Dunkelblut - Kathryna Kaa - E-Book
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Kathryna Kaa

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Beschreibung

SoMa heißt das künstlich geschaffene Superfood, das die Menschheit vor Hungersnöten und Seuchen gerettet hat, jedoch nicht ihre Menschlichkeit. Denn das helle Blut derer, die sich davon ernähren, sorgt nicht nur für allumfassenden Schutz. Es tötet auch jede tiefe Emotion. Das sechzehnjährige Dunkelblut Vivien zählt zu der kleinen Gruppe von Menschen, die sich weigert, diesen Preis zu zahlen. Eines Nachts muss sie mitansehen, wie ihre Familie und ihre große Liebe ermordet werden. Vivien schwört bittere Rache. Doch auf der Suche nach den Schuldigen wird sie gezwungen, erschreckenden Wahrheiten und unvorhergesehenen, übermenschlichen Kräften entgegenzutreten, mit denen sie nicht gerechnet hat.

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Dun­kel­blut
Zwi­schen Stein und Schat­ten
Ka­thry­na Kaa
Co­py­right © 2022 Ka­thry­na Kaa
Ka­thry­na Kaac/o Block Ser­vicesStutt­gar­ter Str. 10670736 Fell­bachhttp://www.ka­thry­na­kaa.demail­to: ka­thry­na@ka­thry­na­kaa.deAl­le Rech­te vor­be­hal­tenDie in die­sem Buch dar­ge­stell­ten Fi­gu­ren und Er­eig­nis­se sind fik­tiv. Jeg­li­che Ähn­lich­keit mit le­ben­den oder to­ten re­a­len Per­so­nen ist zu­fäl­lig und nicht vom Au­tor be­ab­sich­tigt.Kein Teil die­ses Bu­ches darf oh­ne aus­drü­ck­li­che schrift­li­che Ge­neh­mi­gung des Her­aus­ge­bers re­pro­du­ziert oder in ei­nem Ab­ruf­sys­tem ge­spei­chert oder in ir­gend­ei­ner Form oder auf ir­gend­ei­ne Wei­se elek­tro­nisch, me­cha­nisch, fo­to­ko­piert, auf­ge­zeich­net oder auf an­de­re Wei­se über­tra­gen wer­den.Lek­to­rat / Kor­rek­to­rat: Wel­ten­lek­to­rat / Aimée Zieg­ler-Kras­ka (htt­ps://www.wel­ten­lek­to­rat.de/)Um­schlag­ge­stal­tung und Buch­satz: chae­la (http://www.chae­la.de)
Trig­ger­war­nung
Das Buch ent­hält Sze­nen von Ge­walt,
den Ver­lust der El­tern und Ge­lieb­ten.
Für An­dre­as, mei­nen Liebs­ten.
In­halts­ver­zeich­nis
Tit­el­sei­te
Im­pres­s­um
Trig­ger­war­nung
Wid­mung
TEIL I
Ka­pi­tel 1
Ka­pi­tel 2
Ka­pi­tel 3
TEIL II
Ka­pi­tel 4
Ka­pi­tel 5
Ka­pi­tel 6
Ka­pi­tel 7
Ka­pi­tel 8
Ka­pi­tel 9
Ka­pi­tel 10
TEIL III
Ka­pi­tel 11
Ka­pi­tel 12
Ka­pi­tel 13
Vi­viens Hor­ror-No-Go-Lis­te
Die Au­to­rin
Wei­te­re Bü­cher der Au­to­rin
TEIL I
Das En­de der Welt
Ka­pi­tel 1
Wil­de Jagd
Die Stra­ßen der feind­se­li­gen Stadt lie­gen dun­kel und men­schen­leer vor mir. Es nie­selt leicht. Ich zie­he die Ka­pu­ze mei­nes Hoo­dies ins Ge­sicht und hal­te mich in der De­ckung der Häu­ser. In die­sem Stadt­teil bin ich nicht gern ge­se­hen, schon gar nicht nach Ein­bruch der Däm­me­rung. Und das nicht, weil ich mit mei­nen sech­zehn Jah­ren zu jung für die­se Ge­gend bin.
Der Grund, war­um ich hier lie­ber nie­man­dem be­geg­nen soll­te, ist ein­fach: Mein Blut ist dun­kel. Das heißt nicht, dass es schwa­rz ist. Nein, es ist nor­ma­les Blut, wie es je­der Mensch ein­mal ge­habt hat. Aber seit So­Ma den Welt­hun­ger be­siegt hat, ist es sel­ten ge­wor­den. Die meis­ten Leu­te er­näh­ren sich jetzt von die­sem künst­li­chen Zeug aus So­ja und Mais und be­sit­zen des­halb hel­les Blut, das an Kup­fer er­in­nert.
So­Ma spal­tet die Ge­sell­schaft in gut und schlecht. In le­bens­wert und Ab­schaum. In So­mas, die von So­Ma-Pro­duk­ten le­ben, und Dun­kel­b­lü­ter wie mich, mei­ne El­tern und ei­ne Hand­voll an­de­rer Men­schen die­ser Stadt, die ih­re Emo­ti­o­nen be­hal­ten wol­len. Denn mit den Emp­fin­dun­gen ist das so ei­ne Sa­che: Ent­we­der ist man So­ma und hat kaum wel­che, oder man ist Dun­kel­blut und Ge­füh­le sind das Ein­zi­ge, was ei­nem bleibt. Sie ma­chen uns letzt­end­lich zu Aus­ge­sto­ße­nen, weil wir da­mit ei­ne un­be­re­chen­ba­re Be­dro­hung des ge­sell­schaft­li­chen Le­bens dar­stel­len.
Was ich hier trei­be? Ich bin auf dem Weg zu Eric, mei­nem Liebs­ten. Wir sind vor knapp drei Jah­ren ein Paar ge­wor­den, kurz be­vor So­Ma die Welt er­obert hat. Er wohnt in ei­nem schi­cken Vier­tel, weil er der Sohn des Bür­ger­meis­ters ist. Und der ist na­tür­lich So­ma.
Da­durch ist mein Vor­ha­ben um­so ge­fähr­li­cher, denn das Bür­ger­meis­ter­amt lenkt in die­sen Ta­gen nicht nur die Ge­schi­cke ei­ner ein­zel­nen Stadt, son­dern be­deu­tet viel Macht. Nie­mand steht mehr über dem Stad­t­ober­haupt. Das Land ist zer­split­tert in sei­ne Städ­te und um­lie­gen­den Re­gi­o­nen, und de­ren je­wei­li­ge Re­gie­run­gen be­stim­men in ih­ren Ge­bie­ten.
Ich schlei­che an ei­nem klei­nen, um die­se Uhr­zeit ge­schlos­se­nen Le­bens­mit­tel­la­den vor­bei, an des­sen Ein­gangs­tür ein Schild hängt, wie es hier zu­hauf zu fin­den ist: »Zu­tritt nur für Hell­b­lü­ter«. An die­sen An­blick ha­be ich mich schon ge­wöhnt, und er stört mich nicht, denn in den gän­gi­gen Su­per­märk­ten wer­den oh­ne­hin bloß Le­bens­mit­tel aus So­Ma an­ge­bo­ten.
Wir Dun­kel­b­lü­ter be­zie­hen un­se­re Nah­rung des­halb längst nicht mehr aus dem Han­del. Wie an­de­re auch ist mei­ne Fa­mi­lie in den letz­ten Jah­ren zum Selbst­ver­sor­ger ge­wor­den. Wir wüh­len in der to­ten Er­de und ver­su­chen, sie teil­wei­se zu re­ge­ne­rie­ren, um uns von der ma­ge­ren Ern­te zu er­näh­ren.
Wäh­rend ich wei­ter an den Häu­ser­wän­den ent­lang­schlei­che, bleibt mein Blick an ei­nem Zet­tel kle­ben, der an dem La­ter­nen­pfahl vor mir leicht im Wind flat­tert. Neu­gier treibt mich aus der Si­cher­heit der Häu­ser­schat­ten zu dem Pa­pier:
Die dunk­le Sei­te er­hebt sich! Der Un­ter­grund schlägt zu.
Ich star­re auf den Zet­tel und ver­lie­re mich einen Au­gen­blick in mei­nen Ge­dan­ken. Der Un­ter­grund. Da­von ha­be ich ge­hört. Es gibt Ge­rüch­te über die­se Ver­ei­ni­gung von Dun­kel­b­lü­tern, die sich zu­sam­men­ge­schlos­sen ha­ben, um ge­gen Un­ter­drü­ckung und Un­ge­rech­tig­keit zu re­bel­lie­ren. Da­für, dass bis­her noch nichts ge­sche­hen ist, wird sie häu­fig in den Me­di­en the­ma­ti­siert und bringt den Un­mut der So­mas ge­gen­über uns Dun­kel­b­lü­tern so stark zum Schwe­len, wie es ihr hel­les Blut zu­lässt. Doch be­stimmt lau­ert der Un­ter­grund in sei­nem Ver­steck und holt bei ei­ner güns­ti­gen Ge­le­gen­heit zum Schlag aus. Ich weiß aber nicht, ob ich das gut fin­den soll. Viel­leicht fehlt nur noch die ge­wis­se Zu­tat, um das bro­deln­de Fass der Ab­nei­gung zum Über­lau­fen zu brin­gen. An­de­rer­seits wün­sche ich mir, dass es mal so rich­tig knallt und wir den So­mas zei­gen, dass wir die­sel­ben Rech­te ver­die­nen wie sie.
»Hey, du!«, hallt ei­ne männ­li­che Stim­me hart und un­freund­lich ei­ni­ge Me­ter hin­ter mir durch die dunk­le, lee­re Stra­ße.
Ver­dammt. Schein­bar ha­be ich mei­nen Ge­dan­ken zu lan­ge au­ßer­halb der si­che­ren Ge­bäu­de­schat­ten nach­ge­han­gen. Viel­leicht ha­be ich mich auch zu auf­fäl­lig ver­hal­ten, schließ­lich star­re ich schon ei­ne gan­ze Wei­le die­ses Flug­blatt an. Ich zie­he die Schul­tern hoch und set­ze mich in Be­we­gung. Bloß nicht re­a­gie­ren.
»Hey!«, er­tönt es wie­der, dies­mal dich­ter hin­ter mir. Ich hö­re Schrit­te, die sich ei­lig nä­hern. Trotz­dem ge­he ich ein­fach wei­ter und dre­he mich nicht um. Ich tue so, als wür­de der So­ma nicht mich mei­nen. Viel­leicht lässt er mich dann in Ru­he, auch wenn die Chan­cen da­für eher schlecht ste­hen.
»Ste­hen blei­ben!« Jetzt ist er nur noch ein paar Schrit­te von mir ent­fernt. »Wohnst du hier? Hal­te an, oder bist du ein Dun­kel­blut?«
Ver­flucht. Was nun? Stop­pe ich, wird er mich aus­fra­gen und mei­nen Blut­nach­weis ver­lan­gen. Und weil ich den nicht ha­be, kann ich mich dar­auf ge­fasst ma­chen, von ihm zur nächs­ten Wa­che ge­schleppt zu wer­den. Was dann ge­schieht, mag ich mir gar nicht vor­stel­len. Nach­weis fäl­schen? Un­mög­lich, denn der be­steht nicht aus ei­nem Fet­zen Pa­pier, son­dern er­folgt mit klei­nen Blut­mess­ge­rä­ten über die Haut, die an je­den Schlüs­sel­bund pas­sen. Ei­ni­ge So­mas tra­gen so ei­nes bei sich.
Ich könn­te mich na­tür­lich weh­ren, doch das hät­te noch schlim­me­re Fol­gen, die wahr­schein­lich so­gar Fa­mi­lie und Freun­de tref­fen wür­den. Ich könn­te ver­su­chen zu flüch­ten, aber ei­ne Chan­ce hät­te ich nur dann, wenn kein wei­te­rer So­ma auf­taucht.
Ich fra­ge mich, ob er zu den So­Ma-Schutz-Trup­pen ge­hört oder le­dig­lich ein äu­ßerst ge­wis­sen­haf­ter So­ma ist. Die Po­li­zei, wie sie es frü­her ein­mal ge­ge­ben hat, ist durch die so­ge­nann­te So­Ma-Si­cher­heit ab­ge­löst wor­den. Ist es nicht ir­re, ei­ne mi­li­tä­ri­sche Si­cher­heits­ein­rich­tung nach ei­nem Le­bens­mit­tel zu be­nen­nen? Doch ob So­Ma-Si­cher­heit oder nicht macht am En­de kei­nen Un­ter­schied. Die Si­tua­ti­on kann für mich brenz­lig wer­den.
Ich hö­re, wie die Schrit­te des Man­nes hin­ter mir be­schleu­ni­gen. Mist. In­stink­tiv fan­ge ich an zu ren­nen. Da­mit ist ihm na­tür­lich klar, was ich bin.
Dun­kel­blut!
Ich has­te um die nächs­te Stra­ßen­e­cke und lau­fe ziel­los wei­ter. Doch ich bin nicht schnell ge­nug. Ein Stoß trifft mich von hin­ten, ich ver­lie­re den Halt und stür­ze auf den Bo­den.
»Aaaah!« Mei­ne Wan­ge streift den As­phalt und ich stöh­ne lei­se auf.
Die Ei­er, ver­dammt. Eric braucht die Nähr­stof­fe. In die­sem Au­gen­blick bin ich froh, sie hart ge­kocht zu ha­ben, denn dann sind Ris­se in der Scha­le nicht von Be­deu­tung. Trotz­dem hof­fe ich, dass die wert­vol­len Hüh­ner­ei­er in dem klei­nen Ruck­sack auf mei­nem Rü­cken kei­nen all­zu gro­ßen Scha­den ge­nom­men ha­ben. Ich rapp­le mich auf und ste­he jetzt dem Mann ge­gen­über, dem es so wich­tig ge­we­sen ist, ein ein­zel­nes Dun­kel­blut zu stel­len.
»Was machst du hier, Mäd­chen? Hast du einen Pas­sier­schein? Komm mir nicht zu na­he, viel­leicht bist du ver­seucht!« Der So­ma wischt sich die Hän­de mit ei­nem Des­in­fek­ti­ons­tuch sau­ber. Da­bei sieht er mich nicht mal an.
Dunk­les Blut gilt ge­mein­hin als un­rein. Wir sind Krank­heits­über­trä­ger und Seu­chen­her­de. Un­ge­zie­fer, auch wenn das öf­fent­lich nie­mand aus­spricht. Ob­wohl das Su­per­food ge­gen al­le be­kann­ten Er­re­ger schützt und wir den So­mas da­her ei­gent­lich nichts an­ha­ben kön­nen, bleibt die un­ter­schwel­li­ge Angst vor neu­en Krank­hei­ten, die das gen­ma­ni­pu­lier­te Zeug viel­leicht doch nicht be­herrscht. Das wird zu­min­dest gern in den Me­di­en ver­brei­tet und ist ein Grund, war­um sie uns mei­den, ver­ab­scheu­en und zu be­keh­ren ver­su­chen.
»Ja«, stot­te­re ich und fumm­le an mei­ner Ho­sen­ta­sche. Na­tür­lich hab ich kei­nen Schein, aber ich brau­che Zeit, um mir et­was ein­fal­len zu las­sen. Dann wer­fe ich einen Blick an dem Ty­pen vor­bei, ma­che ein bis ins Mark er­schüt­ter­tes Ge­sicht und ru­fe laut: »Oh, ver­dammt! Da drü­ben braut sich was zu­sam­men!«
Was auch im­mer sich da zu­sam­men­brau­en könn­te, es funk­tio­niert. Der Mann dreht sich tat­säch­lich um und ich se­he zu, dass ich Land ge­win­ne. So­mas sind so leicht zu be­ein­flus­sen. Ich hö­re noch sein Flu­chen, nach­dem er den Bluff durch­schaut hat, aber da bin ich schon hin­ter der nächs­ten Ecke ver­schwun­den. Jetzt bloß nicht ste­hen blei­ben!
Ich hech­te durch die Stra­ßen und prü­fe mit ei­li­gen Bli­cken mei­ne Mög­lich­kei­ten. Da ich hier re­gel­mä­ßig un­er­laubt un­ter­wegs bin, um Eric zu be­su­chen, ken­ne ich die­sen Teil der Stadt ziem­lich ge­nau. Ich ren­ne in die nächs­te schma­le Sei­ten­stra­ße, vor­bei an dem klei­nen Kla­mot­ten­la­den mit dem un­über­seh­ba­ren Schild »Kein Zu­tritt für Dun­kel­b­lü­ter!«, hal­te mich zwei­mal rechts und sto­ße auf ei­ne ver­meint­li­che, mit krän­keln­den Bü­schen be­wach­se­ne Sack­gas­se. Dort bü­cke ich mich und schie­be die star­ren, kah­len Zwei­ge bei­sei­te. Da­hin­ter be­fin­det sich ein Mau­e­r­loch, durch das ich ge­ra­de so hin­durch­pas­se. Auf der an­de­ren Sei­te ste­hen gro­ße Müll­con­tai­ner, die die Ver­bin­dung eben­falls vor Bli­cken ab­schir­men und je­dem Sichtschutz bie­ten, der die­ses Schlupf­loch nutzt. Ich ha­be das Loch be­reits vor ei­ni­ger Zeit ent­deckt und nut­ze es, falls Schwie­rig­kei­ten auf­tau­chen. So wie jetzt. Aber ich den­ke nicht, dass die­ser Durch­gang zu­fäl­lig ent­stan­den ist. Es gibt be­stimmt wei­te­re Dun­kel­b­lü­ter, die un­er­laubt in die­sem Ge­biet un­ter­wegs sind. Viel­leicht so­gar wel­che, die dem Un­ter­grund an­ge­hö­ren.
Ich krie­che auf die an­de­re Sei­te der Mau­er und ver­ste­cke mich dort hin­ter ei­nem Müll­con­tai­ner. Hier wird mich der So­ma nicht fin­den. Ich hof­fe nur, dass ich ihm den Auf­wand nicht wert bin, einen Such­trupp zu­sam­men­zu­stel­len, um die kom­plet­te Ge­gend nach mir zu durch­käm­men. Die Chan­cen da­für ste­hen gut, denn das schwa­che Ge­fühls­le­ben lässt sei­ne wohl eher leich­te Em­pö­rung über mei­ne List be­stimmt schnell ver­rau­chen. Nor­ma­le­r­wei­se lie­be ich ein biss­chen Ner­ven­kit­zel, aber er­wi­scht wer­den darf ich auf kei­nen Fall.
Ich hocke mich auf den Bo­den und strei­che mir die lan­gen, dunk­len Haa­re aus dem Ge­sicht. Der Sprint hat mich ganz schön au­ßer Atem ge­bracht und ich brau­che ei­ne Wei­le, um ge­nug Sau­er­stoff zu tan­ken. Al­so strei­fe ich den Ruck­sack vom Rü­cken und leh­ne mich an die Mau­er. Hier will ich war­ten, bis ich mir si­cher bin, dass der So­ma sei­ne Su­che wirk­lich auf­ge­ge­ben hat und die Luft wie­der rein ist. In der Zwi­schen­zeit lau­sche ich den Bot­schaf­ten, die ge­ra­de durch die über­all in der Stadt in­stal­lier­ten Laut­spre­cher in den Abend klin­gen:
»Wer So­Ma nimmt, lebt lang und si­cher. So­Ma macht das Le­ben leicht.«
Ich schnau­be ver­ächt­lich durch die Na­se.
»Mit So­Ma ret­ten wir die Welt!«
Ich ge­be zu, viel­leicht ist an die­sem Spruch so­gar et­was dran. Die Men­schen ha­ben zu­ge­las­sen, dass das Land zu ei­nem düs­te­ren Ort ver­kom­men ist. Die Er­de ist leer. Sie ist ver­braucht, aus­ge­laugt, hat al­les für uns ge­ge­ben. Jetzt liegt sie im Ster­ben, ih­re Haut ist ver­brannt, ver­dor­ben und durch­lö­chert. Ih­re Ga­ben sind ver­nich­tet, ge­tö­tet und aus­ge­rot­tet.
Doch So­Ma hat die Hun­ger­s­nö­te be­en­det. Viel­leicht hat es den Na­men Su­per­food so­gar ver­dient, wenn man be­denkt, dass es als Ba­sis sämt­li­cher Le­bens­mit­tel dient, auf die die Men­schen lan­ge ver­zich­ten muss­ten. Es gibt so gut wie al­les wie­der, was es zu­vor kaum noch oder gar nicht mehr ge­ge­ben hat: Brot, Wurst, Kä­se, Fisch, Ku­chen, Pud­ding, Pas­te­ten, Bra­ten, Kar­tof­fel­brei. Fast je­des vor­stell­ba­re Nah­rungs­mit­tel wird mit ent­spre­chen­der Fa­r­be, Ge­schmack und Tex­tur aus nur die­sem einen syn­the­ti­schen Stoff her­ge­stellt, der oben­drein sämt­li­che Nähr­stof­fe ent­hält, die ein Mensch braucht. Es macht da­her kei­nen Un­ter­schied, ob man zu ei­ner Mahl­zeit Scho­ko­la­de isst oder Sa­lat. Ver­lo­ckend, nicht wahr? Noch da­zu schützt es den Kör­per vor jeg­li­chen Krank­hei­ten und ver­län­gert da­durch das Le­ben enorm. Wie­so al­so nicht auch zum So­ma wer­den?
»So­Ma ver­treibt das Dun­kel in dir!«, tönt es jetzt aus dem Laut­spre­cher.
»Ach, halt die Klap­pe«, zi­sche ich lei­se. Wenn es so ein­fach wä­re, gä­be es kei­ne Dun­kel­b­lü­ter wie mich. Al­les hat sei­nen Preis und selbst die So­mas zah­len einen. Sie ha­ben nicht nur ihr Ge­fühls­le­ben und da­mit, wie ich fin­de, ih­re See­le her­ge­ge­ben, son­dern las­sen sich da­zu noch wahl­los ma­ni­pu­lie­ren. Nicht um­sonst bin ich dem Ty­pen vor­hin so mü­he­los ent­kom­men.
Ich schnap­pe mir den Ruck­sack, krie­che hin­ter dem Müll­con­tai­ner her­vor und se­he mich um. Es ist still um mich her­um, weit und breit kein So­ma zu ent­de­cken. Ich den­ke, ich ha­be lan­ge ge­nug ab­ge­war­tet. Die Luft ist rein.
Mein Weg führt mich in ei­ne klei­ne, par­k­ähn­li­che Grün­an­la­ge, die schon ei­ne Wei­le nicht mehr ge­pflegt wor­den ist. Dort ver­birgt sich in­mit­ten ei­ner In­sel aus manns­ho­hem Busch­werk ein ehe­ma­li­ges Trans­for­ma­to­ren­häus­chen, das jetzt als Ein­stieg zu ei­nem Ge­heim­gang dient. Den hat Erics Va­ter an­le­gen las­sen, nach­dem er zum Bür­ger­meis­ter der Stadt ge­wählt wur­de. Für al­le Fäl­le so­zu­sa­gen, um sich und der Fa­mi­lie in Not­si­tua­ti­o­nen einen un­be­merk­ten Flucht­weg aus dem Haus in die Frei­heit zu ga­ran­tie­ren. Der Ge­heim­gang führt durch einen still­ge­leg­ten Teil der Ka­na­li­sa­ti­on von die­ser un­schö­nen Ge­gend di­rekt ins Vil­len­vier­tel, in dem Erics Fa­mi­lie wohnt. Dort ver­bin­det ei­ne neu an­ge­leg­te Ab­zwei­gung das al­te Ab­was­ser­sys­tem mit ei­nem Zu­gang zum Kel­ler der Bür­ger­meis­ter­vil­la.
Ich öff­ne das Vor­hän­ge­schloss an der me­tal­le­nen Ein­stiegs­tür mit dem Schlüs­sel, den mir Eric hat nach­ma­chen las­sen, schal­te die Ta­schen­lam­pe an und be­tre­te das Häus­chen. Als Hor­ror-Fan weiß ich: Falls du auf ei­ne Ta­schen­lam­pe an­ge­wie­sen bist, ver­las­se nie­mals oh­ne Er­satz­bat­te­ri­en das Haus! Wie vie­le Fil­me gibt es, in de­nen Leu­te in dunk­le Kel­ler ge­hen und prompt die Lam­pe ih­ren Geist auf­gibt? Na? Eben: Dut­zen­de. Die­ser Feh­ler wä­re in der Ka­na­li­sa­ti­on fa­tal. Denn die Dun­kel­heit hier gleicht ei­ner Er­blin­dung und ich bräuch­te ei­ni­ges Glück, um dann wie­der hin­aus­zu­fin­den. Al­so ver­mei­de ich Feh­ler Num­mer drei auf mei­ner Lis­te an Hor­ror-No-Gos und ha­be ne­ben vol­len Bat­te­ri­en in der Lam­pe auch im­mer noch wel­che er­satz­wei­se in der Ho­sen­ta­sche.
Ich lau­fe ei­ne schma­le Wen­del­trep­pe nach un­ten, und nach et­wa zwan­zig Mi­nu­ten durch das muf­fi­ge, mit­tel­al­ter­lich an­mu­ten­de Ka­na­li­sa­ti­ons­la­by­rinth und das neu er­bau­te Tun­nel­stück ge­lan­ge ich an ei­ne stei­le Trep­pe. Sie führt mich wie­der nach oben über ei­ne Lu­ke wei­ter in einen kur­z­en, en­gen Gang, der im Kel­ler der Vil­la en­det. Dort an­ge­langt schie­be ich einen di­cken Stoff­vor­hang bei­sei­te und zum Vor­schein kommt das Vor­rats­re­gal, das den Tun­ne­l­ein­gang ver­birgt. Ich neh­me die lee­ren Do­se­n­at­trap­pen vom Re­gal­brett und klap­pe es nach un­ten, so­dass ei­ne aus­rei­chend gro­ße Öff­nung ent­steht, aus der ich den Ge­heim­gang ver­las­sen kann.
Der Kel­ler hat einen Aus­gang nach oben ins Vor­rats­zim­mer und einen nach drau­ßen. Der ins Haus­in­ne­re kommt für mich nicht in­fra­ge, denn Erics Be­zie­hung mit mir ist seit der Bür­ger­meis­ter­kan­di­da­tur sei­nes Va­ters of­fi­zi­ell be­en­det. Kon­takt zu Dun­kel­b­lü­tern ist in ei­nem sol­chen Amt nicht ge­ra­de för­der­lich, und für Bür­ger­meis­ter Stein ist es schwie­rig ge­nug, das dunk­le Blut sei­nes Soh­nes zu ver­tu­schen.
Al­so rü­cke ich Vor­hang, Re­gal und Do­sen wie­der zu­recht und neh­me die Tür in den Gar­ten. Die Re­gen­rin­ne am Ge­mäu­er führt di­rekt an Erics Zim­mer im ers­ten Stock vor­bei, und dank ih­rer über­ste­hen­den Be­fes­ti­gun­gen ge­lan­ge ich oh­ne Pro­ble­me hin­auf. Auf mein sach­tes Klop­fen an die Fens­ter­schei­be er­scheint so­fort Erics Ge­sicht und grinst mich breit an. Er öff­net das Fens­ter und ich klet­te­re hin­ein. Ge­schafft, end­lich.
Ka­pi­tel 2
Der An­schlag
Hey«, sagt Eric lei­se, und ich spü­re das lei­den­schaft­li­che Vi­brie­ren in sei­ner Stim­me, das sein Be­geh­ren an­deu­tet. Er um­fasst mei­ne Tail­le und zieht mich an sich.
Ich la­che, le­ge die Hän­de auf sei­ne Brust und stem­me mich scherz­haft ein we­nig da­ge­gen. Sei­ne tief­blau­en Au­gen mus­tern mich bei­na­he lüs­tern, bis sein Blick schließ­lich an mei­nen Lip­pen hän­gen bleibt. Jetzt stre­cke ich ihm mein Ge­sicht doch ent­ge­gen und sei­ne dunk­len Lo­cken kit­zeln mei­ne Wan­ge, wäh­rend wir in ei­nem hei­ßen Kuss ver­sin­ken, der mei­ne Glied­ma­ßen er­weicht.
Wir fal­len seit­wärts auf das Bett ne­ben uns, oh­ne von­ein­an­der ab­zu­las­sen.
»Ver­dammt, nicht schon wie­der!«, ru­fe ich und fah­re hoch. Ich ha­be mich ge­ra­de auf die Ei­er ge­legt.
Eric setzt sich eben­falls auf und sieht mich sicht­lich ver­stört an. »Was ist?« Dann ent­deckt er die Schürf­wun­de auf mei­ner Wan­ge und fährt mit sei­nem Fin­ger sanft dar­über. »Ist et­was pas­siert?«
Ich seuf­ze laut. »Ein So­ma hat mich ent­deckt.«
»Schei­ße, nein!«
»Doch. Aber kei­ne Sor­ge, ich bin ihm ent­kom­men, be­vor er ei­ne Ar­mee auf mich an­set­zen konn­te.« Ich grin­se schief und neh­me den Ruck­sack vom Rü­cken. Bei der Ge­le­gen­heit ent­le­di­ge ich mich gleich noch mei­ner Le­der­ja­cke. »Und den Ei­ern ist eben­falls nichts pas­siert.«
»Die sind ja auch hier«, grinst er und sei­ne Hand deu­tet auf ei­ne be­stimm­te Stel­le sei­ner Ho­se.
Ich ver­dre­he die Au­gen und seuf­ze. Jungs. »Die von He­le­ne, du Na­se.« Un­se­re ge­hei­me Hen­ne legt je­de Wo­che et­wa vier wert­vol­le Ei­er, ei­nes un­se­rer nahr­haf­tes­ten Le­bens­mit­tel.
Ei­gent­lich darf es sie gar nicht ge­ben, denn Nutz­tie­re sind seit den Seu­chen­aus­brü­chen ver­bo­ten. Die wur­den da­mals durch ver­schmutz­tes Fut­ter und so schlech­te Tier­hal­tung aus­ge­löst, dass der Tod für die Tie­re ei­ner Er­lö­sung gleich­ge­kom­men sein muss­te. Doch die Krank­hei­ten ha­ben nicht bloß das Vieh da­hin­ge­rafft, son­dern auch die Men­schen, die es ver­zehr­ten. Ih­re Or­ga­ne lös­ten sich lang­sam von in­nen auf, bis das Blut aus al­len Haut­po­ren ge­schos­sen kam. Seit­her ha­be ich kein Rind, kein Schwein und kein Ge­flü­gel mehr ge­se­hen. Au­ßer He­le­ne und ver­ein­zel­te, ge­hei­me Le­ge­hen­nen an­de­rer Dun­kel­b­lü­ter.
»Hier.« Ich kra­me die bes­tens ver­pack­ten Nah­rungs­mit­tel aus dem Ruck­sack und prä­sen­tie­re ihm ein Ei mit heil ge­blie­be­ner Scha­le.
Erics Au­gen be­gin­nen zu leuch­ten und er kreist mit ei­ner Hand auf sei­nem Bauch. »Hmm, Ei­er! Da mel­det sich gleich mein Ma­gen.«
»Gut, dass sie hart ge­kocht sind, sonst hät­test du sie dies­mal aus der Ta­sche le­cken kön­nen.«
Eric ver­zieht das Ge­sicht und ich spü­re sei­ne war­me Hand in mei­nem Nacken. »Bin froh, dass dir nichts pas­siert ist.« Er küsst zärt­lich die Stel­le mit der Schürf­wun­de, nimmt mir das Ei aus der Hand, schält es und ver­zehrt es mit zwei Bis­sen.
Mein Mund ver­brei­tert sich un­wei­ger­lich vol­ler Rüh­rung. Eric ist so süß, wenn er sich um mich sorgt. »Al­so echt«, be­schwe­re ich mich mit ge­spiel­ter Em­pö­rung. »Ein biss­chen mehr ge­ni­e­ßen könn­test du das Ei schon. Im­mer­hin hat es un­se­re He­le­ne aus ih­rem Al­ler­wer­tes­ten ge­presst, und ich ha­be einen aben­teu­er­li­chen Trip hin­ter mir.«
Eric leckt sich die Fin­ger und greift nach dem zwei­ten in der Tü­te, des­sen Scha­le et­was an­ge­schla­gen ist. »Mach ich bei dem hier. Ich hab nur so Hun­ger.«
Ich lächle und schwei­ge. Eric ist zwar der Sohn des Bür­ger­meis­ters, aber sein Le­ben ist al­les an­de­re als ein­fach. Bis­her wei­gert er sich noch er­folg­reich, So­Ma zu ver­zeh­ren. Doch in letz­ter Zeit ist der Druck auf ihn ge­stie­gen. Mit zu­neh­men­dem Al­ter rückt er mehr in den Fo­kus der Öf­fent­lich­keit, die sein Va­ter bis­lang von ihm fern­ge­hal­ten hat. Da­durch be­kommt er im­mer grö­ße­re Schwie­rig­kei­ten, sein dunk­les Blut ge­heim zu hal­ten. Bür­ger­meis­ter Stein kann nicht vor der gan­zen Stadt zu der Ent­schei­dung sei­nes Soh­nes ste­hen, denn dann könn­te er gleich sei­ne Sa­chen pa­cken und zu­rück­tre­ten, das ist klar.
»Ist echt hart, dass dei­ne El­tern dir na­tür­li­che Le­bens­mit­tel ver­wei­gern«, sa­ge ich und be­ob­ach­te Eric, wie er das zwei­te Ei ver­schlingt. Von we­gen ge­ni­e­ßen.
Er nickt und schluckt den letz­ten Bis­sen hin­un­ter. »Ich weiß. Mei­ne Ein­stel­lung ist ih­nen ein Dorn im Au­ge. Im­mer­hin ist mein Va­ter maß­geb­lich an der Ver­brei­tung des So­Ma in der Stadt be­tei­ligt und will des­halb bit­te­schön einen ech­ten So­ma zum Sohn. Aber den kriegt er nicht.« Er hält kurz in­ne, sieht mich an und gibt mir einen flüch­ti­gen Kuss, be­vor er das Es­sen mit ei­nem gro­ßen Schluck Was­ser nach­spült. »Und un­se­re Tren­nung auch nicht.«
»Ge­nau«, pflich­te ich bei. »Da hat er sich ge­schnit­ten!« Im­mer­hin lie­ben wir uns, wir sind See­len­ver­wand­te auf im­mer und ewig. »Und sie ha­ben nicht da­mit ge­rech­net, dass ich dich heim­lich über den Ge­heim­gang mit Es­sen ver­sor­ge.« Ich kann mir ein scha­den­fro­hes Grin­sen nicht ver­knei­fen.
Eric und ich wol­len kei­ne So­mas sein, denn das wür­de un­se­re Lie­be zer­stö­ren. Wir wol­len ver­liebt sein und das Er­wach­sen­wer­den füh­len. Die Ge­fühls­welt der So­mas ist flach und ober­fläch­lich. Sie fühlt sich falsch für mich an. So­Ma stiehlt Emo­ti­o­nen oder nimmt ih­nen ih­re Stär­ke. Es ver­krüp­pelt sie zu klei­nen, nich­ti­gen Re­gun­gen, die die Be­zeich­nung »Ge­fühl« gar nicht ver­die­nen. Schmerz ver­kommt zu Un­wohl­sein, Trau­er zu Ent­täu­schung, Ver­zweif­lung zu Schul­ter­zu­cken. Glücks­ge­füh­le stump­fen zu lee­rer Be­hag­lich­keit ab und un­bän­di­ge Freu­de zu ein­fa­chem Wohl­ge­fal­len. Aber was viel schlim­mer ist: Es gibt kei­ne ech­te Lie­be mehr, kei­ne Hin­ga­be und tie­fe Zu­nei­gung. Ver­schwun­den sind See­len­ver­wandt­schaft, Lei­den­schaft und An­zie­hung. Für So­mas exis­tiert nur die Er­fül­lung kör­per­li­cher Be­dürf­nis­se, viel­leicht ge­paart mit ei­nem ge­wis­sen Maß an Sym­pa­thie und Wert­schät­zung. Selbst Kin­der be­kom­men kei­ne Lie­be, doch das stört sie nicht, weil sie eben­falls von So­Ma le­ben und des­halb nichts ver­mis­sen. Eric und ich ha­ben die­sen Pro­zess der Ab­stump­fung hun­dert­fach um uns her­um er­lebt, und je­des Mal hat es mich mit Grau­en er­füllt.
Ich möch­te die gan­ze Pa­let­te mensch­li­cher Emo­ti­o­nen ken­nen­ler­nen, sie kos­ten und aus­le­ben. Ich will Schmerz ge­nau­so spü­ren wie be­rau­schen­de, glü­ck­li­che Mo­men­te, will das Krib­beln im Bauch, wenn mich Eric küsst und mei­nen Kör­per er­kun­det. Nichts macht mir grö­ße­re Angst als die ab­ge­stumpf­te, zu­frie­de­ne Art der So­mas, mit der sie durchs Le­ben wan­deln.
»Sie wer­den mich je­den­falls nicht län­ger de­cken«, meint Eric schließ­lich. »Aber sie ge­hen da­von aus, dass ich bald ein­kni­cke und sie mei­ne nächs­te Blut­spen­de nicht mehr fäl­schen müs­sen.« Er lacht auf. »Wenn die wüss­ten.«
»Blut­spen­de. Brrr. Gru­se­lig.« Ein fros­ti­ges Schüt­teln über­fällt mich. »Bin ich froh, kein So­ma zu sein.« Ich mag die Vor­stel­lung nicht, mir im­mer wie­der einen Teil mei­nes Blu­tes ab­zap­fen zu las­sen. Al­le zwei bis drei Mo­na­te sind So­mas zur Blutent­nah­me ver­pflich­tet. Einen all­seits be­kann­ten und gern the­ma­ti­sier­ten An­lass da­für ge­ben na­tür­lich wir, die ge­fähr­li­chen Dun­kel­b­lü­ter. Wir könn­ten je­der­zeit neue Kei­me, Bak­te­ri­en und Vi­ren aus­brü­ten oder ein­schlep­pen, die So­ma­b­lut nicht tö­ten kann. Des­halb ist es wich­tig, das hel­le Blut zu ana­ly­sie­ren und So­Ma zu per­fek­tio­nie­ren. Au­ßer­dem ist es ein so­li­da­ri­scher Akt, ein Bei­trag zur Ge­sell­schaft für je­ne, die ver­letzt wur­den oder auf­grund ei­ner Krank­heit ge­ra­de kein So­Ma zu sich neh­men kön­nen. Sie wür­den in­ner­halb kur­z­er Zeit neu­es Blut bil­den, das dun­kel ist und schlecht. Nicht zu­letzt regt ei­ne re­gel­mä­ßi­ge Blut­spen­de die Blut­bil­dung un­ter So­Ma an, so­dass fri­sches, hel­les Blut durch den Kör­per schießt und ihn na­he­zu un­an­greif­bar macht. Was für ein Ge­fühl von Si­cher­heit, nicht wahr?
Zu­min­dest so­lan­ge, wie nie­mand den So­mas ih­re Schä­del ein­schlägt, den­ke ich bit­ter und se­he den Zet­tel vom Un­ter­grund vor mei­nem in­ne­ren Au­ge. Da­ge­gen hilft näm­lich auch kein hel­les Blut. Aber wer weiß schon wirk­lich, was mit dem gan­zen Blut ge­trie­ben wird? In mei­ner Vor­stel­lung müss­ten Un­men­gen da­von exis­tie­ren.
Ich pa­cke die rest­li­chen Nah­rungs­mit­tel aus, die ich mit­ge­bracht ha­be: Ein Stück ech­tes Dörr­fleisch aus Al­mas Dun­kel­blut-La­den, in dem man auch Le­bens­mit­tel tau­schen kann, ein klei­nes Glas ge­koch­ter Kar­tof­fel­stü­cke, zwei Rü­ben, ein Glas Wur­zel­ge­mü­se und einen mick­ri­gen Ap­fel aus dem Win­ter­vor­rat. Das ist das, was die we­ni­gen auf­be­rei­te­ten, nähr­stoff­hal­ti­ge­ren Bee­te so her­ge­ben.
»Mehr ist es dies­mal nicht«, seuf­ze ich, »und es muss noch für mor­gen rei­chen.«
»Mach dir kei­ne Sor­gen«, meint Eric und schnappt sich den Ap­fel. »Das schaf­fe ich schon. Und dann wird es ja bes­ser.«
»Ja«, ant­wor­te ich und star­re ge­dan­ken­ver­sun­ken vor mich hin. »Hof­fent­lich läuft al­les rei­bungs­los.«
Erics Ver­sor­gung mit Le­bens­mit­teln ist viel zu ris­kant, um dau­e­r­haft gut zu ge­hen. Ir­gend­wann wer­de ich einen Feh­ler ma­chen, und dann fliegt die gan­ze Sa­che auf. Des­halb wird Eric flie­hen, und zwar zu mir. Über­mor­gen soll es so weit sein. Ich ha­be schon al­les vor­be­rei­tet. Ich ha­be ihm im Kel­ler ein Ver­steck ein­ge­rich­tet, mit Zu­gang von au­ßen, so­dass mei­ne El­tern kei­nen Wind von der An­ge­le­gen­heit be­kom­men. Je we­ni­ger Leu­te da­von wis­sen, des­to bes­ser und si­che­rer ist es.
Wir nut­zen nur den vor­de­ren Kel­ler­raum zur La­ge­rung un­se­rer Vor­rä­te. Der hin­te­re Teil ist voll­ge­stellt mit ka­put­ten Mö­beln, Be­häl­tern für Wein­gä­rung, Fa­r­b­res­ten, Ma­le­r­zu­be­hör und an­de­ren Din­gen, die wir gar nicht oder we­nig ver­wen­den. Ich ha­be ein biss­chen um­ge­räumt und Platz ge­schaf­fen. Be­son­ders glü­ck­lich bin ich über die al­te Ma­trat­ze, die in ei­ner Ecke an der Wand ge­stan­den hat. Die ha­be ich ge­säu­bert und für Eric her­ge­rich­tet. Die Mö­bel ha­be ich so zu­recht­ge­rückt, dass sie pri­ma als Raum­tren­ner funk­tio­nie­ren und die Sicht auf Erics Ver­steck ver­sper­ren.
Klar, er muss trotz­dem auf­pas­sen, dass ihn mei­ne El­tern nicht ent­de­cken. Doch es soll ja nicht für im­mer sein. Nach ei­ner Wei­le wer­de ich es ih­nen sa­gen, dann kön­nen sie ihn nicht mehr weg­schi­cken. Aber an­fangs ist es zu ge­fähr­lich, wenn sie da­von wüss­ten. So­lan­ge Eric ge­sucht wer­den wird, müs­sen wir es ge­heim hal­ten. Je we­ni­ger mei­ne El­tern wis­sen, des­to bes­ser.
»Du bist kom­plett vor­be­rei­tet?«, fra­ge ich.
Eric nickt mit vol­lem Mund und kramt zwei di­cke, voll­ge­stopf­te Ta­schen un­ter dem Bett her­vor. »Da ist al­les drin, was ich brau­che.«
»Viel­leicht ist es bes­ser, schon eher zu ver­schwin­den.«, wer­fe ich ein. »Nicht erst am Frei­tag.«
»Das ist aber der bes­te Zeit­punkt. Dann sind mei­ne El­tern au­ßer Haus, und ich kann mich un­be­merkt ver­drü­cken. Die drei Wa­chen sind kein Pro­blem, die mer­ken gar nicht, ob ich da bin oder nicht.«
Bei dem Ge­dan­ken, noch zwei Ta­ge aus­har­ren zu müs­sen, fan­ge ich an zu schwit­zen. »Dei­ne El­tern rie­chen doch be­stimmt schon Lun­te. Ich mei­ne, nie­mand bleibt oh­ne Es­sen ta­ge­lang so ent­spannt wie du.«
Eric zuckt mit den Schul­tern. »Klar tun sie das. Aber je mehr Auf­he­bens um mei­ne Per­son, des­to hö­her die Ge­fahr, dass mein dunk­les Blut auf­fliegt.« Er ki­chert. »Du müss­test mal se­hen, wie mich die­se Par­al­lo mit ih­ren fie­sen Au­gen ver­folgt. Und dann blit­zen die manch­mal so merk­wür­dig gol­den auf. Je­den­falls, wenn die könn­te, hät­te die mich längst ge­walt­sam mit So­Ma voll­ge­stopft wie frü­her ei­ne Mast­gans.«
»Li­via Par­al­lo«, murm­le ich. Die­ser Na­me al­lein klingt schon un­heim­lich und er­in­nert mich an rö­mi­sche Ge­schich­te, in der man­che Frau im Hin­ter­grund ih­res ein­fluss­rei­chen Man­nes po­li­ti­sche Fä­den ge­spon­nen hat. »Ist das nicht die engs­te Ver­trau­te dei­nes Va­ters?«
»Hm«, mur­melt Eric und beißt herz­haft in das Dörr­fleisch. »Sie ge­hört zum engs­ten Stab. Mein Va­ter hat sie kürz­lich erst zur Vi­ze-Bür­ger­meis­te­rin er­nannt, um sei­nen Ein­fluss­be­reich aus­zu­deh­nen. Da­mit ist sie nicht nur füh­ren­de Wis­sen­schaft­le­rin in der So­Ma-Ent­wick­lung, son­dern auch sei­ne rech­te Hand und über­all dort, wo er ge­ra­de nicht sein kann.«
»Hey!« Be­vor Eric es sich ver­sieht, ent­wen­de ich ihm den Rest des Flei­sches und pa­cke ihn zu­rück in den Beu­tel. »Nicht al­les auf ein­mal.«
»Ich kann sie je­den­falls nicht ausste­hen«, spricht er wei­ter. »Sie hat ir­gen­d­et­was … Falsches an sich. Et­was Hin­ter­häl­ti­ges. Heim­tü­cki­sches. Ach, ich weiß auch nicht.« Er schluckt den letz­ten Bis­sen hin­un­ter. »Ich ha­be das Ge­fühl, man darf ihr nicht trau­en.«
»Wie kommst du dar­auf?«, fra­ge ich halb­her­zig und be­gin­ne, sei­nen Nacken zu küs­sen.
Eric neigt den Kopf zur Sei­te, um mei­nen Lip­pen Platz zu ma­chen. »Ir­gen­d­et­was stimmt da nicht. Ges­tern war sie hier bei mei­nem Va­ter zu ei­nem Pri­vat­ge­spräch, und das ist wohl schlecht ge­lau­fen.«
»Was ist pas­siert?«, hau­che ich in sein Ohr und zie­he ihm sein T-Shirt aus. Er lässt es ge­sche­hen, wäh­rend sei­ne Hän­de un­ter mei­nen Hoo­die wan­dern.
»Ich weiß nicht recht«, flüs­tert er jetzt eben­so ab­ge­lenkt. »Scheint so, als hät­te mein Va­ter an ei­ner Sa­che et­was aus­zu­set­zen, die Par­al­lo im Schil­de führt. Es ist je­den­falls in einen saf­ti­gen Streit aus­ge­ar­tet.«
Bei die­sem Satz hal­te ich dann doch kurz in­ne. »Wirk­lich? Wor­um ging es ge­nau? Hast du mehr mit­be­kom­men?«
Eric lässt von mir ab und run­zelt die Stirn. »Nicht viel. Es hat wohl mit ei­ner Wei­ter­ent­wick­lung des So­Ma zu tun.« Er zuckt die Schul­tern. »Mög­li­cher­wei­se ei­ne neue Sor­te oder so was. Je­den­falls war mein Va­ter ziem­lich stin­kig, er scheint nicht in die Sa­che ein­be­zo­gen wor­den zu sein. Aber viel­leicht steckt auch mehr da­hin­ter. Ich hab ihn noch nie so … er­schro­cken ge­se­hen.«
Ich be­kom­me Gän­se­haut und mei­ne in­ne­ren Alarm­glo­cken schel­len. In den Oh­ren ei­nes Dun­kel­blu­tes klingt so ei­ne Nach­richt äu­ßerst be­ängs­ti­gend.
Eric schüt­telt den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich da­von hal­ten soll. Ir­gen­d­et­was stimmt in der Stadt­re­gie­rung nicht, und mein Va­ter hat es mit­be­kom­men. Je­den­falls gab es ei­ne hef­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zung, die über­all im Haus zu hö­ren war. Dann war es plötz­lich still, und ich ha­be nur noch Par­al­lo ge­se­hen, wie sie aus der Vil­la ge­stürzt und in ih­rem Wa­gen weg­ge­fah­ren ist.«
Ich weiß nicht, was ich da­zu sa­gen soll und schwei­ge.
»Va­ter hat da­nach die gan­ze Nacht lang sein Ar­beits­zim­mer nicht ver­las­sen. Je­den­falls hat er am nächs­ten Tag so aus­ge­se­hen.« Eric lacht lei­se auf.
»Die­se Par­al­lo ist gru­se­lig«, wer­fe ich ein und kuschle mich an Erics Sei­te. Ich ken­ne sie bis­her nur von Bil­dern aus den Nach­rich­ten, die über die öf­fent­lich in­stal­lier­ten Vi­deo­ta­feln aus­ge­strahlt wer­den. Sie ist ei­ne schö­ne Frau mit ih­ren lan­gen, glat­ten Haa­ren, bron­ze­fa­r­be­ner Haut und bern­stein­fa­r­be­nen Au­gen. Aber sie hat für mich nichts Mensch­li­ches an sich. Ih­re Haut ist bei­na­he fal­ten­frei und nie­mand wür­de sie auf ir­gend­was in den Fünf­zi­gern schät­zen. Je mehr Zeit ver­geht, des­to jün­ger scheint sie. Das kä­me vom So­Ma, hat sie ein­mal da­zu ge­sagt, und na­tür­lich to­sen­den Bei­fall ge­ern­tet. Ir­gen­d­et­was stimmt nicht mit ihr, das hab ich so im Ge­fühl.
»Kann schon sein«, holt mich Eric aus mei­nen fins­te­ren Ge­dan­ken zu­rück. »Da­für bist du aber zum An­bei­ßen.« Er wirft mich rü­ck­lings aufs Bett und über­deckt mein Ge­sicht mit wil­den Küs­sen.
»Wol­len wir nicht erst über un­se­ren Stich­tag re­den?«, fra­ge ich, ob­wohl ich sei­nen for­dern­den Be­rüh­run­gen be­reits nach­ge­be. »Du weißt schon, Frei­tag­nacht. Der Kel­ler ist …« Ich seuf­ze un­ter den Lieb­ko­sun­gen mei­nes Nackens. »… vor­be­rei­tet. Ei­ne ku­sche­li­ge klei­ne Höh­le mit ei­ge­nem Aus­gang.«
»Spä­ter«, brummt er und streift mir den Pul­li über den Kopf.
Jetzt kann ich auch nicht mehr an mich hal­ten. Mei­ne Hän­de er­kun­den sei­nen Kör­per und ich at­me sei­nen Ge­ruch ein, wäh­rend ich die nack­te Brust mit Küs­sen über­de­cke. Sei­ne Zun­ge glei­tet über die blas­se Haut mei­nes Hal­ses, und ich ma­che mich an sei­ner Ho­se zu schaf­fen, fumm­le am Reiß­ver­schluss, mei­ne er­hitz­ten Wan­gen glü­hen.
Da knallt es. Es ist ein dump­fer Knall, aber er ist so laut, dass ich bei­na­he glau­be, di­rekt ne­ben uns hat ein Ge­schoss ein­ge­schla­gen.
Wir er­star­ren bei­de in un­se­rer Be­we­gung: Eric in sei­ner Po­si­ti­on über mich ge­stützt und ich dar­un­ter, die Fin­ger in den Bund sei­ner Jeans ge­krallt.
Ein wei­te­rer Knall er­tönt. Wir zu­cken zu­sam­men.
»Was ist das?«, flüs­te­re ich.
Eric rollt von mir her­un­ter, schließt sei­ne Ho­se und zieht sei­nen Pul­li an. Ei­lig ma­che ich es ihm nach.
»Du soll­test bes­ser ver­schwin­den«, mur­melt er, schleicht zur ge­schlos­se­nen Zim­mer­tür und lauscht mit ei­nem Ohr dar­an. Von drau­ßen sind frem­de Stim­men zu hö­ren. »Ir­gen­d­et­was stimmt da nicht.«
Ich wer­fe mir die Ja­cke über, ge­he zum Fens­ter und öff­ne es. Auf die­ser Sei­te der Vil­la, die in den Gar­ten führt, ist es still.
Aber die un­be­kann­ten Stim­men im Haus wer­den im­mer lau­ter. Jetzt pol­tert es. Ein Schrei er­tönt.
Mir stockt der Atem. »War das dei­ne Mut­ter?«
Eric sieht mich pa­nisch an. »Ver­schwin­de lie­ber! Ir­gend­wer scheint uns an­zu­grei­fen!«
Es pol­tert wie­der, und dies­mal hört es nicht auf, son­dern es dringt ge­räusch­voll von drau­ßen nä­her zu uns die Trep­pe her­auf. Ver­schie­de­ne Stim­men to­ben um­her, da­zwi­schen neue Schreie von Erics Mut­ter. Und jetzt, jetzt hö­re ich auch den Bür­ger­meis­ter selbst. »Nur die Ru­he …«, ver­neh­me ich Fet­zen. »… gibt kei­nen Grund … al­les si­cher … ha­be nicht vor …« Sei­ne Stim­me wirkt im­mer auf­ge­reg­ter »… Nein, stopp … las­sen Sie das!«
Ein wei­te­rer Knall er­tönt, dann noch ei­ner. Doch dies­mal klin­gen sie an­ders, sie hö­ren sich an wie …
»Das sind Schüs­se!« Eric sieht mich mit auf­ge­ris­se­nen Au­gen an. »Wir müs­sen weg hier!«
»Schei­ße!« Es ist fast ein Wim­mern, das sich aus mei­nen Lun­gen presst, aber mir läuft es ge­ra­de heiß und kalt gleich­zei­tig den Rü­cken hin­un­ter. Mein Ma­gen krampft sich zu­sam­men und ein tie­fer Schreck zieht durch mei­nen Bauch bis in den Un­ter­leib. Es fehlt nicht viel, und ich hät­te mir in die Ho­se ge­macht.
Eric stürzt zu mir ans Fens­ter. »Jetzt mach schon, Viv! Be­eil dich! Die sind be­stimmt gleich hier!«
Mit zitt­ri­gen Bei­nen klet­te­re ich über den Fens­ter­sims, grei­fe nach der Re­gen­rin­ne und schlit­te­re dar­an so schnell hin­un­ter, dass ich mir die In­nen­sei­ten der Jeans an den her­vor­ste­hen­den Be­fes­ti­gun­gen auf­rei­ße. Aber der Schmerz ist mir ge­ra­de egal, ich spü­re ihn kaum, denn er wird von der Rie­sen­angst über­la­gert, die mir das Ad­re­na­lin schwall­wei­se durch das Blut jagt.
Ich lan­de un­sanft im Ge­büsch des Gar­tens und star­re nach oben. »Eric!«, zi­sche ich. Wie­so braucht er nur so lan­ge? Dann se­he ich ihn aus dem Fens­ter han­geln. Er hat sich ei­ne der Flucht­ta­schen auf den Rü­cken ge­schnallt und rutscht jetzt end­lich auch an der Re­gen­rin­ne her­un­ter.
Das Licht, kommt es mir in den Sinn, das Licht, ver­dammt! Ha­be ich denn nichts ge­lernt aus all den Hor­ror­fil­men, die ich ge­se­hen ha­be? Bei dem Blick zu dem hell er­leuch­te­ten Fens­ter, aus dem Eric ge­ra­de klet­tert, schießt mir ein neu­er Schreck durch die Glie­der.
Da dröhnt be­reits Ge­pol­ter an Erics Zim­mer­tür, es dringt bis nach drau­ßen, knallt und rammt, ich hö­re Holz split­tern.
»Eric!«, schreie ich jetzt aus Lei­bes­kräf­ten, auch wenn es ein Feh­ler ist, denn die An­grei­fer wer­den nicht nur das Haus durch­su­chen, son­dern längst im Gar­ten un­ter­wegs sein. Aber mein Ent­set­zen ist in die­sem Mo­ment so groß, dass es sich kom­plett der Kon­trol­le durch mein ver­ängs­tig­tes Hirn ent­zieht.
Prompt hö­re ich ein Ra­scheln ganz in der Nä­he und ren­ne zum Gar­ten­zaun, um über die 1,80 m ho­hen Me­tall­stä­be zu klet­tern, kos­te es, was es wol­le. Am Zaun bli­cke ich pa­nisch in al­le Rich­tun­gen. Noch se­he ich nie­man­den au­ßer Eric, der ge­ra­de in den Bü­schen ge­lan­det ist. Doch ich weiß, die An­grei­fer sind nicht weit. Nein, kei­ne An­grei­fer, Viv. Es sind Kil­ler.
»Lauf!«, ruft Eric mir zu. »Hau schon ab, Viv!«
Ich fan­ge an, mei­ne Schu­he ge­gen die Stä­be zu stem­men, aber ich rut­sche ab. Ver­flucht, ich bin noch nie be­son­ders gut im Klet­tern ge­we­sen. Ich kral­le mei­ne Fin­ger um die Git­ter des Stab­zau­nes und zie­he mich mit al­ler Kraft hin­auf. Dann klem­me ich die Snea­ker schräg in die Zwi­schen­räu­me und nut­ze die Rei­bung der Gum­mi­soh­len für den Halt. So han­gle ich mich wei­ter und er­rei­che tat­säch­lich die Zaun­spit­ze. Aber wo bleibt Eric?
»Eric?« Ich wen­de den Kopf und schaue in die Rich­tung, aus der er kom­men müss­te.
»Hier!«, hö­re ich sei­ne Stim­me, und dann taucht er hin­ter ei­nem Strauch di­rekt vor dem Zaun un­ter mir auf.
Er­leich­tert las­se ich die Luft aus den Lun­gen strö­men. »Dem Him­mel sei Dank!«
Pffft!
»Was war das?« Pa­nisch schaue ich zu Eric un­ter mir. Er scheint sich eben­falls er­schro­cken zu ha­ben, denn sein Ge­sicht ist starr vor Ent­set­zen. Ich rut­sche ein paar Zen­ti­me­ter zu ihm hin­ab. Ir­gen­d­et­was stimmt mit sei­nen Au­gen nicht. Sie ver­lie­ren den Fo­kus, Eric schaut mich an, aber auch wie­der nicht. Sein Blick wirkt plötz­lich mü­de und ir­gend­wie weit weg. Er öff­net den Mund, als ob er mir et­was sa­gen möch­te, doch her­aus kommt nur ein Rinn­sal Blut.
Dann sackt er zu­sam­men, und hin­ter ihm schält sich die Ge­stalt ei­nes Man­nes aus den Schat­ten der Nacht. Bis auf sein un­be­deck­tes Ge­sicht ist er kom­plett in schwa­r­ze Klei­dung gehüllt und da­her kaum zu er­ken­nen.
Ei­ne klei­ne Ewig­keit star­ren wir uns re­gungs­los an, ein­ge­fro­ren in ei­ner Sta­tik des Schre­ckens, und den­noch er­fas­se ich in die­sen Se­kun­den je­de Ei­gen­heit sei­nes Ge­sichts. Die Form sei­ner Na­se, die brau­nen Au­gen, die di­cken Brau­en, das ecki­ge Kinn. Al­les brennt sich tief in mein Hirn, das sich da­ge­gen wehrt zu ak­zep­tie­ren, was ge­ra­de ge­sche­hen ist.
»Nein!«, brül­le ich ihm ent­ge­gen. »Nee­e­eiii­in!« Hei­ße Trä­nen quel­len aus mei­nen Au­gen und ver­schlech­tern mei­ne Sicht. »Nee­e­eiiii­in!« Ich schreie im­mer noch so laut, dass es sich an­fühlt wie Sand­pa­pier, das in mei­nem Hals kratzt. Das ist al­les nicht wahr! Das kann nicht sein, das darf nicht sein! Gleich, gleich wird Eric wie­der auf­ste­hen und mit mir flüch­ten.
Mit auf­ge­ris­se­nen Au­gen star­re ich auf sei­nen leb­lo­sen Kör­per, ich keu­che und mein Brust­korb hebt und senkt sich pa­nisch. Aber nichts pas­siert, wäh­rend die Se­kun­den ver­strei­chen, und es ist nur ei­ne Fra­ge der Zeit, bis der Kil­ler zu­erst aus der Schock­star­re er­wacht.
Pfffft.
Au!
Et­was hat mei­ne Wan­ge ge­streift. Ich tas­te nach mei­ner Haut und füh­le das war­me, feuch­te Blut. Ent­setzt bli­cke ich auf den Mann am Zaun, der noch im­mer hin­ter Erics Lei­che steht und mich an­starrt. Sei­ne Waf­fe zeigt nicht auf mich, aber das muss sie gar nicht, denn er ist nicht der ein­zi­ge Kil­ler, der die Vil­la ge­stürmt hat.
Mit ei­nem Mal legt sich ein Schal­ter in mir um, und ich funk­tio­nie­re wie ei­ne trai­nier­te Sol­da­tin. Ich darf jetzt nicht wei­nen! Ich darf jetzt nicht die Be­herr­schung ver­lie­ren! Al­so blen­de ich mei­ne Ge­füh­le aus, ver­drän­ge Angst, Schmerz und Trau­er und ver­las­se mich nur auf Kör­per und In­stink­te. Es ist wohl der Über­le­bens­wil­le, der mich so han­deln lässt, sonst wür­de ich im­mer noch auf dem Zaun sit­zen und schrei­en, bis mich ei­nes der laut­lo­sen Pro­jek­ti­le trifft.
Ich schwin­ge mich über die Zaun­spit­zen und ach­te nicht dar­auf, dass ich mir einen wei­te­ren Riss in der Haut mei­nes lin­ken Ober­schen­kels zu­zie­he. Hart lan­de ich auf der Er­de, doch im­mer­hin mit den Fü­ßen zu­erst. Ich fan­ge mich mit Kni­en und Hän­den ab, die ich mir da­bei auf­schla­ge, aber das Bren­nen dringt nur ne­ben­säch­lich in mein Be­wusst­sein. In mei­nem Kopf dröh­nen da­für Erics letz­te Wor­te um­so lau­ter: Hau schon ab, Viv!
Ka­pi­tel 3
Die Blut­nacht
Ein­en Mo­ment lang bin ich ori­en­tie­rungs­los. Ich weiß nicht, wo ich mich be­fin­de, ob­wohl ich be­reits so oft in die­ser Ge­gend un­ter­wegs ge­we­sen bin. Plötz­lich blitzt es vor mir auf. Ich he­be die Hän­de vor das Ge­sicht, blinz­le und rei­be mir über die Au­gen­li­der, denn ich kann ge­ra­de nichts se­hen au­ßer grel­len Licht­blit­zen. Dann er­ken­ne ich mir ge­gen­über einen Mann mit Ka­me­ra in der Hand, der of­fen­sicht­lich ge­ra­de ein Fo­to von mir ge­schos­sen hat.
»Hier­her!«, ruft er in die Dun­kel­heit und greift gleich­zei­tig nach mei­nem Arm »Ich ha­be ei­ne von de­nen!«
Ei­si­ge Furcht ver­steift mei­ne Glie­der. Doch der un­auf­merk­sa­me So­ma schaut viel­mehr in al­le Rich­tun­gen, um nach sei­nen Leu­ten Aus­schau zu hal­ten, an­statt auf mich zu ach­ten. Die­se Un­acht­sam­keit nut­ze ich aus, rei­ße mich mit ei­nem be­herz­ten Ruck los und stür­ze da­von.
Wie­der schie­ßen Trä­nen aus mei­nen Au­gen, wäh­rend ich zu­nächst plan­los durch die Stra­ßen het­ze. Weg, Haupt­sa­che, weg! Falls die mich er­wi­schen, wä­re das mein Un­ter­gang, denn jetzt hal­ten sie mich für ei­ne Schul­di­ge, viel­leicht so­gar für Erics Mör­de­rin! Na­tür­lich, wen sonst, schließ­lich kom­me ich di­rekt aus dem Haus! Ich kann mir nicht vor­stel­len, was schlim­mer sein könn­te.
Ich zie­he die Ka­pu­ze über den Kopf und has­te wei­ter die Stra­ße hin­un­ter, ren­ne, ren­ne, bis die Luft in mei­nen Lun­gen brennt. Ich will weg hier, so schnell wie mög­lich! Ich muss die So­mas ab­hän­gen, die sich wo­mög­lich an mei­ne Fer­sen ge­hef­tet ha­ben. Von über­all her hal­len Si­re­nen. Was auch im­mer ge­sche­hen ist, es hat die Men­schen auf­ge­scheucht. Zahl­lo­se So­mas lau­fen auf den Stra­ßen her­um.
Ich bie­ge in ei­ne schma­le Sei­ten­gas­se ein. Dort blei­be ich einen Mo­ment ste­hen, stüt­ze die Hän­de auf die Knie und schnap­pe nach Luft. Da­bei ver­su­che ich, mir einen Plan zu ma­chen, wie ich am bes­ten aus die­sem So­ma-Ge­biet her­aus­kom­me, aus­ge­rech­net jetzt, wo die Höl­le los­ge­bro­chen zu sein scheint. Den Ge­heim­gang kann ich nicht mehr neh­men, denn von hier au­ßen gibt es kei­nen Zu­gang dort­hin. Ich muss mich al­so durch die Stra­ßen schla­gen, um schnell nach Hau­se zu mei­nen El­tern zu ge­lan­gen.
Him­mel, mei­ne El­tern! Was soll ich ih­nen sa­gen, was wer­den wir tun?
Ein Au­to der So­Ma-Si­cher­heit biegt mit Blau­licht in die Stra­ße ein. Ich flüch­te in die De­ckung ei­nes Haus­ein­gangs und war­te, bis der Wa­gen vor­bei­ge­fah­ren ist. Ei­ne Durch­sa­ge un­ter­bricht das Si­re­nen­ge­heul, aber ich ach­te nicht dar­auf, son­dern het­ze wei­ter und krie­ge nur Fet­zen mit: »… Ach­tung … An­schlag auf die Bür­ger­meis­ter­fa­mi­lie … Bür­ger­meis­ter und sei­ne Frau … Sohn … tot …« Ob­wohl das Blut ra­send schnell durch mei­nen Kör­per rauscht, sackt es in dem Au­gen­blick nach un­ten, als die Wor­te ih­re Be­deu­tung ent­fal­ten. Mir wird schwin­de­lig und ich muss mei­nen Lauf ver­lang­sa­men, um nicht zu stür­zen.
Die ha­ben Erics gan­ze Fa­mi­lie kalt­ge­macht! Aber wer? Und vor al­lem, war­um? Die Welt steht kopf, und nichts er­gibt mehr Sinn.
Doch ich muss nicht lan­ge auf die Ant­wort war­ten, denn sie dröhnt mir von al­len Sei­ten aus den Laut­spre­chern ent­ge­gen:
»Ach­tung, Ach­tung! Auf die Fa­mi­lie des Bür­ger­meis­ters wur­de ein töd­li­cher An­schlag ver­übt, zu dem sich die Dun­kel­blut-Or­ga­ni­sa­ti­on ›Der Un­ter­grund‹ be­kannt hat.«
Der Un­ter­grund? Mei­ne ei­ge­nen Leu­te ha­ben Eric auf dem Ge­wis­sen! Wut steigt in mir hoch. Ha­be ich auf dem Hin­weg den Mut der Be­we­gung be­wun­dert, so spü­re ich jetzt nur Hass und Ver­ach­tung. Denn mit die­sem Akt set­zen sie das Le­ben von uns al­len aufs Spiel.
Durch die Stra­ße geht es wie ein Lauf­feu­er: »Bür­ger­meis­ter Stein ist tot! Ein An­schlag! Dun­kel­b­lü­ter! Der Un­ter­grund!« Über­all schnap­pe ich die glei­chen Wort­fet­zen auf.
Denk nach, Viv, denk nach! Wäh­rend ich wei­ter­ren­ne ver­su­che ich zu er­ken­nen, wo ich ge­ra­de bin. Das Vil­len­vier­tel liegt be­reits hin­ter mir und die Stra­ßen­zü­ge neh­men ver­trau­te­re For­men an. Das Müll­con­tai­ner-Ver­steck! Ich bin ganz in der Nä­he. Ob­wohl sich mei­ne Mus­keln schon to­tal steif an­füh­len, zwin­ge ich mich, das Tem­po zu hal­ten und da­bei Feh­ler Num­mer sie­ben von mei­ner Hor­ror-No-Go-Lis­te zu ver­mei­den: Bloß nicht stol­pern! Denn je­der, der Hor­ror­fil­me kennt, weiß: Wer stol­pert und fällt, ist so gut wie tot.
Ich schla­ge ein paar Ha­ken durch die en­gen Sei­ten­gas­sen, die es hier ver­mehrt gibt, und wäh­rend ich vor­wärts het­ze, er­tö­nen neue Wor­te aus den Laut­spre­chern: »Ach­tung, Ach­tung: Die Re­gie­rungs­ver­tre­tung ruft den Not­stand aus! Da je­des Dun­kel­blut zum Un­ter­grund ge­hö­ren kann, sind al­le Dun­kel­b­lü­ter zur Ge­fahr für die hell­b­lü­ti­ge Ge­sell­schaft er­klärt wor­den. Sie wer­den auf­ge­for­dert, die Stadt so­fort, Wie­der­ho­lung: so­fort, zu ver­las­sen. Ge­gen Wei­ge­run­gen wird ge­walt­sam vor­ge­gan­gen! Die Re­gie­rungs­ver­tre­tung bit­tet ih­re recht­schaf­fe­n­en Bür­ger um Mit­hil­fe, Dun­kel­b­lü­ter zu ver­trei­ben, zu si­chern oder not­falls zu eli­mi­nie­ren! Ge­si­cher­te und sich frei­wil­lig zum So­Ma be­ken­nen­de Dun­kel­b­lü­ter sam­meln sich auf dem Markt­platz in der Stadt­mit­te. Hel­fen Sie bei der Si­che­rung und Säu­be­rung der Stadt! Die Re­gie­rungs­ver­tre­tung hält je­de Maß­nah­me für an­ge­mes­sen.«
Mein Herz macht einen so schreck­li­chen Sprung ge­gen die Rip­pen, dass ich glau­be, es bleibt gleich ste­hen. Eli­mi­nie­ren? Mein Ver­stand wehrt sich, die Bot­schaft hin­ter die­sen Wor­ten zu ver­ste­hen, aber nach und nach si­ckert sie eis­kalt in mein Ge­hirn. Ent­set­zen ver­steift mei­ne Glie­der und mir fällt es schwer, das Tem­po bei­zu­be­hal­ten. Sie wol­len uns tö­ten, schießt es mir durch den Kopf. Sie wer­den uns tö­ten.
Die Ent­schei­dung, auf So­Ma zu ver­zich­ten, hat uns schon längst zu an­de­ren Men­schen ge­macht. So emp­fin­de ich das je­den­falls, denn die hei­le Welt der So­mas mit ih­ren Su­per­märk­ten, Ki­nos, Na­gel­stu­di­os und Kli­ni­ken exis­tiert für uns nicht. Ei­gent­lich hat­te ich mich bis­her da­mit ganz gut ar­ran­giert. Mein Le­ben ist okay ge­we­sen. Bis jetzt. Jetzt ste­hen wir auf der Ab­schuss­lis­te.
Ich tref­fe auf ei­ne der Haupt­stra­ßen. Sie ist vol­ler Men­schen, die mit Stö­cken, Mes­sern und Spa­ten be­waff­net sind, eben mit al­lem, was man im Haus­halt so fin­det und das sich als Waf­fe eig­net.
---ENDE DER LESEPROBE---