Dunkelblut
Zwischen Stein und Schatten
Kathryna Kaa
Copyright © 2022 Kathryna Kaa
Kathryna Kaac/o Block ServicesStuttgarter Str. 10670736 Fellbachhttp://www.kathrynakaa.demailto: kathryna@kathrynakaa.deAlle Rechte vorbehaltenDie in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.Lektorat / Korrektorat: Weltenlektorat / Aimée Ziegler-Kraska (https://www.weltenlektorat.de/)Umschlaggestaltung und Buchsatz: chaela (http://www.chaela.de)
Triggerwarnung
Das Buch enthält Szenen von Gewalt,
den Verlust der Eltern und Geliebten.
Für Andreas, meinen Liebsten.
Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Impressum
Triggerwarnung
Widmung
TEIL I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
TEIL II
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
TEIL III
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Viviens Horror-No-Go-Liste
Die Autorin
Weitere Bücher der Autorin
TEIL I
Das Ende der Welt
Kapitel 1
Wilde Jagd
Die Straßen der feindseligen Stadt liegen dunkel und menschenleer vor mir. Es nieselt leicht. Ich ziehe die Kapuze meines Hoodies ins Gesicht und halte mich in der Deckung der Häuser. In diesem Stadtteil bin ich nicht gern gesehen, schon gar nicht nach Einbruch der Dämmerung. Und das nicht, weil ich mit meinen sechzehn Jahren zu jung für diese Gegend bin.
Der Grund, warum ich hier lieber niemandem begegnen sollte, ist einfach: Mein Blut ist dunkel. Das heißt nicht, dass es schwarz ist. Nein, es ist normales Blut, wie es jeder Mensch einmal gehabt hat. Aber seit SoMa den Welthunger besiegt hat, ist es selten geworden. Die meisten Leute ernähren sich jetzt von diesem künstlichen Zeug aus Soja und Mais und besitzen deshalb helles Blut, das an Kupfer erinnert.
SoMa spaltet die Gesellschaft in gut und schlecht. In lebenswert und Abschaum. In Somas, die von SoMa-Produkten leben, und Dunkelblüter wie mich, meine Eltern und eine Handvoll anderer Menschen dieser Stadt, die ihre Emotionen behalten wollen. Denn mit den Empfindungen ist das so eine Sache: Entweder ist man Soma und hat kaum welche, oder man ist Dunkelblut und Gefühle sind das Einzige, was einem bleibt. Sie machen uns letztendlich zu Ausgestoßenen, weil wir damit eine unberechenbare Bedrohung des gesellschaftlichen Lebens darstellen.
Was ich hier treibe? Ich bin auf dem Weg zu Eric, meinem Liebsten. Wir sind vor knapp drei Jahren ein Paar geworden, kurz bevor SoMa die Welt erobert hat. Er wohnt in einem schicken Viertel, weil er der Sohn des Bürgermeisters ist. Und der ist natürlich Soma.
Dadurch ist mein Vorhaben umso gefährlicher, denn das Bürgermeisteramt lenkt in diesen Tagen nicht nur die Geschicke einer einzelnen Stadt, sondern bedeutet viel Macht. Niemand steht mehr über dem Stadtoberhaupt. Das Land ist zersplittert in seine Städte und umliegenden Regionen, und deren jeweilige Regierungen bestimmen in ihren Gebieten.
Ich schleiche an einem kleinen, um diese Uhrzeit geschlossenen Lebensmittelladen vorbei, an dessen Eingangstür ein Schild hängt, wie es hier zuhauf zu finden ist: »Zutritt nur für Hellblüter«. An diesen Anblick habe ich mich schon gewöhnt, und er stört mich nicht, denn in den gängigen Supermärkten werden ohnehin bloß Lebensmittel aus SoMa angeboten.
Wir Dunkelblüter beziehen unsere Nahrung deshalb längst nicht mehr aus dem Handel. Wie andere auch ist meine Familie in den letzten Jahren zum Selbstversorger geworden. Wir wühlen in der toten Erde und versuchen, sie teilweise zu regenerieren, um uns von der mageren Ernte zu ernähren.
Während ich weiter an den Häuserwänden entlangschleiche, bleibt mein Blick an einem Zettel kleben, der an dem Laternenpfahl vor mir leicht im Wind flattert. Neugier treibt mich aus der Sicherheit der Häuserschatten zu dem Papier:
Die dunkle Seite erhebt sich! Der Untergrund schlägt zu.
Ich starre auf den Zettel und verliere mich einen Augenblick in meinen Gedanken. Der Untergrund. Davon habe ich gehört. Es gibt Gerüchte über diese Vereinigung von Dunkelblütern, die sich zusammengeschlossen haben, um gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit zu rebellieren. Dafür, dass bisher noch nichts geschehen ist, wird sie häufig in den Medien thematisiert und bringt den Unmut der Somas gegenüber uns Dunkelblütern so stark zum Schwelen, wie es ihr helles Blut zulässt. Doch bestimmt lauert der Untergrund in seinem Versteck und holt bei einer günstigen Gelegenheit zum Schlag aus. Ich weiß aber nicht, ob ich das gut finden soll. Vielleicht fehlt nur noch die gewisse Zutat, um das brodelnde Fass der Abneigung zum Überlaufen zu bringen. Andererseits wünsche ich mir, dass es mal so richtig knallt und wir den Somas zeigen, dass wir dieselben Rechte verdienen wie sie.
»Hey, du!«, hallt eine männliche Stimme hart und unfreundlich einige Meter hinter mir durch die dunkle, leere Straße.
Verdammt. Scheinbar habe ich meinen Gedanken zu lange außerhalb der sicheren Gebäudeschatten nachgehangen. Vielleicht habe ich mich auch zu auffällig verhalten, schließlich starre ich schon eine ganze Weile dieses Flugblatt an. Ich ziehe die Schultern hoch und setze mich in Bewegung. Bloß nicht reagieren.
»Hey!«, ertönt es wieder, diesmal dichter hinter mir. Ich höre Schritte, die sich eilig nähern. Trotzdem gehe ich einfach weiter und drehe mich nicht um. Ich tue so, als würde der Soma nicht mich meinen. Vielleicht lässt er mich dann in Ruhe, auch wenn die Chancen dafür eher schlecht stehen.
»Stehen bleiben!« Jetzt ist er nur noch ein paar Schritte von mir entfernt. »Wohnst du hier? Halte an, oder bist du ein Dunkelblut?«
Verflucht. Was nun? Stoppe ich, wird er mich ausfragen und meinen Blutnachweis verlangen. Und weil ich den nicht habe, kann ich mich darauf gefasst machen, von ihm zur nächsten Wache geschleppt zu werden. Was dann geschieht, mag ich mir gar nicht vorstellen. Nachweis fälschen? Unmöglich, denn der besteht nicht aus einem Fetzen Papier, sondern erfolgt mit kleinen Blutmessgeräten über die Haut, die an jeden Schlüsselbund passen. Einige Somas tragen so eines bei sich.
Ich könnte mich natürlich wehren, doch das hätte noch schlimmere Folgen, die wahrscheinlich sogar Familie und Freunde treffen würden. Ich könnte versuchen zu flüchten, aber eine Chance hätte ich nur dann, wenn kein weiterer Soma auftaucht.
Ich frage mich, ob er zu den SoMa-Schutz-Truppen gehört oder lediglich ein äußerst gewissenhafter Soma ist. Die Polizei, wie sie es früher einmal gegeben hat, ist durch die sogenannte SoMa-Sicherheit abgelöst worden. Ist es nicht irre, eine militärische Sicherheitseinrichtung nach einem Lebensmittel zu benennen? Doch ob SoMa-Sicherheit oder nicht macht am Ende keinen Unterschied. Die Situation kann für mich brenzlig werden.
Ich höre, wie die Schritte des Mannes hinter mir beschleunigen. Mist. Instinktiv fange ich an zu rennen. Damit ist ihm natürlich klar, was ich bin.
Dunkelblut!
Ich haste um die nächste Straßenecke und laufe ziellos weiter. Doch ich bin nicht schnell genug. Ein Stoß trifft mich von hinten, ich verliere den Halt und stürze auf den Boden.
»Aaaah!« Meine Wange streift den Asphalt und ich stöhne leise auf.
Die Eier, verdammt. Eric braucht die Nährstoffe. In diesem Augenblick bin ich froh, sie hart gekocht zu haben, denn dann sind Risse in der Schale nicht von Bedeutung. Trotzdem hoffe ich, dass die wertvollen Hühnereier in dem kleinen Rucksack auf meinem Rücken keinen allzu großen Schaden genommen haben. Ich rapple mich auf und stehe jetzt dem Mann gegenüber, dem es so wichtig gewesen ist, ein einzelnes Dunkelblut zu stellen.
»Was machst du hier, Mädchen? Hast du einen Passierschein? Komm mir nicht zu nahe, vielleicht bist du verseucht!« Der Soma wischt sich die Hände mit einem Desinfektionstuch sauber. Dabei sieht er mich nicht mal an.
Dunkles Blut gilt gemeinhin als unrein. Wir sind Krankheitsüberträger und Seuchenherde. Ungeziefer, auch wenn das öffentlich niemand ausspricht. Obwohl das Superfood gegen alle bekannten Erreger schützt und wir den Somas daher eigentlich nichts anhaben können, bleibt die unterschwellige Angst vor neuen Krankheiten, die das genmanipulierte Zeug vielleicht doch nicht beherrscht. Das wird zumindest gern in den Medien verbreitet und ist ein Grund, warum sie uns meiden, verabscheuen und zu bekehren versuchen.
»Ja«, stottere ich und fummle an meiner Hosentasche. Natürlich hab ich keinen Schein, aber ich brauche Zeit, um mir etwas einfallen zu lassen. Dann werfe ich einen Blick an dem Typen vorbei, mache ein bis ins Mark erschüttertes Gesicht und rufe laut: »Oh, verdammt! Da drüben braut sich was zusammen!«
Was auch immer sich da zusammenbrauen könnte, es funktioniert. Der Mann dreht sich tatsächlich um und ich sehe zu, dass ich Land gewinne. Somas sind so leicht zu beeinflussen. Ich höre noch sein Fluchen, nachdem er den Bluff durchschaut hat, aber da bin ich schon hinter der nächsten Ecke verschwunden. Jetzt bloß nicht stehen bleiben!
Ich hechte durch die Straßen und prüfe mit eiligen Blicken meine Möglichkeiten. Da ich hier regelmäßig unerlaubt unterwegs bin, um Eric zu besuchen, kenne ich diesen Teil der Stadt ziemlich genau. Ich renne in die nächste schmale Seitenstraße, vorbei an dem kleinen Klamottenladen mit dem unübersehbaren Schild »Kein Zutritt für Dunkelblüter!«, halte mich zweimal rechts und stoße auf eine vermeintliche, mit kränkelnden Büschen bewachsene Sackgasse. Dort bücke ich mich und schiebe die starren, kahlen Zweige beiseite. Dahinter befindet sich ein Mauerloch, durch das ich gerade so hindurchpasse. Auf der anderen Seite stehen große Müllcontainer, die die Verbindung ebenfalls vor Blicken abschirmen und jedem Sichtschutz bieten, der dieses Schlupfloch nutzt. Ich habe das Loch bereits vor einiger Zeit entdeckt und nutze es, falls Schwierigkeiten auftauchen. So wie jetzt. Aber ich denke nicht, dass dieser Durchgang zufällig entstanden ist. Es gibt bestimmt weitere Dunkelblüter, die unerlaubt in diesem Gebiet unterwegs sind. Vielleicht sogar welche, die dem Untergrund angehören.
Ich krieche auf die andere Seite der Mauer und verstecke mich dort hinter einem Müllcontainer. Hier wird mich der Soma nicht finden. Ich hoffe nur, dass ich ihm den Aufwand nicht wert bin, einen Suchtrupp zusammenzustellen, um die komplette Gegend nach mir zu durchkämmen. Die Chancen dafür stehen gut, denn das schwache Gefühlsleben lässt seine wohl eher leichte Empörung über meine List bestimmt schnell verrauchen. Normalerweise liebe ich ein bisschen Nervenkitzel, aber erwischt werden darf ich auf keinen Fall.
Ich hocke mich auf den Boden und streiche mir die langen, dunklen Haare aus dem Gesicht. Der Sprint hat mich ganz schön außer Atem gebracht und ich brauche eine Weile, um genug Sauerstoff zu tanken. Also streife ich den Rucksack vom Rücken und lehne mich an die Mauer. Hier will ich warten, bis ich mir sicher bin, dass der Soma seine Suche wirklich aufgegeben hat und die Luft wieder rein ist. In der Zwischenzeit lausche ich den Botschaften, die gerade durch die überall in der Stadt installierten Lautsprecher in den Abend klingen:
»Wer SoMa nimmt, lebt lang und sicher. SoMa macht das Leben leicht.«
Ich schnaube verächtlich durch die Nase.
»Mit SoMa retten wir die Welt!«
Ich gebe zu, vielleicht ist an diesem Spruch sogar etwas dran. Die Menschen haben zugelassen, dass das Land zu einem düsteren Ort verkommen ist. Die Erde ist leer. Sie ist verbraucht, ausgelaugt, hat alles für uns gegeben. Jetzt liegt sie im Sterben, ihre Haut ist verbrannt, verdorben und durchlöchert. Ihre Gaben sind vernichtet, getötet und ausgerottet.
Doch SoMa hat die Hungersnöte beendet. Vielleicht hat es den Namen Superfood sogar verdient, wenn man bedenkt, dass es als Basis sämtlicher Lebensmittel dient, auf die die Menschen lange verzichten mussten. Es gibt so gut wie alles wieder, was es zuvor kaum noch oder gar nicht mehr gegeben hat: Brot, Wurst, Käse, Fisch, Kuchen, Pudding, Pasteten, Braten, Kartoffelbrei. Fast jedes vorstellbare Nahrungsmittel wird mit entsprechender Farbe, Geschmack und Textur aus nur diesem einen synthetischen Stoff hergestellt, der obendrein sämtliche Nährstoffe enthält, die ein Mensch braucht. Es macht daher keinen Unterschied, ob man zu einer Mahlzeit Schokolade isst oder Salat. Verlockend, nicht wahr? Noch dazu schützt es den Körper vor jeglichen Krankheiten und verlängert dadurch das Leben enorm. Wieso also nicht auch zum Soma werden?
»SoMa vertreibt das Dunkel in dir!«, tönt es jetzt aus dem Lautsprecher.
»Ach, halt die Klappe«, zische ich leise. Wenn es so einfach wäre, gäbe es keine Dunkelblüter wie mich. Alles hat seinen Preis und selbst die Somas zahlen einen. Sie haben nicht nur ihr Gefühlsleben und damit, wie ich finde, ihre Seele hergegeben, sondern lassen sich dazu noch wahllos manipulieren. Nicht umsonst bin ich dem Typen vorhin so mühelos entkommen.
Ich schnappe mir den Rucksack, krieche hinter dem Müllcontainer hervor und sehe mich um. Es ist still um mich herum, weit und breit kein Soma zu entdecken. Ich denke, ich habe lange genug abgewartet. Die Luft ist rein.
Mein Weg führt mich in eine kleine, parkähnliche Grünanlage, die schon eine Weile nicht mehr gepflegt worden ist. Dort verbirgt sich inmitten einer Insel aus mannshohem Buschwerk ein ehemaliges Transformatorenhäuschen, das jetzt als Einstieg zu einem Geheimgang dient. Den hat Erics Vater anlegen lassen, nachdem er zum Bürgermeister der Stadt gewählt wurde. Für alle Fälle sozusagen, um sich und der Familie in Notsituationen einen unbemerkten Fluchtweg aus dem Haus in die Freiheit zu garantieren. Der Geheimgang führt durch einen stillgelegten Teil der Kanalisation von dieser unschönen Gegend direkt ins Villenviertel, in dem Erics Familie wohnt. Dort verbindet eine neu angelegte Abzweigung das alte Abwassersystem mit einem Zugang zum Keller der Bürgermeistervilla.
Ich öffne das Vorhängeschloss an der metallenen Einstiegstür mit dem Schlüssel, den mir Eric hat nachmachen lassen, schalte die Taschenlampe an und betrete das Häuschen. Als Horror-Fan weiß ich: Falls du auf eine Taschenlampe angewiesen bist, verlasse niemals ohne Ersatzbatterien das Haus! Wie viele Filme gibt es, in denen Leute in dunkle Keller gehen und prompt die Lampe ihren Geist aufgibt? Na? Eben: Dutzende. Dieser Fehler wäre in der Kanalisation fatal. Denn die Dunkelheit hier gleicht einer Erblindung und ich bräuchte einiges Glück, um dann wieder hinauszufinden. Also vermeide ich Fehler Nummer drei auf meiner Liste an Horror-No-Gos und habe neben vollen Batterien in der Lampe auch immer noch welche ersatzweise in der Hosentasche.
Ich laufe eine schmale Wendeltreppe nach unten, und nach etwa zwanzig Minuten durch das muffige, mittelalterlich anmutende Kanalisationslabyrinth und das neu erbaute Tunnelstück gelange ich an eine steile Treppe. Sie führt mich wieder nach oben über eine Luke weiter in einen kurzen, engen Gang, der im Keller der Villa endet. Dort angelangt schiebe ich einen dicken Stoffvorhang beiseite und zum Vorschein kommt das Vorratsregal, das den Tunneleingang verbirgt. Ich nehme die leeren Dosenattrappen vom Regalbrett und klappe es nach unten, sodass eine ausreichend große Öffnung entsteht, aus der ich den Geheimgang verlassen kann.
Der Keller hat einen Ausgang nach oben ins Vorratszimmer und einen nach draußen. Der ins Hausinnere kommt für mich nicht infrage, denn Erics Beziehung mit mir ist seit der Bürgermeisterkandidatur seines Vaters offiziell beendet. Kontakt zu Dunkelblütern ist in einem solchen Amt nicht gerade förderlich, und für Bürgermeister Stein ist es schwierig genug, das dunkle Blut seines Sohnes zu vertuschen.
Also rücke ich Vorhang, Regal und Dosen wieder zurecht und nehme die Tür in den Garten. Die Regenrinne am Gemäuer führt direkt an Erics Zimmer im ersten Stock vorbei, und dank ihrer überstehenden Befestigungen gelange ich ohne Probleme hinauf. Auf mein sachtes Klopfen an die Fensterscheibe erscheint sofort Erics Gesicht und grinst mich breit an. Er öffnet das Fenster und ich klettere hinein. Geschafft, endlich.
Kapitel 2
Der Anschlag
Hey«, sagt Eric leise, und ich spüre das leidenschaftliche Vibrieren in seiner Stimme, das sein Begehren andeutet. Er umfasst meine Taille und zieht mich an sich.
Ich lache, lege die Hände auf seine Brust und stemme mich scherzhaft ein wenig dagegen. Seine tiefblauen Augen mustern mich beinahe lüstern, bis sein Blick schließlich an meinen Lippen hängen bleibt. Jetzt strecke ich ihm mein Gesicht doch entgegen und seine dunklen Locken kitzeln meine Wange, während wir in einem heißen Kuss versinken, der meine Gliedmaßen erweicht.
Wir fallen seitwärts auf das Bett neben uns, ohne voneinander abzulassen.
»Verdammt, nicht schon wieder!«, rufe ich und fahre hoch. Ich habe mich gerade auf die Eier gelegt.
Eric setzt sich ebenfalls auf und sieht mich sichtlich verstört an. »Was ist?« Dann entdeckt er die Schürfwunde auf meiner Wange und fährt mit seinem Finger sanft darüber. »Ist etwas passiert?«
Ich seufze laut. »Ein Soma hat mich entdeckt.«
»Scheiße, nein!«
»Doch. Aber keine Sorge, ich bin ihm entkommen, bevor er eine Armee auf mich ansetzen konnte.« Ich grinse schief und nehme den Rucksack vom Rücken. Bei der Gelegenheit entledige ich mich gleich noch meiner Lederjacke. »Und den Eiern ist ebenfalls nichts passiert.«
»Die sind ja auch hier«, grinst er und seine Hand deutet auf eine bestimmte Stelle seiner Hose.
Ich verdrehe die Augen und seufze. Jungs. »Die von Helene, du Nase.« Unsere geheime Henne legt jede Woche etwa vier wertvolle Eier, eines unserer nahrhaftesten Lebensmittel.
Eigentlich darf es sie gar nicht geben, denn Nutztiere sind seit den Seuchenausbrüchen verboten. Die wurden damals durch verschmutztes Futter und so schlechte Tierhaltung ausgelöst, dass der Tod für die Tiere einer Erlösung gleichgekommen sein musste. Doch die Krankheiten haben nicht bloß das Vieh dahingerafft, sondern auch die Menschen, die es verzehrten. Ihre Organe lösten sich langsam von innen auf, bis das Blut aus allen Hautporen geschossen kam. Seither habe ich kein Rind, kein Schwein und kein Geflügel mehr gesehen. Außer Helene und vereinzelte, geheime Legehennen anderer Dunkelblüter.
»Hier.« Ich krame die bestens verpackten Nahrungsmittel aus dem Rucksack und präsentiere ihm ein Ei mit heil gebliebener Schale.
Erics Augen beginnen zu leuchten und er kreist mit einer Hand auf seinem Bauch. »Hmm, Eier! Da meldet sich gleich mein Magen.«
»Gut, dass sie hart gekocht sind, sonst hättest du sie diesmal aus der Tasche lecken können.«
Eric verzieht das Gesicht und ich spüre seine warme Hand in meinem Nacken. »Bin froh, dass dir nichts passiert ist.« Er küsst zärtlich die Stelle mit der Schürfwunde, nimmt mir das Ei aus der Hand, schält es und verzehrt es mit zwei Bissen.
Mein Mund verbreitert sich unweigerlich voller Rührung. Eric ist so süß, wenn er sich um mich sorgt. »Also echt«, beschwere ich mich mit gespielter Empörung. »Ein bisschen mehr genießen könntest du das Ei schon. Immerhin hat es unsere Helene aus ihrem Allerwertesten gepresst, und ich habe einen abenteuerlichen Trip hinter mir.«
Eric leckt sich die Finger und greift nach dem zweiten in der Tüte, dessen Schale etwas angeschlagen ist. »Mach ich bei dem hier. Ich hab nur so Hunger.«
Ich lächle und schweige. Eric ist zwar der Sohn des Bürgermeisters, aber sein Leben ist alles andere als einfach. Bisher weigert er sich noch erfolgreich, SoMa zu verzehren. Doch in letzter Zeit ist der Druck auf ihn gestiegen. Mit zunehmendem Alter rückt er mehr in den Fokus der Öffentlichkeit, die sein Vater bislang von ihm ferngehalten hat. Dadurch bekommt er immer größere Schwierigkeiten, sein dunkles Blut geheim zu halten. Bürgermeister Stein kann nicht vor der ganzen Stadt zu der Entscheidung seines Sohnes stehen, denn dann könnte er gleich seine Sachen packen und zurücktreten, das ist klar.
»Ist echt hart, dass deine Eltern dir natürliche Lebensmittel verweigern«, sage ich und beobachte Eric, wie er das zweite Ei verschlingt. Von wegen genießen.
Er nickt und schluckt den letzten Bissen hinunter. »Ich weiß. Meine Einstellung ist ihnen ein Dorn im Auge. Immerhin ist mein Vater maßgeblich an der Verbreitung des SoMa in der Stadt beteiligt und will deshalb bitteschön einen echten Soma zum Sohn. Aber den kriegt er nicht.« Er hält kurz inne, sieht mich an und gibt mir einen flüchtigen Kuss, bevor er das Essen mit einem großen Schluck Wasser nachspült. »Und unsere Trennung auch nicht.«
»Genau«, pflichte ich bei. »Da hat er sich geschnitten!« Immerhin lieben wir uns, wir sind Seelenverwandte auf immer und ewig. »Und sie haben nicht damit gerechnet, dass ich dich heimlich über den Geheimgang mit Essen versorge.« Ich kann mir ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.
Eric und ich wollen keine Somas sein, denn das würde unsere Liebe zerstören. Wir wollen verliebt sein und das Erwachsenwerden fühlen. Die Gefühlswelt der Somas ist flach und oberflächlich. Sie fühlt sich falsch für mich an. SoMa stiehlt Emotionen oder nimmt ihnen ihre Stärke. Es verkrüppelt sie zu kleinen, nichtigen Regungen, die die Bezeichnung »Gefühl« gar nicht verdienen. Schmerz verkommt zu Unwohlsein, Trauer zu Enttäuschung, Verzweiflung zu Schulterzucken. Glücksgefühle stumpfen zu leerer Behaglichkeit ab und unbändige Freude zu einfachem Wohlgefallen. Aber was viel schlimmer ist: Es gibt keine echte Liebe mehr, keine Hingabe und tiefe Zuneigung. Verschwunden sind Seelenverwandtschaft, Leidenschaft und Anziehung. Für Somas existiert nur die Erfüllung körperlicher Bedürfnisse, vielleicht gepaart mit einem gewissen Maß an Sympathie und Wertschätzung. Selbst Kinder bekommen keine Liebe, doch das stört sie nicht, weil sie ebenfalls von SoMa leben und deshalb nichts vermissen. Eric und ich haben diesen Prozess der Abstumpfung hundertfach um uns herum erlebt, und jedes Mal hat es mich mit Grauen erfüllt.
Ich möchte die ganze Palette menschlicher Emotionen kennenlernen, sie kosten und ausleben. Ich will Schmerz genauso spüren wie berauschende, glückliche Momente, will das Kribbeln im Bauch, wenn mich Eric küsst und meinen Körper erkundet. Nichts macht mir größere Angst als die abgestumpfte, zufriedene Art der Somas, mit der sie durchs Leben wandeln.
»Sie werden mich jedenfalls nicht länger decken«, meint Eric schließlich. »Aber sie gehen davon aus, dass ich bald einknicke und sie meine nächste Blutspende nicht mehr fälschen müssen.« Er lacht auf. »Wenn die wüssten.«
»Blutspende. Brrr. Gruselig.« Ein frostiges Schütteln überfällt mich. »Bin ich froh, kein Soma zu sein.« Ich mag die Vorstellung nicht, mir immer wieder einen Teil meines Blutes abzapfen zu lassen. Alle zwei bis drei Monate sind Somas zur Blutentnahme verpflichtet. Einen allseits bekannten und gern thematisierten Anlass dafür geben natürlich wir, die gefährlichen Dunkelblüter. Wir könnten jederzeit neue Keime, Bakterien und Viren ausbrüten oder einschleppen, die Somablut nicht töten kann. Deshalb ist es wichtig, das helle Blut zu analysieren und SoMa zu perfektionieren. Außerdem ist es ein solidarischer Akt, ein Beitrag zur Gesellschaft für jene, die verletzt wurden oder aufgrund einer Krankheit gerade kein SoMa zu sich nehmen können. Sie würden innerhalb kurzer Zeit neues Blut bilden, das dunkel ist und schlecht. Nicht zuletzt regt eine regelmäßige Blutspende die Blutbildung unter SoMa an, sodass frisches, helles Blut durch den Körper schießt und ihn nahezu unangreifbar macht. Was für ein Gefühl von Sicherheit, nicht wahr?
Zumindest solange, wie niemand den Somas ihre Schädel einschlägt, denke ich bitter und sehe den Zettel vom Untergrund vor meinem inneren Auge. Dagegen hilft nämlich auch kein helles Blut. Aber wer weiß schon wirklich, was mit dem ganzen Blut getrieben wird? In meiner Vorstellung müssten Unmengen davon existieren.
Ich packe die restlichen Nahrungsmittel aus, die ich mitgebracht habe: Ein Stück echtes Dörrfleisch aus Almas Dunkelblut-Laden, in dem man auch Lebensmittel tauschen kann, ein kleines Glas gekochter Kartoffelstücke, zwei Rüben, ein Glas Wurzelgemüse und einen mickrigen Apfel aus dem Wintervorrat. Das ist das, was die wenigen aufbereiteten, nährstoffhaltigeren Beete so hergeben.
»Mehr ist es diesmal nicht«, seufze ich, »und es muss noch für morgen reichen.«
»Mach dir keine Sorgen«, meint Eric und schnappt sich den Apfel. »Das schaffe ich schon. Und dann wird es ja besser.«
»Ja«, antworte ich und starre gedankenversunken vor mich hin. »Hoffentlich läuft alles reibungslos.«
Erics Versorgung mit Lebensmitteln ist viel zu riskant, um dauerhaft gut zu gehen. Irgendwann werde ich einen Fehler machen, und dann fliegt die ganze Sache auf. Deshalb wird Eric fliehen, und zwar zu mir. Übermorgen soll es so weit sein. Ich habe schon alles vorbereitet. Ich habe ihm im Keller ein Versteck eingerichtet, mit Zugang von außen, sodass meine Eltern keinen Wind von der Angelegenheit bekommen. Je weniger Leute davon wissen, desto besser und sicherer ist es.
Wir nutzen nur den vorderen Kellerraum zur Lagerung unserer Vorräte. Der hintere Teil ist vollgestellt mit kaputten Möbeln, Behältern für Weingärung, Farbresten, Malerzubehör und anderen Dingen, die wir gar nicht oder wenig verwenden. Ich habe ein bisschen umgeräumt und Platz geschaffen. Besonders glücklich bin ich über die alte Matratze, die in einer Ecke an der Wand gestanden hat. Die habe ich gesäubert und für Eric hergerichtet. Die Möbel habe ich so zurechtgerückt, dass sie prima als Raumtrenner funktionieren und die Sicht auf Erics Versteck versperren.
Klar, er muss trotzdem aufpassen, dass ihn meine Eltern nicht entdecken. Doch es soll ja nicht für immer sein. Nach einer Weile werde ich es ihnen sagen, dann können sie ihn nicht mehr wegschicken. Aber anfangs ist es zu gefährlich, wenn sie davon wüssten. Solange Eric gesucht werden wird, müssen wir es geheim halten. Je weniger meine Eltern wissen, desto besser.
»Du bist komplett vorbereitet?«, frage ich.
Eric nickt mit vollem Mund und kramt zwei dicke, vollgestopfte Taschen unter dem Bett hervor. »Da ist alles drin, was ich brauche.«
»Vielleicht ist es besser, schon eher zu verschwinden.«, werfe ich ein. »Nicht erst am Freitag.«
»Das ist aber der beste Zeitpunkt. Dann sind meine Eltern außer Haus, und ich kann mich unbemerkt verdrücken. Die drei Wachen sind kein Problem, die merken gar nicht, ob ich da bin oder nicht.«
Bei dem Gedanken, noch zwei Tage ausharren zu müssen, fange ich an zu schwitzen. »Deine Eltern riechen doch bestimmt schon Lunte. Ich meine, niemand bleibt ohne Essen tagelang so entspannt wie du.«
Eric zuckt mit den Schultern. »Klar tun sie das. Aber je mehr Aufhebens um meine Person, desto höher die Gefahr, dass mein dunkles Blut auffliegt.« Er kichert. »Du müsstest mal sehen, wie mich diese Parallo mit ihren fiesen Augen verfolgt. Und dann blitzen die manchmal so merkwürdig golden auf. Jedenfalls, wenn die könnte, hätte die mich längst gewaltsam mit SoMa vollgestopft wie früher eine Mastgans.«
»Livia Parallo«, murmle ich. Dieser Name allein klingt schon unheimlich und erinnert mich an römische Geschichte, in der manche Frau im Hintergrund ihres einflussreichen Mannes politische Fäden gesponnen hat. »Ist das nicht die engste Vertraute deines Vaters?«
»Hm«, murmelt Eric und beißt herzhaft in das Dörrfleisch. »Sie gehört zum engsten Stab. Mein Vater hat sie kürzlich erst zur Vize-Bürgermeisterin ernannt, um seinen Einflussbereich auszudehnen. Damit ist sie nicht nur führende Wissenschaftlerin in der SoMa-Entwicklung, sondern auch seine rechte Hand und überall dort, wo er gerade nicht sein kann.«
»Hey!« Bevor Eric es sich versieht, entwende ich ihm den Rest des Fleisches und packe ihn zurück in den Beutel. »Nicht alles auf einmal.«
»Ich kann sie jedenfalls nicht ausstehen«, spricht er weiter. »Sie hat irgendetwas … Falsches an sich. Etwas Hinterhältiges. Heimtückisches. Ach, ich weiß auch nicht.« Er schluckt den letzten Bissen hinunter. »Ich habe das Gefühl, man darf ihr nicht trauen.«
»Wie kommst du darauf?«, frage ich halbherzig und beginne, seinen Nacken zu küssen.
Eric neigt den Kopf zur Seite, um meinen Lippen Platz zu machen. »Irgendetwas stimmt da nicht. Gestern war sie hier bei meinem Vater zu einem Privatgespräch, und das ist wohl schlecht gelaufen.«
»Was ist passiert?«, hauche ich in sein Ohr und ziehe ihm sein T-Shirt aus. Er lässt es geschehen, während seine Hände unter meinen Hoodie wandern.
»Ich weiß nicht recht«, flüstert er jetzt ebenso abgelenkt. »Scheint so, als hätte mein Vater an einer Sache etwas auszusetzen, die Parallo im Schilde führt. Es ist jedenfalls in einen saftigen Streit ausgeartet.«
Bei diesem Satz halte ich dann doch kurz inne. »Wirklich? Worum ging es genau? Hast du mehr mitbekommen?«
Eric lässt von mir ab und runzelt die Stirn. »Nicht viel. Es hat wohl mit einer Weiterentwicklung des SoMa zu tun.« Er zuckt die Schultern. »Möglicherweise eine neue Sorte oder so was. Jedenfalls war mein Vater ziemlich stinkig, er scheint nicht in die Sache einbezogen worden zu sein. Aber vielleicht steckt auch mehr dahinter. Ich hab ihn noch nie so … erschrocken gesehen.«
Ich bekomme Gänsehaut und meine inneren Alarmglocken schellen. In den Ohren eines Dunkelblutes klingt so eine Nachricht äußerst beängstigend.
Eric schüttelt den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Irgendetwas stimmt in der Stadtregierung nicht, und mein Vater hat es mitbekommen. Jedenfalls gab es eine heftige Auseinandersetzung, die überall im Haus zu hören war. Dann war es plötzlich still, und ich habe nur noch Parallo gesehen, wie sie aus der Villa gestürzt und in ihrem Wagen weggefahren ist.«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll und schweige.
»Vater hat danach die ganze Nacht lang sein Arbeitszimmer nicht verlassen. Jedenfalls hat er am nächsten Tag so ausgesehen.« Eric lacht leise auf.
»Diese Parallo ist gruselig«, werfe ich ein und kuschle mich an Erics Seite. Ich kenne sie bisher nur von Bildern aus den Nachrichten, die über die öffentlich installierten Videotafeln ausgestrahlt werden. Sie ist eine schöne Frau mit ihren langen, glatten Haaren, bronzefarbener Haut und bernsteinfarbenen Augen. Aber sie hat für mich nichts Menschliches an sich. Ihre Haut ist beinahe faltenfrei und niemand würde sie auf irgendwas in den Fünfzigern schätzen. Je mehr Zeit vergeht, desto jünger scheint sie. Das käme vom SoMa, hat sie einmal dazu gesagt, und natürlich tosenden Beifall geerntet. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, das hab ich so im Gefühl.
»Kann schon sein«, holt mich Eric aus meinen finsteren Gedanken zurück. »Dafür bist du aber zum Anbeißen.« Er wirft mich rücklings aufs Bett und überdeckt mein Gesicht mit wilden Küssen.
»Wollen wir nicht erst über unseren Stichtag reden?«, frage ich, obwohl ich seinen fordernden Berührungen bereits nachgebe. »Du weißt schon, Freitagnacht. Der Keller ist …« Ich seufze unter den Liebkosungen meines Nackens. »… vorbereitet. Eine kuschelige kleine Höhle mit eigenem Ausgang.«
»Später«, brummt er und streift mir den Pulli über den Kopf.
Jetzt kann ich auch nicht mehr an mich halten. Meine Hände erkunden seinen Körper und ich atme seinen Geruch ein, während ich die nackte Brust mit Küssen überdecke. Seine Zunge gleitet über die blasse Haut meines Halses, und ich mache mich an seiner Hose zu schaffen, fummle am Reißverschluss, meine erhitzten Wangen glühen.
Da knallt es. Es ist ein dumpfer Knall, aber er ist so laut, dass ich beinahe glaube, direkt neben uns hat ein Geschoss eingeschlagen.
Wir erstarren beide in unserer Bewegung: Eric in seiner Position über mich gestützt und ich darunter, die Finger in den Bund seiner Jeans gekrallt.
Ein weiterer Knall ertönt. Wir zucken zusammen.
»Was ist das?«, flüstere ich.
Eric rollt von mir herunter, schließt seine Hose und zieht seinen Pulli an. Eilig mache ich es ihm nach.
»Du solltest besser verschwinden«, murmelt er, schleicht zur geschlossenen Zimmertür und lauscht mit einem Ohr daran. Von draußen sind fremde Stimmen zu hören. »Irgendetwas stimmt da nicht.«
Ich werfe mir die Jacke über, gehe zum Fenster und öffne es. Auf dieser Seite der Villa, die in den Garten führt, ist es still.
Aber die unbekannten Stimmen im Haus werden immer lauter. Jetzt poltert es. Ein Schrei ertönt.
Mir stockt der Atem. »War das deine Mutter?«
Eric sieht mich panisch an. »Verschwinde lieber! Irgendwer scheint uns anzugreifen!«
Es poltert wieder, und diesmal hört es nicht auf, sondern es dringt geräuschvoll von draußen näher zu uns die Treppe herauf. Verschiedene Stimmen toben umher, dazwischen neue Schreie von Erics Mutter. Und jetzt, jetzt höre ich auch den Bürgermeister selbst. »Nur die Ruhe …«, vernehme ich Fetzen. »… gibt keinen Grund … alles sicher … habe nicht vor …« Seine Stimme wirkt immer aufgeregter »… Nein, stopp … lassen Sie das!«
Ein weiterer Knall ertönt, dann noch einer. Doch diesmal klingen sie anders, sie hören sich an wie …
»Das sind Schüsse!« Eric sieht mich mit aufgerissenen Augen an. »Wir müssen weg hier!«
»Scheiße!« Es ist fast ein Wimmern, das sich aus meinen Lungen presst, aber mir läuft es gerade heiß und kalt gleichzeitig den Rücken hinunter. Mein Magen krampft sich zusammen und ein tiefer Schreck zieht durch meinen Bauch bis in den Unterleib. Es fehlt nicht viel, und ich hätte mir in die Hose gemacht.
Eric stürzt zu mir ans Fenster. »Jetzt mach schon, Viv! Beeil dich! Die sind bestimmt gleich hier!«
Mit zittrigen Beinen klettere ich über den Fenstersims, greife nach der Regenrinne und schlittere daran so schnell hinunter, dass ich mir die Innenseiten der Jeans an den hervorstehenden Befestigungen aufreiße. Aber der Schmerz ist mir gerade egal, ich spüre ihn kaum, denn er wird von der Riesenangst überlagert, die mir das Adrenalin schwallweise durch das Blut jagt.
Ich lande unsanft im Gebüsch des Gartens und starre nach oben. »Eric!«, zische ich. Wieso braucht er nur so lange? Dann sehe ich ihn aus dem Fenster hangeln. Er hat sich eine der Fluchttaschen auf den Rücken geschnallt und rutscht jetzt endlich auch an der Regenrinne herunter.
Das Licht, kommt es mir in den Sinn, das Licht, verdammt! Habe ich denn nichts gelernt aus all den Horrorfilmen, die ich gesehen habe? Bei dem Blick zu dem hell erleuchteten Fenster, aus dem Eric gerade klettert, schießt mir ein neuer Schreck durch die Glieder.
Da dröhnt bereits Gepolter an Erics Zimmertür, es dringt bis nach draußen, knallt und rammt, ich höre Holz splittern.
»Eric!«, schreie ich jetzt aus Leibeskräften, auch wenn es ein Fehler ist, denn die Angreifer werden nicht nur das Haus durchsuchen, sondern längst im Garten unterwegs sein. Aber mein Entsetzen ist in diesem Moment so groß, dass es sich komplett der Kontrolle durch mein verängstigtes Hirn entzieht.
Prompt höre ich ein Rascheln ganz in der Nähe und renne zum Gartenzaun, um über die 1,80 m hohen Metallstäbe zu klettern, koste es, was es wolle. Am Zaun blicke ich panisch in alle Richtungen. Noch sehe ich niemanden außer Eric, der gerade in den Büschen gelandet ist. Doch ich weiß, die Angreifer sind nicht weit. Nein, keine Angreifer, Viv. Es sind Killer.
»Lauf!«, ruft Eric mir zu. »Hau schon ab, Viv!«
Ich fange an, meine Schuhe gegen die Stäbe zu stemmen, aber ich rutsche ab. Verflucht, ich bin noch nie besonders gut im Klettern gewesen. Ich kralle meine Finger um die Gitter des Stabzaunes und ziehe mich mit aller Kraft hinauf. Dann klemme ich die Sneaker schräg in die Zwischenräume und nutze die Reibung der Gummisohlen für den Halt. So hangle ich mich weiter und erreiche tatsächlich die Zaunspitze. Aber wo bleibt Eric?
»Eric?« Ich wende den Kopf und schaue in die Richtung, aus der er kommen müsste.
»Hier!«, höre ich seine Stimme, und dann taucht er hinter einem Strauch direkt vor dem Zaun unter mir auf.
Erleichtert lasse ich die Luft aus den Lungen strömen. »Dem Himmel sei Dank!«
Pffft!
»Was war das?« Panisch schaue ich zu Eric unter mir. Er scheint sich ebenfalls erschrocken zu haben, denn sein Gesicht ist starr vor Entsetzen. Ich rutsche ein paar Zentimeter zu ihm hinab. Irgendetwas stimmt mit seinen Augen nicht. Sie verlieren den Fokus, Eric schaut mich an, aber auch wieder nicht. Sein Blick wirkt plötzlich müde und irgendwie weit weg. Er öffnet den Mund, als ob er mir etwas sagen möchte, doch heraus kommt nur ein Rinnsal Blut.
Dann sackt er zusammen, und hinter ihm schält sich die Gestalt eines Mannes aus den Schatten der Nacht. Bis auf sein unbedecktes Gesicht ist er komplett in schwarze Kleidung gehüllt und daher kaum zu erkennen.
Eine kleine Ewigkeit starren wir uns regungslos an, eingefroren in einer Statik des Schreckens, und dennoch erfasse ich in diesen Sekunden jede Eigenheit seines Gesichts. Die Form seiner Nase, die braunen Augen, die dicken Brauen, das eckige Kinn. Alles brennt sich tief in mein Hirn, das sich dagegen wehrt zu akzeptieren, was gerade geschehen ist.
»Nein!«, brülle ich ihm entgegen. »Neeeeiiiin!« Heiße Tränen quellen aus meinen Augen und verschlechtern meine Sicht. »Neeeeiiiiin!« Ich schreie immer noch so laut, dass es sich anfühlt wie Sandpapier, das in meinem Hals kratzt. Das ist alles nicht wahr! Das kann nicht sein, das darf nicht sein! Gleich, gleich wird Eric wieder aufstehen und mit mir flüchten.
Mit aufgerissenen Augen starre ich auf seinen leblosen Körper, ich keuche und mein Brustkorb hebt und senkt sich panisch. Aber nichts passiert, während die Sekunden verstreichen, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Killer zuerst aus der Schockstarre erwacht.
Pfffft.
Au!
Etwas hat meine Wange gestreift. Ich taste nach meiner Haut und fühle das warme, feuchte Blut. Entsetzt blicke ich auf den Mann am Zaun, der noch immer hinter Erics Leiche steht und mich anstarrt. Seine Waffe zeigt nicht auf mich, aber das muss sie gar nicht, denn er ist nicht der einzige Killer, der die Villa gestürmt hat.
Mit einem Mal legt sich ein Schalter in mir um, und ich funktioniere wie eine trainierte Soldatin. Ich darf jetzt nicht weinen! Ich darf jetzt nicht die Beherrschung verlieren! Also blende ich meine Gefühle aus, verdränge Angst, Schmerz und Trauer und verlasse mich nur auf Körper und Instinkte. Es ist wohl der Überlebenswille, der mich so handeln lässt, sonst würde ich immer noch auf dem Zaun sitzen und schreien, bis mich eines der lautlosen Projektile trifft.
Ich schwinge mich über die Zaunspitzen und achte nicht darauf, dass ich mir einen weiteren Riss in der Haut meines linken Oberschenkels zuziehe. Hart lande ich auf der Erde, doch immerhin mit den Füßen zuerst. Ich fange mich mit Knien und Händen ab, die ich mir dabei aufschlage, aber das Brennen dringt nur nebensächlich in mein Bewusstsein. In meinem Kopf dröhnen dafür Erics letzte Worte umso lauter: Hau schon ab, Viv!
Kapitel 3
Die Blutnacht
Einen Moment lang bin ich orientierungslos. Ich weiß nicht, wo ich mich befinde, obwohl ich bereits so oft in dieser Gegend unterwegs gewesen bin. Plötzlich blitzt es vor mir auf. Ich hebe die Hände vor das Gesicht, blinzle und reibe mir über die Augenlider, denn ich kann gerade nichts sehen außer grellen Lichtblitzen. Dann erkenne ich mir gegenüber einen Mann mit Kamera in der Hand, der offensichtlich gerade ein Foto von mir geschossen hat.
»Hierher!«, ruft er in die Dunkelheit und greift gleichzeitig nach meinem Arm »Ich habe eine von denen!«
Eisige Furcht versteift meine Glieder. Doch der unaufmerksame Soma schaut vielmehr in alle Richtungen, um nach seinen Leuten Ausschau zu halten, anstatt auf mich zu achten. Diese Unachtsamkeit nutze ich aus, reiße mich mit einem beherzten Ruck los und stürze davon.
Wieder schießen Tränen aus meinen Augen, während ich zunächst planlos durch die Straßen hetze. Weg, Hauptsache, weg! Falls die mich erwischen, wäre das mein Untergang, denn jetzt halten sie mich für eine Schuldige, vielleicht sogar für Erics Mörderin! Natürlich, wen sonst, schließlich komme ich direkt aus dem Haus! Ich kann mir nicht vorstellen, was schlimmer sein könnte.
Ich ziehe die Kapuze über den Kopf und haste weiter die Straße hinunter, renne, renne, bis die Luft in meinen Lungen brennt. Ich will weg hier, so schnell wie möglich! Ich muss die Somas abhängen, die sich womöglich an meine Fersen geheftet haben. Von überall her hallen Sirenen. Was auch immer geschehen ist, es hat die Menschen aufgescheucht. Zahllose Somas laufen auf den Straßen herum.
Ich biege in eine schmale Seitengasse ein. Dort bleibe ich einen Moment stehen, stütze die Hände auf die Knie und schnappe nach Luft. Dabei versuche ich, mir einen Plan zu machen, wie ich am besten aus diesem Soma-Gebiet herauskomme, ausgerechnet jetzt, wo die Hölle losgebrochen zu sein scheint. Den Geheimgang kann ich nicht mehr nehmen, denn von hier außen gibt es keinen Zugang dorthin. Ich muss mich also durch die Straßen schlagen, um schnell nach Hause zu meinen Eltern zu gelangen.
Himmel, meine Eltern! Was soll ich ihnen sagen, was werden wir tun?
Ein Auto der SoMa-Sicherheit biegt mit Blaulicht in die Straße ein. Ich flüchte in die Deckung eines Hauseingangs und warte, bis der Wagen vorbeigefahren ist. Eine Durchsage unterbricht das Sirenengeheul, aber ich achte nicht darauf, sondern hetze weiter und kriege nur Fetzen mit: »… Achtung … Anschlag auf die Bürgermeisterfamilie … Bürgermeister und seine Frau … Sohn … tot …« Obwohl das Blut rasend schnell durch meinen Körper rauscht, sackt es in dem Augenblick nach unten, als die Worte ihre Bedeutung entfalten. Mir wird schwindelig und ich muss meinen Lauf verlangsamen, um nicht zu stürzen.
Die haben Erics ganze Familie kaltgemacht! Aber wer? Und vor allem, warum? Die Welt steht kopf, und nichts ergibt mehr Sinn.
Doch ich muss nicht lange auf die Antwort warten, denn sie dröhnt mir von allen Seiten aus den Lautsprechern entgegen:
»Achtung, Achtung! Auf die Familie des Bürgermeisters wurde ein tödlicher Anschlag verübt, zu dem sich die Dunkelblut-Organisation ›Der Untergrund‹ bekannt hat.«
Der Untergrund? Meine eigenen Leute haben Eric auf dem Gewissen! Wut steigt in mir hoch. Habe ich auf dem Hinweg den Mut der Bewegung bewundert, so spüre ich jetzt nur Hass und Verachtung. Denn mit diesem Akt setzen sie das Leben von uns allen aufs Spiel.
Durch die Straße geht es wie ein Lauffeuer: »Bürgermeister Stein ist tot! Ein Anschlag! Dunkelblüter! Der Untergrund!« Überall schnappe ich die gleichen Wortfetzen auf.
Denk nach, Viv, denk nach! Während ich weiterrenne versuche ich zu erkennen, wo ich gerade bin. Das Villenviertel liegt bereits hinter mir und die Straßenzüge nehmen vertrautere Formen an. Das Müllcontainer-Versteck! Ich bin ganz in der Nähe. Obwohl sich meine Muskeln schon total steif anfühlen, zwinge ich mich, das Tempo zu halten und dabei Fehler Nummer sieben von meiner Horror-No-Go-Liste zu vermeiden: Bloß nicht stolpern! Denn jeder, der Horrorfilme kennt, weiß: Wer stolpert und fällt, ist so gut wie tot.
Ich schlage ein paar Haken durch die engen Seitengassen, die es hier vermehrt gibt, und während ich vorwärts hetze, ertönen neue Worte aus den Lautsprechern: »Achtung, Achtung: Die Regierungsvertretung ruft den Notstand aus! Da jedes Dunkelblut zum Untergrund gehören kann, sind alle Dunkelblüter zur Gefahr für die hellblütige Gesellschaft erklärt worden. Sie werden aufgefordert, die Stadt sofort, Wiederholung: sofort, zu verlassen. Gegen Weigerungen wird gewaltsam vorgegangen! Die Regierungsvertretung bittet ihre rechtschaffenen Bürger um Mithilfe, Dunkelblüter zu vertreiben, zu sichern oder notfalls zu eliminieren! Gesicherte und sich freiwillig zum SoMa bekennende Dunkelblüter sammeln sich auf dem Marktplatz in der Stadtmitte. Helfen Sie bei der Sicherung und Säuberung der Stadt! Die Regierungsvertretung hält jede Maßnahme für angemessen.«
Mein Herz macht einen so schrecklichen Sprung gegen die Rippen, dass ich glaube, es bleibt gleich stehen. Eliminieren? Mein Verstand wehrt sich, die Botschaft hinter diesen Worten zu verstehen, aber nach und nach sickert sie eiskalt in mein Gehirn. Entsetzen versteift meine Glieder und mir fällt es schwer, das Tempo beizubehalten. Sie wollen uns töten, schießt es mir durch den Kopf. Sie werden uns töten.
Die Entscheidung, auf SoMa zu verzichten, hat uns schon längst zu anderen Menschen gemacht. So empfinde ich das jedenfalls, denn die heile Welt der Somas mit ihren Supermärkten, Kinos, Nagelstudios und Kliniken existiert für uns nicht. Eigentlich hatte ich mich bisher damit ganz gut arrangiert. Mein Leben ist okay gewesen. Bis jetzt. Jetzt stehen wir auf der Abschussliste.
Ich treffe auf eine der Hauptstraßen. Sie ist voller Menschen, die mit Stöcken, Messern und Spaten bewaffnet sind, eben mit allem, was man im Haushalt so findet und das sich als Waffe eignet. Dazwischen entdecke ich Leute der SoMa-Sicherheit in ihren schwarzen Uniformen, die Fragen beantworten, Anweisungen geben oder Dunkelblüter zusammentreiben.
---ENDE DER LESEPROBE---