielleicht wäre ich besser ausgestiegen wie Volker, überlegte er, dann schüttelte er heftig den Kopf. Trotzdem wertete Pielkötter es als eine Art Fügung, den alten Bekannten getroffen zu haben. Dessen Werdegang zeigte ihm deutlich, dass ein erfülltes Leben nicht vom Polizeidienst abhing.
Es dauerte keine Viertelstunde, bis sie den Tatort erreichten. Die Kollegen von der Streife hatten schon großräumig abgesperrt. Auch das Team von der Spurensuche hatte seine Arbeit bereits aufgenommen. Zuerst trafen sie auf eine völlig fassungslose Polizistin mit feinen Zügen und vollen Lippen. Sie stand direkt hinter dem rot-weißen Flatterband. Pielkötter erstaunte, dass sie eine Leiche derart aus der Fassung zu bringen vermochte.
»Bei dem Opfer handelt es sich …«, sie rang mühsam nach Worten. »Ich kann es einfach nicht glauben.« Sie schaute an ihnen vorbei in die Ferne, dann kehrte ihr Blick zurück. »Es ist meine Kollegin Imke Bielstett.« Hastig wischte sie über ihre Augen »Ich kenne sie auch privat.«
»Der Name sagt mir leider nichts und wir beide haben bisher wohl auch noch nie zusammengearbeitet.« Pielkötter massierte sein glatt rasiertes Kinn.
»Ich heiße Franziska Gerstner«, erwiderte sie. »Wir gehören beide zur Polizeiwache Moers. Ich war gerade auf dem Weg zum Amtsgericht. Als ich Polizistin und Kant-Park hörte, wusste ich sofort, dass das nur Imke sein konnte.« Tränen strömten ihre Wangen hinunter.
»Wir werden das Schwein finden«, meldete sich Barnowski zu Wort, der einen Blick auf das Opfer geworfen hatte und soeben in Schutzkleidung inklusive Schuhüberzieher zurückkehrte. Nach seiner versteinerten Miene zu urteilen ging auch ihm der gewaltsame Tod der jungen Polizistin sehr nah.