Hinter strahlender Fassade - Irene Scharenberg - E-Book

Hinter strahlender Fassade E-Book

Irene Scharenberg

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Beschreibung

Vanessa Halbach unterbricht ihren Aufenthalt in New York, um zu ihrer Tante nach Duisburg zu fliegen. Die letzten Telefongespräche mit ihr beunruhigen sie zutiefst. Die alte Dame wirkt desorientiert. Kann sie überhaupt noch ihren Pflichten als Mitinhaberin des Familienunternehmens nachkommen? Auch die anderen beiden Teilhaberinnen der Feinbrennerei sind in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand. Alle drei werden von denselben Ärzten betreut. Vanessa ist überzeugt: Irgendetwas stimmt da nicht! Je tiefer sie nachforscht, desto mehr gerät sie selbst in Gefahr und macht eine schreckliche Entdeckung …

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Seitenzahl: 254

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Irene Scharenberg

Hinter strahlender Fassade

Kriminalroman aus dem Ruhrgebiet

Prolibris Verlag

Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie der Autorin. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind Veranstaltungen, Institutionen, Straßen und Schauplätze im Ruhrgebiet.

Originalausgabe November 2023

Alle Rechte vorbehalten, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der fotomechanischen Wiedergabe sowie der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel

Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29

Titelbild © PantherMedia, Olaf Schulz

E-Book: Prolibris Verlag

ISBN E-Book: 978-3-95475-269-0

Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.

ISBN Print: 978-3-95475-259-1

www.prolibris-verlag.de

Für meinen Vater

Inhalt

Die Autorin

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Epilog

Mein Dank

Mehr Krimis aus dem Ruhrgebiet von Irene Scharenberg

Die Autorin

Irene Scharenberg ist in Duisburg aufgewachsen und hat hier Chemie und Theologie für das Lehramt studiert.

Seit 2004 sind zahlreiche ihrer Kurzgeschichten in Anthologien und Zeitschriften erschienen und in Wettbewerben ausgezeichnet worden. 2009 gehörte die Autorin zu den Gewinnern des Buchjournal-Schreibwettbewerbs, zu dem mehr als 750 Geschichten eingereicht wurden.

Irene Scharenberg ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter. Auch wenn sie heute am Rande des Ruhrgebiets in Moers lebt, so ist sie doch nach wie vor ihrer alten Heimat Duisburg und dem gesamten Pott sehr verbunden. »Hinter strahlender Fassade« ist ihr zwölfter Kriminalroman.

Prolog

Verstohlen und doch wachsam schaute der Mann sich um, bereit, jeden Moment seine Pläne zu ändern. Das Waldstück gegenüber wirkte friedlich, dennoch ließ er sich nicht täuschen. Besonders nicht von der Person, die er insgeheim die Schlange nannte. Wie passend, dass sie sich im Zoo begegnen würden. Sie hatte vorgeschlagen, sich in dem Wandergebiet am Kaiserberg zu treffen, aber er hatte abgelehnt. Der Treffpunkt war nicht seiner zweifellos ausgeprägten Tierliebe geschuldet, eher dem regen Publikumsverkehr. Den Austausch an einem einsamen Ort stattfinden zu lassen, kam für ihn nicht infrage. Bereits einmal hatte die Schlange ihm gezeigt, dass sie cleverer war als er, und er hatte winselnd den Schwanz eingezogen. Das durfte sich nicht wiederholen. Diesmal war er auf alles vorbereitet. Er hatte sich abgesichert. Ein Brief, der sie in Bedrängnis bringen würde, lag in seiner Wohnung und darüber würde er sie noch vor der Begrüßung in Kenntnis setzen.

Der Mann schielte auf seine Armbanduhr, dann zum Eingang des Zoos. Ihm blieb noch eine gute Stunde bis zur ausgemachten Zeit. Als Treffpunkt im Zoo hatte er nach langem Hin und Her die Autobahnbrücke akzeptiert, die den westlichen und den östlichen Teil des Tierparks miteinander verband. Die Brücke mit der Bepflanzung, aus der man das Wort »ZOO« herausgeschnitten hatte, war ihm schon bei der Fahrt nach Duisburg aufgefallen. In einer anderen Situation hätte er die Werbung sicher originell gefunden, aber nicht vor seiner Mission. Er besuchte die Stadt nicht als Tourist, sondern um Geld einzutreiben.

Seit man ihm wegen Diebstahls gekündigt hatte, stand ihm das Wasser förmlich bis zum Hals, sonst hätte er sich kaum an die Schlange herangewagt. Er musste nur wachsam sein, damit sie ihn nicht noch einmal linkte. Automatisch glitt seine Rechte in die Hosentasche, seine Finger umschlossen das Messer, das er zur Sicherheit eingesteckt hatte. Mit Schaudern dachte er an die Methoden, mit denen ihn die Schlange damals ausgetrickst hatte.

Er schüttelte den Kopf mit dem immer noch vollen dunklen Haar, als wollte er die Erinnerung dadurch verscheuchen, und lief in Richtung Tierpark. An der Kasse des Haupteingangs, die bald schließen würde, brauchte er nicht lange zu warten. Der Zoo war zu groß, um das Terrain mit den vielen Tierarten in der kurzen Zeit bis zum Ende der Öffnungszeit ausreichend zu erkunden. Der Mann stöhnte leise. Hatte er einen Fehler gemacht? Warum hatte er nicht darauf bestanden, sich früher zu treffen? Hatte die Schlange die wichtigen Termine etwa nur vorgetäuscht? Mit einem Grummeln im Magen beobachtete er, dass schon etliche Besucher dem Ausgang zuströmten. Wahrscheinlich hatten sie seit dem frühen Morgen im Tierpark zugebracht und wollten ihn mit vielen schönen Eindrücken verlassen, ehe die Dämmerung einsetzte.

Die Trümpfe liegen diesmal in deiner Hand, versuchte der Mann sich zu beruhigen. Einige Tierfreunde harren sicher bis zur letzten Minute aus und du hast dich mit dem Brief auf dem Küchentisch abgesichert. Er bemühte sich um ein Lächeln, aber das misslang. Die Schlange machte ihm Angst, auch wenn er sich das ungern eingestand. Schließlich nannte er die Person nicht umsonst so. Sie war äußerst listig und in der Lage, sich aus kritischen Situationen herauszuwinden.

Der Mann lief auf eine Tafel zu, um sich über das Gelände zu informieren. Nach einem kurzen Blick auf seine billige Armbanduhr beschloss er, noch eine Weile in dem westlichen Teil des Tierparks zu bleiben. Er betrachtete die Lemuren mit ihren schwarz-weiß-gestreiften Schwänzen, die man auf einer Insel angesiedelt hatte. Viele kletterten herum, ihm hatte es jedoch eine Gruppe angetan, die friedlich auf dem Boden hockte. Ihr Anblick beruhigte ihn. Er genoss die Idylle für eine Weile, dann zog es ihn zu einem Gehege mit Pelikanen und Flamingos. Mit zittrigen Händen hielt er das Geländer des Geheges umklammert. Seine innere Anspannung entlud sich in einem grundlosen Lachen. »Du hast dich gut abgesichert«, sprach er immer wieder leise vor sich hin. Es klang, als müsse er sich davon erst überzeugen. Die Schlange durfte sich ihm nur mit erkennbar leeren Händen nähern. Ohne Handschuhe. Das hatte er zur Bedingung gemacht. Mit mulmigem Gefühl sah er sich um.

Regen setzte ein. Eine Familie mit zwei Kindern hetzte an ihm vorbei in Richtung Haupteingang. Ein älteres Ehepaar folgte ihnen. Sein Magen krampfte sich bei dem Gedanken zusammen, dass sie wahrscheinlich zu den letzten Gästen im Zoo gehörten und sich kaum noch Menschen auf dem Gelände befanden. Trotzdem kann die Schlange dir nichts tun, solange du ihre Hände im Blick hast, versuchte er sich erneut zu beruhigen. Er passierte einige Elefanten, ohne ihnen Beachtung zu schenken, und erreichte bald darauf die Brücke.

Wo die Schlange nur blieb? Die verabredete Uhrzeit war längst überschritten. Der Mann kratzte mit dem rechten Zeigefinger an seinem Kinn herum, als gelte es, angetrocknete Speisereste abzurubbeln. War sie inzwischen nicht mehr gewillt, auf seine Forderung einzugehen? Oder hatte etwas Unvorhergesehenes sie aufgehalten? Der Grund war ihm plötzlich egal, er hatte beschlossen, schleunigst von hier zu verschwinden. Er saß am Drücker, nicht sie. Deshalb konnte er eine neue Übergabe an einem anderen Ort vereinbaren, einem Ort mit mehr Menschen. Zufrieden mit dieser Entscheidung setzte er sich in Bewegung.

Er hatte das Ende der Brücke noch nicht erreicht, da bemerkte er sie. In einem weiten Regenmantel, den Kopf in die Kapuze gehüllt, war sie nur als schemenhafte Gestalt zu erkennen, aber er spürte förmlich ihre Anwesenheit. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Alle Sinne schalteten in den Modus akuter Alarmbereitschaft. Warum diese Wetterkutte, die ihren Körper vollständig verbarg? Im nächsten Moment fiel ihm ein, dass er ihr aus Sicherheitsgründen verboten hatte, einen Schirm zu benutzen. Die Aufmachung durfte er ihr also kaum verübeln. Dass nur sie es sein konnte, bewiesen nun auch ihre Hände, die sie beim Herannahen bewusst weit nach vorn gestreckt hatte. Zwar lag ihr Gesicht weiterhin im Schatten der Kapuze, doch er war sicher, dass sie es zu einem diabolischen Lächeln verzogen hatte. Während sie auf ihn zulief, ließ er sie nicht aus den Augen. Er war jeden Moment auf eine gefährliche Aktion gefasst. Je mehr sich der Abstand zwischen ihnen verringerte, desto heftiger klopfte sein Herz.

»Stau auf der Autobahn«, schleuderte ihm die Schlange entgegen. Es klang nicht nach einer Entschuldigung. Das hatte er auch nicht erwartet, nicht von einer Person, der er sich immer haushoch unterlegen gefühlt hatte. Zumindest, bis er die entsprechenden Informationen über sie eingeholt hatte.

»Ich wäre jetzt aufgebrochen«, erwiderte er, bemüht um eine möglichst fest klingende Stimme.

»Ohne das Geld?« Die Schlange verzog spöttisch den Mund, den er nun gut erkennen konnte. »Ich nehme es gerne wieder mit.«

»Mach schon!«, presste er hervor. »Und keine Spielchen. Ich habe mich abgesichert, habe …«

»Okay, ich ziehe die Scheinchen jetzt aus dem Regenmantel.«

»Nein! Die Hände bleiben, wo sie sind. Ich hole sie selbst heraus.«

»Ganz, wie du meinst.«

Er sah ihr direkt ins Gesicht. Zunächst glaubte er, dieses diabolische Grinsen zu erkennen, das er sich vorhin vorgestellt hatte, dann war es zugunsten einer neutralen Miene verschwunden. Hatte er sich getäuscht? »Hände ganz weit vorstrecken und umdrehen«, befahl er. Sein Herz begann erneut zu rasen.

Die Schlange gehorchte. Während er in die Taschen des Mantels fasste und zwei dicke Bündel herauszog, rannen Schweißperlen seinen Rücken hinunter.

»Los, zähl nach!«, fauchte die Schlange, als er wieder vor ihr stand.

»Worauf du dich verlassen kannst.« Er entfernte die Banderole und zählte. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen. Die Scheine klebten aneinander und er kam mit seiner Arbeit nur langsam voran. Er befeuchtete seine Finger mit Speichel, auch wenn er sich ekelte, immer wieder seine Zunge abzulecken. Zum Glück hatte es inzwischen aufgehört zu regnen. »Genau fünfundzwanzigtausend«, erklärte er, nachdem er mit dem ersten Bündel fertig war. Er steckte es in den Beutel, den er extra dafür mitgebracht hatte. »Soll ich davon ausgehen, dass auch der Restbetrag stimmt?«, fragte er mehr oder weniger scherzhaft. Zumindest sollte es so klingen.

»Nein!« Sie machte einen Schritt auf ihn zu und er wich automatisch zurück. Dabei betrug der Abstand zwischen ihren Händen und seinem Körper immer noch gut einen halben Meter. »Fünfzigtausend waren vereinbart, nicht mehr, nicht weniger. Ich bin korrekt und möchte, dass du das bestätigst und nicht hinterher mit neuen Forderungen ankommst.«

Wenn du dich da mal nicht täuschst, dachte er im Stillen. Die Garantie würde er ihr leider nicht geben können und er hatte die Schlange eigentlich für intelligenter gehalten. Zum ersten Mal seit der Begegnung atmete er auf und fühlte sich überlegen. Trotzdem musste er wachsam bleiben. Er nahm sich das zweite Päckchen vor und begann erneut zu zählen. Auch bei diesem Bündel klebten die Scheine aneinander. Obendrein behinderte ihn ein taubes Gefühl in seinen Händen. Er hatte nicht einmal bis vierzigtausend gezählt, da schienen Ameisen über sein Gesicht und seinen Oberkörper zu laufen. Krampfhaft versuchte er, die Störung zu ignorieren und seine Arbeit fortzusetzen. Zwischendurch wischte er sich mehrmals mit der Hand über die feuchte Stirn. Plötzlich wurde ihm schwindelig. Und übel. Wie in Trance registrierte er, dass er nach unten sank und nichts dagegen tun konnte. Die Schlange fasste ihn unter die Schultern und zog ihn über den Boden. Sie hat gewonnen, war sein letzter Gedanke.

Kapitel 1

»Brigitte? Hallo? Bist du noch dran?«, fragte Vanessa Halbach irritiert. Das Display zeigte, dass ihre Gesprächspartnerin nicht aufgelegt hatte. Beunruhigt fuhr sich Vanessa durch die braunen, halblangen Haare. »Brigitte!«, schrie sie in einem Anflug von Verzweiflung. Am anderen Ende der Leitung blieb es weiterhin seltsam still.

»So müde«, antwortete ihre Tante nach einer gefühlten Ewigkeit, wenig später brach der Kontakt endgültig ab.

Für einige Sekunden starrte Vanessa den Hörer an, schließlich legte sie auf. Leider war das nicht der erste Anruf, bei dem Brigitte sich so seltsam benahm. Was war nur mit ihrer sonst quirligen, wortgewandten Lieblingstante los? Vanessa erkannte sie kaum wieder.

Aufgewühlt wanderte sie in dem kleinen Apartment in Harlem auf und ab. Was ging in ihrer alten Heimat vor? Vanessa dachte an die Verwandten, die sie dort zurückgelassen hatte, an Tante Brigitte, mit der sie besonders eng verbunden war, und Onkel Christian, Brigittes Bruder, mit seiner Frau Gabriele und Sohn Carsten. Seit Vanessa vor einem halben Jahr für einen deutschen Konzern aus der Elektronikbranche als sogenannte Expat nach New York gegangen war, jagte eine Hiobsbotschaft aus dem Ruhrgebiet die nächste. Angefangen hatte es mit Onkel Christians Tod, danach hatte Brigitte ein neues Hüftgelenk bekommen und schließlich waren sowohl Gabriele als auch Cornelia Erickson, die beste Freundin ihrer beiden Tanten, erkrankt. Am meisten sorgte sie sich darum, dass sich Brigitte so seltsam benahm, obwohl sie die Operation angeblich gut überstanden hatte.

Abrupt blieb Vanessa stehen und starrte auf das Telefon, das auf einem runden Beistelltisch unter einem Fenster mit üppig gemusterten Übergardinen stand. War die geballte Ladung an dramatischen Veränderungen innerhalb weniger Monate purer Zufall? Die drei Damen waren schließlich erst Ende sechzig und Onkel Christian zweiundsiebzig. Vanessas ausdrucksvolle blaugrüne Augen verengten sich und verrieten eine gehörige Portion Skepsis. Trauer drückt sich oft in Krankheiten aus, überlegte sie. Zumindest hatte sie das in irgendeinem Journal gelesen. Waren also Gabriele und Brigitte wegen des Tods von Onkel Christian erkrankt? Aber wie passte Cornelia Erickson in dieses Bild? Sie hatte zu ihm keine enge Beziehung gehabt.

Grübelnd lief sie an einem schmalen, hohen Esstisch vorbei, der die kleine Küchenzeile von dem Wohnschlafbereich trennte. Das Apartment hatte sie von ihrem Vorgänger übernommen, der inzwischen nach Deutschland zurückgekehrt war. Wie er arbeitete sie daran, einen weiteren Standort ihrer Firma in den Vereinigten Staaten aufzubauen. Vanessa öffnete den Kühlschrank, holte eine angebrochene Flasche kalifornischen Weißwein heraus und füllte ein Glas fast bis zum Rand. Dabei dachte sie an Onkel Christian, der nun schon einige Monate auf dem Duisburger Waldfriedhof lag. Sie hatte ihm leider nicht die letzte Ehre erwiesen. Wegen einer wichtigen Präsentation, die sie nicht hatte absagen wollen, war sie nicht zu seiner Beerdigung nach Hause geflogen. Inzwischen bereute sie, dem Beruflichen eine höhere Priorität eingeräumt zu haben als der Familie. Schlimmer noch als die latenten Schuldgefühle empfand sie, Brigitte nicht persönlich treffen zu können, seit sie sich so seltsam benahm. Sie hatte sich bei ihrer Haushälterin erkundigt, aber Frau Grubenhauer konnte sich das Verhalten auch nicht recht erklären oder wollte es nicht. Und Cousin Carsten hatte die Veränderung ihrer gemeinsamen Tante einfach heruntergespielt.

Vanessa ließ einen großen Schluck trockenen Wein durch die Kehle rinnen, dann sank sie mit dem halb leeren Glas auf ein scheußlich in Schwarz und Pink gemustertes Sofa. Das hätte sie niemals freiwillig in ihr Heim gestellt, aber es gehörte nun mal zu dem möblierten Apartment und sie musste froh über die für diesen Stadtteil akzeptable Miete sein. Dafür hatte sie das Landschaftsbild in erdigen Farben an der gegenüberliegenden Wand selbst aufgehängt. Es erinnerte sie an den Urlaub, den sie in zwei Wochen antreten wollte. Sie freute sich riesig darauf, die Nationalparks im Westen der USA zu besichtigen, und hatte mit viel Eifer eine schöne Route ausgearbeitet. Aber konnte sie wirklich ruhigen Gewissens in den Grand Canyon hinabsteigen, anstatt in der Heimat nach ihrer Familie zu sehen?

Vanessa trank einen weiteren Schluck Wein und stellte das Glas etwas zu heftig auf den Couchtisch zurück. Warum fühlte sie sich schon wieder verantwortlich? Sie durfte den ersehnten Urlaub nicht einfach abblasen, nur weil ihre Tanten unter gesundheitlichen Problemen litten. Nach der Trauerphase würde es Tante Gabriele sicher besser gehen und Brigittes seltsame Symptome würden wahrscheinlich von allein wieder verschwinden. Es war absurd, sich deshalb übertriebene Sorgen zu machen, vor allem eine Änderung ihrer Urlaubspläne in Betracht zu ziehen. Zum Glück musste sie heute keine Entscheidung fällen und konnte erst einmal eine Nacht darüber schlafen. Vanessa gönnte sich noch einen Schlummertrunk und bald sah sie keinen Grund mehr, sich den Spaß an der Rundreise verderben zu lassen. Als sie immer müder wurde, wankte sie halbwegs beruhigt ins Bett. Kurz darauf übermannte sie der süße Schlaf. Gegen Morgen wurde er von einem düsteren Traum gestört.

Vanessa lief einen engen, unheimlichen Gang entlang, in dem es nach Verwesung roch, als hätten sich alle Tiere der Umgebung hier zum Sterben versammelt. In dem dunklen Gemäuer gab es kein Fenster, durch eine halb geöffnete Tür am Ende des Gangs drang ein wenig Licht. Plötzlich vernahm sie ein dumpfes Geräusch aus dieser Richtung, danach leise Schritte. Sie drehte sich um, wollte fliehen und stand vor einer Wand. Es gab keinen Fluchtweg, nicht einmal ein Versteck. Sie harrte in dem moderigen Gang aus, allein mit der bohrenden Angst und lauschte, aber inzwischen war alles still. Gebannt starrte sie auf die Tür. Was verbarg sich dahinter? Trotz ihrer Angst zog das Licht sie magisch an. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. An der Schwelle blieb sie stehen und spähte durch den kleinen Spalt. Mitten im Raum stand ein dunkler Sarg aus Holz. In seinem Deckel steckte ein Schlüssel. Wie in Trance steuerte sie darauf zu. Noch einen Schritt, dann hatte sie ihn erreicht. Ehrfurchtsvoll strich sie über das Holz, schließlich erfasste sie mit zitternder Hand den Schlüssel und drehte ihn herum. Schweißperlen rannen ihren Nacken hinunter. Als sie den Sargdeckel vorsichtig anhob, kam ein knallroter Stoff an seinen Rändern zum Vorschein. Sie zögerte, tiefer hineinzuschauen. Für einen kurzen Moment hätte sie den Deckel am liebsten zugeworfen, aber die Neugier zwang sie, genau hinzusehen. Der Anblick ließ sie erschauern. In dem Sarg lag eine tote Frau mit blutgetränktem Hemd. Ihr verzerrtes Gesicht trug eindeutig Tante Brigittes Züge.

Vanessa erwachte von ihrem Schrei. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der feuchten Stirn und stöhnte laut. Was hatte der Traum zu bedeuten? Sorgte sie sich mehr um den Zustand der Lieblingstante, als sie wahrhaben mochte? Brigitte war ihr nach dem frühen Unfalltod ihrer Eltern eine Art Mutterersatz geworden und sie hatte ihr sehr viel zu verdanken. Vanessa wankte aus dem Bett, um sich ein Glas Wasser zu holen. Bevor sie die Küchenzeile erreichte, fällte sie eine wichtige Entscheidung. Sie wollte so schnell wie möglich in der alten Heimat nach dem Rechten sehen.

Kapitel 2

Die Beschleunigung der Boeing presste Vanessa gegen die Rückenlehne. Unwillkürlich seufzte sie auf, als läge eine ungeheure Last auf ihren Schultern. Sie starrte gedankenverloren eine Weile vor sich hin. Schließlich beugte sie sich etwas vor, um an ihrem Sitznachbarn vorbei aus dem Fenster zu schauen. New York war inzwischen zu einem winzigen Flecken in der Ferne geschrumpft, fast so wie die unbeschwerte Urlaubsvorfreude.

Als eine Stewardess mit zusammengebundenen roten Haaren den Getränkewagen an ihr vorbeischob, bestellte Vanessa Orangensaft. Sie klappte das Tischchen herunter und stellte ihn darauf ab. Ihre Gedanken kehrten zu ihrer Familie zurück, die sie nun schneller wiedersehen würde als geplant, nicht erst nach dem Auslaufen ihres New Yorker Vertrages. Ungeschickt griff sie nach dem Becher und stieß ihn um. Die Flüssigkeit breitete sich auf dem Klapptisch aus. Obwohl ihr Nachbar gelassen durch seine kreisrunden Brillengläser blickte und seine helle Jeanshose offensichtlich keinen Spritzer abbekommen hatte, ärgerte sie sich über ihr Missgeschick. Nachdem sie den Saft mit einigen Papiertaschentüchern aufgesaugt hatte, schaute sie missmutig aus dem Fenster. Die Farbe des wolkenlosen Himmels hatte bereits das satte Blau verloren und ging in leuchtende Rottöne über. Leider würde der Flug nach Osten gegen die Zeit das farbenfrohe Schauspiel verkürzen.

»Der Herbst ist genau die richtige Jahreszeit für einen Trip nach New York«, unterbrach ihr Sitznachbar die trüben Gedanken.

Verwundert fragte sie sich, woher er wusste, dass sie Deutsch sprach. Mit der Stewardess hatte sie Englisch gesprochen. Hatte sie diesen grässlichen Akzent etwa immer noch nicht abgelegt? »Ja, da haben Sie Recht. Allerdings habe ich die Stadt nicht als Tourist besucht«, erwiderte sie. »Ich arbeite dort für eine deutsche Firma.«

»Dann sind Sie zu beneiden.« Während er Vanessa anlächelte, zeigte er eine Reihe makelloser Zähne, die er entweder einer überaus guten Laune der Natur zu verdanken hatte oder einem reichlich gefüllten Bankkonto. Er war etwas älter als sie und strahlte Lebensfreude aus. Weil sie nichts erwiderte, schien sein Blick zu fragen, warum sie angesichts des Glücks, in New York leben und arbeiten zu können, nicht in einer besseren Stimmung sei. Vanessa verspürte allerdings nicht die geringste Lust, ihn darüber aufzuklären oder Small Talk zu führen. Demonstrativ nahm sie ein Buch aus ihrer Handtasche und vertiefte sich darin, bis sie zu frösteln begann. Sie erhob sich, um ihre Jacke aus dem Gepäckfach zu holen.

Auf dem Gang stieß sie mit einem smarten Steward zusammen. Sein gekonnter Augenaufschlag, gepaart mit einem leicht spöttischen Grinsen brachte sie ein wenig aus der Fassung, und sie beeilte sich, aus seinem Dunstkreis zu kommen. Warum tat die Erinnerung an René immer noch weh? Drei Jahre lang war sie dahingeschmolzen, wenn er sie so angeschaut hatte. Drei Jahre hatte sie sich glücklich geschätzt, seine Partnerin zu sein, bis ein herrlicher Frühlingstag vor zehn Monaten alles zerstört hatte.

Die Ereignisse an jenem denkwürdigen Tag spulten wie ein Film vor ihrem inneren Auge ab: Der geplatzte Geschäftstermin, das Taxi zu Renés Wohnung, die Vorfreude, bald in seine Arme zu sinken. Wenig später hatte sie an der Tür zu seinem Schlafzimmer gestanden, nicht ahnend, welch schreckliches Bild sich ihr präsentieren würde. Renés Rechte hatte lässig über die nackte Brust einer fremden Frau gestrichen. Wie gebannt hatte Vanessa auf den zweifellos attraktiven Körper seiner blondierten Bettgenossin gestarrt. Niemals würde sie diese Szene vergessen, auch nicht, in welch lockerem Plauderton er sich später zu entschuldigen versucht hatte. Seine selbstgefällige Art hatte dazu geführt, dass sie mit dieser Beziehung nur noch negative Gefühle verband. Daher war ihr das Angebot, im Auftrag ihrer Firma für ein Jahr nach New York zu gehen, wie ein Rettungsanker erschienen. Aber hatte sie dadurch wirklich genügend Abstand gewonnen? Mit einem Mal wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie die Verletzung nur verdrängt, aber nicht vergessen hatte.

Vanessa landete spät, jedoch pünktlich am Flughafen Düsseldorf. Kurz überlegte sie, ein Taxi zu nehmen, entschied jedoch, zumindest die erste Strecke mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzulegen. Sie machte sich eilig auf den Weg zum Skytrain, der den Flughafen mit der nächsten Bahnstation verband. Als der Regionalexpress in Richtung Dortmund nach einer gefühlten Ewigkeit heranrauschte, stieg sie ein und nahm gegenüber einem jungen Pärchen Platz. Der etwa zwanzigjährige Mann hatte einen Arm um eine Frau gleichen Alters gelegt.

»Boh glaubse, ich kriech sonne Krawatte, wenn ich bloß dran denk, dat der mich schon wieder für diese fiese Maloche eingeteilt hat.« Er sprach recht lautstark auf seine Freundin ein. »Dat macht der doch extra, weil, der kann mich absolut nich ab. Aber wenn ich ers ma wat anderes inne Tasche hab, dann wird der Malocher-Schinder Kevin Krewitz von seine unangenehme Seite kennenlernen. Dat sach ich dich.« Der junge Mann schnaufte, als wollte er schon einmal für die Konfrontation üben. »Wenn ich da Knall auf Fall im Sack haun tu, dann fällt dem der Draht aus sein Hörgerät. Da freu ich mich gez schon drauf.«

Während die Angesprochene ihn eher mitfühlend als überzeugt anschaute, musste Vanessa lächeln. Nach etlichen Monaten Konversation auf Englisch wirkte der Ruhrpottslang irgendwie wohltuend. Sie hätte der Unterhaltung stundenlang lauschen können, aber Kevin Krewitz kramte sein iPhone hervor, steckte sich zwei Stöpsel in die Ohren und vollführte zuckende Bewegungen. »Du, hömma, echt geil«, ließ er dann doch noch einmal unerwartet verlauten, während er seiner Freundin einen der Stöpsel reichte. Ehe die junge Frau das bestätigen konnte, kündigte eine Stimme die Haltestelle Duisburg Hauptbahnhof an.

Vanessa sah aus dem Fenster und auf den weit in den Himmel ragenden, ehemals grünlich leuchtenden Stadtwerketurm. Nun präsentierte er sich gleich in mehreren warmen Farben, Rosa, Gelb und Hellrot. Der Regionalexpress verlangsamte sein Tempo und Vanessa erhob sich. Während sie an dem Paar vorbei in Richtung Tür lief, warf die junge Frau ihr einen kurzen Blick aus lachenden Augen zu, dann verschwand sie aus ihrem Sichtfeld. Warum konnte sie nicht auch so unbeschwert durchs Leben gehen? Oder interpretierte sie nur eine Leichtigkeit in das Leben dieser Jugendlichen hinein, die es in Wirklichkeit gar nicht gab? Zumindest wusste sie eines ganz sicher: Seit dem Unfalltod ihrer Eltern hatte sich die jugendliche Sorglosigkeit von ihr verabschiedet.

Vanessa verzog den Mund zu einem gequälten Lächeln. In ihrem bisherigen Leben war vielleicht mehr zu Bruch gegangen als in der oft fotografierten und mit Panzerband notdürftig zusammengehaltenen Fensterwand am Duisburger Hauptbahnhof. Inzwischen hatte man mit der Sanierung der Gleishalle begonnen. Viel zu lange hatte der Regen durch die Löcher im Dach auf die Bahnsteige getropft. Auch die Fangnetze hatten das nicht verhindert. Ein DB-Mitarbeiter soll den desolaten Zustand bei der Anfahrt auf den Bahnhof sogar in seiner Durchsage angekündigt und die Fahrgäste aufgefordert haben, sich nicht zu wundern. Sie würden in Kürze keinen Lost Place erreichen, sondern wirklich den Hauptbahnhof. Die überfällige Renovierung hatte nun begonnen und bis zur Internationalen Gartenschau 2027 sollte die Neugestaltung fast fertig sein. Splitterndes Glas, Klebeband an der brüchigen Fassade, ein beliebtes Fotomotiv, war Geschichte. Mit einer architektonisch auffälligen, wellenförmigen Stahl- und Glaskonstruktion sollte Duisburg den schönsten Bahnhof Deutschlands bekommen.

Nachdem Vanessa mit dem Aufzug vom Gleis ins Erdgeschoss hinuntergefahren war, stieg der Geruch von Pizza in ihre Nase. Er erinnerte sie daran, etwas fürs Abendessen zu besorgen. Umgehend steuerte sie eines der kleinen Ladenlokale mit Backwaren an und kaufte zwei monströse Brezel mit Sonnenblumenkernen. Vanessa eilte an weiteren Verkaufsständen vorbei zur Bahnhofshalle, die bereits hell und freundlich wirkte. Nachdenklich trat sie ins Freie. Der Portsmouthplatz vor dem Haupteingang und seine Umgebung hatten sich durch neue Hotelgebäude ziemlich verändert, nicht zuletzt durch das Duisburger Flaggschiff Mercator One, ein Gebäude mit Büros und Gastronomie vom renommierten Architektenbüro Hadi Teherani. Die Fassaden bestanden vorwiegend aus Glas, eingefasst von dunklem recyceltem Aluminium, an denen farbige Lichtlinien in der Dunkelheit leuchteten. Tief in ihre Gedanken versunken würdigte Vanessa sie nur eines schnellen Blickes.

Zu ihrem dritten Jahrestag hatte sie René zu einem Candle-Light-Dinner in einem ähnlichen Gebäude in Hamburg eingeladen. René hatte dieses besondere Datum vergessen, und anstatt seine Unachtsamkeit wiedergutzumachen, hatte er darüber nur gelacht. Damals hatte sie sein Verhalten entschuldigt, vielleicht auch einfach ignoriert. Erst im Nachhinein hatten die vielen Lieblosigkeiten sein wahres Ich enthüllt, das sie lange nicht hatte wahrhaben wollen.

Einen Empfang bei der Rückkehr von einem mehrmonatigen Auslandsaufenthalt hatte sie sich wirklich anders vorgestellt. Vanessa versuchte, ihre wehmütige Stimmung mit einer fahrigen Handbewegung zu verscheuchen, und winkte ein Taxi heran. Sie nannte dem schon etwas älteren Fahrer ihre Adresse in der sogenannten Planetensiedlung in Walsum und ließ sich auf der Rückbank nieder.

»Se waren wohl länger fort«, sagte er, nachdem er ihr Gepäck verstaut und die Auffahrt der Nord-Süd-Achse bereits passiert hatte. »Koschinski hat dafür nen Peil.«

»Genau«, murmelte Vanessa abwesend, während sie aus dem Fenster schaute. Um diese Zeit herrschte auf der A 59 nicht mehr viel Verkehr und sie rauschten wie im Flug an dem Hafengebiet mit all den Schiffen, Kränen und Containern vorbei. Bald hatte das Taxi das vierstöckige Mietshaus erreicht, in dem Vanessa in der zweiten Etage eine kleine Wohnung besaß. In ihr hatte sie sich immer sehr wohl gefühlt. Auch das Viertel mit etlichen Geschäften und einem eigenen Stadtteilmarkt gefiel ihr. Deshalb hatte sie ihr Reich nicht aufgegeben und natürlich, weil sie sich nach ihrem einjährigen Auslandsaufenthalt keine neue Bleibe suchen wollte.

»Ich kann Ihnen die Koffer hochbringen«, bot der Fahrer mit einem derart breiten Lächeln an, dass sich Vanessa drei Zahnlücken im hinteren Bereich seines Gebisses offenbarten.

»Danke, das ist nicht nötig. Stellen Sie das Gepäck einfach vor die Haustür.« Vanessa kramte seufzend in ihrer Geldbörse herum. Im Gegensatz zu anderen Ländern war Deutschland noch immer nicht genügend auf den Einsatz von Kreditkarten eingestellt und das galt leider auch fürs Revier.

»Na dann, gute Nacht«, wünschte Koschinski freundlich, nachdem sie gezahlt und ihm ein großzügiges Trinkgeld zugesteckt hatte.

In trüber Stimmung betrat sie das gelblich getünchte Treppenhaus. Der nahende Lift knarrte entsetzlich, aber wenigstens war es ein vertrautes Geräusch. Während sie in der engen grauen Kabine in die zweite Etage holperte, fühlte sie sich wie in ödem Niemandsland zwischen zwei Welten. Oben stellte sie die Koffer ab und sperrte die Tür auf. Vanessa blähte die Nasenflügel. Sie sog den fruchtigen Geruch des Duftspenders ein, der auf der Kommode in der Diele stand und anscheinend immer noch funktionierte. Es roch, als sei sie niemals fort gewesen. Mit dem Anflug eines Lächelns trug sie die Koffer rein, hängte den Mantel auf und startete einen Rundgang.

Die winzige Küche war ihr schon immer wie eine Telefonzelle vorgekommen. Ihr stark übergewichtiger Kollege Bill aus New York hätte kaum eine Chance, sie zu betreten. Neugierig öffnete sie den Kühlschrank. Sie entdeckte unzählige Lebensmittel, genug, um eine Großfamilie längere Zeit vor Hunger zu bewahren. Der Gedanke an ihre besorgte Freundin ließ sie kurz schmunzeln. Sabine glaubte wohl, sie hätte tagelang nichts zu essen bekommen. Nachdenklich nahm Vanessa den Chardonnay heraus und trug die Flasche ins Wohnzimmer. Der hübsche Strauß zartrosa Nelken auf dem Esstisch gefiel ihr, aber weitaus mehr hätte sie sich gewünscht, von einem vertrauten Menschen begrüßt zu werden. Warum musste Sabine ausgerechnet heute zu einem wichtigen Geschäftsessen eingeladen sein? Seufzend schenkte Vanessa sich Wein ein und trank den ersten Schluck im Stehen.

Mit dem Glas in der Hand trat sie auf den Balkon. Die nicht bepflanzten Blumenkästen wirkten trostlos und der plötzlich einsetzende Wind ließ sie frösteln. Vanessa beugte sich kurz über die Brüstung, dann kehrte sie in die warme Wohnung zurück und plumpste auf das schwarze Ledersofa hinter dem Tisch. »Grand Canyon, ade«, stöhnte sie. Am liebsten hätte sie ihr Selbstmitleid in der Flasche Chardonnay ertränkt, aber sie rief sich zur Räson. »Du hast dich nun einmal entschieden, hier nach dem Rechten zu sehen, also meckere jetzt nicht«, sagte sie laut zu sich selbst. Mit der Sorge um Brigitte im Hinterkopf hätte sie den Urlaub ohnehin nicht genießen können.

Vanessa schielte zur Flasche. Ein halbes Gläschen wollte sie sich noch gönnen, auch wenn ihr bewusst war, dass sie seit Brigittes seltsamen Anrufen zu viel trank. Bald setzte die Wirkung ein und machte sie schläfrig. Vanessa hatte den Koffer bisher nicht angerührt, geschweige denn ausgepackt. Wenigstens die nötigsten Utensilien für die Nacht musste sie heraussuchen. Trotz der Müdigkeit schlief sie lange nicht ein. Das lag nicht nur am Jetlag. Die Sorge um ihre Tante wollte partout nicht aus ihrem Kopf verschwinden.

Irritiert schaute sich Vanessa am nächsten Morgen im Zimmer um. Ihre Kleidung hing unordentlich über dem taubenblauen Korbstuhl, dessen Farbe in der Dunkelheit nicht zu erkennen war. Sie brauchte einige Sekunden, um sich in dem vertrauten, dennoch fremden Zimmer zurechtzufinden. Der Albtraum der letzten Nacht hielt sie immer noch gefangen. Erst als sie unter der Dusche stand und die Wassertropfen über ihren Körper perlten, schien der überaus reale Eindruck, den die nächtlichen Bilder hinterlassen hatten, langsam zu verblassen. Sie hatte wieder von Brigitte in einem Sarg geträumt. Plötzlich war eine rothaarige Stewardess aufgetaucht und hatte ihr eine Zeitung gereicht. Die erste Seite bestand nur aus einer monströsen Überschrift: Seltsame Häufung von Krankheits- und Todesfällen in Duisburg