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Traum oder Wirklichkeit? Vor dieser Wahl steht die Mittdreißigerin Liane Ginsterbusch, die von einer mysteriösen, unbekannten Schlafkrankheit befallen worden ist. Während der immer länger dauernden Schlafphasen träumt sie sich in die fremde Welt von Ashta-Kah, in der sie all das findet, was sie im echten Leben vermisst: Leidenschaft, Abenteuer, Begehren, Bedeutung. Aus den Träumen behält sie einen seltsamen Glanz auf der Haut zurück, und bald wird klar, dass mehr als reine Fantasie hinter ihrer Traumwelt zu stecken scheint. Doch die Krankheit schreitet voran und Liane bleibt nur wenig Zeit, das Rätsel darum zu lösen und sich für eines der beiden Leben zu entscheiden. High Fantasy trifft Real Life – eine Geschichte für alle mit großen und kleinen Träumen.
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DER SELTSAME GLANZ DER TRÄUME
Kathryna Kaa
Impressum © 2021 Kathryna Kaa
Kathryna Kaac/o Block ServicesStuttgarter Str. 10670736 Fellbachhttp://www.kathrynakaa.deAlle Rechte vorbehaltenDie in diesem Buch dargestellten Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.Lektorat und Korrektorat: Weltenlektorat / Aimée Ziegler-Kraska (https://www.weltenlektorat.de/)Coverdesign von: chaela (http://www.chaela.de)
Für meinen Vater.Danke für die Fußstapfen, in die ich treten kann.
INHALT
Titelseite
Impressum
Widmung
Seifenblasen
Ashta-Kah
Verschlafen und verloren
Freunde und Feinde
Sorgen und Sehnsüchte
Der rote Nebel
Die schlafenden Zwölf
Schreckliche Ereignisse
Zwei aus Zwölf
Der lange Weg
Möglichkeiten
Abgründe
Neues altes Leben
Epilog
Über den Autor
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SEIFENBLASEN
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Schlafe, schlaf
»Liane! Um Himmels willen!«
Aus weiter Entfernung drang ihr Name zu ihr. Nein, nicht.
»Liane!«
Die Stimme nahm an Lautstärke zu. Dumpfe Schritte näherten sich. Lass mich schlafen. Lass mich träumen.
»Liane!« Der Ruf dröhnte geradezu in ihrem Kopf.
Ich will nicht aufwachen.
Sie wollte in ihrem Traum bleiben. Darin wusste sie zwar nicht, wer sie war und woher sie kam. Doch das alles hatte keine Bedeutung, denn die bernsteingelben Augen dieses fremdartigen Mannes hielten sie gefangen. Er schenkte ihr ein Lächeln, ein verstecktes, beinahe unentdecktes Spiel seiner Lippen, und in diesem Moment verbanden sich ihre Herzen über ihre Blicke. Sein Name war Achak, und er nannte sie Lani.
»Liane!« Jemand schüttelte sie an den Schultern, und das Bewusstsein zog sie gnadenlos zurück ins Hier und Jetzt. Erschrocken schlug sie die Augen auf. Um sie herum herrschte tiefste Nacht. Am Himmel leuchteten die Sterne. Grashalme kitzelten ihre nackten Arme.
Vor dem Sternenhimmel tauchte ein Gesicht auf. Tib. Weshalb keuchte er? Und warum rief er so aufgeregt immer wieder ihren Namen?
Liane blinzelte und schob ihren Mann sanft zur Seite, um sich aufzusetzen. Wieso um alles in der Welt lag sie im Dunkeln im Garten?
»Was mache ich hier?«, fragte sie, nach dem Schlaf noch leicht benommen, und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Sie hoffte, das würde ihr Klarheit schenken, die sie jetzt dringend brauchte.
»Das«, schnaufte Tib in ungebremster Aufregung, »würde ich auch gern wissen!« Sein vorwurfsvoller Unterton entging Liane nicht. Er griff nach ihrem Arm und zog sie hoch. »Nachdem die Kinder im Bett waren, wolltest du auf der Terrasse etwas lesen. Und dann warst du plötzlich nicht mehr zu sehen.«
Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Das war vor zwei Stunden! Ich habe gedacht, du bist nach oben gegangen. Aber als ich vorhin ins Schlafzimmer gekommen bin, warst du nicht dort. Ich habe dich im ganzen Haus gesucht und war schon kurz davor, die Polizei zu rufen! Dabei liegst du hier im Gras und schläfst!«
Tib atmete hörbar seine Anspannung aus und seine Schultern sackten leicht nach vorn. »Meine Güte«, murmelte er schließlich und drückte sie fest an sich. »Bin ich froh, dass du nur geschlafen hast. Einen Moment lang dachte ich, du seist tot, so wie du dagelegen hast.«
»Tot?« Gedankenverloren und zaghaft erwiderte Liane seine Umarmung und schmiegte ihr Gesicht in die Mulde zwischen seinem Hals und seiner Schulter. Zu angestrengt war sie damit beschäftigt, ihre Erinnerung an die letzten Stunden heraufzubeschwören und das schwarze Loch zu füllen, das in ihrem Gedächtnis klaffte. »Warum hast du geglaubt, ich sei tot?«, fragte sie, ohne den Kopf zu heben.
Tib schob sie an den Schultern von sich und sah sie verständnislos an. »Hast du denn überhaupt nichts mitbekommen?«
Liane antwortete nur mit einem Kopfschütteln.
»Ich habe deinen Namen gerufen! Immer und immer wieder. Laut. Ich habe dich fast angebrüllt, nachdem ich dich gefunden habe. Aber du bist nicht wach geworden. Ein Wunder, dass die Kinder davon nicht aufgewacht sind.«
»Ach, komm«, beschwichtigte Liane und knuffte ihn liebevoll in den muskulösen Oberarm. »Du hast mich doch jetzt aufgeweckt. So schlimm kann es gar nicht gewesen sein.«
In Gedanken wünschte sie sich, sie hätte eine bessere Erklärung für diese Situation gehabt. Entschuldigend hob sie die Schultern. »Ich habe keine Ahnung, was geschehen ist. Das habe ich noch nie erlebt.« Wie konnte sie nur mitten im Gras eingeschlafen sein?
»Na, Hauptsache, du bist in Ordnung«, seufzte Tib, drückte sie ein weiteres Mal und gab ihr einen flüchtigen Kuss. »Komm, lass uns reingehen. Meine Güte, du siehst total blass aus.« Er umfasste ihre Taille und dirigierte sie zur Terrassentür. Womöglich fürchtete er, sie könne unterwegs wieder abhandenkommen.
Widerstandslos ließ sich Liane von Tib zum Haus führen. Seine Worte drangen durch einen verschwommenen Schleier zu ihr. Sie war durcheinander und benommen, wusste weder, wie sie in den Garten gekommen, noch – und das beunruhigte sie viel mehr – warum sie dort eingeschlafen war. Da war nur dieser Mann aus ihrem Traum, der gemeinsam mit ihr in Gestalt von Lani unter einem weißen Sonnensegel inmitten einer roten Steppenlandschaft gesessen hatte.
Achak. Unwillkürlich musste sie lächeln. Obwohl sie sich nicht erinnerte, im Traum mit ihm gesprochen zu haben, meinte sie zu wissen, dass sein Name »Geist« bedeutete. Und wie ein Geist spukte er ihr seitdem im Kopf umher, um sie fortan nicht mehr loszulassen. Sie dachte an seine bernsteingelben Augen, deren Pupillen sich in der Sonne zu schmalen Schlitzen verengt hatten. Im Schatten dagegen hatten sie silbrig geleuchtet. Wie bei einer Katze.
Es war aufregend gewesen, jemand anderes zu sein. Mit ihrem Traum-Ich hatte sie das Gefühl von grenzenloser Wildheit, Leidenschaft und Begierde erlebt, das sie bisher nur aus Kinofilmen kannte. In solchen Stimmungen verlor sie sich allzu gern, um dem Alltag zu entgehen, wenn dessen Grautöne sie erdrückten. Wenn sie manchmal einen Tag zu viel Mutter und Hausfrau sein oder im Büro endlose Listen durchgehen oder Briefe sortieren musste. Wenn unendlich lange Stunden der Fremdbestimmung den letzten Rest guter Laune gefressen hatten. Dann flüchtete sie in ihre eigene Welt und tauchte in ein Buch oder einen dieser Filme ab, in denen Träume wahr wurden, die der Realität niemals standhalten könnten. Diese Geschichten brauchten keinen Tiefgang, sondern nur das gewisse Etwas, das Liane gab, wonach sie sich sehnte: das Prickeln des ersten Verliebtseins, Abenteuer, Leidenschaft, Unnahbarkeit, Verbotenes.
Gedankenversunken stolperte sie über einen kleinen Erdhügel und geriet ins Wanken.
»Vorsicht!«, rief Tib und riss sie mit einem kräftigen Ruck nach oben. »Diese verdammten Viecher!«, fluchte er halbherzig. Eigentlich mochte er Maulwürfe und brachte es nicht über das Herz, sie aus dem Garten zu vertreiben.
»Tut mir leid«, hauchte Liane. »Ich glaube, mein Kreislauf schwächelt noch ein bisschen.«
»Schon gut«, brummte Tib beschwichtigend. »Ist ja nichts passiert. Besser, du legst dich gleich wieder hin.«
Nichts lieber als das, dachte Liane.
Nach wie vor umhüllte sie angenehme Schlaftrunkenheit, und sie hoffte, in ihrem Bett sofort an diesen Traum anknüpfen zu können. Warum sie sich nicht an die Umstände ihres komatösen Schlafes erinnern konnte, war nebensächlich, solange sie das Bild von Achak ebenso fest im Kopf behielt wie das aufregende Gefühl, dass bald etwas Bedeutendes geschehen würde.
Von Tib geführt betrat Liane die Terrasse ihres Hauses, und ihre eigenen lauten Gedanken ebbten ab. Nach und nach sickerten seine Worte zu ihr hindurch.
»Findest du nicht auch?«
»Hm?« Der Gedankenschleier zerriss vollends. Fragend sah sie Tib an. »Was finde ich auch?«
Er löste seinen Arm von ihr und ließ enttäuscht die Schultern hängen. »Du hast überhaupt nicht zugehört, oder?« Damit wandte er sich ab, um im Wohnzimmer fernzusehen.
»Tib«, flüsterte Liane und berührte zaghaft seinen Oberarm. »Tut mir leid, ich war in Gedanken. Erzähl es mir noch einmal ganz von vorn. Bitte!«
Sie griff nach seiner Hand und folgte ihm ins Wohnzimmer. Nebeneinander setzten sie sich auf die Couch, und Tib berichtete ihr von der Störung im Fernsehbild, die aufgetreten war, kurz bevor er Lianes Verschwinden bemerkt hatte.
»… und dann bin ich auf die Terrasse gegangen und – das glaubst du nicht – da war ein enormer Sternschnuppenhagel am Himmel! Das hättest du sehen müssen, aber du hast ja auf der Wiese gelegen und geschlafen.«
Geträumt, dachte Liane. Ich habe geträumt. Diesmal bemerkte sie ihr Abschweifen vom Thema, den Rückzug ihrer Aufmerksamkeit. Sie richtete sich auf und konzentrierte sich wieder auf ihren Mann. Seine Augen leuchteten, während er den Sternschnuppenhagel in sämtlichen Einzelheiten beschrieb.
Tib liebte alles, was mit dem Weltall zu tun hatte. Ihn faszinierte der Gedanke an außerirdische Lebensformen, das SETI-Projekt und die Aufregung um das erste Foto eines schwarzen Lochs. Er war bekennender Star Trek-Fan, mit der Enterprise groß geworden und unglaublich stolz darauf, dass seine Eltern – Trekkies der ersten Stunde – ihm Captain Kirks zweiten Vornamen gegeben hatten: Tiberius.
»Liane, so etwas habe ich noch nie gesehen«, schwärmte er jetzt und seine Stimme überschlug sich fast. »Ich weiß gar nicht, ob es das überhaupt schon einmal gegeben hat.«
»Wow.« Liane unterdrückte ein Gähnen. »Das hat sicher unglaublich beeindruckend ausgesehen.«
»Na ja.« Tibs Blick verlor etwas an Begeisterung, »Ich hätte eher nach draußen sehen sollen. Habe nur das Ende mitbekommen. Aber ein paar Bilder werden vermutlich noch mal in den Nachrichten gezeigt, meinst du nicht auch?«
Mit einem schwachen Lächeln strich Liane ihm über das markante Kinn. So müde. »Bestimmt. Und immerhin hast du ein bisschen davon gesehen«, sagte sie. »Im Gegensatz zu mir.« Diese Müdigkeit. Es war so schwer, die Augen offen zu halten.
»Dabei warst du im Garten und hättest eigentlich die beste Aussicht gehabt.« Tib lachte.
»Ja.« Liane wollte ebenfalls lachen, aber die Mattigkeit schrumpfte ihren Versuch zu einem müden Lächeln. Selbst ihre Gesichtsmuskeln waren mittlerweile zu schwach. Sie wollte einfach nur schlafen.
»Ich muss ins Bett, Liebling.« Sie seufzte und erhob sich schwerfällig.
»Okay.« Tib griff nach der Fernbedienung. »Ich komme später nach.«
»Gute Nacht.« Sie gab ihm einen sanften Kuss auf die Lippen, während sein Blick bereits auf den Bildschirm gerichtet war. Dann schleppte sie sich die Treppen hinauf ins Schlafzimmer und kroch unter die Bettdecke.
Schlafen. Einfach schlafen und träumen. Ihr Herz füllte sich mit der Hoffnung, wieder in dieses Steppenland zu gleiten. Zurück zu dem Ort mit der riesigen, gleißenden Sonne, unter das im Wind flatternde Sonnensegel. Zurück zu Achak. Nichts sonst hatte in diesem Moment Platz in ihr, nicht Tib, nicht die Kinder, nicht ihr gutes Leben. Nur er.
Achak, bitte, sei da. Und kaum hatten ihre Gedanken diesen Wunsch geformt, war Liane eingeschlafen.
Halte fest, halte fest den Traum
Ein sanftes Kitzeln auf der Haut ihres nackten Oberarmes holte sie aus den Tiefen eines traumlosen Schlafes.
Wach, dachte Liane und empfand im selben Augenblick einen Anflug kühler Ernüchterung. Kein Traum.
Sie hatte nicht geträumt, zumindest erinnerte sie sich nicht. Keine Erinnerung bedeutet keine Träume. Leichte Enttäuschung legte sich auf ihre ohnehin schon pelzige Morgenzunge, die nach einem Schluck Wasser lechzte.
Achak hatte sich in ihrem Gedächtnis und ihrem Herzen festgesetzt. Immer wieder erschien sein katzenhaftes, schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen und den mandelförmigen Augen in ihren Gedanken. Sie dachte an seinen hochgewachsenen, schlanken Körper mit dem reizvollen Muskelspiel, das Stärke und Ausdauer verhieß.
Dieser Schimmer, fiel es Liane ein. Einzelne Sonnenstrahlen hatten im gestrigen Traum den Weg am Sonnensegel vorbei gefunden und seine Haut mit einem atemberaubenden, sich in glitzernden Wogen bewegenden Goldton überzogen. Und diese Haare. Sein mit braunen Strähnen durchzogenes, sandfarbenes Kopfhaar hatte von jeglicher Schwerkraft unberührt in der Luft geschwebt.
»Guten Morgen, Schatz!« Tib unterbrach ihre Tagträumereien, indem er aufhörte, ihren Arm zu streicheln, sondern stattdessen ihre roten Locken beiseiteschob und ihren Nacken küsste. »Du hast aber tief geschlafen.«
Liane lächelte bei dem angenehm kitzelnden Gefühl auf ihrer Haut. Ich habe doch einen Mann, der mich begehrt. Einen ziemlich gut aussehenden dazu. Warum denke ich immer noch an diesen – Katzenmenschen? Vielleicht, weil sie bei den Gedanken an ihn Anflüge von Freiheit, Wildheit und Abenteuer spürte, die sie in ihrem Alltag gerade vermisste?
Wenn Tib von Achak erführe, wenn er wüsste, dass eine Traumgestalt diese geheime Leidenschaft, dieses Prickeln in ihr ausgelöst hatte, wie würde er sie dann ansehen? Mit welchen Augen würde er sie betrachten? Würde er lachen, sie belächeln oder ihr das kleine Traumabenteuer sogar gönnen? Oder wäre Sorge in seinem Blick, dass Liane etwas vermissen könnte? Würde er vielleicht ein unheilvolles Vorzeichen darin sehen und ihr Verhalten nun kritischer bewerten, immer darauf gefasst, eine Schwingung oder Regung einzufangen, die auf Gefahr für ihre Beziehung hinwies? Oder würde er gar eifersüchtig reagieren und ihr Untreue vorwerfen, sich gekränkt fühlen, weil ihr unlenkbares Unterbewusstsein fremdging?
Und, grübelte Liane weiter, was wäre, wenn er wüsste, dass sie dem seltsamen Mann aus ihrem Traum noch immer nachhing, selbst eine erinnerungslose Nacht später? Hätte er ihr auf andere Weise einen guten Morgen gewünscht?
Sie wusste zwar, dass man Träume nicht steuern konnte und ihr jede Frauenzeitschrift das »Problem« ausgeredet hätte. Trotzdem mischte sich ein schaler Beigeschmack von Schuld in ihre Erinnerungen an diese aufregenden Träume.
Liane streckte ihre Glieder, atmete tief ein und vertrieb die Zweifel. Tib war kein eifersüchtiger Mensch. Vermutlich würde er lachen und sie damit aufziehen. Er war wundervoll. Sie hatte wirklich Glück gehabt, einen Mann wie ihn geheiratet zu haben. Sie setzte sich auf und gab ihm einen langen Kuss.
Ohne es zu wollen, schlich sich Achak in ihre Gedanken. Sein Bild schob sich vor Tibs Gesicht und sie küsste nicht ihren Mann, sie küsste ihn. Erschrocken löste sie die Lippen von den seinen und schwang ihre Beine aus dem Bett.
»Hey!«, protestierte Tib mit Verwunderung in der Stimme.
»Tut mir leid«, antwortete Liane, und das war tatsächlich ehrlich gemeint, auch wenn sie nicht den unterbrochenen Kuss meinte. Schlechtes Gewissen nagte an ihr. »Ich hatte bloß gerade … so eine neue Idee für ein Bild.«
Sie fächerte ihr Haar auf und warf sich den Bademantel über. Sie sollte sich beruhigen. Es war doch nur ein Traum, ein alberner Traum. Und sie wusste ja ebenso wenig, wovon Tib manchmal träumte. »Ich überlege, heute Vormittag im Atelier zu arbeiten«, sagte sie. »Wäre das okay?«
Tib schwang sich ebenfalls aus dem Bett und pfiff durch die Zähne. »So, so, eine Idee«, antwortete er in leicht belustigtem Tonfall, trat von hinten an Liane heran und schlang seine Arme um ihre Taille. »Was denn für eine? Bestimmt für ein bahnbrechendes Kunstwerk.«
»Sag so was nicht«, knurrte sie, aber nur halb im Ernst. »Du machst dich lustig über mich.« Liane mochte es nicht, wenn er es klingen ließ, als wäre sie eine begnadete Künstlerin kurz vor dem Durchbruch, obwohl sie es doch beide besser wussten. Trotz der Hoffnung, die immer in ihr keimte, würde sie mit ihren Zeichnungen kaum so erfolgreich werden, um etwas zum Lebensunterhalt beisteuern zu können.
»Mach ich nicht«, entgegnete Tib mit fester Stimme und drückte sie an sich.
»Es ist bloß eine Idee«, fügte sie dann hinzu und entzog sich sanft, jedoch bestimmt seiner Umarmung. »Aber sie ist wichtig. Nur so ein, zwei Stunden.«
Sie mochte ihm nicht von dem Traum erzählen. Es war ihr Traum, und sie wollte nichts davon vergessen, auch wenn es sich ein kleines bisschen wie Betrug anfühlte.
Sie beabsichtigte, Achak auf der Leinwand festzuhalten: sein ebenmäßiges Gesicht, den goldenen Schimmer seiner Haut, die merkwürdig schwebenden Haare sowie die heiße, flirrende Luft und das flatternde Sonnensegel über ihnen.
Tib seufzte. »Zwei Stunden? Am Samstag? Ich hatte gehofft, wir machen einen Ausflug.«
»Schwimmbad, Schwimmbad!« Die Stimmen der Kinder drangen von draußen ins elterliche Schlafzimmer.
Liane stöhnte innerlich auf und ließ sich rücklings auf das Bett sinken. Annie und Alfred hörten alles, was sie hören wollten. Nur einen Augenblick später kamen sie durch die offene Zimmertür gerannt und hopsten auf der Matratze, sodass Lianes Körper regelrecht durchgeschüttelt wurde.
Auf Wiedersehen, Atelier! Willkommen, Familie!
»Na schön«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer. In diesem Jahr war es bereits im frühen Sommer so heiß, dass man es im Wasser am besten aushalten konnte. »Dann eben Schwimmbad.« Und insgeheim beschwor sie Achaks Bild herauf, um es auf keinen Fall zu vergessen.
»Aber zuerst«, drang Tibs Stimme ernst und dunkel aus dem Hintergrund, »zuerst gibt es Frühstück! Ich habe nämlich einen Riesenhunger, und wenn ihr nicht ganz schnell angezogen seid, dann fress ich euch!«
Liane hielt sich grinsend die Ohren zu, während ihr Mann mit theatralischem Geschrei die vor Freude quietschenden Kinder die Treppe hinunterjagte.
Weit, weit weg
Klopf, klopf. Liane folgte der Bewegung ihres Löffels, der auf die Eierschale schlug. Sie beobachtete die feinen Risse, die sich nach jedem neuen Schlag in der Schale bildeten. Das Lachen von Annie und Alfred, Tibs Worte und das Klappern des Geschirrs entrückten zu einem gedämpften Rauschen im Hintergrund.
Erneut war sie eingetaucht in ihre kleine Seifenblase aus bunten Gedanken, hinter der die Gesichter der Familie zu unklaren Schemen verschwammen und ihre Gespräche sie nicht erreichten. Nichts störte hier den dumpfen Klang des Löffels, der auf die Schale traf. Nichts unterbrach ihre Grübeleien über dieses seltsame Traumland, das sie beinahe vermisste, obwohl sie nur einmal dort gewesen war.
Konnte man Träume wiederholen? Vermutlich nicht. Wieder in Gestalt von Lani Achak zu begegnen, war ziemlich aussichtslos. Liane unterdrückte einen Seufzer. Sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen, die dafür gesorgt hätte, dass die zarte Blase um sie herum zerplatzte und sie sich der realen Welt erneut stellen musste.
Sie wünschte sich in den Zustand zurück, den sie in dieser Traumwelt bei Achak erlebt hatte. Sie sehnte sich nach dem Kribbeln, mit dem ihre Blicke einander begegnet waren und in denen alles lag, was nicht gesagt werden brauchte: Begehren, Verlangen, Seelenverwandtschaft. Ich weiß, dass du es weißt. Ich fühle, dass du es auch fühlst. Sie versuchte, diese Empfindungen noch einmal heraufzubeschwören.
Kinderlachen. Tibs Stimme. Sie konzentrierte sich auf die rissige Eihülle und für einen kurzen Augenblick gelang es ihr tatsächlich, unter dem Sonnensegel zu sitzen und in Achaks Augen zu sehen. Für einen Moment spürte sie erneut das Band, das sich unsichtbar um sie beide geschlungen hatte. Da war es wieder, dieses Kribbeln.
Es klirrte, und Liane fühlte die Leere zwischen ihren Fingern, dort wo gerade noch der Eierlöffel gewesen war.
»Liane?« Mit besorgtem Blick beugte sich Tib von der gegenüberliegenden Tischseite zu ihr und betrachtete eingehend ihr Gesicht. »Bist du etwa …« Er schaute ihr erst prüfend, dann ungläubig in die Augen. »Bist du eingeschlafen?«
Unangenehme Stille erstickte das fröhliche Frühstücksgeplauder. Annie und Alfred sahen verständnislos zwischen den Eltern hin und her.
»Bitte, was?« Liane blinzelte, entsetzt von dem Gedanken, dass Tibs Vermutung stimmen könnte. »Natürlich nicht!«
Das war ihr noch nie passiert, und so war es bestimmt auch nicht gewesen. Möglicherweise hatte sie sich aber zu stark in ihren Tagträumen verloren.
»Mir ist nur aus Versehen der Löffel aus der Hand gerutscht«, schob sie hinterher. Das war eine logische Erklärung, die selbst sie zufriedenstellte.
Meine Güte. War es möglich, mit offenen Augen zu schlafen?
Tib runzelte die Stirn. »Ist wirklich alles in Ordnung, Schatz?«
»Ich denke schon«, antwortete sie mit einem unsicheren Lächeln. »Ich fühl mich nur irgendwie … müde.«
»Trink noch einen Kaffee.« Er nahm die Kanne und goss ihr nach. Lianes Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen. Sie mochte seine lebensnahe, pragmatische Art, mit der er durchs Leben ging und sie wieder in die Wirklichkeit zurückholte.
Tib war ein äußerst attraktiver Mann. Dank seines regelmäßigen Trainings hatte er auch mit 42 Jahren noch einen sportlichen Körper, dessen Konturen sich unter seinem Shirt abzeichneten. Die wenigen grauen Härchen an den Schläfen seines ansonsten ausnahmslos dunkelbraunen Haars verliehen ihm das gewisse Etwas.
Ganz anders als Achaks schlanke Gestalt, kam es Liane in den Sinn.
Da war wieder dieses schlechte Gewissen, weil sie seit der letzten Nacht ständig an diesen Traum dachte. Sie trank einen ausgiebigen Schluck Kaffee aus der großen Tasse und verbarg dadurch geschickt ihre nachdenklichen Stirnfalten.
Natürlich, sagte sie sich, natürlich war es deshalb. Sie sollte endlich damit aufhören. Es machte sie wahnsinnig.
»Worüber grübelst du denn so angestrengt nach?«, fragte Tib, nachdem er die bereits fertigen Kinder zum Zähneputzen geschickt hatte. »Geht es um dein Bild?«
»Wie bitte?« Liane war überrascht von diesem plötzlichen Themenwechsel, der ihre Gedankengänge durcheinanderbrachte.
»Das Bild. Das du im Atelier malen wolltest.«
»Ach, das.« Liane winkte ab. Sag nichts. »Nein. Ich meine, schon, aber es hat Zeit.«
Es entsprang Tibs Zuneigung zu ihr, sich mit ihren Zeichnungen und Malereien auseinanderzusetzen, obwohl das seinen Interessen überhaupt nicht entsprach. Deshalb reichte eine kurze Antwort, um seine Neugier zu befriedigen.
Ich werde es schon nicht vergessen, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Hm.« Er schob sich den Rest seines Marmeladenbrötchens in den Mund. »Machst du es eben morgen oder am Montag, wenn du daheim bist.«
Das stimmte. Als Leiter der Softwareentwicklung verdiente Tib genug, dass es ihr möglich war, lediglich an vier Vormittagen in der Woche zu arbeiten. Es war ein langweiliger Job in einem langweiligen Büro einer langweiligen Versicherung. Aber er schützte sie vor Bewertungen ihrer Umwelt, vor bösen Zungen und nicht zuletzt der Einteilung in die Kategorie »Nur-Hausfrau-und-Mutter«. Er verhalf ihr zu einem zeitweiligen Tapetenwechsel, der ihr wahrscheinlich sogar guttat, auch wenn Liane selbst das gar nicht so empfand.
Um eben so zu tun, als ob, fügte sie in Gedanken hinzu.
Die wenige nach Arbeit, Kinderbetreuung und Haushaltsführung verbleibende Zeit konnte sie für ihre Kunst verwenden, die deshalb jedoch immer nur ein Hobby bleiben würde. Zu gern würde sie die Malerei zu ihrem Beruf machen, interessante Auftragsarbeiten anfertigen, eigene Bilder verkaufen und der Welt endlich zurufen: Hey, das ist mein Ding! Das ist mein Job, und ich bin echt gut darin! Aber Liane fühlte sich Lichtjahre davon entfernt, diesen Satz aussprechen zu können.
»Hat sich dein Agent mal gemeldet?«, fragte Tib, als wüsste er, worum sich ihre Gedanken gerade drehten.
Er meinte Peter. Peter führte eine kleine Illustrationsagentur, in der er allein und erst wenige Jahre in der Branche arbeitete. Aber sie hatte ihn so beeindruckt, dass er sie unter Vertrag genommen hatte. Und das bedeutete zumindest, dass sie so viel Talent mitbrachte, dass auch andere an einen potenziellen Erfolg ihrer Werke glaubten.
Drachen sind angesagt, das lässt sich verkaufen, hatte Peter über ihre fantasievollen Drachenillustrationen gesagt, mit denen sie sich beworben hatte. Doch nach wie vor gab es dafür keine Anfragen, sodass sie weiter in den Schubladen verstaubten.
Liefere Bilder von Lamas, die werden zurzeit gern für Kalender und Werbeartikel angefragt, hallte die Stimme des Agenten in ihrer Erinnerung. Das war beinahe ein Jahr her. Und obwohl Liane die Tiere nicht sonderlich mochte, hatte sie sie gemalt: rosafarbene mit Glitzer, dunkelblaue, düstere Lamas und sogar dicke mit Glubschaugen im Comic-Stil. Doch seither gab es weder Rückmeldung noch Auftrag.
Liane schüttelte den Kopf.
»Du solltest ihn abschießen«, sagte Tib. »Ohne den findest du bestimmt eher eine Möglichkeit.«
Vielleicht hatte er recht, doch allein die Vorstellung, auf eigene Faust Kontakte zu knüpfen, für ihre Werke einzustehen und sie anpreisen zu müssen, erfüllte sie mit Grausen. Sie war dafür überhaupt nicht gemacht. Andererseits bereitete ihr inzwischen schon der bloße Gedanke an Peter schlechte Laune.
Annie kam aus dem Badezimmer gehüpft und kuschelte sich auf ihren Schoß. »Wann gehen wir baden?«, fragte sie und schaute Liane mit großen blauen Kulleraugen an. Ihr Blick erdete Liane, und alles andere erschien auf einmal so nichtig und klein, dass ihr Herz wieder federleicht den Moment genießen konnte.
Es war Wochenende. Familienzeit. Liane packte sämtliche Gedanken, die nur ihr gehörten, tief zurück in ihr Innerstes. Dann lächelte sie und küsste Annie auf die Nasenspitze. »Gleich, mein Schatz. Wenn wir uns fertiggemacht haben. Pack doch schon mal deine Badesachen ein.«
Nichts als die Wirklichkeit
Erledigt hing Liane in der Hollywoodschaukel auf der Terrasse. Die Beine hatte sie ausgestreckt, um der Schaukel hin und wieder einen sanften Schubs zu geben. Ihr Kopf lehnte an den Kissen, zu schwer, um ihn selbst zu tragen. Annie und Alfred waren längst im Bett, erschöpft vom Schwimmbadtag, der Sonne, dem Wasser, der Aufregung.
Sie mochte die Dämmerungszeit im Sommer, wenn sich Tag und Nacht zu einem mystischen Lichtspiel vermischten. Es herrschte Stille, die Vögel schwiegen, die Bienen hatten sich verkrochen. Einzig die Grillen in den hohen Gräsern am Gartenzaun zirpten noch, bevor auch sie die Nacht zur Ruhe zwingen würde.
Liane gähnte. Die Sonne hatte nicht nur Spuren auf ihrer sonst blassen, sommersprossenbesprenkelten Haut zurückgelassen, sondern ihren ganzen Körper ermüdet. Mehrfach war ihr auf der Liege im Schwimmbad der Kopf zur Seite gerutscht, und sie wäre beinahe eingeschlafen. Doch jedes Mal hatte sie etwas zurückgeholt: Ein Kreischen von der Wasserrutsche, ein tropfnasses Kind auf ihrem heißen Bauch, ein Streit um den Wasserball oder Tibs sanfte Stimme.
Obwohl sie zu gern geschlafen hätte, war sie dennoch froh, wach geblieben zu sein, denn sie verspürte eine leise, dunkle Ahnung. Seit dem merkwürdigen Schlaf im Garten klebte eine Müdigkeit an ihr, die etwas Seltsames mit sich gebracht hatte. Etwas, das nicht normal war.
Nicht normal. Liane kicherte und gab der Schaukel einen Schubs. So hatte sie sich in ihrem Leben noch nie gefühlt.
Bleierne Schwere drückte ihr auf die Lider. Der Traum von Achak hatte sie bisher nicht losgelassen, immer aufs Neue entfaltete er seinen Sog, der sie mitzuziehen schien …
»Hey.« Tibs Stimme holte sie zurück, bevor sie in die Tiefen des Schlafes gleiten konnte.
»Hey«, antwortete Liane mit einem müden Lächeln. Die Worte wollten nur schwer heraus, alles an ihr schien schon zu schlafen.
Tib setzte sich zu ihr auf die Schaukel, legte einen Arm um sie und schaute verträumt in den Abendhimmel. »Stell dir vor, man hat Signale aus dem Weltall aufgefangen, die künstlichen Ursprungs sein sollen.«
»Kam das gerade in den Spätnachrichten?«, fragte Liane und gähnte herzhaft.
»Nein. Es ist nicht offiziell und auch noch nicht untersucht worden. Aber im Internet kursieren Gerüchte. Da wird schon was dran sein. Die Neuigkeiten sind erst ganz frisch von heute Abend.« Tib wippte mit den Knien. »Ist doch aufregend, findest du nicht?«
»Hm.« Liane lächelte. Sie mochte diese kauzige Seite an ihm.
»Sie sollen eine Menge niederfrequenter Radiowellen ausgestrahlt haben. Möglicherweise hängen die mit dem Sternschnuppenschwarm von letzter Nacht zusammen.« Tib sah sie forschend an. »Und du hast wirklich nichts davon mitbekommen, als du gestern Abend im Garten geschlafen hast?«
Liane schüttelte den Kopf und tätschelte mitleidig sein Knie. »Tut mir echt leid, Liebling.« Sie bemerkte seinen Unmut darüber, dass er dieses Ereignis größtenteils verpasst hatte.
»Was ist los mit dir, Schatz? Du wirkst so abwesend.« Tib nahm ihre Hand von seinem Knie, die sie dort liegengelassen hatte, weil sie so schwer geworden war.
Liane schüttelte schwach den Kopf. »Ich bin einfach müde. Wahnsinnig müde.«
Tib bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. »So spät ist es aber noch gar nicht. Und du hast letzte Nacht doch gut geschlafen?«
Liane zuckte mit den Schultern. Die Müdigkeit vernebelte ihr Gemüt und erschwerte es, einen klaren Gedanken zu fassen. »Vielleicht muss ich einfach Schlaf nachholen.« Sie stand ebenso schwerfällig auf, wie ihre Antwort klang, und gab Tib einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. »Gute Nacht, Liebling.«
Ihre Kräfte reichten gerade aus, um sich hinauf ins Schlafzimmer zu schleppen, zu entkleiden und in die Kissen fallen zu lassen. Trotz der Wärme draußen zog sie die Decke bis ans Kinn und grübelte, woher diese Schwere kam, die sie mit der letzten Nacht befallen hatte. Und weshalb spukte unentwegt dieser Fremde in ihrem Geist herum?
Dieser Ort, dachte sie noch und schloss die Augen. Dieser traumhafte Ort.
Zwei Nächte
Die auf den Boden prasselnden Wassertropfen der Dusche übertönten Lianes lauten Seufzer. Es war viel zu früh, um zu Bett zu gehen, doch sie fühlte sich schon wieder – oder immer noch? – müde und zerschlagen. Gerade liefen die Abendnachrichten, und es war Zeit, die Kinder für die Nacht fertigzumachen.
Zwei Nächte hatte sie nicht von dieser Traumwelt geträumt und am Morgen das pelzige Gefühl auf ihrer Zunge ebenso in ihrem Herzen gespürt. Obwohl sie mit Tibs Liebe und der ihrer Kinder gesegnet war, sehnte sie sich trotzdem nach der fremden Welt. Und je mehr Zeit verstrich, desto stärker wuchsen ihr Verlangen und der Wunsch, für eine kurze Weile ihrem Leben zu entfliehen, um Lani zu sein.
Vielleicht sollte sie sich einfach damit abfinden, dass dieser Traum nie wiederkehren würde. Er war wunderbar gewesen, ein kleiner Urlaub von der Wirklichkeit, aber eben nur ein Traum. Nicht mehr und nicht weniger.
Wie zum Protest erschien vor ihrem inneren Auge Achaks schmales, katzenhaftes Gesicht. Sie schüttelte den Kopf. Reiß dich zusammen, Liane.
Sie durfte nicht unglücklich sein. Sie hatte alles, was sich eine Frau wünschen konnte. Woher also kam diese Sehnsucht?, rätselte sie und stieg aus der Duschkabine. War es das Abenteuer, das ihr fehlte? Lag es am Alter?
Aus dem Spiegel blickte ihr eine 34-jährige, gestandene Frau mit fast faltenloser Haut entgegen. Ihr rotes Haar säumte nach wie vor in kräftigen Locken die schmalen Schultern. Noch konnte sie die einzelnen weißen Härchen aufspüren und herauszupfen. Doch die Zeit würde kommen, in der sie die Oberhand übernehmen und ihre Haarpracht in dieselbe Farblosigkeit tauchen würden, die seit Kurzem immer häufiger in ihrem Inneren herrschte.
Der Traum ist vorbei, Liane. Er ist Geschichte.
Aber ihr blieb die Erinnerung, und die würde sie festhalten. Egal ob sie sich gerade dem Spiel mit ihren Kindern hingab, den Küssen ihres Mannes, den zu sortierenden Briefen im Büro, den Hausaufgaben und Wäschebergen oder dem Kartoffelschälen.
Es war bestimmt gut so.
Liane warf sich den Bademantel über und fiel erleichtert aufs Bett. Mit der Gewissheit, wieder der Mensch zu sein, den sie kannte, sank sie in die Kissen, noch bevor Annie und Alfred ihre Schlafanzüge angezogen hatten.
ASHTA-KAH
DORT
Weites Land
Lani, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf.
Lani, das war sie. Sie hob die Lider und sah in Achaks Gesicht. Es war so dicht über ihrem eigenen, dass der Geruch seiner golden schimmernden Haut in ihre Nase drang. Sie duftete nach Sonne, heißem Sand und einer Prise Zimt. Die zu Schlitzen verengten Pupillen seiner bernsteingelben Augen fixierten ihren Blick, sodass sie sich nicht davon lösen konnte. Die Erinnerung an ihr Beisammensein unter dem Sonnensegel holte sie ein.
Sie spürte die stacheligen Pflanzenreste auf dem harten Untergrund unter ihren Fingerspitzen. Achak kniete über sie gebeugt und stützte dabei die Arme dicht neben ihren Schultern auf die sonnenverbrannte Erde. Gefangen.
»Du bist wieder da.« Diese Worte hatte er laut ausgesprochen, und sie klangen außerhalb ihres Kopfes dunkel und samtig. »Mein Herz wusste, du würdest zurückkehren.«
Lani runzelte die Stirn.»Woher bin ich zurückgekehrt?« So tief sie auch in ihrem Gedächtnis grub, sie fand keine Hinweise auf ihre Herkunft, Eltern oder Heimat.
Achak schüttelte den Kopf. »Nur die Götter wissen, woher die Flügellosen stammen.«
»Ich bin eine – Flügellose? Was bedeutet das?«
Achak setzte sich und gab damit Lanis Oberkörper frei, sodass sie sich aufrichten konnte. »Du gehörst zu jenen, die anders sind.«
Das stimmte. Sie besaß nicht im Geringsten sein katzenhaftes Aussehen. Ihr Haar schwebte nicht, stattdessen fiel es ihr in schweren Locken über die Schultern. An ihrer Rückseite peitschte kein raubtierhafter Schwanz den staubigen Boden auf und auch ihre mit kleinen, braunen Flecken besprenkelte Haut schimmerte nicht golden, sondern leuchtete weiß in der Sonne.
»Innerhalb eines Lidschlages seid ihr in unserer Welt erschienen. Deshalb glaubt mein Volk, dass deinesgleichen vom Himmel gefallen sein muss, weil es die Flügel verloren hat.« Achaks Augen musterten ihren Körper, und in ihnen spiegelten sich Bewunderung, Verehrung und Begehren. »Und du trägst Feuer im Haar, wie dein Name sagt.«
»Mein Name.« Lani nahm eine ihrer Haarsträhnen zwischen die Finger und begutachtete sie. Tatsächlich glänzte ihr Haar in einer Mischung aus Orange- und Rottönen, dass man meinen könnte, es wären kleine Flammen, die um ihre Schultern tanzten.
Achak lächelte breit. »Lani bedeutet ›Feuerblume‹. Ein Name, der passt.«
Ein verlegenes Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht und sie spürte, wie heiße Röte ihre Wangen färbte. Mit leicht gesenktem Kopf erhaschte sie einen Blick auf Achaks Antlitz.
Er senkte die Lider, während seine Gedanken ihr Innerstes berührten: Ich spreche mit dem Herzen, dem Geist und meinem Leib. Meine Worte sind echt.
Alles an ihm fühlte sich für Lani nach voller Hingabe an. Sie erahnte die Wildheit, die beherrscht unter einer Decke aus Anmut und Stolz in ihm schlummerte. Er strahlte aus, was ihr fehlte und schien damit das perfekte Gegenstück, das zu ihr gehörte und nirgendwo anders hin. Aus ihrer Bauchgegend strömte ein Kribbeln durch ihren gesamten Körper und erweichte ihre Knie.
»Es gibt noch Weitere wie mich?«, lenkte sie mit leicht zittriger Stimme das Thema zurück zur Frage ihrer Herkunft.
Achak nickte. »Zwölf Wesen wie du sind vom Himmel in die Welt von Ashta-Kah gestürzt. Aber nur zwei von ihnen sind in der Siedlung gestrandet, die mein Zuhause ist.«
»Es gibt hier noch andere Flügellose?«
»Einen, Haran. Er ist wie du zum Fest der Götterwende vom Himmel gefallen. Doch er ist außerhalb des Dorfes gestrandet. Er musste ein Stück der Steppe Ashta-Rhe durchqueren, und als er unsere Häuser erreichte, warst du bereits in deine Welt zurückgekehrt. Du wirst ihn kennenlernen, zu gegebener Zeit. Zuerst kommst du mit mir.«
Er erhob sich und reichte ihr seine Hand. Sie griff danach, und mit einem Ruck stand sie dicht neben ihm und spürte die Hitze seiner Haut an ihrer Schuler. Mit Staunen betrachtete sie das glitzernde Spiel auf der Oberfläche seines nackten Armes und strich sanft darüber. Dort, wo sie mit dem Finger entlangfuhr, verstärkte sich der goldene Schimmer.
Achak lachte leise, und Lani sah die Reihe spitzer, kleiner Zähne hinter seinen Lippen hervorblitzen. »Alle meines Volkes sind Kinder Ashta-Tets. Ihre heiße Glut zeigt sich auf unserer Haut.«
»Ashta-Tet?«
Achak nickte und deutete auf die gleißende, riesige Sonne, die über ihnen am zartrosa Himmel stand. »Die große Göttin. Sie spendet Licht und Wärme für ihre Kinder in Ashta-Kah, ihrem Reich.«
Doch die Sonne schien zu grell und zu heiß, um auch nur zu versuchen, in ihre Richtung zu schauen. Stattdessen verbarg Lani ihr Gesicht im Schatten von Achaks nackter Schulter, spürte dem Spiel seiner Muskeln nach und sog den zimtigen Geruch ein, den seine Haut verströmte.
Die andere Schulterseite bedeckte der grausilbrige Stoff seines Kleidungsstückes, das quer über den Oberkörper verlief und oberhalb der Knie endete. Ein geflochtener Gürtel umschlang seine Taille. Daran hing eine aus Pflanzenfasern gewebte Scheide, in der ein Messer steckte. Er trug Sandalen, die mit Schnüren bis hoch zu den Waden gebunden waren.
Lani selbst war mit einem ähnlichen, knielangen Gewand bekleidet. Zwei dünne Träger hielten den Stoff an ihren Schultern, ein Gürtel raffte ihn in der Taille zusammen. Sie trug dieselbe Art Sandalen, durch deren Sohlen sie die Hitze des Bodens spürte.
Mit einem verheißungsvollen Lächeln griff Achak nach ihrer Hand. »Folge mir ins Dorf. Wir werden erwartet.«
Ohne weitere Worte ließ sie sich von ihm durch die Landschaft führen. Heißer Wind wehte ihr das Haar ins Gesicht. Um sie herum erstreckte sich eine karge, steinige Ebene, voller Schönheit in ihrer endlos scheinenden Weite. Der sandige Boden leuchtete in verschiedenen Schattierungen von braun bis rot und schien den Himmel gefärbt zu haben. Hier und da wuchsen vereinzelte Sträucher, bläulich glänzende Büsche und kleine Bäume mit dicken Stämmen und fetten, ledrigen Blättern. An manchen Stellen bedeckten grün schimmernde Flechten und stachelige, gelbe Moose die Erde.
Über ihnen kreisten schwarze Vögel mit riesigen Schwingen und grellgelben Vogelschwänzen und stießen hin und wieder gellende, ohrenbetäubende Schreie aus.
Achak wies auf die Tiere. »Pfeilschwänzer. Sie töten ihre Beute mit kleinen Giftpfeilen, die unter den Schwanzfedern verborgen liegen.«
In Achaks Gegenwart empfand Lani keine Furcht. Sie fühlte sich auf eigenartige Weise mit ihm verbunden und glaubte, trotz ihrer Andersartigkeit hierher zu gehören. Dennoch zog sie instinktiv den Kopf tiefer zwischen die Schultern.
Über Achaks Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln.»Keine Sorge. Du zählst nicht zu ihrer Beute.«
Kritisch beäugte sie die Raubvögel am Himmel und stolperte dabei über einen Stein. Beinahe wäre sie gefallen, aber Achak fing sie mit einem schnellen Griff um ihre Taille auf, und für einen Moment trafen sich ihre Blicke erneut.
Diese bernsteingelben Augen, so voller Wildheit und doch beherrscht von einem König, dachte sie, und ihr Herz bekräftigte diesen Gedanken mit lauten Schlägen.
Die Steppe streckte sich endlos. Es dauerte eine geraume Weile, bis die ersten Hütten des Dorfes am Horizont erschienen. Je näher sie herankamen, desto aufgeregter rauschte Lanis Blut durch ihren Körper. Zwar kam sie als Fremde, aber sie spürte, dass ihr dieser Ort bestimmt war.
Vor den Häusern erstreckten sich weitläufige Koppeln mit seltsamen Tieren, und Lani verlangsamte ihre Schritte. Sie löste ihre Hand aus Achaks Griff und trat auf den ersten Zaun zu, um die Kreaturen zu betrachten, die dahinter friedlich grasten.
»Das Fell.« Lani deutete auf die dicken, silbrigen Zotteln. »Ist es nicht viel zu warm?«
Achak lachte verhalten und schüttelte den Kopf, sodass seine Haare sanft hin- und herschwebten. »Nein. Es kühlt sie. Sieh, wie der Silberglanz die Sonnenstrahlen zurückwirft.«
Tatsächlich reflektierte das Tierhaar das Sonnenlicht und erzeugte stellenweise grelles Glitzern, das Lani zum Blinzeln zwang.
Eines der riesigen, zotteligen Ungetüme näherte sich der Abgrenzung, sodass sie ihm direkt in die kleinen, schwarzen Augen sehen konnte. Mit gesenktem Kopf blies es ihr seinen heißen, leicht faulig riechenden Atem ins Gesicht. Lani streckte die Hand nach dem großen, mit weißen Hörnern versehenen Schädel aus, doch Achak ergriff blitzschnell ihr Handgelenk und drückte es nach unten.
»Moruks schenken uns ihr Haar und tragen Lasten«, sagte er mit ernstem Blick. »Aber sie sind nicht so freundlich, wie sie zunächst aussehen. Pass auf.«
Er ließ sie los, trat dicht an die Einzäunung und vollführte eine schnelle Handbewegung. In Sekundenschnelle sprang er zurück, denn schon schoss der Moruk mit seinen weichen, flachen Füßen blitzartig auf ihn zu und knurrte ihn mit gebleckten Zähnen an.
Das war nicht das Gebiss eines gemütlichen Wiederkäuers. Das waren große, scharfe Schneidezähne, umrahmt von zwei Reihen spitzer Eckzähne, die ausreichten, um Lanis Innerstes nach außen zu reißen.
Lani trat einige Schritte zurück und betrachtete aus sicherer Entfernung das aufgerissene, sabbernde Maul. Hätte Achak sie nicht mit einer leisen Aufforderung weitergezogen, hätte sie wohl noch eine ganze Weile fasziniert auf diese Moruks gestarrt, die sie nie zuvor gesehen hatte.
Das Dorf
Sie erreichten die ersten Hütten und Achak führte Lani zielstrebig zwischen ihnen hindurch.
Ein seltsames Schweigen lag über dem Dorf und ließ den Eindruck entstehen, es wäre unbewohnt. Allein die neugierigen Augenpaare, die hinter Mauern und Fenstern auftauchten und wieder verschwanden, sobald Lani hinsah, verrieten das Leben darin.
Mit einer plötzlichen Bewegung hielt Achak inne und lauschte. Was hörte er? Sie vernahm nur das Rascheln getrockneter Kräuterbüschel, die an einigen Hütten hingen, ihren eigenen Atem und das Rauschen ihres Blutes, das ihr aufgeregtes Herz durch die Adern trieb. Kommunizierte er etwa still mit anderen?
Achak wandte sich zu ihr und sah ihr fest in die Augen. Diesmal lag nichts Weiches, Freundliches oder gar Liebevolles darin, sondern Schärfe, Notwendigkeit und … war das Furcht? »Trage keine Sorge, falls einige Bewohner dir mit Argwohn begegnen.«
»Warum sollten sie das tun?« Lani zog die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf. Was bedeutete das? Sie besaß weder außergewöhnliche Kräfte noch spezielles Wissen, das auf andere beunruhigend wirken könnte. »Ich bin keine Gefahr«, stellte sie klar. »An mir ist nichts Besonderes.«
»Doch«, erwiderte Achak mit bedeutungsvollem Blick.