Halloweenkind
Ein Flüstern im Dunkeln
Kathryna Kaa
Impressum © 2020 Kathryna Kaa
Kathryna Kaac/o Block ServicesStuttgarter Str. 10670736 Fellbachhttp://www.kathrynakaa.deAlle Rechte vorbehaltenDie in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.Lektorat und Korrektorat: Lilian R. FrankeCoverdesign von: chaela (http://www.chaela.de) unter Verwendung von Motiven von freepik.com: ©kjpargeter, ©renata.s
Inhalt
Titelseite
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Epilog
Prolog
Alles begann im vergangenen Herbst in der Nacht zu Halloween.
Mein Herz war tot. Es war 18 Jahre alt gewesen, als es vor einigen Stunden aus meinem Leib geschnitten wurde und nun irgendwo im Kühlraum der Pathologie darauf wartete, verbrannt zu werden.
Das war das Erste, woran ich dachte, während ich mühsam meine Augen öffnete. Ich drehte den Kopf zur Seite und sah eine Krankenschwester. Ihr wachsamer Blick ruhte auf den Geräten, die meinen Zustand überwachten. Mein Kopfkissen raschelte und unterbrach die Stille der Intensivstation, auf der bis auf das Piepen der Monitore und dem Gemurmel des Pflegepersonals nichts zu hören war. Die Schwester schenkte mir ein kurzes Lächeln, bevor sie verschwand, um den Arzt zu informieren.
Jetzt schlug also dieses neue Herz in mir. Um Mitternacht hatten es die Ärzte in meine Brust verpflanzt; um Mitternacht hatte es zum ersten Mal das Blut durch meine Adern gepumpt. Mein eigener Herzschlag war verloren, lag verschüttet unter den lauten, kräftigen Schlägen des Spenderorgans. Es fühlte sich so fremd und ungewohnt an, dass ich mir nicht vorstellen konnte, es zu behalten.
Mit Unbehagen erinnerte ich mich an das Schweigen meiner Großmutter am Telefon, als ich sie am Halloweenabend angerufen und ihr von dem Spenderherz erzählt hatte. Deutlich hallten ihre unausgesprochenen Worte in meinem Kopf wider: Lass sein, Kind, lass sein! Halloween ist nicht die Nacht, in der man Leben und Tod verbinden sollte.
Mein Name ist Paulie, Paulina Schwarz, und das ist meine Geschichte.
Kapitel 1
Genesis
Ich trat durch das Gartentor. Der Wind wehte an diesem Tag aus vollen Kräften. Dicke Wolken zogen über das frisch gedeckte Dach des Häuschens hinweg und die leuchtend grünen Fensterläden schlugen gegen die rotgestrichene Fassade. Das hölzerne Klopfen klang dumpf und bedrohlich und schien mich davor warnen zu wollen, die schwere Eichentür zu öffnen.
Der schmale Gartenweg schlängelte sich zwischen Apfelbäumen hindurch, deren Äste so dicht über dem Boden schaukelten, dass ich mit meiner Jacke daran hängen blieb. In diesem Moment verlor das Gebäude seine Vertrautheit, mit der es mich früher einmal empfangen hatte.
Trotzdem war das Haus für mich das schönste Geschenk, das Großmutter mir nach ihrem Tod vor einem halben Jahr hatte machen können. Hier wollte ich wiederfinden, wer ich einst gewesen war, als mein eigenes, nun totes Herz noch kräftig in mir geschlagen hatte. Ich war bereit, mich Stück für Stück in Großmamas Welt zu begeben und auf die magische Seite einzulassen.
Mein Herz pochte in einem seltsam unregelmäßigen Rhythmus. Es hüpfte hin und her und suchte verzweifelt einen Ausweg aus meiner Brust. Irgendetwas versetzte es in helle Aufregung.
Ich löste meine Jacke aus den Zweigen der Apfelbäume. Der Wind blies mir mit aller Kraft entgegen. Du könntest in ein paar Monaten wiederkommen, überlegte ich. Immerhin hatte ich jetzt jede Menge Zeit. Meine Eltern hatten mich durch ihr Vermögen und zahlreiche Versicherungen mit einem lebenslangen Rundum-Sorglos-Paket ausgestattet.
Nein. Ich zog den Jackenreißverschluss bis zum Kinn, kniff die Augen zusammen und zwang mich Schritt für Schritt vorwärts. Da trat ich auf etwas Weiches. Sofort setzte ich meinen Fuß zurück. Auf dem Boden lag ein toter Vogel.
»Eine Amsel«, flüsterte ich. »Eine verdammt tote Amsel.«
Vorsichtig stupste ich sie mit meinem Stiefel an. Sie war bereits steif und ihr Kopf war unnatürlich verdreht. Der Schnabel stand aufgerissen, als wäre sie in einem Moment der Angst gestorben.
Wo kam sie her? Ich blickte mich um. Da bemerkte ich ein paar Meter entfernt eine zweite verendete Amsel. Auf dem Rasen sah ich eine weitere. Verrückt. Je genauer ich hinsah, desto mehr tote Vögel entdeckte ich.
»Was zum Teufel …«, presste ich hervor. So etwas hatte ich bisher noch nie gesehen. Ich hatte zwar von plötzlichem Vogelsterben gehört, aber dieser Anblick wirkte auf mich extrem verstörend.
Das fremde Herz in mir hämmerte gegen meine Rippen und Abscheu stieg in mir hoch. Hatte ich sonst eher Mitleid empfunden, bahnte sich jetzt ein Gefühl von Abneigung seinen Weg. Mit jedem weiteren Herzschlag verwandelte es sich mehr in Wut, die rot und heiß meinen Kopf erreichte und dort im Blut pulsierte.
An der Haustür hielt ich mich an dem eisernen Türklopfer in Form eines Drachenkopfes fest und rang nach Luft. Ich tastete mein Gesicht ab und konnte es kaum glauben: Ich glühte trotz des kühlen Herbsttages und ein dünner Schweißfilm bedeckte meinen Nacken. Warum hatten mich die toten Vögel derart aus der Fassung gebracht? Solche Wut hatte ich noch nie empfunden. Sie kam nicht aus mir, sie fühlte sich fremd an, so fremd wie … Das Herz, Paulie. Dein Herz.
Beunruhigt kramte ich nach dem Hausschlüssel in meiner Jackentasche. Mich überkam das unheimliche Gefühl, dass Großmutters Haus Dinge freisetzen würde, die bis dahin tief in mir geschlummert hatten. Es steckte voller Magie aus alten Tagen. Alle Zauber, die Großmama je gewirkt hatte, waren hier gespeichert und durchdrangen das Häuschen. Sie strahlten aus jeder Ritze und fingen mich jetzt ein, bevor meine Füße überhaupt den Abtreter berührt hatten. Es war eben ein waschechtes »Hexenhaus«.
Ich reinigte die Türklinke mit einem Hygienetuch für unterwegs. Die Welt war voller Keime und ich wollte kein Risiko eingehen. Auch wenn das kritische erste Jahr nach der Transplantation fast vorüber war, die Gefahr einer Infektion war noch genauso vorhanden wie meine Ängste. Mir ging es hervorragend, das transplantierte Herz arbeitete einwandfrei. Trotzdem blieb da dieses eigenartige Gefühl, dass mein Leben nach wie vor bedroht war.
Der Schlüssel drehte sich im Türschloss und mit einem Schritt in den Flur fühlte ich mich daheim. Das Herz schlug wieder ruhig und regelmäßig. Ich schloss die Augen und durchstreifte in Gedanken die kleinen, gedrungenen Zimmer meines neuen Zuhauses, die vertrauter wirkten, als die elterliche Wohnung es je getan hatte.
Es war kein großes Gebäude. Es bestand aus zwei Etagen: Unten befanden sich die Küche und ein geräumiges Wohnzimmer mit Tür in den Garten hinaus. Oben lagen Schlafzimmer mit Balkon, Badezimmer, Arbeitszimmer und der Dachboden. Mehr als zwei Personen fanden hier nicht Platz. Aber für mich war es genau richtig.
Hinter mir krachte die Haustür ins Schloss. Die Fensterläden flogen zu und es war dunkel im Flur. Der Schreck fuhr mir in die Glieder und ich spürte erneut das fremde Herz gegen meinen Brustkorb trommeln. Hektisch tastete ich nach dem Schalter und knipste das Licht an.
»Oh Mann!«, entfuhr es mir. Geräuschvoll stieß ich die Luft aus. Da erfasste mich der altbekannte Duft aus Omas Heim. Er strömte geradewegs in mich hinein und erzeugte Bilder aus vergangenen Tagen. Vor meinem inneren Auge sah ich die Gärungsflaschen, in denen Großmutters Halloweenwein vor sich hin blubberte. Ich sah Büschel frisch gesammelter Kräuter auf dem Küchentisch. Ich sah Oma, in ihrem Schaukelstuhl sitzend, wie sie mich anlächelte, eine Tasse Abendtee in der Hand.
Ich lächelte zurück in meine Erinnerung und zog mir die Boots von den Füßen. Schuhe im Wohnbereich hatte Großmama nie erlaubt.
Obwohl der Schreck aus dem Flur schnell verflogen war, raste das Herz in meiner Brust noch immer. Ich tastete unter meinem Pulli nach der dreißig Zentimeter langen Narbe, die sich senkrecht über die Mitte meines Brustkorbes erstreckte, und lauschte in mich hinein.
Das kapierte ich nicht. Ich fühlte mich vollkommen normal. Ruhig. Trotzdem klopfte dieses Organ wie wild, als besäße es sein eigenes Tempo, sein eigenes … Nein, daran mochte ich gar nicht denken. Das ist üblich, versuchte ich mich zu beruhigen. Die Ärzte haben gesagt, dass solche Fremdheitsgefühle vorkommen können. Bald hast du einen Kontrolltermin, dann fragst du den Doc.
Mich beschlich ein seltsames Gefühl. Mein unregelmäßiger Herzschlag gab mir eine Vorstellung davon, was auf mich zukommen würde, wenn ich Omas Willen folgte und mich auf die Dinge einließ, die zwischen Himmel und Erde lagen. Und diese Vorstellung gefiel mir überhaupt nicht. Ich schüttelte mich, wollte diesen abscheulichen, bedrohlichen Eindruck loswerden. Also versuchte ich mich auf andere Sachen zu konzentrieren.
In Socken betrat ich das Wohnzimmer. Die Nachmittagssonne tauchte das Zimmer in einen warmen Schimmer. Er überzog Salvador Dalís Schwäne mit zartem Orange und färbte den Himmel des Elefantenbildes blutrot. Die Luft verströmte Gerüche von Rosenholz und Bergamotte aus längst erloschenen Duftlampen.
Ich mochte keine Veränderungen in Omas Hexenhaus. Nur einige Möbel hatten meine Eltern so umgestellt, wie ich es mir gewünscht hatte. Denn obwohl die Möbelstücke im Haus verschiedenen Ursprungs waren und sich jedes vom anderen unterschied, fügten sie sich auf seltsame Weise zu einer Einheit zusammen. Der niedrige Couchtisch mit seinen verschnörkelten Füßen passte zu dem alten, dunkelgrünen Sofa mit der übergeworfenen, bunten Patchworkdecke. Die Stehlampe aus Zeiten der Jahrhundertwende verwuchs geradezu mit dem dunklen Holz des Schaukelstuhls und dem runden Beistelltischchen neben der Treppe. Sie bildeten kleine Inseln, die zusammengefügt ein Ganzes ergaben; eine stimmige, gemütliche Umgebung, in die man sich verkriechen wollte, um nie wieder herauszukommen.
Ein leises, kaum hörbares Knarzen lenkte meine Aufmerksamkeit auf Großmamas geliebten Schaukelstuhl. Ich ging zum Treppenaufgang und stieg zwei Stufen hinauf, um dann stehen zu bleiben und ihn von der Seite anzustarren. Dabei hielt ich mich am Geländer fest, als hätte ich Angst, jemand könnte mich in einem unachtsamen Augenblick aus dem Gleichgewicht bringen. Doch der Stuhl weilte still in seiner Ecke, ohne sich zu regen.
Ich wandte mich der Treppe zu und setzte gerade an, hinaufzusteigen, da knarzte es erneut. Ruckartig drehte ich mich zum Schaukelstuhl um. Nichts. Trotzdem war ich mir sicher, aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Als hätte sich Großmutter von ihrem Platz erhoben, um mit mir hinaufzugehen.
Begleitet von diesem seltsamen Gefühl, nicht allein zu sein, stieg ich ins erste Stockwerk. Ein Luftzug streifte meinen Rücken und drückte mich die schmalen Stufen hinauf, die zum Dachboden führten. Ich ließ mich von der sanften Kraft vorwärts schieben und nach oben führen, direkt zur Tür der Dachbodenkammer.
Die Dachkammer war Großmamas Heiligtum gewesen. Hier pochte das magische Herz des Hexenhauses. Hier befanden sich all die alten, vollgestopften Bücherregale, die Spiegel, Räucherschalen, Sitzkissen und die Kristallkugel. Hier hatten wir unser jährliches Halloweenfest mit einem Willkommensgruß an die Geister begonnen und das erste Glas dunkelroten, herrlich süßen Halloweenwein getrunken. Dies war das »Meditationszimmer«, in dem Großmutter Rituale und Séancen abgehalten hatte, an denen mir die Teilnahme nicht jedes Mal erlaubt gewesen war.
In ehrfürchtiger Andacht drückte ich die Türklinke zur Dachkammer nach unten, als irgendetwas meine Brust traf. Der Schlag war so heftig, dass es mir den Atem aus den Lungen presste. Ich krümmte mich. Die Tür sprang auf, aber ich versuchte mich weiter an der Klinke festzuhalten, um nicht die Treppenstufen hinunterzustürzen. Dennoch entglitt mir der Türgriff. Erst im letzten Augenblick bekam ich das Geländer zu fassen und klammerte mich daran fest. Ich spürte die Schweißperlen an den Schläfen, während sich meine Hände in das Holz der Stäbe krallten. Letztlich schaffte ich es, auf die Knie zu kommen. Ich japste und brachte es nicht fertig, aufzustehen. Eine unsichtbare Klaue drückte mein Herz zusammen, als wollte sie es zerquetschen. Sie umklammerte meine Rippen; alles war eng, eng, eng, sodass ich kaum zu atmen vermochte. Ich rang nach Luft. Für einen Moment dachte ich, dass die Pumpe jede Sekunde zu schlagen aufhören würde. Panik kroch durch sämtliche Fasern meines Körpers.
Was war das? Was zur Hölle war los mit mir? War das eine weitere Abstoßungsreaktion? Bitte nicht. Davon hatte ich schon eine durchgemacht und mochte das nicht noch einmal erleben. Oder war es eine Reaktion auf eine der ungefähr zwanzig Pillensorten? Ich verspürte den Drang, mein Handy zu zücken und den Notruf zu wählen. Andererseits - organische Probleme fühlten sich anders an, das wusste ich.
Ein vertrautes Bauchkribbeln erinnerte mich an die Empfindungen, die weggesperrt darauf lauerten, ausbrechen zu können. Ich lauschte einen Moment in mich hinein. Sofort nutzte ein Gedanke die Gelegenheit und entwischte aus dem Kerker meines Unterbewusstseins, um sich in meinem Kopf festzusetzen: Etwas will dich vom Dachboden fernhalten.
Genauso hatte es sich angefühlt. Wie eine Kraft, die mich mit Gewalt zurückgeworfen hatte, um zu verhindern, dass ich diesen Raum betrat. Diese Vorstellung erschreckte mich, und eilig verbannte ich sie zurück in die Tiefen meines Bauches.
Endlich schaffte ich es, mich aufzurichten. Ich stand nach vorn gebeugt, die Hände auf die Knie gestützt, und konzentrierte mich auf meine Atmung. Ein. Aus. Ein. Aus. Ich zählte bis drei und richtete mich auf. Schwindel überkam mich. Das Herz hämmerte wie verrückt. Ich musste mich dringend ausruhen und zur Besinnung kommen. Nur ein Blick. Oma ist so nah.
Ich zwang mich, meinen Körper zu strecken, sodass ich über die oberste Treppenstufe hinweg in die Bodenkammer sehen konnte. Da entdeckte ich Omas Tarotkartenset. Es lag auf der Türschwelle, direkt vor meiner Nase. Sowie ich es erspähte, rutschte es eine Stufe nach unten. Merkwürdig. Mein Zustand erlaubte mir nicht, weiter darüber nachzudenken, also beugte ich mich mit letzter Kraft nach vorn und hob es auf.
Obwohl ich seit Großmutters Tod nichts mit diesen Dingen zu tun gehabt hatte, fühlten sich die abgenutzten Karten in meiner Hand an, als wären sie ein Teil von mir selbst. Sie vermittelten mir ein Gefühl von Sicherheit und Vertrautheit, und genau das brauchte ich jetzt. Aus einem Impuls heraus nahm ich das Kartenset an mich und steckte es in meinen Nietengürtel.
»Danke, Oma«, flüsterte ich kaum hörbar. Denn auch wenn es mir absurd erschien, kam mir dennoch der Gedanke, sie könnte das gewesen sein.
Ich war erledigt. Der Zwischenfall hatte mich geschafft, total durcheinandergebracht und verängstigt. An die Wand gelehnt und völlig verschwitzt hielt ich mich aufrecht. Da bemerkte ich den Lichtstrahl, der durch den Türspalt des Schlafzimmers fiel. Bis dorthin würde ich es schaffen.
Ich schleppte mich die Stufen hinunter bis zur Schlafzimmertür, stieß sie auf und stolperte in den fliederfarbenen Raum. Ich strauchelte zwischen den Kartons mit meinen Sachen, die sich vor dem alten Kleiderschrank und der dunklen Holztruhe stapelten, hindurch zu meinem Bett. Dort ließ ich mich fallen.
Man hatte mir zwar gesagt, dass Transplantierte manchmal unter Herzrhythmusstörungen litten, dass die jedoch derart stark auftreten konnten, davor hatte mich keiner gewarnt. Und das machte mir gerade richtig Angst. Meine Finger tasteten nach dem Handy und zogen es aus meiner Hosentasche. Die Nummer des Notarztes war schnell gefunden. Wenn es nicht gleich besser wird, dachte ich, dann rufst du an.
Aber der Druck hinter meinen Rippen ließ nach. Ich atmete durch. Eine Weile blieb ich liegen und starrte die Decke an, von der mein riesiger Traumfänger baumelte. Eigenartig. Er schwang eilig hin und her, doch das Fenster war geschlossen und die Balkontür ebenso. Ich konnte keinen Luftzug spüren.
Das Handy fest in der Hand verharrte ich regungslos und merkte, wie sich mein Herzschlag verlangsamte und das Zittern meiner Glieder nachließ. Meine Gedanken kreisten. Vielleicht war es keine gute Idee gewesen, hier einzuziehen. Jetzt war ich auf mich gestellt. Ab diesem Tag würde ich allein zu den Kontrolluntersuchungen ins Krankenhaus fahren müssen. Niemand erinnerte mich an meine Pillen. Und meine Einkäufe besorgte ich ebenfalls selbst. Diese Aussichten waren nach dem Erlebnis gerade eben auf der Dachbodentreppe nicht dazu geeignet, mich zu beruhigen.
Nein. Ich drehte mich auf die Seite. Du ziehst das durch. Oma hat es so gewollt.Und sie hat immer gewusst, was das Beste für dich ist. Ich tat das Richtige, da gab es keinen Zweifel.
Vor meiner Erkrankung hatte ich mein eigenes Leben geführt. Die Schule hatte ich gerade hinter mich gebracht und wollte studieren. Ich war es gewohnt gewesen, allein klarzukommen. Ich war frei gewesen. Doch innerhalb weniger Wochen hatte diese verteufelte Grippe mein komplettes Dasein lahmgelegt. Sie hatte aus mir eine Gefangene meines Körpers gemacht. Eine Gefangene im Haus meiner Eltern. Eine Gefangene in den Klauen der Ärzte.
Niemand vermochte sich vorzustellen, wie erbärmlich es sich anfühlte, von anderen abhängig zu sein. Mit dem kranken Herzen hatte ich Hilfe bei allem gebraucht, was ich tat. Hilfe beim Treppensteigen. Hilfe beim Essenkochen. Zuletzt sogar beim Baden und Anziehen, weil das Herz es einfach nicht mehr geschafft hatte, genug Sauerstoff zu liefern, um mich bei Kräften zu halten.
Das frische Organ in meiner Brust bedeutete für mich in erster Linie eines: Freiheit. Die Fesseln der Krankheit hatten sich gelöst und diese Stimmung wollte ich so lange wie möglich auskosten. Es hatte mir ein zweites Leben geschenkt, das hier im Hexenhaus beginnen sollte. Großmutters Häuschen befreite mich aus den Fängen der elterlichen Fürsorge. Dafür nahm ich die Schrecken in Kauf, die sich aus der neuen Herausforderung ergaben.
Ein Knacken riss mich aus meinen Gedanken. Ich hob den Kopf und blickte hinüber zur Balkontür. Der Wind hatte sie einen Spalt aufgedrückt. Ein Luftzug strich mir durch die Haare.
Sie ist da.
Deutlich spürte ich Omas starke Präsenz. Wie sehr ich sie vermisste. Mit ihr war es einfacher gewesen, auf mich selbst zu vertrauen. Ohne sie dagegen gewann mein gezüchteter, anerzogener und ordentlich trainierter Verstand immer wieder den ungleichen Kampf gegen die inneren Instinkte. Ich pendelte zwischen den Welten. Seit ihrem Tod fühlte ich mich verloren im Gewirr aus sicherer Vernunft und der Sehnsucht nach der Magie des Lebens, die irgendwann verschwunden war.
Aber hier war es, als wäre sie an meiner Seite. Ihr leichter Duft nach Lavendel steckte in sämtlichen Fasern der Handtücher, Decken und Teppiche. Er hing an den Wänden und Vorhängen. Sie lebte in all den Fläschchen und Dosen und Kräutern. Wie eine schützende Hand schwebte sie über mir, unter mir und um mich herum. Oma war nach wie vor da - irgendwie.
Bei diesem beruhigenden Gedanken übermannte mich der Schlaf.
Die Straßenlaternen leuchteten bereits in die einsetzende Dunkelheit hinein, als ich aufwachte. Meine Kräfte waren zurückgekehrt. Das Herz in meiner Brust hatte zu dem Rhythmus zurückgefunden, der zu mir gehörte. Erleichtert steckte ich mein Handy zurück in die Hosentasche, stand auf und schaltete rasch überall im Haus das Licht an. Ich fühlte mich besser, trotzdem blieb ein ungutes Gefühl hängen und ließ sich nicht abstreifen.
Doch was war das für ein Flüstern? Was war das nur für eine Stimme in meinem Schädel? Irgendetwas murmelte aus den hintersten Ritzen meines Hirns. Diese Stimme war nicht die meine, ich erkannte sie nicht. Ihr Klang war hart und unvertraut, und ihre Kälte jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Sie flüsterte unverständliches Zeug und wirkte bedrohlich und fremd. Dennoch kam sie mir auf eine eigenartige Weise bekannt vor. Als wäre ich auf etwas gestoßen, das ich längst vergessen hatte.
Ich klopfte mit den Handflächen gegen meine Ohren, um dieses nervige Gemurmel abzustellen. Es half nichts. Kam es wirklich aus meinem Kopf? Oder hatte es eher mit dem Herzen zu tun?
Oma hatte immer gemeint, jedes Wesen hätte seine Lebenszeit in dieser Welt. Es wäre nicht schlimm, sie zu verlassen, denn man betrat nur eine andere. Nach ihrer Auffassung waren sämtliche Körperteile mit der Energie der Seele durchdrungen. Bei einer Transplantation würde ein Stück des Verstorbenen in mich hinein wandern, sodass er in mir weiterlebte. Was, wenn das stimmte? Wenn ein Stückchen der Spenderseele mit dem Organ in mich hineingewandert war und jetzt aus mir sprach? Wenn meine Gedanken nicht meine eigenen waren, und nicht alles, was ich tat, wirklich von mir selbst ausging?
Oh Mann, Paulie. Wie viel von dir hat dieses Teil in deiner Brust sich bereits einverleibt?
Mein Schädel brummte vor sich überschlagenden, wirren Überlegungen. Mir schwindelte und ich setzte mich auf die oberste Treppenstufe. Nicht durchdrehen, Paulie, ermahnte ich mich. Du solltest den Notarzt rufen.
Eine Sekunde später entschied ich mich dagegen. Lieber nicht. Wenn ich denen erzählte, was ich glaubte, erlebt zu haben, würden die nicht meine körperliche, sondern meine geistige Gesundheit überprüfen.
Nein. Ich schüttelte den Kopf. Ich war noch nicht so weit. Meine Energie und meine Nerven reichten nicht aus, um mich auf Omas Welt einzulassen und meinem Bauchgefühl zu trauen, das ich für gewöhnlich mit Macht unterdrückte. Ich würde meine Probleme auf vernünftige, wissenschaftliche Weise klären. Also klammerte ich mich an meine rationale Seite. Ein Organ besitzt kein Bewusstsein und schon gar nicht so etwas wie eine Seele. Du bist nicht die Marionette irgendeines Toten.
»Sorry, Oma«, flüsterte ich und verschloss mit diesen Worten sämtliche beunruhigenden Empfindungen tief in meinem Bauch. »Alles in Ordnung«, rief ich lauthals in den Raum hinein und ignorierte die Stimme, die mal lauter, mal leiser in mir wisperte. Stattdessen stapfte ich mit übertriebener Entschlossenheit die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Ich würde mich nicht unterkriegen lassen, und das wollte ich mir beweisen.
Ich sank in den Fernsehsessel und schaltete das Heimkino ein. Das hatten meine Eltern springen lassen, um mir die schwierige erste Zeit zu versüßen. Es war ihre Art, Fürsorge zu zeigen, und die fand ich okay. Der Kontakt zu meinen Eltern beschränkte sich gemeinhin auf allmonatliche Pflichtanrufe und Besuche zu feierlichen Anlässen. Die Transplantation hatte nichts an unserem unterkühlten Verhältnis geändert; es lebte nach wie vor von Luftküssen, Augenzwinkern und steifen Umarmungen. Aber genau das gab mir etwas Vertrautes, und das war gut in dieser Wandlungsphase, wie Oma gesagt hätte.
Ich kuschelte mich auf die Couch in Großmutters selbst genähte Patchworkdecke. Die Decke duftete nach ihrem Lavendel und hüllte mich in den Alles-ist-gut-Mantel meiner Kindheitstage. Hier würde ich den Rest des Abends sitzen, Nudeln essen, Kakao schlürfen und mir einen Spielfilm nach dem anderen reinziehen. Die ganze blutige Ecke. Ich liebte Horror, Grusel und Splatter. Je mehr Tod in den Streifen vorkam, desto besser lenkten sie mich von der Nähe des eigenen ab. Und sie würden das fremde Flüstern in meinem Kopf problemlos übertönen.
Kapitel 2
Labyrinth der Sinne
Hhhh …!« Ich fuhr hoch und atmete schwer. Mein Brustkorb hob und senkte sich angestrengt, um genug Luft zu bekommen. Gerade noch hatte ich mich in diesem düsteren Wald befunden, aus dem ich keinen Ausweg fand, da stand plötzlich dieser glatzköpfige Hüne vor mir. Wie hypnotisiert hatte ich an seinen starren Augen geklebt, deren Schwärze das Augenweiß fast gänzlich verdrängte. Und während mein Geist diese in dunkle Kleidung gehüllte Gestalt zu fassen versucht hatte, durchfuhr mich ein heftiger Ruck. Unglaublicher Schmerz hatte meinen Körper ergriffen und mir den Atem genommen. Nur mit Mühe hatte ich meinen Blick von dem Ungeheuer vor mir lösen können, um an mir herabzuschauen. Und mit Entsetzen hatte ich seinen Arm zwischen meinen Rippen stecken sehen, den festen Griff gespürt, mit dem er mein Herz umklammert hielt. Bei diesem Anblick hatte ich aufgeschrien - und war keuchend in meinem Bett erwacht.
Ich tastete nach der Narbe unter meinem nass geschwitzten Shirt. Sie fühlte sich heiß an und brannte.
Ich brauchte einen Augenblick, bis mir einfiel, wo ich mich befand. Es war die erste Nacht im Hexenhäuschen gewesen. Kein Wunder, dass ich erwartet hatte, mich in meinem Bett auf dem elterlichen Anwesen wiederzufinden. Stattdessen lag ich auf der Couch, vor mir auf dem Fernsehbildschirm das Menü meiner Festplatte. Beim letzten Film musste ich eingeschlafen sein. Ich stöhnte und massierte mir den Nacken. Für ausgedehnte Schläfchen war das Sofa nicht geeignet.
Puh. Ich rieb mir die Augen. Eben hatte ich noch geglaubt, die Hand dieses glatzköpfigen Monsters würde direkt in mich hinein nach meinem Herzen grapschen. Was für ein fieser Traum. Horror. Albträume hatten bis dahin nicht zu meinem Leben gehört, und der Schreck steckte mir tief in den Knochen. Dieser Typ aus dem Traum. Er schien so beängstigend real. Ich erinnerte mich nicht an viel, aber die Bilder des kahlköpfigen Riesen mit seinem wuchtigen Körper reichten, um mir den Atem stocken zu lassen, wenn ich nur daran dachte. Diese schrecklich schwarzen Augen. Die dicken Zornesfurchen über den Brauen.
Ich warf einen Blick in meinen Halsausschnitt. Alles in Ordnung. Kein Blut zu sehen. Und die Narbe sah aus wie immer. Sie war nicht blass wie der Rest meiner Haut, sondern hob sich in einem dunklen Rosa ab. Doch sie zeigte nicht die Rötung, die ich aufgrund des Brennens erwartet hätte.
Der Tag hatte gerade erst begonnen, und die Sonne bahnte sich ihren Weg über den Himmel. Aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Die beste Ablenkung würde ich an meinem PC finden. Also stand ich auf und setzte mich nach einer ausgiebigen Dusche an meinen Computer. Den hatten meine Eltern bereits in meinem ehemaligen Zimmer aufgebaut, in dem ich in Kindertagen während der Ferien bei Oma gewohnt hatte. Jetzt diente es als Arbeitszimmer und grenzte direkt an den Schlafraum. Wenn mir langweilig war, verfasste ich am Rechner Rezensionen über Horrorfilme und Bücher für meinen Blog auf bloodyeyescream.com.
Keinen einzigen Gedanken wollte ich an diese schreckliche Fratze aus meinem Traum verschwenden. Ich weigerte mich, noch länger darüber nachzudenken. Es war ein Albtraum gewesen, nichts weiter als ein Hirngespinst, ein Produkt meiner Ängste, völlig normal in einer Situation wie meiner. Man bekam schließlich nicht jeden Tag ein fremdes Organ eingepflanzt.
Ich atmete durch und warf einen Blick aus dem Fenster, während der Rechner hochfuhr. Für die nächsten Wochen plante ich, Omas Hexenhäuschen mehr und mehr zu meinem eigenen zu machen. Großmamas Habseligkeiten würden sich mit meinen vermischen und mir das Gefühl geben, angekommen zu sein. Leise summte ich die Melodie von Lou Reeds Song »Walk on the wild side« vor mich hin. Ich steckte voller Tatendrang und wollte mich in mein neues Leben stürzen.
Aber dieses ständige Flüstern in mir nervte. Ich hatte es mit meinem Einzug in das Hexenhaus am Vortag bemerkt und es fiel mir zunehmend schwerer, es zu ignorieren. Das dämpfte meine Laune, selbst wenn ich alles daransetzte, sie mir dadurch nicht versauen zu lassen. Tinnitus nimmt man irgendwann auch nicht mehr wahr, sagte ich mir. Die gleiche Hoffnung hatte ich bei diesem endlosen Gemurmel, das ich sowieso nicht verstand.
So saß ich in der Morgendämmerung am PC und hackte wie besessen meine Meinung zu »30 Days of Night« in meinen Blog. Bei Ausflügen auf Friedhöfe sammelte ich Grabinschriften, und auf meinem letzten Streifzug hatte ich eine gefunden, mit der ich meinen Artikel abschließen wollte: »Die Nacht lässt alles anders werden«, tippte ich und grinste. Ziemlich passend für diesen Film.
Klack, klack. Ich drehte mich im Stuhl zum Fenster zu meiner Linken und bemerkte die Amsel auf dem Fenstersims, die mit ihrem Schnabel gegen die Scheibe klopfte.
In diesem Augenblick stieg das Flüstern in mir zu einem schrillen Kreischen an. Es ließ sich nicht mehr unterdrücken, geschweige denn ignorieren. Ich hielt mir den Kopf mit beiden Händen, aus Angst, er könnte platzen. Ein lauter, zorniger Schrei entwich meiner Kehle. Die Stimme in meinem Schädel floss in meine eigene und ich hörte mich lauthals brüllen: »Hau ab! Hau ab! Hau ab!«
Ich formte diese Worte mit meinen Lippen, ich spürte das Vibrieren der Stimmbänder. Doch dieser Ton gehörte nicht zu mir. Ich erkannte ihn nicht. In ihm schwang Wut und der dunkle Klang grollte und brummte bis in meinen Bauch.
Die Amsel blieb sitzen. Mein Wutausbruch hinter der Fensterscheibe schien sie nicht zu beeindrucken. Urplötzlicher, unkontrollierbarer Zorn stieg in mir auf und zerriss mir fast den Brustkorb. Hätte er mich in diesem Augenblick nicht derart vereinnahmt, ich hätte mich vor mir selbst gefürchtet.
Ich riss das Fenster auf. Ein stechender Schmerz durchfuhr meine Schulter; die Wucht meiner Bewegung hatte einen Muskel gezerrt. Endlich erschrak das Vogelvieh und flatterte davon. Mein Körper erschlaffte und ich sank auf den Boden. Ich fuhr mir durch meine schwarz gefärbten, strubbeligen Haare, die wild und ungezähmt um meinen Kopf zu stehen pflegten. Immer wieder strich ich hindurch, als müsste ich sie waschen. Meine Güte, Paulie.Bisher haben dich Vögel nie gestört. Erneut überkam mich das Gefühl, dass dieser Ausbruch nicht zu mir gehörte, dass etwas anderes in mir war. Etwas Starkes, Gefährliches. Böses.
Bei diesem Gedanken wanderten meine Finger ein weiteres Mal zu der Narbe auf meinem Brustbein. Ich tastete an ihr entlang, vorsichtig, aus Angst, sie könnte sich öffnen und Grausiges zum Vorschein bringen.
Diese Amseln. Ich sah sie neuerdings überall.
Ich erinnerte mich an den letzten Spaziergang im Wald ein paar Tage vor meinem Einzug. Ich hatte regelrechte Schwärme von Amseln entdeckt. Sie waren über mich dahingezogen oder hatten am Boden in der Erde gescharrt und mich argwöhnisch von der Seite beäugt. Nie zuvor in meinem Leben hatte ich solche Ansammlungen gesehen. Ihr Anblick hatte mich in unerklärliche Wut versetzt, und ich hatte Steine nach ihnen geworfen.
Wie hatte ich das vergessen können? Diese Viecher schienen an mir zu kleben. Wohin ich ging, sah ich sie sitzen. Sie starrten auf mich herab oder zu mir hinauf und sandten Rufe durch die Luft, als wollten sie mich warnen. Doch wenn ich versuchte, sie zu füttern oder auch nur in ihre Nähe kam, spürte ich im gleichen Augenblick freudige Erregung bei der Vorstellung an blutbefleckte Federn.
Das war nicht ich. Das war ich nicht! Ich schüttelte den Kopf, bis mir schwindelig wurde. Um mich zu beruhigen, holte ich mir die logischen Stimmen meiner Eltern ins Gedächtnis. Was für ein Unsinn, würde mein Vater sagen. Und wahrscheinlich hat er recht, dachte ich und stand auf.
Aber diese üblen Gedanken kreisten weiter in meinem Hirn. Was war nicht in Ordnung mit mir? War es etwas Organisches? Etwas Paranormales? Himmel, Paulie. Es gibt für alles eine Erklärung. Du musst sie bloß finden. Und niemand eignete sich besser dafür als Lotta.
Ich zückte mein Handy und suchte ihre Nummer. Lotta war mein Gegenpol, meine Erdung in der Welt der Normalos, und die brauchte ich jetzt. Doch Lotta arbeitete in Paris, weit weg von hier, sodass uns nur Mails und Telefonate blieben. Das machte mir zu schaffen.
Es tutete.
»Paulie.«
»Hey Lotta«, sagte ich, »wird Zeit, dass ich von mir hören lasse.«
»Paulie, es ist grad ungünstig. Muss gleich in ein Meeting.«
»Oh.«
»Was gibt es denn? Alles in Ordnung?«
Natürlich war nichts in Ordnung. Ich musste endlich jemanden in die Merkwürdigkeiten einweihen, die da vor sich gingen. Mein Fass quoll über und ich konnte das nicht länger für mich behalten. Abgesehen von den jüngsten Ereignissen wollte ich ihr von dem Brief erzählen, den ich an die Angehörigen des Spenders verfasst hatte, bloß um herauszufinden, dass er gar keine besessen hatte. Ihr sagen, wie mich dieser Umstand erleichtert hatte, weil ich mich der Beklemmung nicht entledigen konnte, die untrennbar mit dem Ding in meiner Brust zusammenhing. Deshalb fand ich es im Augenblick leichter, nicht zu wissen, was für ein Mensch mir sein Organ vermacht hatte.
»Paulie?« Lottas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Für einen kurzen Moment hatte ich tatsächlich geglaubt, ich würde ihr gerade diese Sachen anvertrauen, und Lotta säße neben mir und hörte mir geduldig zu. »Paulie! Bist du noch dran?«
»Ja.« Ich räusperte mich.
»Was wolltest du mir sagen?«
»Ja. Nein. Ich meine, alles in Ordnung.«
»Hey.« Lottas Tonfall bekam eine sanfte Färbung. »Da stimmt doch was nicht.« Natürlich roch sie den Braten. Immerhin war sie meine beste Freundin. In der Schule hatten wir nebeneinandergesessen, über die Lehrer gelästert und voneinander abgeschrieben. Sie war die Schicke von uns beiden, die brünette Dame mit den Riesengehängen im Ohr. Aber so unterschiedlich wir waren, etwas Besonderes band uns aneinander wie Schwestern. Selbst wenn wir nicht wussten, was genau es war.
»Paulie, hör zu. Ich muss jetzt los. Ruf mich heute Abend an, in Ordnung?«
»Mach ich.«
»Und bis dahin, Kleine«, sagte sie und ihr Ton klang wie der einer besorgten Mutter, »mach dir keine Sorgen. Das neue Herz hat dir ein zweites Leben beschert, aber eben auch beängstigende Dinge wie Medikamente und Krankenhausaufenthalte. Glaub mir, du wirst lernen, damit umzugehen.«
Ich brummte nur.
»Du schaffst das. Such dir etwas, das dich ablenkt. Begib dich endlich mal wieder unter Leute! Weißt du was?«
»Was?« Ich mochte Vorschläge nicht.
»Du gehst heute raus! Geh in ein Café und trink einen Cappuccino. Und den Mundschutz lässt du daheim.«
»Hm.« Dazu hatte ich absolut keine Lust. Außerdem ging ich nie ohne Mundschutz aus dem Haus. Selbst wenn ich ihn nicht mehr brauchte.
»Tu es einfach!«, bestimmte sie. »Du wirst sehen. Alles, was du brauchst, ist ein Stück Normalität. Dann verschwinden deine Ängste ganz von allein.«
Ich gab auf. »Okay.«
»Lass uns heute Abend telefonieren. Bis später, Kleine.«
Ich hasste es, wenn sie mich so nannte. Zugegeben, besonders groß war ich nicht. Trotzdem war ich 19 Jahre alt und nicht so zart und zerbrechlich, wie ich vielleicht wirkte. Meine soliden Knochen machten mich keineswegs zu einem Leichtgewicht, und die Muskeln auf meinen dünnen Armen ließen mich drahtig erscheinen. Dennoch verlieh mir dieser Ausdruck jetzt ein Gefühl von Geborgenheit, so albern sich das auch anhörte.
Lottas Worte klangen richtig. Ich wollte auf sie hören. Also behielt ich ihre Stimme so gut es ging in meinem Kopf. Sie sollte mir helfen, das Unbehagen in meiner Bauchgegend zu übertönen. Ich hielt mich daran fest, straffte mich und nahm mir vor, einen Ausflug unter Leute zu wagen. Mit meinem Motorroller. Und zwar ohne Mundschutz. Yeah.
Mein rot-weißer Roller im Retrolook stand vor der Haustür, wo ihn meine Eltern ein paar Tage zuvor abgestellt hatten. Elf Monate hatte ich seit der Transplantation überstanden und das Herz arbeitete einwandfrei. Jetzt traute ich mich an den Gedanken heran, wieder damit durch die Gegend zu knattern.
Es war ein milder Oktobertag und nicht weit von hier gab es ein Café mit einer gemütlichen Terrasse. Am Vormittag hielten sich im Café »Stadtblick« nur wenige Menschen auf und ich fühlte mich einigermaßen sicher, dass mir nicht tausende gefährlicher Keime um die Ohren flogen.
Auf dem Freisitz schlürfte ich meinen Kaffee und blätterte in einem Magazin, als vor mir am Straßenrand ein Auto stoppte. Es war ein kleines, klappriges Modell, dunkelblau und absolut unauffällig. Wäre da nicht dieser ausfüllende Aufkleber auf der Heckscheibe gewesen, der meine Aufmerksamkeit erregte. Ich hatte dieses Bild vor Jahren schon einmal in einem von Omas Büchern gesehen. Ein Kreis von Symbolen umgab einen Ziegenbock im umgekehrten Pentagramm. Das Zeichen des Baphomet, fiel es mir wieder ein. Ich kannte mich nicht genau aus, aber ich wusste, es gehörte zur schwarzen Magie.
Es war nichts Außergewöhnliches, dass die Menschen ihre Ansichten auf Autos spazierenfuhren. Trotzdem starrte ich auf diese Heckscheibe, bis meine Augen brannten. Das Flüstern in meinem Kopf bahnte sich den Weg aus der Verdrängung zurück in mein Bewusstsein.
Ein Junge lief an der Hand seiner Mutter an mir vorbei und versperrte mir den Blick auf das Bild. Plötzlich quoll heißer Zorn durch meine Adern, mein Gesicht glühte und Übelkeit breitete sich in mir aus. Ich ertrug diesen Anblick einfach nicht, dieses Händchenhalten, diese Mutterliebe. Ich hätte mich übergeben können.
Unbemerkt schob ich meine Tasche ein wenig unter dem Tisch hervor. Das Kind stolperte, fiel zu Boden und hielt sich heulend das aufgeschlagene Knie. Ich stierte in meinen Kaffee, aber aus dem Augenwinkel beobachtete ich die Situation und, ja, verdammt, ich erfreute mich an ihr.
Eine Amsel ließ sich zu meinen Füßen nieder, glotzte mich an und tschilpte. Noch so ein verfluchtes Vieh. Ich rührte mich nicht, bis der Vogel ganz nah an meinen Schuh hüpfte. Dann trat ich zu. Mist. Abgesehen von ein paar Federn war sie diesmal davongekommen.
Meine Augen suchten das Auto mit dem Baphomet auf der Heckscheibe, wollten sich daran festsaugen, sattsehen, auftanken. Doch es war verschwunden. Mit dieser Erkenntnis klärte sich mein Kopf wie nach einer Kopfschmerztablette: Der Himmel riss auf und die Sonne ließ wieder klare Gedanken zu. Mir dämmerte, was gerade mit mir geschehen war und meine Vergnügtheit verschwand.
Ich blickte mich um und wunderte mich, dass ich keine Aufmerksamkeit erregt hatte. Dabei hätte ich hunderte strafender Blicke verdient. Ich musste weg. Teufel auch, ich musste nach Hause und mich einschließen, bevor Schlimmeres passierte. Ich bezahlte, stieg auf meinen Motorroller und brauste los.
Der Fahrtwind tat mir gut. Er wehte für eine kurze Weile die Gedanken fort, die sich in mir festsetzen wollten. Was ließ mich solche Dinge fühlen? Was ließ mich solche Dinge tun?
In aller Eile stellte ich den Roller ab und flüchtete in die schützende Obhut meines Hexenhäuschens. Dort verbrachte ich den restlichen Tag damit, über die Geschehnisse nachzugrübeln. Ziellos lief ich im Haus umher. Schließlich ging ich hinauf und durch das Schlafzimmer auf den Balkon. Da blieb ich und atmete die Stille des Nachmittages.
Vom Balkon aus sah ich direkt auf den Friedhof auf der gegenüberliegenden Seite der kleinen Straße. Diese lag ruhig wie eh und je vor dem dichten Grün des Stadtwaldes, der sich hinter der letzten Häuserreihe erstreckte. Bis dorthin brauchte ich keine fünf Minuten zu Fuß. Man fiel geradezu hinein in das Meer aus Bärlauch im Frühling, das dicke, üppige Blattwerk im Sommer und die Berge an buntem Laub im Herbst.
Hier zu wohnen gab mir das Gefühl, weit weg von der Stadt zu sein. Weg vom rasenden Puls des Zentrums mit seinem Grundrauschen aus Autos, Menschen und Tatütata. Weg von wechselnden Gerüchen nach Bratwurst, Parfüm und Tabak. Hier duftete es nach regennassem Gras und frischgebrühtem Kaffee. Hier hörte ich das Knacken morscher Äste. Und ab und zu eine Fahrradklingel.
Ich zog mein Handy aus der Tasche, schickte eine Nachricht an Lotta und schaltete es aus. Ich war durcheinander, erschöpft und gleichzeitig aufgeregt. Und obwohl ich nichts dringender wollte, als Lotta anzurufen, fühlte ich mich nicht dazu in der Lage. Das würde bis morgen früh warten müssen.
Die Dämmerung setzte ein. Mit einem letzten, tiefen Atemzug löste ich mich von der Balkonbrüstung und schleppte mich nach unten ins Wohnzimmer. Ich wünschte mir einfach nur, mich auf dem Sofa von ein paar Filmchen berieseln zu lassen.
Doch bereits während des ersten Streifens fielen mir die Augen zu und ich machte mich auf ins Bett.
Ich glitt in das Dunkel eines leeren Flurs, an dessen Ende ein kleiner, magerer Junge stand. In der linken Hand hielt er ein Kaninchen an den Ohren, dessen Bauch aufklaffte. Die Innereien fehlten. Mit der rechten Hand umklammerte er ein Taschenmesser, von dessen Klinge Blut tropfte. Schließlich fand ich mich in einem Pulk lachender Kinder, die mich umringten und bedrängten.
Mein Bewusstsein tauchte kurzzeitig an die Oberfläche und nahm das gedämpfte Licht der Straßenlaterne wahr, das durch die Vorhänge drang. Dann übermannte mich der Schlaf erneut.
Die Initialen »C.S.« flackerten vor mir auf, und unaufhörlich jagte ich durch Traumsequenzen wie die eines schlechten Horrorfilms, bis ich mich ein weiteres Mal in diesem Wald wiederfand. Die toten Bäume um mich herum ragten endlos in den Himmel. Ich drehte mich um meine Achse, lief in verschiedene Richtungen, doch es schien mir unmöglich, den Ort zu verlassen. Angst raubte mir jede Luft zum Atmen. Nur mein Keuchen durchbrach die unheimliche Stille, die mich umgab. Ein Beben erfasste die Umgebung, sodass sie erzitterte wie ein verwackeltes Fernsehbild. Mein Atem stockte: der Glatzkopf. Mit einem Grollen schoss seine dunkle Gestalt vor meinen Füßen in die Höhe, bis sie mich um drei Köpfe überragte. Ich kannte ihn. Selbst im Traum war mir bewusst, dass wir uns schon einmal begegnet waren. Wieder streckte er seinen Arm nach mir aus. Doch was hielt er mir da vor das Gesicht, so nahe, dass es mich fast berührte? Es sah aus wie … wie eine Hand! Mit der abgehackten Hand eines Menschen, deren Mittelfinger wie eine Kerze brannte, blendete er meine Augen und brüllte: »Du bist mein! Du bist mein!«
Mein eigener Schrei riss mich aus dem Schlaf. Ich fand mich aufrecht im Bett sitzend, das Shirt nass geschwitzt. Das Herz hämmerte gegen meine Brust. Tageslicht schimmerte durch die Ritzen der Fenstervorhänge, und ich dankte den Göttern für das Ende dieser Nacht mit ihren schrecklichen Visionen.
An diesem Morgen duschte ich ausgiebig. Ich schrubbte meinen Körper, scheuerte und putzte mich in der Hoffnung, damit die Erinnerungen an die vergangene Nacht zusammen mit dem Wasser den Abfluss hinunterzuspülen. Aber es half nichts. Sie klebten an mir, und es beschlich mich das unheimliche Gefühl, dass ich diesen furchteinflößenden Kahlkopf nicht zum letzten Mal gesehen hatte.
Die Träume verfolgten mich den ganzen Morgen. An sämtlichen Wänden sah ich Blutspritzer. Gewohnte Geräusche schreckten mich auf. Ich vermied jeglichen Blick in den Spiegel, aus Angst, dort diesen Glatzkopf zu entdecken, der mir seit zwei Nächten den Schlaf raubte. Sogar im wachen Zustand spürte ich seine alles überlagernde Wut. Dieses zornige Rauschen, das unterschwellige Grollen, das jeden Augenblick mit Donnergetöse auszubrechen drohte.
Endlich kam die Zeit für mein Gespräch mit Lotta. Wir hatten uns zum Frühstück am Telefon verabredet. Ich trank einen Schluck frischgebrühten Kaffee, schwarz mit extra viel Zucker. Etwas anderes brauchte ich nicht, nach der Aufregung bekam ich sowieso keinen Bissen runter.
Das Handy klingelte eine Ewigkeit, bis Lotta schließlich abnahm.
»Na, du«, murmelte sie ins Mikrofon. Ich sah ihren Mund vor meinem inneren Auge, der genüsslich ein Croissant kaute.
»Hey«, sagte ich. Mehr brachte ich nicht hervor.
»Meine Güte, Paulie.« Ich hörte ein Schlürfen, und ihre Worte klangen deutlicher. »Ist wieder was passiert? Alles in Ordnung bei dir? Ich meine … du weißt schon, mit dem Herzen?«
»Ja, ja.« Darum ging es nicht. Oder doch? »Ich meine, nein.«
Lottas Tonfall bekam eine aufgeregte Färbung. »Wieso? Was hat der Arzt gesagt?«
»Nicht so was«, wiegelte ich ab. Und dann platzte es aus mir heraus: »Oma war dagegen, dass ich das Spenderherz in der Halloweennacht bekommen habe! Jeder weiß, dass in dieser Nacht die Grenze zwischen unserer und der Welt der Toten durchlässig ist. Es bedeutet Unheil, wenn man zu dieser Zeit mit einer Transplantation den Tod mit dem Leben verbindet.«
Ich hörte Lotta aufatmen. »Also alles in Ordnung.«
»Wie kannst du das sagen?« Meine Stimme schraubte sich eine Oktave höher. »Du hast ja keine Ahnung, was hier abgeht! Es passieren merkwürdige Dinge.«
Halloween war für Großmama immer eine besondere Nacht gewesen. Sobald ich daran dachte, dass ich genau in dieser Nacht mein Herz mit dem eines Sterbenden getauscht hatte, überkam mich ein ungutes Gefühl. Großmama hatte zeitlebens meine Intuition gefördert, oder, wie sie es genannt hatte, meine »Gabe, die Welt auf feinstoffliche Weise wahrzunehmen«. Allerdings im Geheimen, denn meine Mutter hatte ihr verboten, mich mit diesem »esoterischen Blödsinn« zu behelligen.
»Paulie, Kleine. Ich weiß, du und deine Großmutter waren eng miteinander. Aber ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt mal auf deine Eltern hörst. Das hilft dir bestimmt mehr, mit der Situation klarzukommen.«
»Vielleicht hast du recht.« In meiner jetzigen Lage konnte mir die rationale Erziehung meiner Eltern wirklich helfen. Für sie war das neue Organ ein frischer Motor; ein austauschbares Gerät, das man einfach an die Kabel anschloss, an denen vorher das kaputte gehangen hatte. Der Gedanke entspannte mich, doch das mulmige Kribbeln in meinem Bauch wollte nicht verschwinden. »Lotta?«
»Hm?« Sie kaute wieder.
»Ich muss dir was erzählen.« Ich berichtete ihr von den Amseln, die mich zu verfolgen schienen, und von meinem unerwarteten Impuls, sie töten zu wollen. Ich schilderte ihr die Ereignisse im Café. Ich beschrieb die schrecklichen Albträume, die mich durch die Nächte jagten.
»Paulie …« Ich hörte die Sorge in ihrer Stimme.
»Lotta!« Es musste aus mir heraus, und mit einem Mal formten sich all die aufgestauten Gedanken zu einem Fluss, der nicht versiegen wollte. »Weißt du noch, die Abstoßungsreaktion ganz am Anfang?«
»Klar.«
»Ich hab gelesen, dass bei einer Organabstoßung nicht nur die Zellen selbst abgestoßen werden, sondern auch die Energien, die darin gespeichert sind. Was, wenn das Herz negative Schwingungen in sich trägt, gegen die ich mich gewehrt habe?« Ein neuer Gedanke kochte in mir empor und ergoss sich wie heiße Lava über meine Haut. »Verdammt, Lotta, was ist, wenn der Spender nicht ganz dicht war? Und wenn sich die Spenderseele nun nicht vom Organ trennen kann? Dann steckt ein Stück von dem Wahnsinnigen in mir drin!«
Kaum hatte ich diese Idee ausgesprochen, krampfte sich mein Bauch regelrecht zusammen, als wollte er mir sagen, dass ich einen Volltreffer gelandet hatte. Panik breitete sich in mir aus.
»Das ist doch albern.« Ich spürte förmlich Lottas beruhigende Finger, die an meinen Haarspitzen zupften, während ihr Blick verträumt ins Leere lief. »Es gibt keine übertragbaren Energien, kein Karma oder wie immer man das nennen mag.«
»Aber was ist, wenn der Empfänger wirklich Teile von der Persönlichkeit des Spenders übernimmt und sich dadurch zwangsläufig verändert?« Vor Aufregung blieb mir die Luft weg. »Lotta, das im Café, das war ich nicht. So kenne ich mich nicht und du hättest mich auch nicht wiedererkannt.« Meine Stimme vibrierte und mich beschlich ein beklemmendes Gefühl, als Lotta nicht gleich antwortete. »Lotta?«
»Paulie, hör zu. Dein Herz ist ein Organ. Es ist ein Muskel, dem es egal ist, durch welchen Organismus er das Blut pumpt. Sag dir das immer wieder. Das wird dir helfen, bestimmt.«
»Hm.« Ich holte hörbar Luft. Einen Versuch war es wert. In diesem Moment dankte ich meinen Eltern für ihre beharrlich naturwissenschaftliche Erziehung. Sie presste, drückte und quetschte meine Eindrücke in eine logische, wissenschaftlich erklärbare Form. Das half mir jetzt, mich nicht vollends in den Ängsten zu verlieren, die mein neues Herz mit sich brachte.
»Und lenk dich ab, so gut es geht. Ich komm dich bald besuchen. Versprochen.«
»Okay.« Ich fühlte mich besser. Die innere Aufregung ebbte ab, meine Muskeln entkrampften sich und das Zittern in meiner Stimme verschwand.
Wir telefonierten noch bis zur Mittagszeit. Lotta schwärmte von den Schuhläden in Paris. An dieser Stelle sollte ich wohl erwähnen, dass meine beste Freundin an einer ausgereiften Sammelleidenschaft für Schuhe litt.
»Bin ich froh, dass ich mich für die Wohnung mit dem begehbaren Kleiderschrank entschieden habe«, seufzte sie selig in den Hörer, »da ist genug Platz.«
Ich hörte ein Pusten durch das Telefon. »Rauchst du?«
»Hm …«
»Ich dachte, du wolltest aufhören.«
»Wollte ich?« Ein Kichern folgte.
»Zumindest hast du das mehrfach angekündigt.« Die Spitze konnte ich mir nicht verkneifen.
»Kann sein.« Lottas Stimme klang nicht sonderlich reumütig.
Ich erhielt noch ein paar Einblicke in Lottas Pariser Leben, bis sie mit der eigentlichen Neuigkeit herausrückte. Sie hatte ein Date. Das war im Grunde keine besondere Sache, Lotta hatte andauernd Dates. Und sie griff bei der Wahl ihrer Männer gern daneben.
»Was ist es denn diesmal für einer?«, wollte ich wissen.
»Oh, Paulie.« Vor Begeisterung sang Lotta beinahe ins Mikro. »Stell dir vor, er studiert Medizin. Wird bald Chirurg. Er hat Niveau. Und er sieht umwerfend aus, sag ich dir. Dieses Mal hab ich wirklich ein gutes Gefühl.«
Ich rollte mit den Augen.
»Paulie!«, hörte ich Lottas vorwurfsvolle Stimme. »Ich kann förmlich hören, wie du mit den Augen rollst.«
»Sorry«, sagte ich. »Aber schraub deine Erwartungen ein Stück runter, okay?«
»Ja, ja.«
Ich verkniff mir weitere Kommentare. In Liebesdingen war Lotta einfach nicht zu helfen. Da musste sie allein durch. Und was sollte ich schon dazu sagen? Ich war schließlich selbst nicht besser dran.
Wir ließen das Thema sein und unterhielten uns noch eine Weile über Belanglosigkeiten wie Filme, Bücher, Klamotten. Lotta fragte, ob ich nach wie vor meine geliebten Boots und den Nietengürtel trug, der um meine Hüften hing wie ein Revolvergurt ohne Halfter. Das tat ich, denn diese Sachen gaben mir eine Vertrautheit, die ich mit dem fremden Herzen hinter meinen Rippen jetzt dringend brauchte.
Als ich das warme Handy schließlich ablegte, fühlte ich mich wie ein stinknormaler Mensch. Es hatte gutgetan, für eine kurze Zeit die Probleme zu vergessen, die mich von allen Seiten bedrückten und bedrängten. Lotta betrachtete die Dinge auf ihre eigene, lebensfrohe und manchmal fast oberflächliche Art. Damit hatte sie mich schon ein ums andere Mal gerettet, wenn ich mich in meinen Gedanken verrannte. Sie half mir zurück auf die Sonnenseite des Lebens. Dazu, mich normal zu fühlen und nicht durchzudrehen. Dafür gab ich ihr bisweilen Gelegenheit zu Grübeleien, denn darin war ich unschlagbar.
Ich vergaß vorübergehend die Schrecken der vergangenen Nacht. Die Ereignisse der letzten Tage lagen in diesem Moment so weit entfernt, als wären sie nie geschehen. Aufgeladen mit positiver Energie setzte ich mich an den PC, surfte im Internet und schrieb ein paar neue Filmrezensionen für meinen Blog.
Die Sonne war bereits verschwunden und die Straßenlaternen beleuchteten die dunkle Straße. Ich schaltete den Computer aus, drehte mich auf dem Stuhl einmal im Kreis und streckte meine Arme, soweit ich konnte. Ich fühlte mich gut. Das Gespräch mit Lotta hatte mich geradegerückt und ich erlebte mich wie einen gewöhnlichen Menschen nach den Sommerferien.
Ich ging ins Schlafzimmer und betrat den Balkon. Die Nacht roch frisch, jung und unverbraucht. Grillen zirpten im Schutz der Dunkelheit. Die Laternen warfen ein schwaches Licht in den Garten, der sich wie ein schützender Mantel um das Häuschen legte. Er umrahmte es mit seiner dichten, fast mannshohen Hecke, die nur von dem Kirschbaum überragt wurde, dessen Zweige sich beinahe bis zur Balkonbrüstung streckten.
Ich versuchte, in das nächtliche Schwarz hinter der Friedhofsmauer zu blicken, dem ich mich auf seltsame Weise verbunden fühlte. Der Friedhof war der älteste in der Stadt, eine historische Begräbnisstätte unter Denkmalschutz. Einmal war ich kurz dort gewesen. Er war wunderschön, besaß großzügig angelegte Rasenflächen und umfangreiche Baumbestände.
Sehnsucht keimte in mir auf, Sehnsucht nach den Geheimnissen zwischen Himmel und Erde, die irgendwo auf dem Weg zum Erwachsensein abhandengekommen waren. Ich sehnte mich zurück nach dem Zauber aus der Zeit mit meiner Großmutter, der alle noch so kleinen Dinge mit einer geheimnisvollen Bedeutung versehen hatte. In meiner Erinnerung glich er einem magischen Fenster, durch das man die Welt anders wahrnahm: rätselhafter, märchenhafter, lebendiger. Ich suchte den Glauben, der mir die Sicherheit gab, auf meine eigene, innere Kraft zu vertrauen. Denn die würde ich bald brauchen, das spürte ich deutlich mit jeder Faser meines Körpers, die nicht aus dem fremden Herzen stammte.
Der Friedhof sprach zu mir, er erwiderte meine wortlose Begrüßung und lud mich zu sich ein. Ich beschloss, sein Angebot anzunehmen und am nächsten Tag auf einem Streifzug meine Sammlung an Grabinschriften zu vergrößern.
Kapitel 3
Schattenspiele
Die Nacht war traumlos verlaufen. Zumindest erinnerte ich mich an nichts, und das war ein gutes Zeichen, wie ich fand. Träume, die sich nicht in mein Bewusstsein einbrannten, waren belanglos und spielten keine Rolle. Mein Shirt war zwar an manchen Stellen nass geschwitzt, aber das kümmerte mich nicht. Von den zahllosen Medikamenten, die ich nahm, hatten eben einige ihre Nebenwirkungen.
Ich sah aus dem Fenster und schob mir den Rest des Marmeladenbrötchens in den Mund. Die Gläser mit Omas Brombeermarmelade hatte ich in einem der Küchenregale gefunden. Ein wahrer Schatz, etwas Köstlicheres konnte man zum Frühstück einfach nicht essen. Dazu schlürfte ich eine Tasse mit heißem, schwarzem Kaffee. Schon lange hatte ich mich nicht mehr so ausgeschlafen und erholt gefühlt wie heute. Das war der beste Start in den Morgen seit einer Ewigkeit.
Dicke, graue Wolken hingen tief am Himmel und nur vereinzelt verirrte sich ein Sonnenstrahl hinab zum Boden. Aber es regnete nicht, und damit war es der perfekte Tag für einen Streifzug. In diesen frühen Sonntagmorgenstunden lagen die meisten Menschen noch in den Betten. Die Sonne hatte sich gerade erst über den Horizont geschoben und die Morgendämmerung vertrieben. Um diese Tageszeit würde ich auf dem Friedhof mit den Toten allein sein. Genau diese Einsamkeit galt es zu nutzen, also verlor ich keine Zeit.
Hygienetücher und Mundschutz steckten griffbereit in der Tasche meiner abgewetzten, aber schön warmen Lederjacke. Ich griff mir Handy, Bleistift und Notizblock und zog die Boots an. Meine Laune war bestens.
Die Tür fiel hinter mir ins Schloss, und ich verstaute den Schlüssel in meiner Jackentasche. Meine Hände packte ich gleich dazu. Die Kälte des Morgens biss mir in die Fingerspitzen, und ich hatte nicht die geringste Ahnung, in welchen Umzugskarton ich meine Handschuhe gepackt hatte. Obwohl die Tage den Herbst festhielten, spürte man nachts bereits den kommenden Winter. Die kühle Morgenluft formte kleine, weiße Wölkchen aus meinem Atem.
Im Gehen pfiff ich »Pet Sematary« von den Ramones, das sich passend zum Vorhaben in meinem Kopf festgesetzt hatte. Ich schlenderte den Fußweg entlang am Nachbarhaus vorbei und bog dann links um die Ecke. Von dort ging ich weiter geradeaus, bis ich zu der breiten, kaum befahrenen Straße kam. Auf der anderen Straßenseite verlief die Friedhofsmauer. Das Eingangstor lag schräg gegenüber. Bis zur regulären Öffnungszeit war es noch ein bisschen hin, aber ich hoffte, das Tor trotzdem offen zu finden.
Ich hatte Glück: Der eiserne, mannshohe Torbogen hing lose im Schloss. Seinem Zustand nach zu urteilen, hatte sich seit einer Ewigkeit niemand weiter darum gekümmert. Das war auch nicht zwingend notwendig, schließlich handelte es sich in gewisser Weise um ein morbides Freiluftmuseum. Hier wurden schon lange keine Leichen mehr verscharrt. Ich grinste. Jedenfalls nicht offiziell.
Eine dicke Rostschicht überzog das Eingangstor. Sie schälte sich grob und rau vom Eisen, sodass man sich leicht daran verletzen konnte. An ein paar Gummihandschuhe hatte ich natürlich nicht gedacht. Ich gab mir alle Mühe, die Pforte mit so wenig Fingern wie möglich aufzustemmen.
Das Tor quietschte entsetzlich, als ich es aufschob, und noch entsetzlicher, als ich es hinter mir wieder zudrückte. Mit einem kratzenden, metallischen Geräusch prallte das Schloss auf sein Gegenstück.
Dieser Krach musste sämtliche Vögel aufgeschreckt haben, die sich rundherum in den Grünanlagen verborgen hatten. Beinahe gleichzeitig erhoben sich Scharen von Krähen beidseitig des Hauptweges in die Luft und verdunkelten den Himmel über mir. Mit lautem Krächzen zogen sie irritiert ihre Kreise. Es dauerte eine Weile, bis sie sich mit aufgeregtem Geschrei zu einem Schwarm sortierten und wegflogen, als flüchteten sie vor einem grausigen, unsichtbaren Schatten.
Längst hatte ich mein Pfeifen unterbrochen. Da war es erneut, jenes Flüstern, das sich wie ein unheilbringendes Gewitter den Weg zur Oberfläche meiner Wahrnehmung bahnte. Heiße, unkontrollierbare Wut ergoss sich in mein Blut. Trotz des brodelnden Zorns in mir suchte ich in eisiger Ruhe nach passenden Steinen am Wegesrand, um damit auch den letzten verdammten Viechern am Himmel den Garaus zu machen. Doch noch bevor ich den ersten Stein werfen konnte, waren alle Vögel verschwunden. Das Grollen in mir ließ augenblicklich nach, und ich schaffte es, die plötzlich einsetzende Stille des Ortes aufzunehmen. Meine Wangen kühlten sich ab, meine Muskeln entspannten sich und ich fühlte mich wieder wie ich selbst.
Diese Ausbrüche verunsicherten mich. Was zur Hölle war es, das mich derart aus der Fassung brachte? Klar, ich hatte während der letzten Monate einiges mitgemacht. Aber machte mich das gleich zur Psychopathin? Vielleicht solltest du dich zu einem Therapeuten auf die Couch legen.
Doch jetzt war ich hier, und von diesem Erlebnis würde ich mir nicht den Tag versauen lassen. Ich versuchte, meine gute Laune wiederherzustellen, nach Pfeifen war mir jedoch nicht mehr zumute. Stumm folgte ich dem Hauptweg zum hinteren Teil des Friedhofs, den ich mir heute genauer ansehen wollte.
Dies war erst mein zweiter Ausflug auf diesem Gelände. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass der Friedhof mich erkannte und mich mit seiner eigenen Mischung aus Stille und Blätterrauschen begrüßte. Zahlreiche Bäume säumten die Gehwege und verliehen sowohl ihnen als auch den Rasenflächen einen waldähnlichen Charakter.
---ENDE DER LESEPROBE---