Aus Staub und Knochen
Das dunkle Lied von Liebe und Tod
Kathryna Kaa
Copyright © 2023 Kathryna Kaa
Kathryna Kaac/o Block ServicesStuttgarter Str. 10670736 Fellbachkathrynakaa.demailto: kathryna@kathrynakaa.de Alle Rechte vorbehaltenDie in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.Lektorat / Korrektorat: Weltenlektorat / Aimée Ziegler-Kraska (https://www.weltenlektorat.de/)Coverdesign: Giessel Design
Für meine Mutter.Echte Liebe wird bestehen,im Tod nicht auseinandergehen,aus Staub und Knochen auferstehen,und sich im Jenseits wiedersehen.
Inhalt
Titelseite
Copyright
Widmung
Triggerwarnung
Prolog
Kapitel 1: Dunkle Wolken
Kapitel 2: Der Brief
Kapitel 3: Schatten der Vergangenheit
Kapitel 4: Séance mit Folgen
Kapitel 5: Finstere Kreaturen
Kapitel 6: Erwachte Geheimnisse
Kapitel 7: Dunkle Schatten
Kapitel 8: Aufbruch ins Ungewisse
Kapitel 9: Ein fataler Kuss
Kapitel 10: Böse Geister
Kapitel 11: Visionen
Kapitel 12: Wo ist Lucy?
Kapitel 13: Spurensuche
Kapitel 14: Der Preis der Einsamkeit
Kapitel 15: Das lebende Haus
Kapitel 16: Im Bann des Dämons
Kapitel 17: Das letzte Mittel
Kapitel 18: Ein Schutzgeist mit Engelsflügeln
Kapitel 19: Das Ende vom Lied
Epilog
Nachwort
Über die Autorin
Weitere Veröffentlichungen
Triggerwarnung
Das Buch enthält Darstellungen von Leichen, Handlungen an Leichen, Nekrophilie, Obsession, Mord, Tod.
Prolog
Ich kann sie sehen. Sie haften an Rücken, Schultern und Hälsen der Menschen und krallen sich an ihnen fest. Die dunklen, buckligen Gestalten drücken sich an die Menschenleiber und bohren ihre langen Klauen in Schläfen, Nacken und zwischen Rippen. Wenn sie mich ansehen, verziehen sie den Mund in ihren faltigen Gesichtern zu einem breiten Grinsen und zeigen mir zwei Reihen kleiner, gelber und spitzer Zähne. Dämonen.
Wir Menschen sind ihre Nahrungsquelle. Sie zehren von unserer Schuld und unseren Sehnsüchten, von Trauer, Wut, Verzweiflung und all den Empfindungen, die stark genug sind, um daran zu zerbrechen. Sie verhindern, dass das Leid verschwindet. Sobald die seelischen Wunden heilen und die quälenden Gefühle abklingen, flüstern sie uns schreckliche Dinge zu und zeigen uns Bilder, die wir vergessen wollen. Dann bohren sie ihre mit einem Stachel versehenen Schwänze tiefer in unsere Herzen und sorgen dafür, dass sie weiterbluten.
Die Leute bemerken nicht, wenn ein Dämon sie befällt, denn außer mir kann niemand sie sehen. Doch wer genauer hinschaut, erkennt, dass diese Menschen etwas quält. Manche frisst der Zorn von innen auf, ohne dass sie wissen, woher er stammt. Andere tragen bodenlose Hoffnungslosigkeit und Trauer in sich. Manchmal ist ihr Schmerz so groß, dass sie die Körperstellen reiben, an denen der Dämon sitzt, ganz so, als hätten sie Verspannungen.
Aber nicht alle tragen eine derartige Kreatur mit sich herum. Die leichteste Beute sind Menschen, die ihre Schwächen nicht kennen, leugnen oder nicht damit umzugehen wissen. Es sind die, die ihre Unzulänglichkeiten verstecken, in Alkohol ertränken oder in Aggressionen aus sich herausschleudern. Findet ein Dämon ihre Schwachstelle, saugt er sich fest und vermehrt ihre Qual, um sich daran satt zu fressen.
Mich selbst meiden sie und ich versuche, sie gleichfalls zu ignorieren. Doch sobald sie mich bemerken, treiben sie ihr garstiges Spiel mit mir. Sie fauchen und knurren und schlagen nach mir. Sie piksen mich mit ihren langen Krallen und schneiden grässliche Grimassen, damit ich mich mit einer unbedachten Geste der Lächerlichkeit preisgebe.
Sie hassen mich, weil ich sie sehen kann, obwohl ich nichts gegen sie auszurichten vermag. Ich kann den Menschen nicht sagen, dass etwas von ihnen Besitz ergriffen hat, etwas, das für sie nicht sichtbar ist. Sie würden nicht glauben, dass ein Wesen von Gefühlen zehrt, derer sie sich selbst nicht bewusst sind. Die Erfahrungen meiner Familie haben gezeigt, dass das zu gefährlich ist.
In unserer Verwandtschaft hat es schon immer mediale Talente gegeben. Großmutter und Vater sind Medien gewesen, meine Mutter ist eines und ich trage noch viel größere Kräfte in mir. Doch mir wurde früh genug beigebracht, zu schweigen. Die seherischen Fähigkeiten der Familie werden gehütet wie ein dunkles Geheimnis, denn in der Geschichte der Menschheit ist unseresgleichen zu oft auf Scheiterhaufen verbrannt worden.
Seherische Fähigkeiten, das klingt nach einem verrückten Scherz, nicht wahr? Und zu dem Zeitpunkt, als ich Lucys Brief mit ihrer Bitte um Hilfe las, wünschte ich, dass es so gewesen wäre. Doch ich, Ava Summerspell, schwöre: Das alles ist die Wahrheit, und auch wenn ich damals meine Gaben noch verflucht habe, haben sie mir letzten Endes das Leben gerettet. Aber ich will ganz von vorn beginnen.
I
✽✽✽
Schon als Kind er manches sah,
das anderen verborgen war.
So verging viel Lebenszeit
in ungewollter Einsamkeit.
Im Traum ein Engel sein Haupt neigte,
und ihm die wahre Liebe zeigte.
Er suchte sie im ganzen Land,
bis er sie eines Tages fand.
✽✽✽
Kapitel 1: Dunkle Wolken
Wir lebten auf der Isle of Souls, die zur Kette der Ghost Islandsunweit der Küste Floridas gehörte. Die Geisterinseln fassten teils kaum mehr als hundert Einwohner und besaßen auf den Weltkarten nicht einmal die Größe eines Stecknadelkopfes. Diesem Umstand war es zu verdanken, dass wir vor dem Weltgeschehen versteckt blieben und ungeschoren unsere unsichtbaren Leben führen konnten. Während der Schrecken des Zweiten Weltkrieges entfernte Gebiete der Erde erfasst hatte, beschränkte er sich für uns auf die Zeitungsartikel, die darüber berichteten.
Doch jeder weiß, dass gerade die wunderbarsten, friedlichsten und kleinsten Orte die dunkelsten Geheimnisse bergen. Geister und übernatürliche Kreaturen waren seit jeher Teil dieser Welt. Selbst wenn die Mehrheit gläubig war oder sein wollte und deshalb gewohnheitsmäßig in die Kirche ging, durchdrang Magie unser Leben. Es existierten Sitten, Bräuche und Feste, die sich in keinem Kalender fanden. Wir waren mit Zaubern und Ritualen aufgewachsen, von denen niemand sprach, die aber alle kannten. Sie stärkten uns gegen Angst, Sorge und Not und schufen eine Verbindung zu unseren Toten.
Die meisten hier hatten schon einmal im Geheimen an einer Sitzung teilgenommen. Séancen fanden regelmäßig statt, und meine Familie hatte dabei von jeher eine wichtige Rolle gespielt. Niemand wusste um das Ausmaß unserer Kräfte, doch die Leute hier schätzten die Fähigkeiten, welche wir offen zeigten, und nutzten sie.
Meine Mutter, Elisabeth Summerspell, empfing die Kundschaft im Haus und hielt für sie Séancen oder andere nützliche Rituale ab. Wir hatten unser Auskommen. Es gab immer Menschen, die mit ihren Toten sprechen wollten oder glaubten, einen Dunkelgeist vertreiben zu müssen, den sie fälschlicherweise als Dämon bezeichneten. Diese kleinen Biester waren wirklich gut darin, sich in den schlechtesten menschlichen Zügen zu verbergen. Die Welt quoll über von übernatürlichen Wesen, die in diesen Zeiten mit ungewisser Zukunft, kaum Geld und wenigen Möglichkeiten immer öfter an Menschen klebten. Manchmal aber kamen auch Leute mit geplagten Gemütern, die die Hilfe meiner Mutter suchten, um sich bei weltlichen Sorgen Rat zu holen. Dann schlüpfte sie in die Rolle einer Seelsorgerin und löste Probleme ganz ohne Magie.
An jenem Tag, an dem mich Lucys beunruhigender Brief erreichte, machte ich mich erst spät auf den Heimweg vom Eisenwarenladen des alten Smith. Dort arbeitete ich dreimal die Woche halbtags im Büro. Ich war froh um diese Arbeit, denn hier in der Gegend gab es nur wenige Jobs außerhalb der Plantagen oder Zigarrenfabriken. Zudem erleichterte sie mein Gewissen, weil ich so ganz ohne Magie etwas zum Unterhalt beitragen konnte.
Ich arbeitete gern im Laden, denn die Beschäftigung hatte nichts mit meinen Problemen zu tun, oder – wie Mutter es nannte – meinen Gaben. Papier und Stifte besaßen keine Seele, die mich bedrängte. Sie schenkten mir Augenblicke der Gleichgültigkeit, in denen ich fast nur mich selbst spürte – abgesehen von der einen oder anderen Wahrnehmung, die noch vom alten Smith an den Gegenständen klebte.
Der Nachmittag war gerade angebrochen. Ich ließ die Tür des Eisenwarenladens hinter mir ins Schloss fallen und zupfte die weißen, dünnen Handschuhe zurecht, ohne die ich nie das Haus verließ. Sie schützten mich vor den Bildern und Gefühlen anderer Leute, die sich meinem Bewusstsein aufdrängten, sobald ich sie berührte. Sie schirmten meinen Geist vor fremden Gedanken ab, sodass ich immer sicher sein konnte, dass alles, was ich dachte, fühlte und vor meinem inneren Auge sah, von mir selbst stammte.
An der Bushaltestelle gleich rechts neben dem Laden hielt gerade der Ghost Islands Express. Zweimal am Tag fuhr der Bus den Ghost Islands Highway entlang, der die vielen kleinen Inseln miteinander verband. Zu meiner besten Freundin Lucy, die auf der zahlreiche Inseln entfernten Isle of Dawn ganz am Schluss der Inselkette lebte, brauchte er durch die häufigen Stopps länger als drei Stunden.
Ich blinzelte und sah zum Strand, der sich nicht weit von hier am Horizont erstreckte. Hinter den dort aufgestellten hölzernen Gerüsten, an denen Reihen frisch gefangener, stattlicher Schwertfische hingen, vergnügte sich eine Handvoll Kinder im Sand. Einige badeten, andere fingen Krabben. Unsere Ortschaft lag wie die meisten an der Küste der Insel, die so klein war, dass man von fast überall das Meer sehen, hören oder riechen konnte.
Hier draußen befiel mich ein bedrückendes Gefühl. Unheil lag in der Luft. Die Wolken türmten sich am Himmel und nahes Donnergrollen kündigte ein Gewitter an. Ich nahm den Sonnenhut ab, den ich im Laden aufgesetzt hatte, und schüttelte meine rotblonden, halblangen Haare, um sie wieder in Form zu bringen. Merkwürdigerweise erschien mir an jenem Tag alles grau: die Straßen, die Häuser, die Menschen. Sogar meine Augen, die in der Sonne strahlend blau blitzten, schimmerten heute eher hellgrau. Jahreszeitenaugen, sagte meine Mutter dazu. Im Hellen blau, im Dunkeln grau.
Ich zupfte das dunkelblaue Sommerkleid zurecht und beeilte mich, nach Hause zu kommen, bevor der Regen die unbefestigten Wege abseits der Hauptstraße wieder in Schlamm verwandeln würde. Schon spürte ich erste, zaghafte Regentropfen auf dem Gesicht. Trotzdem lief ich noch schnell zu Tiny Joe’s Krabbenbar am Strand, um zwei der leckeren Krabbensandwiches zum Abendessen zu kaufen. Mein Magen verlangte danach.
Mit den Sandwichtüten in der Hand hastete ich im leichten Regen die Hauptstraße hinunter an den Geschäften mit ihren hölzernen Aushängeschildern vorbei. Aus Mrs Sanchez’ Schneiderlädchen drang Radiomusik, und im Vorbeieilen schnappte ich diesen Liedfetzen auf, der in meinem Kopf hängen blieb:
… und summt das Lied von Liebe und Tod.
Und obwohl ich längst an dem Laden vorbeigelaufen war, spielte das Lied in meinen Gedanken fort. Im Geist sang ich es weiter wie ein Kinderlied, das man nie vergisst:
… vereint in Liebe und Tod.
Was für ein unheimliches Lied, dachte ich und Gänsehaut richtete auf meinen Armen alle feinen Härchen auf. Brr. Ich schüttelte mich, doch der Song dudelte mir weiter lautlos in den Ohren.
Die seltsame Melodie begleitete mich entlang der unebenen, erdigen Seitenwege hinaus aus dem Ortszentrum bis hin zu den abseits liegenden Häusern, von denen eins mein Zuhause war. Trotz der heiteren Töne schwang eine melancholische Note mit, die in mir ein beklemmendes Gefühl erzeugte. Das Lied brachte mich ganz durcheinander, denn es passte zu der unheilvollen Spannung, die in der Luft lag.
Noch während ich grübelte, warum ich ausgerechnet dieses Musikstück so klar im Kopf behielt, erreichte ich unser bescheidenes Häuschen, das versteckt hinter Palmen und Büschen lag. Nur die Ecke mit dem vordersten Türmchen im ersten Stockwerk schaute hervor. Trotz des festen, ewig haltbaren Kiefernholzes wirkte es blass und altersschwach, aber der schmale Erker mit dem hohen Fenster blickte immer freundlich auf mich herab. In der Abenddämmerung, wenn die Lichter darin brannten, sah er von außen besonders einladend aus.
Ich betrat die kleine, überdachte Terrasse mit dem eckigen Tisch und den zwei Stühlen. Hier saß Mutter gern in den Abendstunden, und hin und wieder gesellte ich mich dazu. Manchmal unterhielten wir uns, manchmal schwiegen wir einfach und verloren uns im bescheidenen Vorgarten, der nur wenige Schritte lang war und dennoch vor Blattgrün und Blüten überquoll.
Es mochte seltsam erscheinen, dass sich eine erwachsene, 21-jährige Frau ihr Zuhause noch mit ihrer Mutter teilte. Aber ich konnte sie nicht verlassen. Nicht, seitdem sie durch den furchtbaren Unfall vor einigen Jahren an einen Rollstuhl gefesselt war. Ich fühlte mich für sie verantwortlich, und dank meiner Gaben fiel es mir ohnehin schwer, Gesellschaft zu finden. Zudem hatte ich mein Herz bereits einmal verloren und es bis heute nicht zurückbekommen.
Der Gedankenfluss riss mit dem Klirren des Hausschlüssels, den ich aus der Handtasche hervorkramte. Hoffentlich ist Mutter allein. Ihre Sitzungen brachten zwar Geld ein, aber es gefiel mir trotzdem nicht, dass sie Séancen abhielt. Ich verabscheute es, wenn fremde Leute unser Zuhause aufsuchten und im alten, abgewohnten Salon, wie sie den Wohnbereich nannte, ihre Toten anriefen. Es erinnerte mich immer wieder an das schreckliche Unglück, durch das unser Leben erst aus den Fugen geraten war.
Doch im Haus war es still. Keine Séance.
Ich atmete erleichtert auf, sog den in der Luft hängenden, süßlichen Duft des Styrax’ ein und hängte meine Handtasche an einem Garderobenhaken auf. Es duftete immer ein wenig nach unserer Lieblingsräucherung. Durch die häufige Benutzung hatte sie sich längst in den Vorhängen und Teppichen festgesetzt und umgab meine Sinne sogleich mit dem wohligen Wissen, daheim zu sein.
Unser Heim bestand aus zwei oberen und drei unteren Räumen. Im Erdgeschoss lagen Küche, ein beengtes Badezimmer und der Wohnraum, in dem Mutter auch schlief. Eine dekorative, spanische Wand trennte das Bett vom restlichen Zimmer.
Vom Flur aus war es nur ein kleiner Schritt in die Küche, in der es heute nach Kuchen duftete, sodass mir das Wasser im Mund zusammenlief.
»Mutter? Ich bin zu Hause!«
In der Küche war es heiß, kaum auszuhalten. Ich legte die Krabbensandwiches auf den kleinen Küchentisch und öffnete neugierig die Ofenklappe. Sofort schlug mir eine Wolke Limettenkuchenduft entgegen. Hmmmm.
Ich schloss den Ofendeckel wieder und ging ins angrenzende Wohnzimmer. Schwere Vorhänge umrahmten hier die schönen, hohen Fenster. Sie wurden nur abends oder für magische Zwecke zugezogen. Den überwiegenden Teil des Zimmers füllte der große, ovale Mahagonitisch aus unserem ursprünglichen Zuhause. Er war schon immer für Sitzungen jeglicher Art genutzt worden und hatte uns zumindest für eine Weile zu Wohlstand und Ruhm verholfen.
Für Mutter besaß der Tisch enorme Bedeutung. Sie sagte, er wäre voller Energie, die sie nutzen konnte. Jetzt nahm er zusammen mit den zwölf dicht aneinanderstehenden Stühlen aus demselben Holz fast den gesamten Raum ein. In der Tischmitte stand ein antiker Kerzenhalter für fünf Kerzen, eine für jedes Element: Feuer, Wasser, Erde, Luft, Äther. Ich schluckte trocken, denn der Anblick des Tisches schürte immer aufs Neue meine Schuldgefühle.
Mutter hatte alles in das neue Heim mitgenommen, was mit ihrem Dasein in unserer Heimatstadt Melas auf der Isle of Bones verbunden gewesen war. Ich dagegen hätte am liebsten sämtliche Gegenstände im alten Zuhause zurückgelassen, die mich an das Unglück erinnerten. Aber der Tisch war da. Und Mutter in ihrem Rollstuhl auch.
Ich machte einen Schritt ins Zimmer. »Mutter!«
»Hallo Liebling«, hörte ich ihre Stimme. Dann rollte sie hinter der spanischen Wand hervor. Sie schmunzelte. »Du wirkst erleichtert.«
Auf meinen fragenden Blick hin fügte sie hinzu: »Es war ein ruhiger Tag. Ich hatte nur zwei Kunden. Eine Tarot-Legung und eine Totenanrufung. Die hat aber leider nicht geklappt.« Sie seufzte. »Arme Mrs Cooper. Sie glaubt, ihr Ehemann sei beim Fischen verunglückt.«
»Ist er nicht?«
Mutter lächelte müde. »Ich denke, er hat sich davongemacht.«
Ich zupfte mir die Handschuhe von den Fingern.
»Warum quälst du dich so, Kind?«, fragte sie mit traurigem Blick auf meine Hände. »Deine Fähigkeiten sind ein Geschenk, kein Fluch. Du solltest sie nutzen, nicht verstecken.«
»Damit erneut ein Unglück passiert?«, entgegnete ich mit kühler Entschlossenheit und legte die Handschuhe auf den Tisch. Dieses Thema mochte ich nicht wieder und wieder durchgehen. »Nein.« Ich hob die flache Hand in Mutters Richtung, die gerade ein weiteres Mal anhob. »Fang gar nicht erst an.«
Ich wusste, wie sehr sie sich wünschte, dass ich ins traditionelle Familiengeschäft zurückkehren und sie bei ihrer Arbeit unterstützen würde. Sie glaubte, dass wir gemeinsam eine echte Chance hätten, unseren früheren Status wiederherzustellen. »Dieses Gespräch haben wir schon zu oft geführt.«
»Du weißt, du hast keine Schuld«, hörte ich sie flüstern. »Es war ein Unfall.«
»Aber ich habe den Kreis unterbrochen«, antwortete ich wütend. Wütend darüber, dass sie immer noch nicht einsah, dass ich das Unglück verursacht hatte, wütend darüber, dass ich es verursacht hatte, und dass wir wieder davon sprachen. Sie konnte es einfach nicht lassen, mich damit zu quälen. Dabei wollte ich es am liebsten vergessen. »Es waren meine Kräfte, die den Dunkelgeist damals angezogen haben. Ich habe ihn hergeholt, und er hat dich in den Rollstuhl gebracht.«
»Ava«, sagte Mutter leise und in beschwichtigendem Ton, während sie sich in ihrem Rollstuhl auf mich zuschob. Sie fasste nach meiner Hand und Wärme durchströmte mich. Liebe. »Ava, Liebling. Der Unfall ist lange, lange her. Du musst endlich deine Gaben annehmen und lernen, mit ihnen umzugehen.«
Ich schwieg. Irgendwo tief in mir drin wusste ich, dass sie recht hatte. Doch die Angst, mit meinen Fähigkeiten erneut Unheil heraufzubeschwören, war größer. Ich glaubte fest, das Unglück anzuziehen, jenes, das sich in versteckten Welten verbarg. Und ich war das Tor, welches das Übel zur anderen Seite brachte. Also sperrte ich meine Kräfte lieber weiter ein, so gut es ging, und verhüllte sie mit weißen Handschuhen. Das Weiß des Stoffes stand für Schutz und Reinheit und verlieh mir zusätzliche Stärke und Kontrolle.
»Solange du sie ablehnst, wirst du dich selbst niemals wirklich kennen«, beschwor Mutter mich. »Du wirst deine Gaben nie richtig einsetzen, geschweige denn kontrollieren können.«
Mit zusammengekniffenen Lippen stieß ich Luft durch die Nase und ließ meine Hand aus ihrer gleiten. Sie sollte es doch eigentlich besser wissen. Wie konnten Kräfte gut sein, die dazu geführt hatten, dass sie mit kaputtem Rücken im Rollstuhl saß?
Seit diesem schrecklichen Ereignis vor vier Jahren konnte ich die Fähigkeiten meiner Familie nicht länger als Segen betrachten. Seither benutzte ich die Kräfte nicht mehr und wollte auf keinen Fall erneut ins Familiengeschäft einsteigen. Niemals wieder wollte ich eine Séance durchführen oder an einer teilnehmen.
Mutter schwieg endlich. Für diesen Tag hatte sie aufgegeben. Ich verließ das Wohnzimmer und stieg die Treppe nach oben.
»Ava.«
Ich stöhnte innerlich auf. »Ja, Mutter?«
»Hier. Der Brief ist heute für dich gekommen.«
Ein Brief? Für mich? Von wem? Ich kehrte um und stieg die Stufen wieder hinunter.
Mutter überreichte mir den Umschlag. Bei der ersten Berührung überfiel mich sogleich ein weiteres Mal dieses unheilvolle Gefühl, diese finstere Ahnung, die ich bereits auf dem Heimweg gespürt hatte. Sie hatte also etwas mit dem Brief zu tun. Sofort setzte in meinem Kopf wieder der Gesang des Liedes ein, das aus Mrs Sanchez’ Laden gedrungen war:
Schon als Kind er manches sah, was anderen verborgen war.
Ich sah auf die Rückseite des Briefumschlags und las: Lucia Rosa Penterez.
»Der ist von Lucy!«, sagte ich mit Staunen. Aber die unheimlichen Schwingungen irritierten mich und dämpften die Freude. Überhaupt war es merkwürdig, denn eigentlich war ich an der Reihe, meiner besten Freundin zu schreiben. Was konnte sie veranlasst haben, mit der Reihenfolge zu brechen? Hing ihre Nachricht mit meiner Vorahnung zusammen? War ihr vielleicht etwas zugestoßen?
Mein Herz schlug schneller und trieb mir das Blut in die Wangen. Lucy und ich waren seit unserer Schulzeit befreundet. Auch sie hatte Melas und die Isle of Bones verlassen, nachdem sie erst ihre Schwester und kurz vor ihrer Hochzeit beide Elternteile verloren hatte. Seit sie geheiratet hatte und auf der Isle of Dawn lebte, sahen wir uns seltener. Aber die Inselpost funktionierte ausgezeichnet und ein Brief dauerte nur wenige Tage, sodass wir die fehlenden Treffen mit häufiger Post kompensierten.
»Ava?« Mutter musterte mich mit eindringlichem Blick. »Ist alles in Ordnung? Hattest du eine Vision, Liebling? Hast du etwas gefühlt?«
Ich schüttelte schnell den Kopf. »Nein. Es ist nur - ich habe keinen Brief erwartet.« Ich rang mir ein Lächeln ab. »Ich lese ihn auf meinem Zimmer.«
»Natürlich, Schatz.«
»Ich habe übrigens Sandwiches mitgebracht.« Mit diesen Worten schnappte ich mir eines aus der Küche und eilte die Treppe nach oben, wohl wissend, dass Mutter noch immer unten am Treppenabsatz stand und mir nachschaute. Wir wussten beide, dass ich bei der Antwort auf ihre Frage gelogen hatte, und umso dankbarer war ich in diesem Augenblick dafür, dass sie nicht weiterbohrte.
Kapitel 2: Der Brief
Die zwei miteinander verbundenen Räume des Obergeschosses waren mein Reich. Das kleinere Zimmer diente als Arbeitszimmer. Dort waren der Schreibtisch und die schon lange unbenutzten, sorgfältig verwahrten magischen Gegenstände untergebracht. Dort empfing ich Gäste, die jedoch so gut wie nie kamen.
Das größere der beiden Zimmer beherbergte neben dem Bett einen Kleiderschrank und einen Nachttisch, auf dem sich Bücher stapelten. Außerdem verfügte es über einen Waschbereich mit Spiegel und Frisierkommode, sodass sich die zwei Räume beinahe wie eine eigene, kleine Wohnung anfühlten. Die Wände mussten einst fliederfarben geleuchtet haben, bevor die Sonne die Farben ausgebleicht und nur einen pastellfarbenen Stich übrig gelassen hatte. Trotzdem wirkte das Zimmer freundlich und mädchenhaft. Das Schönste an ihm aber war der angrenzende, winzige Balkon. Er zeigte zum Weg hinaus, der über mehrere Abzweigungen wie alle Straßen irgendwann auf die Hauptstraße führte. Auf ihm genoss ich häufig die angenehme Nachtluft und lauschte in schlaflosen Nächten den Grillen, die unter mir im Gras zirpten. Dann fühlte sich alles ruhig und friedlich an, als gäbe es weder Sorgen noch Unglück.
Doch jetzt beschäftigten mich andere Gedanken. Ich fiel auf das Bett, riss den Umschlag auf und faltete den Brief auseinander. Kaum hielt ich das beschriebene Papier in der Hand, drängten Bilder in meinen Geist. Die leuchtend grünen Augen eines Dämons, wie ich sie manchmal auf Menschen hocken sah, starrten mich Sekundenbruchteile lang aus einer schwarzen Rußwolke an. Wessen Dämon mochte das sein? Doch mehr konnte ich nicht erkennen, denn neue Bildfetzen lenkten die Aufmerksamkeit auf Knochen, die zu Staub zerfielen. Dann zeigte sich mir ein Grab, darin ein Gesicht, halb Mensch, halb Mumie. Weit entfernte Rufe hallten durch meinen Kopf und endeten in einem Lied, das mir Wortfetzen entgegenschleuderte, die ich erst kurz zuvor auf dem Heimweg gehört hatte:
… verging viel Lebenszeit
in ungewollter Einsamkeit.
Was mochte das zu bedeuten haben?
Plötzlich umgab mich eine glühende, alles zu versengen drohende Hitze, die an mir vorbeizog wie die flimmernd heiße Luft, die einem aus dem geöffneten Ofen entgegenströmte. Ich zuckte zurück und ließ Lucys Schreiben fallen. Eine Weile starrte ich den Brief an. So stark mich die Neugier auf den Inhalt der Nachricht quälte, meine Finger verweigerten mir den Dienst. Irgendetwas in mir sagte ihnen, sie sollten steif und starr ausharren, bis die Gefahr vorüber war. Aber war es denn wirklich eine Gefahr?
Es ist bloß ein Brief, Ava! Selbst falls Lucys Zeilen weitere schreckliche Bilder in mir heraufbeschwören würden, so waren es doch nur Bilder! Ein Schriftstück transportierte keinen echten Dunkelgeist.
Ich holte tief Luft und nach einer Weile glitten meine Fingerspitzen langsam, ganz vorsichtig, zu den mit Tinte geschriebenen Buchstaben. Zitternd schoben sie sich auf die Wörter, immer bestrebt, ihnen auszuweichen, doch ich zwang sie vorwärts. Aber sobald sie das erste Zeichen erreicht hatten, verwandelte sich meine Furcht in Wirklichkeit.
Meine Glieder zuckten, die Lider flatterten und mir wurde schwarz vor Augen. Ich spürte noch, wie ich vom Bett auf den runden, flauschigen Teppich rutschte. Tiefer und tiefer stieg ich in mein Inneres hinab, während sich mein Körper verkrampfte. Eine heftige Vision hatte mich erfasst.
Ich begleitete Lucy, die einem Gespenst gleich durch den Korridor eines Hauses glitt. War es das Haus ihrer Familie, das Heim ihrer Kindheit in Melas? Manche Stellen kamen mir bekannt vor, aber die Dunkelheit legte einen undurchsichtigen Schleier über sämtliche Konturen. Lediglich ein schwaches Licht, dessen Ursprung ich nicht feststellen konnte, erhellte die Umgebung.
Ich folgte Lucy, die unter lautem Keuchen den Hausflur entlanghastete. Suchte sie einen Ausgang? Ich konnte nirgends Türen entdecken. Der Flur schien endlos in die Dunkelheit zu führen. Gemeinsam eilten wir durch die Gänge, bis ich in einiger Entfernung vor uns einen hellen Fleck ausmachte, der sich langsam auf uns zubewegte. Aus diesem formte sich ein Gesicht, eine Brille, traurig blickende Augen … Bevor ich mehr erkennen konnte, verzog es sich zu einer Fratze, die ihren Mund aufriss und eine Leere offenbarte, die kalt und gefährlich an uns zog. Sie wollte uns verschlingen! Ich schrie lauthals auf, aber kein Ton war zu hören.
Endlich löste sich ein erstickter Schrei aus meiner Kehle und ich erwachte aus der Trance. Meine Finger hatten sich in die Teppichfransen gekrallt und ich atmete schwer. Ich fand mich in seltsam verdrehter Stellung wie nach einem Kampf. Langsam und unter Stöhnen richtete ich mich auf, ließ den zerknitterten Brief fallen, den ich noch immer in der Hand hielt, und begutachtete meinen Körper. Alles schien heil geblieben zu sein. Trotzdem verstrichen einige Minuten, bis sich Puls und Atmung beruhigten, ich zur Besinnung kam und die Gedanken ordnen konnte.
Irgendetwas stimmt nicht, schoss es mir durch den Kopf. Irgendetwas, das Lucy betrifft, ist im Gange. Etwas Gefährliches. Ich musste endlich den Brief lesen!
Mir fiel ein, dass ich meine Handschuhe unten auf dem Tisch liegengelassen hatte. Mit einem leisen Fluchen nahm ich eilig ein frisches Taschentuch aus dem Nachtschrank und griff damit nach Lucys Schreiben. Ich setzte mich zurück auf den Teppich und lehnte mich gegen das hölzerne Bettgestell, diesmal darauf bedacht, den Brief nur mit dem Stoff zu berühren. Ich las:
Meine liebste Ava,
du wunderst dich sicher, dass ich dir schon wieder schreibe, aber dieser Brief hat einen wichtigen Grund. Ich berichte dir hier von einem unheimlichen Traum, der mich des Nachts zurzeit regelmäßig heimsucht. Er macht mir Angst, und auch wenn mir bekannt ist, dass du deine besonderen Fähigkeiten lieber ruhen lässt, bitte ich dich in dieser Sache um Hilfe und den Einsatz deiner Gaben. Ich weiß mir keinen anderen Rat mehr.
Alles begann vor etwa einer Woche in der Nacht zum Neumond. Ich war so rasch eingeschlafen wie schon lange nicht, doch eine innere Unruhe ließ mich oft aufschrecken. Das letzte Mal, dass ich auf die Uhr an der Schlafzimmerwand gesehen hatte, zeigte sie eine Stunde nach Mitternacht. Danach erinnere ich mich nur an diese erschreckenden Szenen, die mich seither jede Nacht heimsuchen.
Ava, durch dich und deine Fähigkeiten weiß ich, was Träume bedeuten können, und dieser Traum ist anders als jene, die ich gewöhnlich habe. Meine tote Schwester Bella sucht mich darin heim, und ich glaube, sie sendet mir Botschaften, die ich nicht verstehe. Bitte hilf mir, damit ich wieder Ruhe finde!
Ich blickte von den Zeilen auf zur Balkontür. Meine beste Freundin bat mich also um Hilfe. Was mochte sich hinter ihren Träumen verbergen? Einen Moment hoffte ich, dass sich damit nur Lucys Unterbewusstsein meldete, das mit einem unverarbeiteten Erlebnis beschäftigt war, und nicht ihre Schwester. In diesem Fall bräuchten wir meine unterdrückten Kräfte nicht. Gleichzeitig wusste ich, dass dem nicht so war.
Wenn verstorbene Verwandte im Traum erschienen, dann waren sie auch hier. Zumeist hatte etwas oder jemand sie hergerufen und hielt sie fest. Aber wir Menschen waren nicht dazu bestimmt, nach dem Lebensende im Diesseits zu verweilen. Tote wollten ihre Ruhe und sprachen nur zu uns, falls wir sie riefen. Seelen, denen aus irgendeinem Grund der Weg zurück ins Jenseits verwehrt blieb, verweilten im Zwischenreich. Und dort irrte anscheinend auch Bella umher.
Das Taschentuch samt Brief rutschte mir aus der Hand. Mit einer unachtsamen Bewegung fasste ich danach, erwischte jedoch nur das blanke Papier, während das Tuch zu Boden glitt. Gerade noch rechtzeitig verhinderte ich, dass die Finger dabei mit den kraftvollen Buchstaben in Kontakt kamen. Da das Schreiben nun aber ohnehin schon meinen Geist berührte, versuchte ich, die schwache Beziehung darüber kontrolliert zuzulassen. Gefesselt vom Briefinhalt las ich auf diese Weise weiter, und mit jedem Satz zog es mich tiefer in Lucys Geschichte hinein.
Die reale Welt verschwamm und ich fiel in einen neuen Wachtraum. Doch dieses Mal kam die Vision nicht überraschend, denn ich war vorbereitet und ließ zu, dass die Bilder in mich hineinströmten und meinen Geist vereinnahmten. Mein Körper blieb entspannt und ich wehrte mich nicht.
Um mich herum entstanden die Wände von Lucys ehemaligem Zuhause in Melas. Ich entdeckte meine Freundin, die mit unsicheren und ängstlichen Schritten durch den Hausflur wandelte, während ich über dem Geschehen schwebte. Diesmal konnte ich mehr erkennen als beim ersten Mal, denn Lucy trug eine Kerze, die den Flur erhellte. Ich spürte ihre Angst, sie kroch aus ihren Schweißdrüsen und verflachte ihren Atem, der sich dadurch schnell und keuchend anhörte. Ich ahnte, dass jeden Augenblick etwas Schreckliches passieren würde.
Plötzlich schoss aus dem Dunkel der rechten Seite eine weiße, totenblasse Hand und umklammerte Lucys Arm. Sie schrie kurz auf, dann folgte nur noch ängstliches Wimmern und ich konnte das unheimliche Flüstern hören: »Luuucy.«
Isabella. Diese Stimme gehörte Lucys toter Schwester!
»Lass mich los!« Lucy zog an ihrem Arm, doch die Totenhand hielt sie fest. So heftig sich Lucy auch mühte, sie kam nicht von der Stelle.
»Luuucy,« ertönte wieder Bellas Stimme. In ihr lag keine Böswilligkeit, sondern sie klang wie ein Flehen, ein Hilferuf oder Bitten um Aufmerksamkeit aus dem Totenreich. Trotzdem kroch die blanke Panik, die Lucy längst befallen hatte, jetzt ebenso in mich und ich sah weiter zu, wie sie vergeblich versuchte, sich zu befreien.
Da erblickte sie etwas oberhalb der Hand, die ihr Gelenk umklammerte, und erstarrte. Ich folgte ihrem Blick und mir gefror das Blut in den Adern: Im Dunkel des Flurs schwebte das bleiche und ausdruckslose Antlitz ihrer Schwester.
Kein Zweifel, es war Bella, und doch war sie es nicht. Ihr einst hübsches Gesicht wirkte entstellt und ähnelte einer wächsernen Maske, aus deren Augenhöhlen gläserne Augäpfel starrten wie zwei Fremdkörper, die nicht dorthin gehörten. Obwohl das puppenhafte Antlitz keine Regung zeigte, gewann ich den Eindruck, dass sie etwas sagen wollte.
Doch der grausige Anblick löste einen Aufschrei der Bestürzung aus Lucys Kehle und verhinderte, dass ich Bellas leisem, gequälten Seufzen Genaueres entnehmen konnte. Es war Lucys Traum, in den ich eingetaucht war, und so sah ich nicht nur, was Lucy sah, sondern fühlte auch, was sie fühlte. Ich spürte ihr Grauen tief in meinen Geist dringen und stimmte in ihre Entsetzensschreie ein. Ich schrie, bis ich nichts weiter hörte als unser gemeinsames, ohrenbetäubendes Kreischen, das mich schließlich schweißgebadet aus meiner Trance erwachen ließ.
Mit dem letzten Ton schlug ich die Augen auf und fand mich wie zuvor auf dem Teppich wieder, den Rücken gegen das Bettgestell gelehnt. Meine Position hatte sich nicht verändert. Ich hatte mich kaum bewegt, und doch rann mir der Schweiß unter der Kleidung in kleinen Bächen den Körper hinab.
Ich ließ den Brief sinken und wischte mir mit dem Taschentuch die Stirn. Das Schreiben war voller bedrohlicher Visionen, und dabei hatte ich es noch nicht einmal zu Ende gelesen. Meine Hände zitterten, die Angst saß mir im Nacken und ich rang nach Luft.
Durchatmen, Ava, durchatmen. Es sind zwar Bilder, aber es ist trotzdem nur ein Brief. Nur ein Brief. Nur ein Brief. Diese Worte wiederholte ich gedanklich immer wieder, während ich mich im Schneidersitz zurück auf das Bett setzte und mit einem frischen Taschentuch erneut das Papier griff.
Ich verstehe das nicht, schrieb Lucy, Bella ist tot! Sucht ihr Geist mich in meinen Träumen heim oder sind es finstere Teile meines Hirns, die mir einen Streich spielen? Weshalb ist ihre Erscheinung so grässlich entstellt? Liebste Ava, ich habe den Eindruck, dass Bella mir etwas sagen will. Wenn du nur ihren Blick gesehen hättest (Oh, das hatte ich, Lucy, das hatte ich!), würdest du mir zustimmen, dass es sicher nicht meine Seele ist, die Beistand benötigt, sondern die meiner lieben Schwester. Doch worum mag eine Tote flehen? Welches Leid kann einer Seele noch widerfahren?
Sofern mir jemand in dieser unheimlichen Angelegenheit beizustehen vermag, dann bist du es, Ava. Bitte hilf mir, herauszufinden, was es mit diesem Traum auf sich hat. Brauche ich geistige Betreuung oder ist es tatsächlich die Seele meiner Schwester, die mich kontaktiert? Und falls ja, warum?
Die Träume rauben mir zusehends die Kräfte, selbst mein geliebter Julio hat neulich erwähnt, wie schlecht ich aussehen würde. Er sorgt sich schon um mich.
Ava, ich bin sicher, du kannst mir helfen! Zu viele Menschen würden meine Ängste nicht verstehen. Aber durch dich weiß ich von anderen Realitäten neben der unsrigen, und nur du bist in der Lage, meine Fragen zu klären. Bitte antworte mir bald, denn ich sehe bereits jeder Nacht mit Sorge entgegen.
In Liebe,
deine Lucy.
Isabella Marisol Lejosa, kurz Bella, war Lucys ältere Schwester gewesen. Ich erinnerte mich gut an sie. Lucy hatte sie geliebt, genau wie ich, denn sie war nicht einfach nur schön gewesen, sondern hatte ihre Schönheit im Herzen getragen. Sie hatte gestrahlt, und alle in Melas hatten sie angehimmelt.
Obwohl acht Jahre zwischen ihnen lagen, bemerkte man die Ähnlichkeit der Geschwister auf den ersten Blick. Zwar besaß Lucy eine kräftigere Statur, während Bella zart und zerbrechlich wirkte. Aber sie teilten dasselbe schwarze, glänzende Haar, das in sanften Wellen die Schultern umspielte, die wunderschöne, mandelfarbene Haut und die dunkelsten Augen, die ich je gesehen hatte.
Mit ihren vollen, rosigen Lippen waren sie beide hübsch anzusehen, doch Bella hatte etwas an sich, das alle Menschen in ihren Bann zog. Ihr verträumter, melancholischer Blick und der Aufschlag ihrer langen Wimpern wirkten beinahe magisch. Niemand konnte sich gegen den Wunsch wehren, im tiefen Braun ihrer Augen versinken zu wollen. Zusammen mit dem ebenmäßigen Gesicht und den hohen Wangenknochen sah sie aus wie ein Engel, besonders dann, wenn sie ihr lockiges Haar offen trug.
Alle waren verrückt nach ihr, umschwärmten und verehrten sie. Lucy und ich bildeten keine Ausnahme, denn trotz ihrer Anmut blieb Bella bodenständig und liebenswert und machte sich nichts aus ihren zahlreichen Verehrern. Niemals wäre es Lucy in den Sinn gekommen, ihre Schwester zu beneiden. Stattdessen stellte sie Bella auf einen unsichtbaren Sockel aus Bewunderung, zu dem sie selbst nach ihrem Tod weiter aufblickte. Bella starb bereits im Alter von gerade neunzehn Jahren an Tuberkulose, die später noch fast die gesamte Familie dahinraffen sollte.
Vielleicht hatte Lucy ihre Schwester unabsichtlich gerufen. Ihr Todestag jährte sich bald zum zehnten Mal und setzte möglicherweise Energien im Unterbewusstsein meiner Freundin frei, die Bella ins Zwischenreich gelockt hatten und jetzt dort festhielten. Ein Netz aus Erinnerungen und Gefühlen konnte dafür sorgen, dass ihre Seele dem Diesseits verhaftet blieb. Die Kraft des Bandes innerhalb der Familie Lejosa hatte ich schon in Kindheitstagen gespürt. Es war so mächtig und voller Liebe, und manchmal hatte ich mir gewünscht, dazuzugehören.
Doch wahrscheinlich stimmte eher Lucys Vermutung. Bellas Seele suchte Hilfe. Wenn Seelen nicht ziehen konnten, hielten sie sich in der Regel dort auf, wo ihre Wurzeln lagen. Emotionale Bindungen und Erinnerungen zogen sie an und zeigten ihnen den Weg. Deshalb fanden sich Geister häufig in der Nähe ihrer Familien oder ehemaligen Heimstätten, zu denen sie eine starke Verbindung gehabt hatten.
Ich überlegte. Dieser Umstand bedeutete, dass sich Bella seit ihrem Tod vor zehn Jahren im Zwischenreich aufhielt und ihren Frieden noch nicht gefunden hatte. Was für eine quälende Vorstellung! Ich atmete tief durch und versuchte, meine Gefühle wegzuschieben und nur klare, logische Gedanken zuzulassen.
Falls Bella wirklich die gesamte Zeit über unbemerkt in der Zwischenwelt festgesteckt hatte, dann belastete sie seit ihrem Ableben ein schwerwiegendes Problem, dessen Wurzeln hier im Diesseits zu suchen waren. Anders konnte ich mir das nicht erklären. Aber in den ganzen Jahren hatte es keine Anzeichen dafür gegeben! Nie hatte Lucy schaurige Träume erwähnt, in denen Bella vorgekommen war.
Es musste etwas Grundlegendes geschehen sein, schlussfolgerte ich. Etwas hatte sich verändert und befähigte Bella erst jetzt, mit Lucy Kontakt aufzunehmen. Mein Kopf schwirrte und ich rieb mir die Schläfen. Das alles wirkte viel zu mysteriös und warf eine Menge Fragen auf. Da hilft wirklich nur eine Séance. Sofort bekam ich einen schalen Geschmack auf der Zunge, der mit Sorglosigkeit weggespült werden wollte. Aber nur eine Befragung von Bellas Seele würde die Angelegenheit zufriedenstellend klären.
Obwohl sämtliche Anzeichen dagegensprachen, hielt ich mich an dem hoffnungsvolleren Gedanken fest, dass meine Freundin ihre Schwester versehentlich heraufbeschworen hatte. Vielleicht aus einer Erinnerung heraus, vielleicht durch ein Erlebnis, das sie unbewusst mit Bella in Verbindung gebracht hatte. Es gab tausenderlei Gründe, weshalb so etwas passiert sein konnte. Doch selbst diese Hoffnung wollte bestätigt werden, und dazu brauchte ich meine Gaben.
Der Gedanke daran, meine Fähigkeiten einzusetzen, widerstrebte mir zutiefst. Er löste böse Erinnerungen in mir aus, die bisher dafür gesorgt hatten, diese Kräfte unter Verschluss zu halten.
Am Grab, geschmückt mit Rosenrot …
Schon wieder spielte dieses Lied in meinem Kopf. Ich versuchte, es zu ignorieren, denn ich hatte eine Entscheidung zu treffen. Mit geballten Fäusten trat ich auf meinen kleinen Balkon.
Die Wolken hatten sich verzogen. Die Abendsonne hatte genug Kraft besessen, den Straßenmatsch wieder in halbwegs feste Erde zu verwandeln. Tief sog ich die Abendluft ein, in der die Gerüche der Blüten und Speisen hingen, die in den Häusern um mich herum zubereitet worden waren. Ich war überzeugt, dass eine gemeinsame Séance mit Lucy ihr am besten helfen würde. Als Medium konnte ich den Kontakt zu Bella herstellen. Bei diesem Gedanken sträubte sich alles in mir, aber mir fiel keine bessere Lösung ein, um Lucy von ihren Sorgen um Bellas Seele zu befreien. Sie zählte auf mich.
Lucy kannte die schrecklichen Ereignisse, die sich damals in Melas zugetragen hatten. Es hatte sie bestimmt Überwindung gekostet, mich um diesen Gefallen zu bitten. Ich konnte sie nicht im Stich lassen, nur weil ich selbst Angst hatte, mit meinen Kräften neues Unheil anzurichten. Lucy war meine allerbeste Freundin. Seit den Kindertagen hatten wir alles geteilt: unsere Geheimnisse, unsere Freuden, unser Leid.
Ich schloss die Augen und atmete noch einmal tief durch, ließ die Stärke in mir wachsen, die die Angst trotzig beiseiteschob. Mit einem weiteren Atemzug streckte ich mich und nickte dem blassen Mond am Abendhimmel zu. Langsam fühlte ich mich bereit, dieses Opfer zu bringen und mich für dieses eine Mal darauf einzulassen, Kontakt mit Welten aufzunehmen, die nicht menschlich waren.
Lucy brauchte diese Séance, und ich war außer meiner Mutter die Einzige, die eine Anrufung abhalten konnte. Einen Augenblick überlegte ich, sie um Hilfe zu bitten. Doch schon bei der Vorstellung schüttelte sich mein gesamter Körper und wehrte sich gegen diese Idee. Natürlich würde sie mich unterstützen, aber dann würde sie immer wieder darauf drängen, dass ich meine Gaben nutzte. Sie würde mich nicht mehr in Ruhe lassen und versuchen, mich in andere Sitzungen einzubeziehen. Vor dem inneren Auge sah ich bereits die Hoffnung in ihr aufblitzen, dass ich zum Familiengeschäft zurückkehren würde.
Nein. So weit würde es niemals kommen, da war ich mir sicher.
Ich beschloss, diese eine Anrufung mit Lucy allein durchzuführen. Selbst wenn es mir schwerfiel, musste ich es wagen und über meinen Schatten springen. Damit würde sich am leichtesten feststellen lassen, welche der beiden Schwestern in Nöten war, und weitere Schritte könnten folgen.
Es wird nur eine kleine Séance, sagte ich mir. Lediglich Lucy und ich würden anwesend sein, und wir beschworen zudem eine gute Seele, die wir kannten. Dennoch brachte mich der Gedanke ins Schwitzen. Er rief mir das vergangene Unglück in aller Deutlichkeit ins Gedächtnis, als wäre es erst gestern geschehen. Immer schneller stiegen Einzelheiten an die Oberfläche meines Bewusstseins wie Blubberbläschen in einem frischen Glas Limonade und versetzten mich zurück in jene tragischen Stunden, die mein Leben verändert hatten.
Kapitel 3: Schatten der Vergangenheit
Die Geschichte meiner Mutter war gleichfalls die Geschichte meiner Weihe als auch die meiner Abkehr von der Magie. Es war die Geschichte vom Verlust meines Vaters und dem Zerfall der Familie. Es war die Geschichte, in der mein Schicksal begründet lag.
Zusammen mit Lucy hatte ich die Kindheit auf der Isle of Bones verbracht. Mit meinen Eltern wohnte ich in einer alten, baufälligen Villa, in der schon viele andere Familien vor uns gewohnt hatten. Wir hätten uns ein besseres Zuhause leisten können, aber Vater war dem Charme der hohen Fenster und zahlreichen Erker verfallen und lieber bereit gewesen, die vorhandenen Schäden selbst auszubessern.
Die Villa befand sich am Rande von Melas, der einzigen Stadt auf der Insel, die schon damals mit ihrer beträchtlichen Größe beinahe die Hälfte dieser einnahm. Zwar lag das Haus entfernt vom geschäftigen Treiben, doch trotzdem nah genug, um am dortigen Leben teilzunehmen. Ich wollte mir nicht vorstellen, was mit diesem schönen Gebäude in den Jahren unserer Abwesenheit passiert war.
In meiner Erinnerung war unser Zuhause ein wunderbares, schickes Stadthaus. Tatsächlich jedoch hatte es ein undichtes Dach, Risse in den Wänden und quietschende Türscharniere. Aber welches Kind störte sich daran, wenn es dafür eine Menge verwinkelter Räume und einen Dachboden gab, auf dem die Schätze vergangener Zeiten darauf warteten, entdeckt zu werden?
Eines der wichtigsten Zimmer im Haus bezeichneten meine Eltern als den »Salon«. Dort empfingen sie regelmäßig ihre »Gäste«, wie sie die Kunden nannten, für die sie Séancen, Zauber oder Weissagungen abhielten. Der Salon war die vornehmste Räumlichkeit der Villa. An den kunstvoll mit dunklem Holz vertäfelten Wänden waren kleine Lampen angebracht und die Decke schmückte ein sechsarmiger Leuchter. An jedem Arm hingen zahlreiche Schmucksteine aus durchsichtigem Glas, die geheimnisvoll im Wind klirrten, wenn gelüftet wurde.
Zwei hohe Fenster auf beiden Seiten erhellten das Zimmer bei Tag. Vorhänge aus dunkelrotem Samt, die des Abends und während der Sitzungen zugezogen wurden, schützten vor neugierigen Blicken und Störungen der Außenwelt. Trotzdem wirkte der Raum keinesfalls düster, sondern einladend und magisch.
Von uns erfuhren die Leute hauptsächlich hinter vorgehaltener Hand. Die Menschen spürten, sobald jemand unsere besondere Art von Hilfe brauchte. Besaß man das dafür nötige Geld oder andere begehrte und rare Dinge wie Alkohol, Schokolade oder gutes Fleisch, dann konnte man ein Flüstern vernehmen, ein Raunen, einen Hinweis.
Man glaubt nicht, wie gefragt solche Zusammenkünfte waren, obgleich sie in der Öffentlichkeit gar nicht existierten. Séancen galten trotz aller Beliebtheit als heikle Angelegenheit.
---ENDE DER LESEPROBE---