Aus Staub und Knochen - Kathryna Kaa - E-Book
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Kathryna Kaa

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Beschreibung

Ava Summerspell verflucht ihre übersinnlichen Fähigkeiten, die bisher nur Unglück in ihr Leben gebracht haben. Doch als ihre beste Freundin Lucy auf ein schreckliches Geheimnis um ihre längst verstorbene Schwester stößt und spurlos verschwindet, braucht Ava ihre Kräfte, um Lucy zu retten. Gemeinsam mit Lucys Ehemann Julio, mit dem sie mehr als nur Freundschaft verbindet, begibt sich Ava auf eine gefährliche Reise durch eine düstere Welt. Auf ihrer Suche müssen sich die beiden den eigenen inneren Dämonen ebenso stellen wie denen, die sich von finsteren Geheimnissen der Seele ernähren. Die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen, und in einem Strudel aus Liebe, Tod und den tiefsten Abgründen des menschlichen Wesens offenbart sich die Macht der Dämonen. Ava und Julio werden auf eine harte Probe gestellt und müssen ihre eigenen Ängste überwinden, um das Geheimnis um Lucys Verbleib zu lüften.

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Aus Staub und Kno­chen
Das dunk­le Lied von Lie­be und Tod
Ka­thry­na Kaa
Co­py­right © 2023 Ka­thry­na Kaa
Ka­thry­na Kaac/o Block Ser­vi­cesStutt­gar­ter Str. 10670736 Fell­bachka­thry­na­kaa.demail­to: ka­thry­na@ka­thry­na­kaa.de Al­le Rech­te vor­be­hal­tenDie in die­sem Buch dar­ge­stell­ten Fi­gu­ren und Er­eig­nis­se sind fik­tiv. Jeg­li­che Ähn­lich­keit mit le­ben­den oder to­ten re­a­len Per­so­nen ist zu­fäl­lig und nicht vom Au­tor be­ab­sich­tigt.Kein Teil die­ses Bu­ches darf oh­ne aus­drü­ck­li­che schrift­li­che Ge­neh­mi­gung des Her­aus­ge­bers re­pro­du­ziert oder in ei­nem Ab­ruf­sys­tem ge­spei­chert oder in ir­gend­ei­ner Form oder auf ir­gend­ei­ne Wei­se elek­tro­nisch, me­cha­nisch, fo­to­ko­piert, auf­ge­zeich­net oder auf an­de­re Wei­se über­tra­gen wer­den.Lek­to­rat / Kor­rek­to­rat: Wel­ten­lek­to­rat / Aimée Zieg­ler-Kras­ka (htt­ps://www.wel­ten­lek­to­rat.de/)Co­ver­de­sign: Gies­sel De­sign
Für mei­ne Mut­ter.Ech­te Lie­be wird be­ste­hen,im Tod nicht aus­ein­an­der­ge­hen,aus Staub und Kno­chen auf­er­ste­hen,und sich im Jen­seits wie­der­se­hen.
In­halt
Ti­tel­sei­te
Co­py­right
Wid­mung
Trig­ger­war­nung
Pro­log
Ka­pi­tel 1: Dunk­le Wol­ken
Ka­pi­tel 2: Der Brief
Ka­pi­tel 3: Schat­ten der Ver­gan­gen­heit
Ka­pi­tel 4: Séan­ce mit Fol­gen
Ka­pi­tel 5: Fins­te­re Krea­tu­ren
Ka­pi­tel 6: Er­wach­te Ge­heim­nis­se
Ka­pi­tel 7: Dunk­le Schat­ten
Ka­pi­tel 8: Auf­bruch ins Un­ge­wis­se
Ka­pi­tel 9: Ein fa­ta­ler Kuss
Ka­pi­tel 10: Bö­se Geis­ter
Ka­pi­tel 11: Vi­si­o­nen
Ka­pi­tel 12: Wo ist Lu­cy?
Ka­pi­tel 13: Spu­ren­su­che
Ka­pi­tel 14: Der Preis der Ein­sam­keit
Ka­pi­tel 15: Das le­ben­de Haus
Ka­pi­tel 16: Im Bann des Dä­mons
Ka­pi­tel 17: Das letz­te Mit­tel
Ka­pi­tel 18: Ein Schutz­geist mit En­gels­flü­geln
Ka­pi­tel 19: Das En­de vom Lied
Epi­log
Nach­wort
Über die Au­to­rin
Wei­te­re Ver­öf­fent­li­chun­gen
Trig­ger­war­nung
Das Buch ent­hält Dar­stel­lun­gen von Lei­chen, Hand­lun­gen an Lei­chen, Ne­kro­phi­lie, Ob­ses­si­on, Mord, Tod.
Pro­log
Ich kann sie se­hen. Sie haf­ten an Rü­cken, Schul­tern und Hälsen der Men­schen und kral­len sich an ih­nen fest. Die dunk­len, buck­li­gen Ge­stal­ten drü­cken sich an die Men­schen­lei­ber und boh­ren ih­re lan­gen Klau­en in Schlä­fen, Nacken und zwi­schen Rip­pen. Wenn sie mich an­se­hen, ver­zie­hen sie den Mund in ih­ren fal­ti­gen Ge­sich­tern zu ei­nem brei­ten Grin­sen und zei­gen mir zwei Rei­hen klei­ner, gel­ber und spit­zer Zäh­ne. Dä­mo­nen.
Wir Men­schen sind ih­re Nah­rungs­quel­le. Sie zeh­ren von un­se­rer Schuld und un­se­ren Sehn­süch­ten, von Trau­er, Wut, Ver­zweif­lung und all den Emp­fin­dun­gen, die stark ge­nug sind, um dar­an zu zer­bre­chen. Sie ver­hin­dern, dass das Leid ver­schwin­det. So­bald die see­li­schen Wun­den hei­len und die quä­len­den Ge­füh­le ab­klin­gen, flüs­tern sie uns schreck­li­che Din­ge zu und zei­gen uns Bil­der, die wir ver­ges­sen wol­len. Dann boh­ren sie ih­re mit ei­nem Sta­chel ver­se­he­nen Schwän­ze tie­fer in un­se­re Her­zen und sor­gen da­für, dass sie wei­ter­blu­ten.
Die Leu­te be­mer­ken nicht, wenn ein Dä­mon sie be­fällt, denn au­ßer mir kann nie­mand sie se­hen. Doch wer ge­nau­er hin­schaut, er­kennt, dass die­se Men­schen et­was quält. Man­che frisst der Zorn von in­nen auf, oh­ne dass sie wis­sen, wo­her er stammt. An­de­re tra­gen bo­den­lo­se Hoff­nungs­lo­sig­keit und Trau­er in sich. Manch­mal ist ihr Schmerz so groß, dass sie die Kör­per­stel­len rei­ben, an de­nen der Dä­mon sitzt, ganz so, als hät­ten sie Ver­span­nun­gen.
Aber nicht al­le tra­gen ei­ne der­ar­ti­ge Krea­tur mit sich her­um. Die leich­tes­te Beu­te sind Men­schen, die ih­re Schwä­chen nicht ken­nen, leug­nen oder nicht da­mit um­zu­ge­hen wis­sen. Es sind die, die ih­re Un­zu­läng­lich­kei­ten ver­ste­cken, in Al­ko­hol er­trän­ken oder in Ag­gres­si­o­nen aus sich her­aus­schleu­dern. Fin­det ein Dä­mon ih­re Schwach­stel­le, saugt er sich fest und ver­mehrt ih­re Qual, um sich dar­an satt zu fres­sen.
Mich selbst mei­den sie und ich ver­su­che, sie gleich­falls zu igno­rie­ren. Doch so­bald sie mich be­mer­ken, trei­ben sie ihr gars­ti­ges Spiel mit mir. Sie fau­chen und knur­ren und schla­gen nach mir. Sie pik­sen mich mit ih­ren lan­gen Kral­len und schnei­den gräss­li­che Gri­mas­sen, da­mit ich mich mit ei­ner un­be­dach­ten Ges­te der Lä­cher­lich­keit preis­ge­be.
Sie has­sen mich, weil ich sie se­hen kann, ob­wohl ich nichts ge­gen sie aus­zu­rich­ten ver­mag. Ich kann den Men­schen nicht sa­gen, dass et­was von ih­nen Be­sitz er­grif­fen hat, et­was, das für sie nicht sicht­bar ist. Sie wür­den nicht glau­ben, dass ein We­sen von Ge­füh­len zehrt, de­rer sie sich selbst nicht be­wusst sind. Die Er­fah­run­gen mei­ner Fa­mi­lie ha­ben ge­zeigt, dass das zu ge­fähr­lich ist.
In un­se­rer Ver­wandt­schaft hat es schon im­mer me­di­a­le Ta­len­te ge­ge­ben. Groß­mut­ter und Va­ter sind Me­di­en ge­we­sen, mei­ne Mut­ter ist ei­nes und ich tra­ge noch viel grö­ße­re Kräf­te in mir. Doch mir wur­de früh ge­nug bei­ge­bracht, zu schwei­gen. Die se­he­ri­schen Fä­hig­kei­ten der Fa­mi­lie wer­den ge­hü­tet wie ein dunk­les Ge­heim­nis, denn in der Ge­schich­te der Mensch­heit ist un­se­res­glei­chen zu oft auf Schei­ter­hau­fen ver­brannt wor­den.
Se­he­ri­sche Fä­hig­kei­ten, das klingt nach ei­nem ver­rück­ten Scherz, nicht wahr? Und zu dem Zeit­punkt, als ich Lu­cys Brief mit ih­rer Bit­te um Hil­fe las, wünsch­te ich, dass es so ge­we­sen wä­re. Doch ich, Ava Sum­mer­spell, schwö­re: Das al­les ist die Wahr­heit, und auch wenn ich da­mals mei­ne Ga­ben noch ver­flucht ha­be, ha­ben sie mir letz­ten En­des das Le­ben ge­ret­tet. Aber ich will ganz von vorn be­gin­nen.
I
✽✽✽
Schon als Kind er man­ches sah,
das an­de­ren ver­bor­gen war.
So ver­ging viel Le­bens­zeit
in un­ge­woll­ter Ein­sam­keit.
Im Traum ein En­gel sein Haupt neig­te,
und ihm die wah­re Lie­be zeig­te.
Er such­te sie im gan­zen Land,
bis er sie ei­nes Ta­ges fand.
✽✽✽
Ka­pi­tel 1: Dunk­le Wol­ken
Wir leb­ten auf der Is­le of Souls, die zur Ket­te der Ghost Is­landsun­weit der Küs­te Flo­ri­das ge­hör­te. Die Geis­te­r­in­seln fass­ten teils kaum mehr als hun­dert Ein­woh­ner und be­sa­ßen auf den Welt­kar­ten nicht ein­mal die Grö­ße ei­nes Steck­na­del­kop­fes. Die­sem Um­stand war es zu ver­dan­ken, dass wir vor dem Welt­ge­sche­hen ver­steckt blie­ben und un­ge­scho­ren un­se­re un­sicht­ba­ren Le­ben füh­ren konn­ten. Wäh­rend der Schre­cken des Zwei­ten Welt­krie­ges ent­fern­te Ge­bie­te der Er­de er­fasst hat­te, be­schränk­te er sich für uns auf die Zei­tungs­ar­ti­kel, die dar­über be­rich­te­ten.
Doch je­der weiß, dass ge­ra­de die wun­der­bars­ten, fried­lichs­ten und kleins­ten Or­te die dun­kels­ten Ge­heim­nis­se ber­gen. Geis­ter und über­na­tür­li­che Krea­tu­ren wa­ren seit je­her Teil die­ser Welt. Selbst wenn die Mehr­heit gläu­big war oder sein woll­te und des­halb ge­wohn­heits­mä­ßig in die Kir­che ging, durch­drang Ma­gie un­ser Le­ben. Es exis­tier­ten Sit­ten, Bräu­che und Fes­te, die sich in kei­nem Ka­len­der fan­den. Wir wa­ren mit Zau­bern und Ri­tu­a­len auf­ge­wach­sen, von de­nen nie­mand sprach, die aber al­le kann­ten. Sie stärk­ten uns ge­gen Angst, Sor­ge und Not und schu­fen ei­ne Ver­bin­dung zu un­se­ren To­ten.
Die meis­ten hier hat­ten schon ein­mal im Ge­hei­men an ei­ner Sit­zung teil­ge­nom­men. Séan­cen fan­den re­gel­mä­ßig statt, und mei­ne Fa­mi­lie hat­te da­bei von je­her ei­ne wich­ti­ge Rol­le ge­spielt. Nie­mand wuss­te um das Aus­maß un­se­rer Kräf­te, doch die Leu­te hier schätz­ten die Fä­hig­kei­ten, wel­che wir of­fen zeig­ten, und nutz­ten sie.
Mei­ne Mut­ter, Eli­sa­beth Sum­mer­spell, emp­fing die Kund­schaft im Haus und hielt für sie Séan­cen oder an­de­re nütz­li­che Ri­tu­a­le ab. Wir hat­ten un­ser Aus­kom­men. Es gab im­mer Men­schen, die mit ih­ren To­ten spre­chen woll­ten oder glaub­ten, einen Dun­kel­geist ver­trei­ben zu müs­sen, den sie fälsch­li­cher­wei­se als Dä­mon be­zeich­ne­ten. Die­se klei­nen Bies­ter wa­ren wirk­lich gut dar­in, sich in den schlech­tes­ten mensch­li­chen Zü­gen zu ver­ber­gen. Die Welt quoll über von über­na­tür­li­chen We­sen, die in die­sen Zei­ten mit un­ge­wis­ser Zu­kunft, kaum Geld und we­ni­gen Mög­lich­kei­ten im­mer öf­ter an Men­schen kleb­ten. Manch­mal aber ka­men auch Leu­te mit ge­plag­ten Ge­mü­tern, die die Hil­fe mei­ner Mut­ter such­ten, um sich bei welt­li­chen Sor­gen Rat zu ho­len. Dann schlüpf­te sie in die Rol­le ei­ner Seel­sor­ge­rin und lös­te Pro­ble­me ganz oh­ne Ma­gie.
An je­nem Tag, an dem mich Lu­cys be­un­ru­hi­gen­der Brief er­reich­te, mach­te ich mich erst spät auf den Heim­weg vom Ei­sen­wa­ren­la­den des al­ten Smith. Dort ar­bei­te­te ich drei­mal die Wo­che halb­tags im Bü­ro. Ich war froh um die­se Ar­beit, denn hier in der Ge­gend gab es nur we­ni­ge Jobs au­ßer­halb der Plan­ta­gen oder Zi­gar­ren­fa­bri­ken. Zu­dem er­leich­ter­te sie mein Ge­wis­sen, weil ich so ganz oh­ne Ma­gie et­was zum Un­ter­halt bei­tra­gen konn­te.
Ich ar­bei­te­te gern im La­den, denn die Be­schäf­ti­gung hat­te nichts mit mei­nen Pro­ble­men zu tun, oder – wie Mut­ter es nann­te – mei­nen Ga­ben. Pa­pier und Stif­te be­sa­ßen kei­ne See­le, die mich be­dräng­te. Sie schenk­ten mir Au­gen­bli­cke der Gleich­gül­tig­keit, in de­nen ich fast nur mich selbst spür­te – ab­ge­se­hen von der einen oder an­de­ren Wahr­neh­mung, die noch vom al­ten Smith an den Ge­gen­stän­den kleb­te.
Der Nach­mit­tag war ge­ra­de an­ge­bro­chen. Ich ließ die Tür des Ei­sen­wa­ren­la­dens hin­ter mir ins Schloss fal­len und zupf­te die wei­ßen, dün­nen Hand­schu­he zu­recht, oh­ne die ich nie das Haus ver­ließ. Sie schütz­ten mich vor den Bil­dern und Ge­füh­len an­de­rer Leu­te, die sich mei­nem Be­wusst­sein auf­dräng­ten, so­bald ich sie be­rühr­te. Sie schirm­ten mei­nen Geist vor frem­den Ge­dan­ken ab, so­dass ich im­mer si­cher sein konn­te, dass al­les, was ich dach­te, fühl­te und vor mei­nem in­ne­ren Au­ge sah, von mir selbst stamm­te.
An der Bus­hal­te­stel­le gleich rechts ne­ben dem La­den hielt ge­ra­de der Ghost Is­lands Ex­press. Zwei­mal am Tag fuhr der Bus den Ghost Is­lands High­way ent­lang, der die vie­len klei­nen In­seln mit­ein­an­der ver­band. Zu mei­ner bes­ten Freun­din Lu­cy, die auf der zahl­rei­che In­seln ent­fern­ten Is­le of Dawn ganz am Schluss der In­sel­ket­te leb­te, brauch­te er durch die häu­fi­gen Stopps län­ger als drei Stun­den.
Ich blin­zel­te und sah zum Strand, der sich nicht weit von hier am Ho­ri­zont er­streck­te. Hin­ter den dort auf­ge­stell­ten höl­zer­nen Ge­rüs­ten, an de­nen Rei­hen frisch ge­fan­ge­ner, statt­li­cher Schwert­fi­sche hin­gen, ver­gnüg­te sich ei­ne Hand­voll Kin­der im Sand. Ei­ni­ge ba­de­ten, an­de­re fin­gen Krab­ben. Un­se­re Ort­s­chaft lag wie die meis­ten an der Küs­te der In­sel, die so klein war, dass man von fast über­all das Meer se­hen, hö­ren oder rie­chen konn­te.
Hier drau­ßen be­fiel mich ein be­drü­cken­des Ge­fühl. Un­heil lag in der Luft. Die Wol­ken türm­ten sich am Him­mel und na­hes Don­ner­grol­len kün­dig­te ein Ge­wit­ter an. Ich nahm den Son­nen­hut ab, den ich im La­den auf­ge­setzt hat­te, und schüt­tel­te mei­ne rot­blon­den, halb­lan­gen Haa­re, um sie wie­der in Form zu brin­gen. Merk­wür­di­ger­wei­se er­schien mir an je­nem Tag al­les grau: die Stra­ßen, die Häu­ser, die Men­schen. So­gar mei­ne Au­gen, die in der Son­ne strah­lend blau blitz­ten, schim­mer­ten heu­te eher hell­grau. Jah­res­zei­te­n­au­gen, sag­te mei­ne Mut­ter da­zu. Im Hel­len blau, im Dun­keln grau.
Ich zupf­te das dun­kel­blaue Som­mer­kleid zu­recht und be­eil­te mich, nach Hau­se zu kom­men, be­vor der Re­gen die un­be­fes­tig­ten We­ge ab­seits der Haupt­stra­ße wie­der in Schlamm ver­wan­deln wür­de. Schon spür­te ich ers­te, zag­haf­te Re­gen­trop­fen auf dem Ge­sicht. Trotz­dem lief ich noch schnell zu Ti­ny Joe’s Krab­ben­bar am Strand, um zwei der le­cke­ren Krab­ben­sand­wi­ches zum Abend­es­sen zu kau­fen. Mein Ma­gen ver­lang­te da­nach.
Mit den Sand­wichtü­ten in der Hand has­te­te ich im leich­ten Re­gen die Haupt­stra­ße hin­un­ter an den Ge­schäf­ten mit ih­ren höl­zer­nen Aus­hän­ge­schil­dern vor­bei. Aus Mrs Sanchez’ Schnei­der­läd­chen drang Ra­dio­mu­sik, und im Vor­bei­ei­len schnapp­te ich die­sen Lied­fet­zen auf, der in mei­nem Kopf hän­gen blieb:
… und summt das Lied von Lie­be und Tod.
Und ob­wohl ich längst an dem La­den vor­bei­ge­lau­fen war, spiel­te das Lied in mei­nen Ge­dan­ken fort. Im Geist sang ich es wei­ter wie ein Kin­der­lied, das man nie ver­gisst:
… ver­eint in Lie­be und Tod.
Was für ein un­heim­li­ches Lied, dach­te ich und Gän­se­haut rich­te­te auf mei­nen Ar­men al­le fei­nen Här­chen auf. Brr. Ich schüt­tel­te mich, doch der Song du­del­te mir wei­ter laut­los in den Oh­ren.
Die selt­sa­me Me­lo­die be­glei­te­te mich ent­lang der un­ebe­n­en, er­di­gen Sei­ten­we­ge hin­aus aus dem Orts­zen­trum bis hin zu den ab­seits lie­gen­den Häu­sern, von de­nen eins mein Zu­hau­se war. Trotz der hei­te­ren Tö­ne schwang ei­ne me­lan­cho­li­sche No­te mit, die in mir ein be­klem­men­des Ge­fühl er­zeug­te. Das Lied brach­te mich ganz durch­ein­an­der, denn es pass­te zu der un­heil­vol­len Span­nung, die in der Luft lag.
Noch wäh­rend ich grü­bel­te, war­um ich aus­ge­rech­net die­ses Mu­sik­stück so klar im Kopf be­hielt, er­reich­te ich un­ser be­schei­de­n­es Häus­chen, das ver­steckt hin­ter Pal­men und Bü­schen lag. Nur die Ecke mit dem vor­ders­ten Türm­chen im ers­ten Stock­werk schau­te her­vor. Trotz des fes­ten, ewig halt­ba­ren Kie­fern­hol­zes wirk­te es blass und al­ters­schwach, aber der schma­le Er­ker mit dem ho­hen Fens­ter blick­te im­mer freund­lich auf mich her­ab. In der Abend­däm­me­rung, wenn die Lich­ter dar­in brann­ten, sah er von au­ßen be­son­ders ein­la­dend aus.
Ich be­trat die klei­ne, über­dach­te Ter­ras­se mit dem ecki­gen Tisch und den zwei Stüh­len. Hier saß Mut­ter gern in den Abend­stun­den, und hin und wie­der ge­sell­te ich mich da­zu. Manch­mal un­ter­hiel­ten wir uns, manch­mal schwie­gen wir ein­fach und ver­lo­ren uns im be­schei­de­n­en Vor­gar­ten, der nur we­ni­ge Schrit­te lang war und den­noch vor Blatt­grün und Blü­ten über­quoll.
Es moch­te selt­sam er­schei­nen, dass sich ei­ne er­wach­se­ne, 21-jäh­ri­ge Frau ihr Zu­hau­se noch mit ih­rer Mut­ter teil­te. Aber ich konn­te sie nicht ver­las­sen. Nicht, seit­dem sie durch den furcht­ba­ren Un­fall vor ei­ni­gen Jah­ren an einen Roll­stuhl ge­fes­selt war. Ich fühl­te mich für sie ver­ant­wort­lich, und dank mei­ner Ga­ben fiel es mir oh­ne­hin schwer, Ge­sell­schaft zu fin­den. Zu­dem hat­te ich mein Herz be­reits ein­mal ver­lo­ren und es bis heu­te nicht zu­rück­be­kom­men.
Der Ge­dan­ken­fluss riss mit dem Klir­ren des Haus­sch­lüs­sels, den ich aus der Hand­ta­sche her­vor­kram­te. Hof­fent­lich ist Mut­ter al­lein. Ih­re Sit­zun­gen brach­ten zwar Geld ein, aber es ge­fiel mir trotz­dem nicht, dass sie Séan­cen ab­hielt. Ich ver­ab­scheu­te es, wenn frem­de Leu­te un­ser Zu­hau­se auf­such­ten und im al­ten, ab­ge­wohn­ten Sa­lon, wie sie den Wohn­be­reich nann­te, ih­re To­ten an­rie­fen. Es er­in­ner­te mich im­mer wie­der an das schreck­li­che Un­g­lück, durch das un­ser Le­ben erst aus den Fu­gen ge­ra­ten war.
Doch im Haus war es still. Kei­ne Séan­ce.
Ich at­me­te er­leich­tert auf, sog den in der Luft hän­gen­den, süß­li­chen Duft des Sty­rax’ ein und häng­te mei­ne Hand­ta­sche an ei­nem Gar­de­ro­ben­ha­ken auf. Es duf­te­te im­mer ein we­nig nach un­se­rer Lieb­lings­räu­che­rung. Durch die häu­fi­ge Be­nut­zung hat­te sie sich längst in den Vor­hän­gen und Tep­pi­chen fest­ge­setzt und um­gab mei­ne Sin­ne so­gleich mit dem woh­li­gen Wis­sen, da­heim zu sein.
Un­ser Heim be­stand aus zwei obe­ren und drei un­te­ren Räu­men. Im Erd­ge­schoss la­gen Kü­che, ein be­eng­tes Ba­de­zim­mer und der Wohn­raum, in dem Mut­ter auch schlief. Ei­ne de­ko­ra­ti­ve, spa­ni­sche Wand trenn­te das Bett vom rest­li­chen Zim­mer.
Vom Flur aus war es nur ein klei­ner Schritt in die Kü­che, in der es heu­te nach Ku­chen duf­te­te, so­dass mir das Was­ser im Mund zu­sam­men­lief.
»Mut­ter? Ich bin zu Hau­se!«
In der Kü­che war es heiß, kaum aus­zu­hal­ten. Ich leg­te die Krab­ben­sand­wi­ches auf den klei­nen Kü­chen­tisch und öff­ne­te neu­gie­rig die Ofen­klap­pe. So­fort schlug mir ei­ne Wol­ke Li­met­ten­ku­chen­duft ent­ge­gen. Hmmmm.
Ich schloss den Ofen­de­ckel wie­der und ging ins an­gren­zen­de Wohn­zim­mer. Schwe­re Vor­hän­ge um­rahm­ten hier die schö­nen, ho­hen Fens­ter. Sie wur­den nur abends oder für ma­gi­sche Zwe­cke zu­ge­zo­gen. Den über­wie­gen­den Teil des Zim­mers füll­te der gro­ße, ova­le Ma­ha­go­ni­tisch aus un­se­rem ur­sprüng­li­chen Zu­hau­se. Er war schon im­mer für Sit­zun­gen jeg­li­cher Art ge­nutzt wor­den und hat­te uns zu­min­dest für ei­ne Wei­le zu Wohl­stand und Ruhm ver­hol­fen.
Für Mut­ter be­saß der Tisch enor­me Be­deu­tung. Sie sag­te, er wä­re vol­ler Ener­gie, die sie nut­zen konn­te. Jetzt nahm er zu­sam­men mit den zwölf dicht an­ein­an­der­ste­hen­den Stüh­len aus dem­sel­ben Holz fast den ge­sam­ten Raum ein. In der Tisch­mit­te stand ein an­ti­ker Ker­zen­hal­ter für fünf Ker­zen, ei­ne für je­des Ele­ment: Feu­er, Was­ser, Er­de, Luft, Äther. Ich schluck­te tro­cken, denn der An­blick des Ti­sches schür­te im­mer aufs Neue mei­ne Schuld­ge­füh­le.
Mut­ter hat­te al­les in das neue Heim mit­ge­nom­men, was mit ih­rem Da­sein in un­se­rer Hei­mat­stadt Me­las auf der Is­le of Bo­nes ver­bun­den ge­we­sen war. Ich da­ge­gen hät­te am liebs­ten sämt­li­che Ge­gen­stän­de im al­ten Zu­hau­se zu­rück­ge­las­sen, die mich an das Un­g­lück er­in­ner­ten. Aber der Tisch war da. Und Mut­ter in ih­rem Roll­stuhl auch.
Ich mach­te einen Schritt ins Zim­mer. »Mut­ter!«
»Hal­lo Lieb­ling«, hör­te ich ih­re Stim­me. Dann roll­te sie hin­ter der spa­ni­schen Wand her­vor. Sie schmun­zel­te. »Du wirkst er­leich­tert.«
Auf mei­nen fra­gen­den Blick hin füg­te sie hin­zu: »Es war ein ru­hi­ger Tag. Ich hat­te nur zwei Kun­den. Ei­ne Ta­rot-Le­gung und ei­ne To­te­n­an­ru­fung. Die hat aber lei­der nicht ge­klappt.« Sie seufz­te. »Ar­me Mrs Cooper. Sie glaubt, ihr Ehe­mann sei beim Fi­schen ver­un­g­lückt.«
»Ist er nicht?«
Mut­ter lä­chel­te mü­de. »Ich den­ke, er hat sich da­von­ge­macht.«
Ich zupf­te mir die Hand­schu­he von den Fin­gern.
»War­um quälst du dich so, Kind?«, frag­te sie mit trau­ri­gem Blick auf mei­ne Hän­de. »Dei­ne Fä­hig­kei­ten sind ein Ge­schenk, kein Fluch. Du soll­test sie nut­zen, nicht ver­ste­cken.«
»Da­mit er­neut ein Un­g­lück pas­siert?«, ent­geg­ne­te ich mit küh­ler Ent­schlos­sen­heit und leg­te die Hand­schu­he auf den Tisch. Die­ses The­ma moch­te ich nicht wie­der und wie­der durch­ge­hen. »Nein.« Ich hob die fla­che Hand in Mut­ters Rich­tung, die ge­ra­de ein wei­te­res Mal an­hob. »Fang gar nicht erst an.«
Ich wuss­te, wie sehr sie sich wünsch­te, dass ich ins tra­di­ti­o­nel­le Fa­mi­li­en­ge­schäft zu­rück­keh­ren und sie bei ih­rer Ar­beit un­ter­stüt­zen wür­de. Sie glaub­te, dass wir ge­mein­sam ei­ne ech­te Chan­ce hät­ten, un­se­ren frü­he­ren Sta­tus wie­der­her­zu­stel­len. »Die­ses Ge­spräch ha­ben wir schon zu oft ge­führt.«
»Du weißt, du hast kei­ne Schuld«, hör­te ich sie flüs­tern. »Es war ein Un­fall.«
»Aber ich ha­be den Kreis un­ter­bro­chen«, ant­wor­te­te ich wü­tend. Wü­tend dar­über, dass sie im­mer noch nicht ein­sah, dass ich das Un­g­lück ver­ur­sacht hat­te, wü­tend dar­über, dass ich es ver­ur­sacht hat­te, und dass wir wie­der da­von spra­chen. Sie konn­te es ein­fach nicht las­sen, mich da­mit zu quä­len. Da­bei woll­te ich es am liebs­ten ver­ges­sen. »Es wa­ren mei­ne Kräf­te, die den Dun­kel­geist da­mals an­ge­zo­gen ha­ben. Ich ha­be ihn her­ge­holt, und er hat dich in den Roll­stuhl ge­bracht.«
»Ava«, sag­te Mut­ter lei­se und in be­schwich­ti­gen­dem Ton, wäh­rend sie sich in ih­rem Roll­stuhl auf mich zu­schob. Sie fass­te nach mei­ner Hand und Wär­me durch­ström­te mich. Lie­be. »Ava, Lieb­ling. Der Un­fall ist lan­ge, lan­ge her. Du musst end­lich dei­ne Ga­ben an­neh­men und ler­nen, mit ih­nen um­zu­ge­hen.«
Ich schwieg. Ir­gend­wo tief in mir drin wuss­te ich, dass sie recht hat­te. Doch die Angst, mit mei­nen Fä­hig­kei­ten er­neut Un­heil her­auf­zu­be­schwö­ren, war grö­ßer. Ich glaub­te fest, das Un­g­lück an­zu­zie­hen, je­nes, das sich in ver­steck­ten Wel­ten ver­barg. Und ich war das Tor, wel­ches das Übel zur an­de­ren Sei­te brach­te. Al­so sperr­te ich mei­ne Kräf­te lie­ber wei­ter ein, so gut es ging, und ver­hüll­te sie mit wei­ßen Hand­schu­hen. Das Weiß des Stof­fes stand für Schutz und Rein­heit und ver­lieh mir zu­sätz­li­che Stär­ke und Kon­trol­le.
»So­lan­ge du sie ab­lehnst, wirst du dich selbst nie­mals wirk­lich ken­nen«, be­schwor Mut­ter mich. »Du wirst dei­ne Ga­ben nie rich­tig ein­set­zen, ge­schwei­ge denn kon­trol­lie­ren kön­nen.«
Mit zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Lip­pen stieß ich Luft durch die Na­se und ließ mei­ne Hand aus ih­rer glei­ten. Sie soll­te es doch ei­gent­lich bes­ser wis­sen. Wie konn­ten Kräf­te gut sein, die da­zu ge­führt hat­ten, dass sie mit ka­put­tem Rü­cken im Roll­stuhl saß?
Seit die­sem schreck­li­chen Er­eig­nis vor vier Jah­ren konn­te ich die Fä­hig­kei­ten mei­ner Fa­mi­lie nicht län­ger als Se­gen be­trach­ten. Seit­her be­nutz­te ich die Kräf­te nicht mehr und woll­te auf kei­nen Fall er­neut ins Fa­mi­li­en­ge­schäft ein­stei­gen. Nie­mals wie­der woll­te ich ei­ne Séan­ce durch­füh­ren oder an ei­ner teil­neh­men.
Mut­ter schwieg end­lich. Für die­sen Tag hat­te sie auf­ge­ge­ben. Ich ver­ließ das Wohn­zim­mer und stieg die Trep­pe nach oben.
»Ava.«
Ich stöhn­te in­ner­lich auf. »Ja, Mut­ter?«
»Hier. Der Brief ist heu­te für dich ge­kom­men.«
Ein Brief? Für mich? Von wem? Ich kehr­te um und stieg die Stu­fen wie­der hin­un­ter.
Mut­ter über­reich­te mir den Um­schlag. Bei der ers­ten Be­rüh­rung über­fiel mich so­gleich ein wei­te­res Mal die­ses un­heil­vol­le Ge­fühl, die­se fins­te­re Ah­nung, die ich be­reits auf dem Heim­weg ge­spürt hat­te. Sie hat­te al­so et­was mit dem Brief zu tun. So­fort setz­te in mei­nem Kopf wie­der der Ge­sang des Lie­des ein, das aus Mrs Sanchez’ La­den ge­drun­gen war:
Schon als Kind er man­ches sah, was an­de­ren ver­bor­gen war.
Ich sah auf die Rück­sei­te des Brief­um­schlags und las: Lu­cia Ro­sa Pen­te­rez.
»Der ist von Lu­cy!«, sag­te ich mit Stau­nen. Aber die un­heim­li­chen Schwin­gun­gen ir­ri­tier­ten mich und dämpf­ten die Freu­de. Über­haupt war es merk­wür­dig, denn ei­gent­lich war ich an der Rei­he, mei­ner bes­ten Freun­din zu schrei­ben. Was konn­te sie ver­an­lasst ha­ben, mit der Rei­hen­fol­ge zu bre­chen? Hing ih­re Nach­richt mit mei­ner Vor­ah­nung zu­sam­men? War ihr viel­leicht et­was zu­ge­sto­ßen?
Mein Herz schlug schnel­ler und trieb mir das Blut in die Wan­gen. Lu­cy und ich wa­ren seit un­se­rer Schul­zeit be­freun­det. Auch sie hat­te Me­las und die Is­le of Bo­nes ver­las­sen, nach­dem sie erst ih­re Schwes­ter und kurz vor ih­rer Hoch­zeit bei­de El­tern­tei­le ver­lo­ren hat­te. Seit sie ge­hei­ra­tet hat­te und auf der Is­le of Dawn leb­te, sa­hen wir uns sel­te­ner. Aber die In­sel­post funk­tio­nier­te aus­ge­zeich­net und ein Brief dau­er­te nur we­ni­ge Ta­ge, so­dass wir die feh­len­den Tref­fen mit häu­fi­ger Post kom­pen­sier­ten.
»Ava?« Mut­ter mus­ter­te mich mit ein­dring­li­chem Blick. »Ist al­les in Ord­nung? Hat­test du ei­ne Vi­si­on, Lieb­ling? Hast du et­was ge­fühlt?«
Ich schüt­tel­te schnell den Kopf. »Nein. Es ist nur - ich ha­be kei­nen Brief er­war­tet.« Ich rang mir ein Lä­cheln ab. »Ich le­se ihn auf mei­nem Zim­mer.«
»Na­tür­lich, Schatz.«
»Ich ha­be üb­ri­gens Sand­wi­ches mit­ge­bracht.« Mit die­sen Wor­ten schnapp­te ich mir ei­nes aus der Kü­che und eil­te die Trep­pe nach oben, wohl wis­send, dass Mut­ter noch im­mer un­ten am Trep­pe­n­ab­satz stand und mir nach­schau­te. Wir wuss­ten bei­de, dass ich bei der Ant­wort auf ih­re Fra­ge ge­lo­gen hat­te, und um­so dank­ba­rer war ich in die­sem Au­gen­blick da­für, dass sie nicht wei­ter­bohr­te.
Ka­pi­tel 2: Der Brief
Die zwei mit­ein­an­der ver­bun­de­nen Räu­me des Ober­ge­schos­ses wa­ren mein Reich. Das klei­ne­re Zim­mer dien­te als Ar­beits­zim­mer. Dort wa­ren der Schreib­tisch und die schon lan­ge un­be­nutz­ten, sorg­fäl­tig ver­wahr­ten ma­gi­schen Ge­gen­stän­de un­ter­ge­bracht. Dort emp­fing ich Gäs­te, die je­doch so gut wie nie ka­men.
Das grö­ße­re der bei­den Zim­mer be­her­berg­te ne­ben dem Bett einen Klei­der­schrank und einen Nacht­tisch, auf dem sich Bü­cher sta­pel­ten. Au­ßer­dem ver­füg­te es über einen Wasch­be­reich mit Spie­gel und Fri­sier­kom­mo­de, so­dass sich die zwei Räu­me bei­na­he wie ei­ne ei­ge­ne, klei­ne Woh­nung an­fühl­ten. Die Wän­de muss­ten einst flie­der­fa­r­ben ge­leuch­tet ha­ben, be­vor die Son­ne die Fa­r­ben aus­ge­bleicht und nur einen pas­tell­fa­r­be­nen Stich üb­rig ge­las­sen hat­te. Trotz­dem wirk­te das Zim­mer freund­lich und mäd­chen­haft. Das Schöns­te an ihm aber war der an­gren­zen­de, win­zi­ge Bal­kon. Er zeig­te zum Weg hin­aus, der über meh­re­re Ab­zwei­gun­gen wie al­le Stra­ßen ir­gend­wann auf die Haupt­stra­ße führ­te. Auf ihm ge­noss ich häu­fig die an­ge­neh­me Nacht­luft und lausch­te in schlaf­lo­sen Näch­ten den Gril­len, die un­ter mir im Gras zirp­ten. Dann fühl­te sich al­les ru­hig und fried­lich an, als gä­be es we­der Sor­gen noch Un­g­lück.
Doch jetzt be­schäf­tig­ten mich an­de­re Ge­dan­ken. Ich fiel auf das Bett, riss den Um­schlag auf und fal­te­te den Brief aus­ein­an­der. Kaum hielt ich das be­schrie­be­ne Pa­pier in der Hand, dräng­ten Bil­der in mei­nen Geist. Die leuch­tend grü­nen Au­gen ei­nes Dä­mons, wie ich sie manch­mal auf Men­schen hocken sah, starr­ten mich Se­kun­den­bruch­tei­le lang aus ei­ner schwa­r­zen Ruß­wol­ke an. Wes­sen Dä­mon moch­te das sein? Doch mehr konn­te ich nicht er­ken­nen, denn neue Bild­fet­zen lenk­ten die Auf­merk­sam­keit auf Kno­chen, die zu Staub zer­fie­len. Dann zeig­te sich mir ein Grab, dar­in ein Ge­sicht, halb Mensch, halb Mu­mie. Weit ent­fern­te Ru­fe hall­ten durch mei­nen Kopf und en­de­ten in ei­nem Lied, das mir Wort­fet­zen ent­ge­gen­schleu­der­te, die ich erst kurz zu­vor auf dem Heim­weg ge­hört hat­te:
… ver­ging viel Le­bens­zeit
in un­ge­woll­ter Ein­sam­keit.
Was moch­te das zu be­deu­ten ha­ben?
Plötz­lich um­gab mich ei­ne glü­hen­de, al­les zu ver­sen­gen dro­hen­de Hit­ze, die an mir vor­bei­zog wie die flim­mernd hei­ße Luft, die ei­nem aus dem ge­öff­ne­ten Ofen ent­ge­gen­ström­te. Ich zuck­te zu­rück und ließ Lu­cys Schrei­ben fal­len. Ei­ne Wei­le starr­te ich den Brief an. So stark mich die Neu­gier auf den In­halt der Nach­richt quäl­te, mei­ne Fin­ger ver­wei­ger­ten mir den Dienst. Ir­gen­d­et­was in mir sag­te ih­nen, sie soll­ten steif und starr aus­har­ren, bis die Ge­fahr vor­über war. Aber war es denn wirk­lich ei­ne Ge­fahr?
Es ist bloß ein Brief, Ava! Selbst falls Lu­cys Zei­len wei­te­re schreck­li­che Bil­der in mir her­auf­be­schwö­ren wür­den, so wa­ren es doch nur Bil­der! Ein Schrift­stück trans­por­tier­te kei­nen ech­ten Dun­kel­geist.
Ich hol­te tief Luft und nach ei­ner Wei­le glit­ten mei­ne Fin­ger­spit­zen lang­sam, ganz vor­sich­tig, zu den mit Tin­te ge­schrie­be­nen Buch­sta­ben. Zit­ternd scho­ben sie sich auf die Wör­ter, im­mer be­strebt, ih­nen aus­zu­wei­chen, doch ich zwang sie vor­wärts. Aber so­bald sie das ers­te Zei­chen er­reicht hat­ten, ver­wan­del­te sich mei­ne Furcht in Wirk­lich­keit.
Mei­ne Glie­der zuck­ten, die Li­der flat­ter­ten und mir wur­de schwa­rz vor Au­gen. Ich spür­te noch, wie ich vom Bett auf den run­den, flau­schi­gen Tep­pich rutsch­te. Tie­fer und tie­fer stieg ich in mein In­ne­res hin­ab, wäh­rend sich mein Kör­per ver­krampf­te. Ei­ne hef­ti­ge Vi­si­on hat­te mich er­fasst.
Ich be­glei­te­te Lu­cy, die ei­nem Ge­spenst gleich durch den Kor­ri­dor ei­nes Hau­ses glitt. War es das Haus ih­rer Fa­mi­lie, das Heim ih­rer Kind­heit in Me­las? Man­che Stel­len ka­men mir be­kannt vor, aber die Dun­kel­heit leg­te einen un­durch­sich­ti­gen Schlei­er über sämt­li­che Kon­tu­ren. Le­dig­lich ein schwa­ches Licht, des­sen Ur­sprung ich nicht fest­stel­len konn­te, er­hell­te die Um­ge­bung.
Ich folg­te Lu­cy, die un­ter lau­tem Keu­chen den Haus­flur ent­lang­has­te­te. Such­te sie einen Aus­gang? Ich konn­te nir­gends Tü­ren ent­de­cken. Der Flur schien end­los in die Dun­kel­heit zu füh­ren. Ge­mein­sam eil­ten wir durch die Gän­ge, bis ich in ei­ni­ger Ent­fer­nung vor uns einen hel­len Fleck aus­mach­te, der sich lang­sam auf uns zu­be­weg­te. Aus die­sem form­te sich ein Ge­sicht, ei­ne Bril­le, trau­rig bli­cken­de Au­gen … Be­vor ich mehr er­ken­nen konn­te, ver­zog es sich zu ei­ner Frat­ze, die ih­ren Mund auf­riss und ei­ne Lee­re of­fen­bar­te, die kalt und ge­fähr­lich an uns zog. Sie woll­te uns ver­schlin­gen! Ich schrie laut­hals auf, aber kein Ton war zu hö­ren.
End­lich lös­te sich ein er­stick­ter Schrei aus mei­ner Keh­le und ich er­wach­te aus der Tran­ce. Mei­ne Fin­ger hat­ten sich in die Tep­pich­fran­sen ge­krallt und ich at­me­te schwer. Ich fand mich in selt­sam ver­dreh­ter Stel­lung wie nach ei­nem Kampf. Lang­sam und un­ter Stöh­nen rich­te­te ich mich auf, ließ den zer­knit­ter­ten Brief fal­len, den ich noch im­mer in der Hand hielt, und be­gut­ach­te­te mei­nen Kör­per. Al­les schien heil ge­blie­ben zu sein. Trotz­dem ver­stri­chen ei­ni­ge Mi­nu­ten, bis sich Puls und At­mung be­ru­hig­ten, ich zur Be­sin­nung kam und die Ge­dan­ken ord­nen konn­te.
Ir­gen­d­et­was stimmt nicht, schoss es mir durch den Kopf. Ir­gen­d­et­was, das Lu­cy be­trifft, ist im Gan­ge. Et­was Ge­fähr­li­ches. Ich muss­te end­lich den Brief le­sen!
Mir fiel ein, dass ich mei­ne Hand­schu­he un­ten auf dem Tisch lie­gen­ge­las­sen hat­te. Mit ei­nem lei­sen Flu­chen nahm ich ei­lig ein fri­sches Ta­schen­tuch aus dem Nacht­schrank und griff da­mit nach Lu­cys Schrei­ben. Ich setz­te mich zu­rück auf den Tep­pich und lehn­te mich ge­gen das höl­zer­ne Bett­ge­stell, dies­mal dar­auf be­dacht, den Brief nur mit dem Stoff zu be­rüh­ren. Ich las:
Mei­ne liebs­te Ava,
du wun­derst dich si­cher, dass ich dir schon wie­der schrei­be, aber die­ser Brief hat einen wich­ti­gen Grund. Ich be­rich­te dir hier von ei­nem un­heim­li­chen Traum, der mich des Nachts zur­zeit re­gel­mä­ßig heim­sucht. Er macht mir Angst, und auch wenn mir be­kannt ist, dass du dei­ne be­son­de­ren Fä­hig­kei­ten lie­ber ru­hen lässt, bit­te ich dich in die­ser Sa­che um Hil­fe und den Ein­satz dei­ner Ga­ben. Ich weiß mir kei­nen an­de­ren Rat mehr.
Al­les be­gann vor et­wa ei­ner Wo­che in der Nacht zum Neu­mond. Ich war so rasch ein­ge­schla­fen wie schon lan­ge nicht, doch ei­ne in­ne­re Un­ru­he ließ mich oft auf­schre­cken. Das letz­te Mal, dass ich auf die Uhr an der Schlaf­zim­mer­wand ge­se­hen hat­te, zeig­te sie ei­ne Stun­de nach Mit­ter­nacht. Da­nach er­in­ne­re ich mich nur an die­se er­schre­cken­den Sze­nen, die mich seit­her je­de Nacht heim­su­chen.
Ava, durch dich und dei­ne Fä­hig­kei­ten weiß ich, was Träu­me be­deu­ten kön­nen, und die­ser Traum ist an­ders als je­ne, die ich ge­wöhn­lich ha­be. Mei­ne to­te Schwes­ter Bel­la sucht mich dar­in heim, und ich glau­be, sie sen­det mir Bot­schaf­ten, die ich nicht ver­ste­he. Bit­te hilf mir, da­mit ich wie­der Ru­he fin­de!
Ich blick­te von den Zei­len auf zur Bal­kon­tür. Mei­ne bes­te Freun­din bat mich al­so um Hil­fe. Was moch­te sich hin­ter ih­ren Träu­men ver­ber­gen? Einen Mo­ment hoff­te ich, dass sich da­mit nur Lu­cys Un­ter­be­wusst­sein mel­de­te, das mit ei­nem un­ver­a­r­bei­te­ten Er­leb­nis be­schäf­tigt war, und nicht ih­re Schwes­ter. In die­sem Fall bräuch­ten wir mei­ne un­ter­drück­ten Kräf­te nicht. Gleich­zei­tig wuss­te ich, dass dem nicht so war.
Wenn ver­stor­be­ne Ver­wand­te im Traum er­schie­nen, dann wa­ren sie auch hier. Zu­meist hat­te et­was oder je­mand sie her­ge­ru­fen und hielt sie fest. Aber wir Men­schen wa­ren nicht da­zu be­stimmt, nach dem Le­bens­en­de im Dies­seits zu ver­wei­len. To­te woll­ten ih­re Ru­he und spra­chen nur zu uns, falls wir sie rie­fen. See­len, de­nen aus ir­gend­ei­nem Grund der Weg zu­rück ins Jen­seits ver­wehrt blieb, ver­weil­ten im Zwi­schen­reich. Und dort irr­te an­schei­nend auch Bel­la um­her.
Das Ta­schen­tuch samt Brief rutsch­te mir aus der Hand. Mit ei­ner un­acht­sa­men Be­we­gung fass­te ich da­nach, er­wi­sch­te je­doch nur das blan­ke Pa­pier, wäh­rend das Tuch zu Bo­den glitt. Ge­ra­de noch recht­zei­tig ver­hin­der­te ich, dass die Fin­ger da­bei mit den kraft­vol­len Buch­sta­ben in Kon­takt ka­men. Da das Schrei­ben nun aber oh­ne­hin schon mei­nen Geist be­rühr­te, ver­such­te ich, die schwa­che Be­zie­hung dar­über kon­trol­liert zu­zu­las­sen. Ge­fes­selt vom Brie­fin­halt las ich auf die­se Wei­se wei­ter, und mit je­dem Satz zog es mich tie­fer in Lu­cys Ge­schich­te hin­ein.
Die re­a­le Welt ver­schwamm und ich fiel in einen neu­en Wach­traum. Doch die­ses Mal kam die Vi­si­on nicht über­ra­schend, denn ich war vor­be­rei­tet und ließ zu, dass die Bil­der in mich hin­ein­ström­ten und mei­nen Geist ver­ein­nahm­ten. Mein Kör­per blieb ent­spannt und ich wehr­te mich nicht.
Um mich her­um ent­stan­den die Wän­de von Lu­cys  ehe­ma­li­gem Zu­hau­se in Me­las. Ich ent­deck­te mei­ne Freun­din, die mit un­si­che­ren und ängst­li­chen Schrit­ten durch den Haus­flur wan­del­te, wäh­rend ich über dem Ge­sche­hen schweb­te. Dies­mal konn­te ich mehr er­ken­nen als beim ers­ten Mal, denn Lu­cy trug ei­ne Ker­ze, die den Flur er­hell­te. Ich spür­te ih­re Angst, sie kroch aus ih­ren Schweiß­drü­sen und ver­flach­te ih­ren Atem, der sich da­durch schnell und keu­chend an­hör­te. Ich ahn­te, dass je­den Au­gen­blick et­was Schreck­li­ches pas­sie­ren wür­de.
Plötz­lich schoss aus dem Dun­kel der rech­ten Sei­te ei­ne wei­ße, to­ten­blas­se Hand und um­klam­mer­te Lu­cys Arm. Sie schrie kurz auf, dann folg­te nur noch ängst­li­ches Wim­mern und ich konn­te das un­heim­li­che Flüs­tern hö­ren: »Lu­uu­cy.«
Isa­bel­la. Die­se Stim­me ge­hör­te Lu­cys to­ter Schwes­ter!
»Lass mich los!« Lu­cy zog an ih­rem Arm, doch die To­ten­hand hielt sie fest. So hef­tig sich Lu­cy auch müh­te, sie kam nicht von der Stel­le.
»Lu­uu­cy,« er­tön­te wie­der Bel­las Stim­me. In ihr lag kei­ne Bös­wil­lig­keit, son­dern sie klang wie ein Fle­hen, ein Hil­fe­ruf oder Bit­ten um Auf­merk­sam­keit aus dem To­ten­reich. Trotz­dem kroch die blan­ke Pa­nik, die Lu­cy längst be­fal­len hat­te, jetzt eben­so in mich und ich sah wei­ter zu, wie sie ver­geb­lich ver­such­te, sich zu be­frei­en.
Da er­blick­te sie et­was ober­halb der Hand, die ihr Ge­lenk um­klam­mer­te, und er­starr­te. Ich folg­te ih­rem Blick und mir ge­fror das Blut in den Adern: Im Dun­kel des Flurs schweb­te das blei­che und aus­drucks­lo­se Ant­litz ih­rer Schwes­ter.
Kein Zwei­fel, es war Bel­la, und doch war sie es nicht. Ihr einst hüb­sches Ge­sicht wirk­te ent­stellt und äh­nel­te ei­ner wäch­ser­nen Mas­ke, aus de­ren Au­gen­höh­len glä­ser­ne Au­g­äp­fel starr­ten wie zwei Fremd­kör­per, die nicht dort­hin ge­hör­ten. Ob­wohl das pup­pen­haf­te Ant­litz kei­ne Re­gung zeig­te, ge­wann ich den Ein­druck, dass sie et­was sa­gen woll­te.
Doch der grau­si­ge An­blick lös­te einen Auf­schrei der Be­stür­zung aus Lu­cys Keh­le und ver­hin­der­te, dass ich Bel­las lei­sem, ge­quäl­ten Seuf­zen Ge­nau­e­res ent­neh­men konn­te. Es war Lu­cys Traum, in den ich ein­ge­taucht war, und so sah ich nicht nur, was Lu­cy sah, son­dern fühl­te auch, was sie fühl­te. Ich spür­te ihr Grau­en tief in mei­nen Geist drin­gen und stimm­te in ih­re Ent­set­zens­schreie ein. Ich schrie, bis ich nichts wei­ter hör­te als un­ser ge­mein­sa­mes, oh­ren­be­täu­ben­des Krei­s­chen, das mich schließ­lich schweiß­ge­ba­det aus mei­ner Tran­ce er­wa­chen ließ.
Mit dem letz­ten Ton schlug ich die Au­gen auf und fand mich wie zu­vor auf dem Tep­pich wie­der, den Rü­cken ge­gen das Bett­ge­stell ge­lehnt. Mei­ne Po­si­ti­on hat­te sich nicht ver­än­dert. Ich hat­te mich kaum be­wegt, und doch rann mir der Schweiß un­ter der Klei­dung in klei­nen Bä­chen den Kör­per hin­ab.
Ich ließ den Brief sin­ken und wisch­te mir mit dem Ta­schen­tuch die Stirn. Das Schrei­ben war vol­ler be­droh­li­cher Vi­si­o­nen, und da­bei hat­te ich es noch nicht ein­mal zu En­de ge­le­sen. Mei­ne Hän­de zit­ter­ten, die Angst saß mir im Nacken und ich rang nach Luft.
Durch­at­men, Ava, durch­at­men. Es sind zwar Bil­der, aber es ist trotz­dem nur ein Brief. Nur ein Brief. Nur ein Brief. Die­se Wor­te wie­der­hol­te ich ge­dank­lich im­mer wie­der, wäh­rend ich mich im Schnei­der­sitz zu­rück auf das Bett setz­te und mit ei­nem fri­schen Ta­schen­tuch er­neut das Pa­pier griff.
Ich ver­ste­he das nicht, schrieb Lu­cy, Bel­la ist tot! Sucht ihr Geist mich in mei­nen Träu­men heim oder sind es fins­te­re Tei­le mei­nes Hirns, die mir einen Streich spie­len? Wes­halb ist ih­re Er­schei­nung so gräss­lich ent­stellt? Liebs­te Ava, ich ha­be den Ein­druck, dass Bel­la mir et­was sa­gen will. Wenn du nur ih­ren Blick ge­se­hen hät­test (Oh, das hat­te ich, Lu­cy, das hat­te ich!), wür­dest du mir zu­stim­men, dass es si­cher nicht mei­ne See­le ist, die Bei­stand be­nö­tigt, son­dern die mei­ner lie­ben Schwes­ter. Doch wor­um mag ei­ne To­te fle­hen? Wel­ches Leid kann ei­ner See­le noch wi­der­fah­ren?
So­fern mir je­mand in die­ser un­heim­li­chen An­ge­le­gen­heit bei­zu­ste­hen ver­mag, dann bist du es, Ava. Bit­te hilf mir, her­aus­zu­fin­den, was es mit die­sem Traum auf sich hat. Brau­che ich geis­ti­ge Be­treu­ung oder ist es tat­säch­lich die See­le mei­ner Schwes­ter, die mich kon­tak­tiert? Und falls ja, war­um?
Die Träu­me rau­ben mir zu­se­hends die Kräf­te, selbst mein ge­lieb­ter Ju­lio hat neu­lich er­wähnt, wie schlecht ich aus­se­hen wür­de. Er sorgt sich schon um mich.
Ava, ich bin si­cher, du kannst mir hel­fen! Zu vie­le Men­schen wür­den mei­ne Ängs­te nicht ver­ste­hen. Aber durch dich weiß ich von an­de­ren Re­a­li­tä­ten ne­ben der uns­ri­gen, und nur du bist in der La­ge, mei­ne Fra­gen zu klä­ren. Bit­te ant­wor­te mir bald, denn ich se­he be­reits je­der Nacht mit Sor­ge ent­ge­gen.
In Lie­be,
dei­ne Lu­cy.
Isa­bel­la Ma­ri­sol Le­jo­sa, kurz Bel­la, war Lu­cys äl­te­re Schwes­ter ge­we­sen. Ich er­in­ner­te mich gut an sie. Lu­cy hat­te sie ge­liebt, ge­nau wie ich, denn sie war nicht ein­fach nur schön ge­we­sen, son­dern hat­te ih­re Schön­heit im Her­zen ge­tra­gen. Sie hat­te ge­strahlt, und al­le in Me­las hat­ten sie an­ge­him­melt.
Ob­wohl acht Jah­re zwi­schen ih­nen la­gen, be­merk­te man die Ähn­lich­keit der Ge­schwis­ter auf den ers­ten Blick. Zwar be­saß Lu­cy ei­ne kräf­ti­ge­re Sta­tur, wäh­rend Bel­la zart und zer­brech­lich wirk­te. Aber sie teil­ten das­sel­be schwa­r­ze, glän­zen­de Haar, das in sanf­ten Wel­len die Schul­tern um­spiel­te, die wun­der­schö­ne, man­del­fa­r­be­ne Haut und die dun­kels­ten Au­gen, die ich je ge­se­hen hat­te.
Mit ih­ren vol­len, ro­si­gen Lip­pen wa­ren sie bei­de hübsch an­zu­se­hen, doch Bel­la hat­te et­was an sich, das al­le Men­schen in ih­ren Bann zog. Ihr ver­trä­um­ter, me­lan­cho­li­scher Blick und der Auf­schlag ih­rer lan­gen Wim­pern wirk­ten bei­na­he ma­gisch. Nie­mand konn­te sich ge­gen den Wunsch weh­ren, im tie­fen Braun ih­rer Au­gen ver­sin­ken zu wol­len. Zu­sam­men mit dem eben­mä­ßi­gen Ge­sicht und den ho­hen Wan­gen­kno­chen sah sie aus wie ein En­gel, be­son­ders dann, wenn sie ihr lo­cki­ges Haar of­fen trug.
Al­le wa­ren ver­rückt nach ihr, um­schwärm­ten und ver­ehr­ten sie. Lu­cy und ich bil­de­ten kei­ne Aus­nah­me, denn trotz ih­rer An­mut blieb Bel­la bo­den­stän­dig und lie­bens­wert und mach­te sich nichts aus ih­ren zahl­rei­chen Ver­eh­rern. Nie­mals wä­re es Lu­cy in den Sinn ge­kom­men, ih­re Schwes­ter zu be­nei­den. Statt­des­sen stell­te sie Bel­la auf einen un­sicht­ba­ren So­ckel aus Be­wun­de­rung, zu dem sie selbst nach ih­rem Tod wei­ter auf­blick­te. Bel­la sta­rb be­reits im Al­ter von ge­ra­de neun­zehn Jah­ren an Tu­ber­ku­lo­se, die spä­ter noch fast die ge­sam­te Fa­mi­lie da­hin­raf­fen soll­te.
Viel­leicht hat­te Lu­cy ih­re Schwes­ter un­ab­sicht­lich ge­ru­fen. Ihr To­des­tag jähr­te sich bald zum zehn­ten Mal und setz­te mög­li­cher­wei­se Ener­gi­en im Un­ter­be­wusst­sein mei­ner Freun­din frei, die Bel­la ins Zwi­schen­reich ge­lockt hat­ten und jetzt dort fest­hiel­ten. Ein Netz aus Er­in­ne­run­gen und Ge­füh­len konn­te da­für sor­gen, dass ih­re See­le dem Dies­seits ver­haf­tet blieb. Die Kraft des Ban­des in­ner­halb der Fa­mi­lie Le­jo­sa hat­te ich schon in Kind­heits­ta­gen ge­spürt. Es war so mäch­tig und vol­ler Lie­be, und manch­mal hat­te ich mir ge­wünscht, da­zu­zu­ge­hö­ren.
Doch wahr­schein­lich stimm­te eher Lu­cys Ver­mu­tung. Bel­las See­le such­te Hil­fe. Wenn See­len nicht zie­hen konn­ten, hiel­ten sie sich in der Re­gel dort auf, wo ih­re Wur­zeln la­gen. Emo­ti­o­na­le Bin­dun­gen und Er­in­ne­run­gen zo­gen sie an und zeig­ten ih­nen den Weg. Des­halb fan­den sich Geis­ter häu­fig in der Nä­he ih­rer Fa­mi­li­en oder ehe­ma­li­gen Heim­stät­ten, zu de­nen sie ei­ne star­ke Ver­bin­dung ge­habt hat­ten.
Ich über­leg­te. Die­ser Um­stand be­deu­te­te, dass sich Bel­la seit ih­rem Tod vor zehn Jah­ren im Zwi­schen­reich auf­hielt und ih­ren Frie­den noch nicht ge­fun­den hat­te. Was für ei­ne quä­len­de Vor­stel­lung! Ich at­me­te tief durch und ver­such­te, mei­ne Ge­füh­le weg­zu­schie­ben und nur kla­re, lo­gi­sche Ge­dan­ken zu­zu­las­sen.
Falls Bel­la wirk­lich die ge­sam­te Zeit über un­be­merkt in der Zwi­schen­welt fest­ge­steckt hat­te, dann be­las­te­te sie seit ih­rem Ab­le­ben ein schwer­wie­gen­des Pro­blem, des­sen Wur­zeln hier im Dies­seits zu su­chen wa­ren. An­ders konn­te ich mir das nicht er­klä­ren. Aber in den gan­zen Jah­ren hat­te es kei­ne An­zei­chen da­für ge­ge­ben! Nie hat­te Lu­cy schau­ri­ge Träu­me er­wähnt, in de­nen Bel­la vor­ge­kom­men war.
Es muss­te et­was Grund­le­gen­des ge­sche­hen sein, schluss­fol­ger­te ich. Et­was hat­te sich ver­än­dert und be­fä­hig­te Bel­la erst jetzt, mit Lu­cy Kon­takt auf­zu­neh­men. Mein Kopf schwirr­te und ich rieb mir die Schlä­fen. Das al­les wirk­te viel zu mys­te­ri­ös und wa­rf ei­ne Men­ge Fra­gen auf. Da hilft wirk­lich nur ei­ne Séan­ce. So­fort be­kam ich einen scha­len Ge­schmack auf der Zun­ge, der mit Sorg­lo­sig­keit weg­ge­spült wer­den woll­te. Aber nur ei­ne Be­fra­gung von Bel­las See­le wür­de die An­ge­le­gen­heit zu­frie­den­stel­lend klä­ren.
Ob­wohl sämt­li­che An­zei­chen da­ge­gen­spra­chen, hielt ich mich an dem hoff­nungs­vol­le­ren Ge­dan­ken fest, dass mei­ne Freun­din ih­re Schwes­ter ver­se­hent­lich her­auf­be­schwo­ren hat­te. Viel­leicht aus ei­ner Er­in­ne­rung her­aus, viel­leicht durch ein Er­leb­nis, das sie un­be­wusst mit Bel­la in Ver­bin­dung ge­bracht hat­te. Es gab tau­sen­der­lei Grün­de, wes­halb so et­was pas­siert sein konn­te. Doch selbst die­se Hoff­nung woll­te be­stä­tigt wer­den, und da­zu brauch­te ich mei­ne Ga­ben.
Der Ge­dan­ke dar­an, mei­ne Fä­hig­kei­ten ein­zu­set­zen, wi­der­streb­te mir zu­tiefst. Er lös­te bö­se Er­in­ne­run­gen in mir aus, die bis­her da­für ge­sorgt hat­ten, die­se Kräf­te un­ter Ver­schluss zu hal­ten.
Am Grab, ge­schmückt mit Ro­sen­rot …
Schon wie­der spiel­te die­ses Lied in mei­nem Kopf. Ich ver­such­te, es zu igno­rie­ren, denn ich hat­te ei­ne Ent­schei­dung zu tref­fen. Mit ge­ball­ten Fäus­ten trat ich auf mei­nen klei­nen Bal­kon.
Die Wol­ken hat­ten sich ver­zo­gen. Die Abend­son­ne hat­te ge­nug Kraft be­ses­sen, den Stra­ßen­matsch wie­der in halb­wegs fes­te Er­de zu ver­wan­deln. Tief sog ich die Abend­luft ein, in der die Ge­rü­che der Blü­ten und Spei­sen hin­gen, die in den Häu­sern um mich her­um zu­be­rei­tet wor­den wa­ren. Ich war über­zeugt, dass ei­ne ge­mein­sa­me Séan­ce mit Lu­cy ihr am bes­ten hel­fen wür­de. Als Me­di­um konn­te ich den Kon­takt zu Bel­la her­stel­len. Bei die­sem Ge­dan­ken sträub­te sich al­les in mir, aber mir fiel kei­ne bes­se­re Lö­sung ein, um Lu­cy von ih­ren Sor­gen um Bel­las See­le zu be­frei­en. Sie zähl­te auf mich.
Lu­cy kann­te die schreck­li­chen Er­eig­nis­se, die sich da­mals in Me­las zu­ge­tra­gen hat­ten. Es hat­te sie be­stimmt Über­win­dung ge­kos­tet, mich um die­sen Ge­fal­len zu bit­ten. Ich konn­te sie nicht im Stich las­sen, nur weil ich selbst Angst hat­te, mit mei­nen Kräf­ten neu­es Un­heil an­zu­rich­ten. Lu­cy war mei­ne al­ler­bes­te Freun­din. Seit den Kin­der­ta­gen hat­ten wir al­les ge­teilt: un­se­re Ge­heim­nis­se, un­se­re Freu­den, un­ser Leid.
Ich schloss die Au­gen und at­me­te noch ein­mal tief durch, ließ die Stär­ke in mir wach­sen, die die Angst trot­zig bei­sei­te­schob. Mit ei­nem wei­te­ren Atem­zug streck­te ich mich und nick­te dem blas­sen Mond am Abend­him­mel zu. Lang­sam fühl­te ich mich be­reit, die­ses Op­fer zu brin­gen und mich für die­ses ei­ne Mal dar­auf ein­zu­las­sen, Kon­takt mit Wel­ten auf­zu­neh­men, die nicht mensch­lich wa­ren.
Lu­cy brauch­te die­se Séan­ce, und ich war au­ßer mei­ner Mut­ter die Ein­zi­ge, die ei­ne An­ru­fung ab­hal­ten konn­te. Einen Au­gen­blick über­leg­te ich, sie um Hil­fe zu bit­ten. Doch schon bei der Vor­stel­lung schüt­tel­te sich mein ge­sam­ter Kör­per und wehr­te sich ge­gen die­se Idee. Na­tür­lich wür­de sie mich un­ter­stüt­zen, aber dann wür­de sie im­mer wie­der dar­auf drän­gen, dass ich mei­ne Ga­ben nutz­te. Sie wür­de mich nicht mehr in Ru­he las­sen und ver­su­chen, mich in an­de­re Sit­zun­gen ein­zu­be­zie­hen. Vor dem in­ne­ren Au­ge sah ich be­reits die Hoff­nung in ihr auf­blit­zen, dass ich zum Fa­mi­li­en­ge­schäft zu­rück­keh­ren wür­de.
Nein. So weit wür­de es nie­mals kom­men, da war ich mir si­cher.
Ich be­schloss, die­se ei­ne An­ru­fung mit Lu­cy al­lein durch­zu­füh­ren. Selbst wenn es mir schwer­fiel, muss­te ich es wa­gen und über mei­nen Schat­ten sprin­gen. Da­mit wür­de sich am leich­tes­ten fest­stel­len las­sen, wel­che der bei­den Schwes­tern in Nö­ten war, und wei­te­re Schrit­te könn­ten fol­gen.
Es wird nur ei­ne klei­ne Séan­ce, sag­te ich mir. Le­dig­lich Lu­cy und ich wür­den an­we­send sein, und wir be­schwo­ren zu­dem ei­ne gu­te See­le, die wir kann­ten. Den­noch brach­te mich der Ge­dan­ke ins Schwit­zen. Er rief mir das ver­gan­ge­ne Un­g­lück in al­ler Deut­lich­keit ins Ge­dächt­nis, als wä­re es erst ges­tern ge­sche­hen. Im­mer schnel­ler stie­gen Ein­zel­hei­ten an die Ober­flä­che mei­nes Be­wusst­seins wie Blub­ber­bläs­chen in ei­nem fri­schen Glas Li­mo­na­de und ver­setz­ten mich zu­rück in je­ne tra­gi­schen Stun­den, die mein Le­ben ver­än­dert hat­ten.
Ka­pi­tel 3: Schat­ten der Ver­gan­gen­heit
Die Ge­schich­te mei­ner Mut­ter war gleich­falls die Ge­schich­te mei­ner Wei­he als auch die mei­ner Ab­kehr von der Ma­gie. Es war die Ge­schich­te vom Ver­lust mei­nes Va­ters und dem Zer­fall der Fa­mi­lie. Es war die Ge­schich­te, in der mein Schick­sal be­grün­det lag.
Zu­sam­men mit Lu­cy hat­te ich die Kind­heit auf der Is­le of Bo­nes ver­bracht. Mit mei­nen El­tern wohn­te ich in ei­ner al­ten, bau­fäl­li­gen Vil­la, in der schon vie­le an­de­re Fa­mi­li­en vor uns ge­wohnt hat­ten. Wir hät­ten uns ein bes­se­res Zu­hau­se leis­ten kön­nen, aber Va­ter war dem Char­me der ho­hen Fens­ter und zahl­rei­chen Er­ker ver­fal­len und lie­ber be­reit ge­we­sen, die vor­han­de­nen Schä­den selbst aus­zu­bes­sern.
Die Vil­la be­fand sich am Ran­de von Me­las, der ein­zi­gen Stadt auf der In­sel, die schon da­mals mit ih­rer be­trächt­li­chen Grö­ße bei­na­he die Hälf­te die­ser ein­nahm. Zwar lag das Haus ent­fernt vom ge­schäf­ti­gen Trei­ben, doch trotz­dem nah ge­nug, um am dor­ti­gen Le­ben teil­zu­neh­men. Ich woll­te mir nicht vor­stel­len, was mit die­sem schö­nen Ge­bäu­de in den Jah­ren un­se­rer Ab­we­sen­heit pas­siert war.
In mei­ner Er­in­ne­rung war un­ser Zu­hau­se ein wun­der­ba­res, schi­ckes Stadt­haus. Tat­säch­lich je­doch hat­te es ein un­dich­tes Dach, Ris­se in den Wän­den und quiet­schen­de Tür­schar­nie­re. Aber wel­ches Kind stör­te sich dar­an, wenn es da­für ei­ne Men­ge ver­win­kel­ter Räu­me und einen Dach­bo­den gab, auf dem die Schät­ze ver­gan­ge­ner Zei­ten dar­auf war­te­ten, ent­deckt zu wer­den?
Ei­nes der wich­tigs­ten Zim­mer im Haus be­zeich­ne­ten mei­ne El­tern als den »Sa­lon«. Dort emp­fin­gen sie re­gel­mä­ßig ih­re »Gäs­te«, wie sie die Kun­den nann­ten, für die sie Séan­cen, Zau­ber oder Weis­sa­gun­gen ab­hiel­ten. Der Sa­lon war die vor­nehms­te Rä­um­lich­keit der Vil­la. An den kunst­voll mit dunk­lem Holz ver­tä­fel­ten Wän­den wa­ren klei­ne Lam­pen an­ge­bracht und die De­cke schmück­te ein sechs­ar­mi­ger Leuch­ter. An je­dem Arm hin­gen zahl­rei­che Schmuck­stei­ne aus durch­sich­ti­gem Glas, die ge­heim­nis­voll im Wind klirr­ten, wenn ge­lüf­tet wur­de.
Zwei ho­he Fens­ter auf bei­den Sei­ten er­hell­ten das Zim­mer bei Tag. Vor­hän­ge aus dun­kel­ro­tem Samt, die des Abends und wäh­rend der Sit­zun­gen zu­ge­zo­gen wur­den, schütz­ten vor neu­gie­ri­gen Bli­cken und Stö­run­gen der Au­ßen­welt. Trotz­dem wirk­te der Raum kei­nes­falls düs­ter, son­dern ein­la­dend und ma­gisch.
Von uns er­fuh­ren die Leu­te haupt­säch­lich hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand. Die Men­schen spür­ten, so­bald je­mand un­se­re be­son­de­re Art von Hil­fe brauch­te. Be­saß man das da­für nö­ti­ge Geld oder an­de­re be­gehr­te und ra­re Din­ge wie Al­ko­hol, Scho­ko­la­de oder gu­tes Fleisch, dann konn­te man ein Flüs­tern ver­neh­men, ein Rau­nen, einen Hin­weis.
Man glaubt nicht, wie ge­fragt sol­che Zu­sam­men­künf­te wa­ren, ob­gleich sie in der Öf­fent­lich­keit gar nicht exis­tier­ten. Séan­cen gal­ten trotz al­ler Be­liebt­heit als hei­k­le An­ge­le­gen­heit.
---ENDE DER LESEPROBE---