Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die ausgewählten Romane von Alice Berend präsentieren eine einzigartige Mischung aus psychologischer Tiefe, emotionaler Intensität und stilistischer Raffinesse. Berends Werke zeichnen sich durch präzise Charakterzeichnung und komplexe Erzählstrukturen aus, die den Leser in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele entführen. Ihr literarischer Stil ist geprägt von einer subtilen Melancholie und einer tiefen Empathie für ihre Figuren. Die Werke von Alice Berend sind Meisterwerke der zeitgenössischen Literatur, die sowohl den intellektuellen Leser als auch den Liebhaber anspruchsvoller Belletristik begeistern werden. Alice Berend, eine renommierte Schriftstellerin, die für ihre erstaunliche Fähigkeit bekannt ist, die menschliche Psyche zu durchdringen, schafft in ihren Romanen eine eindringliche und fesselnde Leseerfahrung. Mit ihrer feinfühligen Erzählweise und ihrem tiefen Verständnis für die menschliche Natur bringt sie dem Leser die Komplexität des menschlichen Lebens näher. Die ausgewählten Romane von Alice Berend sind ein literarischer Leckerbissen, der es wert ist, entdeckt zu werden, und ein Muss für jeden, der sich für anspruchsvolle und tiefgründige Literatur interessiert.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 1647
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Books
Die meisten müssen arbeiten, um essen zu dürfen, essen, um wieder arbeiten zu können und so, mit Sorge, Mühe und ein bißchen Glück, mahlen sie die ihnen zugeteilten Tage ab.
Herr Sebastian Wenzel hatte das nicht nötig.
Daß er einmal selbst, treu und bedächtig, an dem Maschinenrad des Alltags mitgedreht hatte, lag weit zurück. Er wußte es selbst nicht mehr.
Jetzt war ihm das Essen ein Genuß, für den er sich durch regelmäßige Spaziergänge, kalte Abreibungen, angenehme Gedanken und kleine Arzneien frisch und aufnahmefähig erhielt. An Regentagen, an denen er aus Furcht vor Rheumatismus und anderen Erkältungserscheinungen niemals das Zimmer verließ, sorgte er für die notwendige Bewegung des Blutes, indem er sich einem kleinen Ärger heftig, aber nicht übertrieben, hingab.
Verdruß findet sich genug in der Welt.
Wird zum Beispiel je eine Köchin begreifen, daß eine Prise Salz mehr oder weniger den Geschmack eines Gerichtes vollständig verändert? Oder: daß das köstlichste Stück Lende, nur den Bruchteil einer Sekunde zu lang auf dem Rost gelassen, zäh und ledern zu werden beginnt? Daß eine Omelette soufflée – übrigens eines der delikatesten Gerichte der Welt – sofort vom Backofen aus auf den Tisch gebracht werden muß? Wird sie das je begreifen? Niemals.
Oder ein andrer Verdruß, der Herrn Sebastian Wenzel gerade heute wieder traf:
Er wartet mit der Uhr in der Hand auf die einzige Zerstreuung des verregneten Tages: Die Zeitung. Er klingelt und sagt, daß die Zeitung längst da sein müsse, aber erhält zur Antwort, daß sie bei Regenwetter immer später käme. Schließlich geht er selbst hinaus, schlägt den Rockkragen hoch und öffnet vorsichtig die Hintertreppentür. Richtig, da liegt das Blatt vor der Schwelle, und wirklich ist auch schon ein nasser Stiefel darüber hinweggetreten. Er hat seit Jahr und Tag einen breiten Kasten mit Luftlöchern und Nickelschloß anbringen lassen, aber noch niemals durfte dieser Behälter seine Bestimmung erfüllen.
So hat er Ärger über Ärger.
Denn nun muß das feuchte Blatt erst in der Küche getrocknet werden. Diese Notwendigkeit begreift ein Dienstbote natürlich nicht im geringsten. Gegrinst wird, wenn Herr Wenzel nun deutlich erklärend sagt: Trocknen Sie das Blatt über dem Feuer, ungefähr drei oder vier Minuten, und achten Sie darauf, daß Sie es dabei nicht versengen. Dann plätten Sie es, lassen es gehörig abkühlen und bringen es mir mit sauberen Fingern in mein Zimmer. Im ganzen hat alles in allem nicht mehr als zehn Minuten in Anspruch zu nehmen. Verstanden?
Nun wartet Herr Wenzel wieder, die Uhr in der Hand, in dem bequemen Stuhl am Fenster. Aber es ist ihm wohler zu Mut. Die kleine Bewegung hat ihn erfrischt.
Draußen klappt wütend das Bügeleisen – ein zufriedenes Lächeln legt sich um die schmalen Lippen Sebastian Wenzels.
Er fühlt sich wieder ruhig und behaglich. Nichts tut so gut wie ein kleines Ärgerchen ...
Daß Herr Sebastian Wenzel diesen Zuschauerplatz im Leben einnahm, war höchst verwunderlich. Sonst hatten alle Wenzels immer etwas weniger gehabt, als sie brauchten. Bis auf eine Tante. Diese war, mittels Heirat, zu großem Reichtum gelangt. Ihr Mann hatte mit einer kleinen Farm unversehens eine Kupfermine gekauft. Im Laufe des Lebens wurde sie Witwe und in der Familie der Gegenstand allgemeiner Verehrung. Denn Kinder hatte sie nicht.
Als siebenjähriger Knabe nahm Sebastian, im Beisein seiner Tante, eine Stecknadel vom Boden auf. Die Tante, die dies beobachtete, sagte sich: in diesem Kinde steckt der wahre Sinn zur Sparsamkeit. Sie beschloß bei sich, allen lauernden Verwandten zum Trotz, den kleinen Neffen zu ihrem einzigen Erben einzusetzen.
Sebastians Absicht damals war, die Stecknadel mit der Spitze nach oben in den Stuhlsitz der Tante zu stecken. Er mochte sie nicht leiden, weil alle schön mit ihr taten, obgleich eine große Warze auf ihrer kurzen, dicken Nase saß.
Niemand kann hinter die Stirn des andern sehen. So müssen wir uns gefallen lassen, daß unsern Handlungen falsche Beweggründe untergeschoben werden ...
Die Tante hatte ihren letzten Willen geschrieben und ihn beglaubigen lassen.
Manche behaupten, dies sei das sicherste Mittel, um lange zu leben. In diesem Fall muß ihnen recht gegeben werden. Die vorsichtige Frau überlebte diese ernste Tat, zu der sie sich im fünfzigsten Lebensjahr entschloß, um siebenunddreißig und dreiviertel Jahr. –
Inzwischen ging Sebastian Wenzel seinen bescheidenen Weg durch Kindheit und Jugend.
Vielleicht lag seine künftige Bestimmung als dunkle Ahnung in ihm. Wenigstens kannte er keine größere Freude, als Geld zusammenzuhalten und anzuhäufen. Was andern Knaben die Käfersammlung und später das Heftchen mit den ersten unbeholfenen Reimen ist, war Sebastian das Sparkassenbuch.
Hatte also Sebastians so reich begüterte Tante auch damals den Neffen mißverstanden, so hatte sie sich doch im Grunde seines Wesens nicht geirrt.
Er war der einzige der Verwandten, der ohne Kranz zur Beerdigung kam. Es fiel ihm nicht ein, Geld für etwas herauszuwerfen, was niemand zunutze kam. Die drei Mark, die er dafür hätte ausgeben müssen, trug er auf dem Rückweg vom Kirchhof zur Sparkasse.
An die Erbschaft dachte er nicht im geringsten. Es war ihm klar, daß ihm von Weibern nichts Gutes kommen könne.
Im engen Heim, zwischen den Streitigkeiten einer kränkelnden Mutter und zwei rechthaberischen Schwestern, war ihm der Geschmack für das andere Geschlecht gründlich verleidet worden. Er rechnete die Frauen zu einer minderwertigen Gattung Mensch und behauptete, daß die Luft schwül und dumpf werde, wenn sie im Zimmer oder nur in der Nähe wären.
Nicht viele junge Männer denken so. Daher lachten ihn seine Kollegen aus. Er bemitleidete sie. Es tat ihm leid, daß sie den größten Teil ihres Verdienstes, wofür sie von früh bis spät im Büro saßen, an den Sonntagen für ein solches plapperndes, gefräßiges Ding ausgaben. Er begriff nicht, wie sie in Regen und Sonne geduldig warten konnten, bis es dem Fräulein einfiel, fein geputzt daherzukommen. In den Hüften wippend, wie ein gackerndes Huhn. Er wußte schon in seiner Kindheit, wie sie, hinter den Gardinen, ungekämmt in den Frisierjacken aussahen. Er kannte sie. Er mied sie und die mit ihnen verbundenen Unkosten auf das strengste. Nein, Weiber sind nichts wert, und wenn sie hundert Jahr alt werden.
Trotzdem ging er zur Testamentseröffnung. Nicht weil er dabei etwas für sich erhoffte, sondern weil er auf alles gespannt war, was mit Geld zusammenhing.
Leidenschaft reißt uns hin.
Sonst wäre es kaum zu erklären, daß Sebastian an einen Ort ging, wo er mit Sicherheit seiner ganzen Familie begegnen mußte.
Von dem Tag an, an dem er sein erstes Gehalt bezog, war er allen miteinander aus dem Weg gegangen. Denn wenn man aufrichtig ist – worin besteht das Familienleben des Unverheirateten? Daß er zu Hochzeiten, Taufen und Geburtstagen eingeladen wird, um Geschenke zu bringen. Davon hatte sich Sebastian zurückgezogen.
Man war ihm nicht sehr nachgelaufen. Man hatte keinen Grund dazu. Es ist durchaus ein Irrtum, wenn behauptet wird, daß kleine Geschenke die Freundschaft erhalten. Auch hier wird immer die Größe siegen. –
Die Begrüßung im Vorzimmer des Notars war gegenseitig kühl und gemessen.
Was von der Familie Wenzel lebendig und aus den Kinderschuhen heraus war, wartete hier verdrießlich und unruhig. Groß, hager und mager stand Sebastian unter ihnen. Er musterte seine beiden Schwestern, die mürrisch neben ihren einmal hartnäckig erkämpften Gatten saßen. Die langweiligen, geduldigen Gesichter seiner Schwager erschienen ihm in der Untätigkeit des Wartens noch leerer. Zwei gleichgekleidete fette Frauen, mit hastig aufgesteckten Kapotthüten und dem verärgerten Ausdruck der aus den häuslichen Beschäftigungen gerissenen Hausfrau, nickten ihm herablassend zu. Erst allmählich erkannte er in ihnen seine schnippischen, zierlichen Cousinen wieder. Ein dicker Herr, dessen Atem durch das Zimmer pfiff, sagte: »Sieh einer an. Auch unser Sebastian gibt uns die seltne Ehre.« Das war Vetter Fritz, mit dem er auf die Bäume geklettert war.
Man flüsterte, man scharrte ungeduldig mit den Füßen. Uhrdeckel klappten auf und zu. Eigentlich dachten alle, in bezug auf die Erbschaft, nicht anders als Sebastian. Die – nun sanft entschlafene – Tante hatten Gicht und Gelbsucht nicht liebenswürdiger gemacht, als sie es als echte Wenzel ohnedies war. Oft genug hatte sie wiederholt, daß ihr Tod nur einem einzigen Freude machen würde. Daß dies niemand aus der Familie sein konnte, schien allen klar zu sein.
Aber der Mensch hofft, solange er atmet. So saßen sie hier mit dem unverwüstlichen Glauben, mit dem man zeitlebens auf Dinge wartet, die niemals kommen. Nur Sebastian riß die Geduld. Er mußte zurück in das Büro, er hatte nicht mehr als zwei Stunden Urlaub.
»Warte doch, Sebastian«, sagte eine seiner Schwestern. »Falls es zu spät wird, nimmst du dir eine Droschke.«
Alle lachten.
Der Gedanke, daß sich Sebastian Wenzel eine Droschke nehmen könne, war ebenso komisch, wie wenn man sich den Kaiser barfuß durch die Straßen laufend dächte.
Sebastian warf einen verächtlichen Blick durch den Raum, verbeugte sich und ging.
Ehe er aus der Haustür trat, klappte er die Beinkleider an den Füßen auf, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß noch Zeit genug übrig sei, um zu Fuß gehen zu können und die Straßenbahn zu sparen, eilte er mit langen Schritten durch das Gedränge.
Im Büro empfing ihn die spöttische Frage: »Nun, wieviel?«
»Ich habe die Sache nicht abwarten können«, sagte Sebastian, steckte den Bleistift hinter das Ohr, nahm den Federhalter in die Hand und setzte sich vor sein Schreibpult.
Zum letzten Mal. Einige Stunden später war er Millionär geworden ...
Wie die Ameise nichts weiter sieht als ihren Bau und den schmalen Weg, auf dem sie im geschäftigen Hin und Her die großen, schweren Winzigkeiten herbeischleppt, so hatte auch Sebastian Wenzel nichts anderes gekümmert als das, was ihn selbst anging. Alles, was nicht im engsten Zusammenhang mit ihm selbst stand, war ihm gleichgültig. Bei unsinnigen Wünschen hatte er sich nicht aufgehalten. Unmögliches war ihm lächerlich.
Die sanften, rosenduftenden Sommerabende freuten ihn, weil er die Lampe sparen durfte. Der verlorene Ton eines Liedes, den der Wind zu ihm trug, weckte kein schmerzliches Verlangen nach den Wundern Ägyptens, den Geheimnissen Indiens, den Seen Japans, sondern er sagte sich, daß man es gut haben könne, auch ohne teure Reisen.
Er hatte auch seine Sehnsucht. Aber sie schwebte nicht im blauen Dunst. Einfach und ehrlich, wie er selbst, schritt sie neben ihm. Nur an den Sonntagen – im Sommer in einem Vorstadtgärtchen, im Winter in der verräucherten Stube eines Bürgerbräus – konnte sie einmal über die Stränge schlagen. Dann wünschte er sich in das kleine eigene Heim, das er stets vor Augen hatte: einen Klubsessel aus Juchten und einen automatischen Staubreiniger.
Ihm graute vor den möblierten Zimmern, in denen er wohnen mußte. Wo der Staub von Generationen in den Ecken lag, wo die scharfen Lehnen der Stühle gerade da aufhörten, wo sie den Rücken stützen sollten, wo man nie wußte, wieviel verliebte Mädchen schon auf dem abgenutzten Sofa gesessen hatten. Ein eignes Bett hatte sich Sebastian von seinen ersten Ersparnissen gekauft.
Ein eignes Heim, das war seine Sehnsucht. Drei Zimmer und eine saubere, appetitliche Küche mußte er haben. Ohne Frau, lärmende Kinder und unreinliche Hunde. Schon wenn man die Tür aufschloß, sollte man den Geruch guter Bratensoßen spüren.
Die andre Hälfte seiner Sehnsucht war: Gut und in Ruhe essen zu können. Nicht mit der Uhr in der Hand die Mahlzeiten einzunehmen und statt des ausgekochten Suppenfleisches oder der Fleischklöße, von denen außer der Wirtin nur Gott wußte, woraus sie bestanden, köstliche, sorgfältig zubereitete, lecker aufgetragene Speisen vorgesetzt zu bekommen.
In jedem übrigen Augenblick modelte er an diesem Plan. Im Laufe der Jahre war die Wohnung schön mit Möbeln aus allen Holzarten der Tischlerkunst ausgestattet gewesen. Über dem blanken Herd in der Küche zog sich jahrelang eine Borte aus krähenden Hähnen, jetzt sollte sie aus Sonnenblumen sein. Dann und wann unterstützte Sebastian seine Sehnsucht durch den Besuch eines fertiggestellten Neubaus, wo er die leeren, hellen Zimmer mit den neuen Dielen und Fenstern andachtsvoll durchschritt.
Dieser Blick in die Ferne trug ihm so reichlich Freude, daß er keine kostspieligen Vergnügungen brauchte. Schmucklos gingen seine Tage durch den wundervollen Wandel der Jahreszeiten. Doch keiner war ohne Freude. An jedem fand sich die Möglichkeit zu einer kleinen Ersparnis, die er nicht vorausgesehen hatte. –
Von einer Minute zur andern stand Sebastian Wenzel vor dem Ziel seiner Wünsche.
Früher als er erfuhr es die schwarzgekleidete Verwandtenschar. In schweigenden Gruppen verließ sie das Zimmer des Notars, wie tags zuvor das Grab der Tante. Alle Mienen waren wirklich so, wie man sie von trauernden Hinterbliebenen verlangt.
Eine der Schwestern flüsterte zur andern: »Sebastian, der mit Pfennigbruchteilen rechnet. Und plötzlich – dieses Vermögen, er kann vor Schreck den Tod haben.«
Sie sah nicht sehr besorgt dabei aus.
»Immerhin ein schöner Tod«, antwortete ihr Gatte.
»Und kein gewöhnlicher«, fügte ihr Schwager hinzu. –
»Wenigstens kann ich mich unter meinen Bekannten keines ähnlichen Falls erinnern.«
Sebastian starb nicht und nahm keinerlei Schaden an seiner Gesundheit.
Eine Sehnsucht, die man stets mit sich führt, mit der man sich die Zähne putzt und die Nägel schneidet, wirft nicht so leicht zu Boden, wenn sie sich erfüllt, wie vielleicht die Verwirklichung eines Traumes, dem man bei Tage nicht in die Augen zu sehen wagt.
Auch war Sebastian geübt in zäher Willenskraft. Sie brauchte er allerdings, um sich an das Neue zu gewöhnen. Das war nicht so leicht, wie die vielen denken mögen, die ihre freien Stunden dazu benutzten, von Millionen und ihrer angenehmen Verwendung zu träumen.
Zuerst hatte Sebastian weit mehr das Empfinden, daß ihm etwas abhanden gekommen sei. Wenn er auf dem Weg zu den langen Besprechungen mit dem Notar die Uhr hervorzog und lächelnd feststellte, daß es Zeit genug sei, um zu Fuß zu gehen und damit zehn Pfennig zu sparen, erinnerte er sich enttäuscht, daß dies nicht mehr dringend nötig sei. So ging es ihm häufig im Laufe des Tages.
Langsam lernte er die Freude am Ärger.
Es begann beim Notar, dem ersten Menschen, mit dem er stets in heftigen Wortwechsel geriet. Mit seinen Verwandten war er sanft und allmählich auseinander gekommen. Seinen Zimmerwirtinnen war er der friedlichste Mieter. Er hatte sich immer gesagt: Bescheidenheit verbilligt. Mit seinen Kollegen wechselte er nur wenige höfliche Worte.
Aber dieser Notar! Sebastian war noch nicht zehn Minuten mit ihm zusammen, so stieg ihm der Zorn blutrot zu Kopf. Und doch war noch niemand so untertänig, hochachtungsvoll Sebastian Wenzel begegnet wie dieser Mann. Aber gerade das machte Sebastian mißtrauisch. In der Wenzelschen Familie galt von jeher der Spruch: Große Liebenswürdigkeit will etwas. Und man selbst hatte sich bescheiden vor jedem Überfluß dieser Eigenschaft gehütet.
Der Hauptgrund des Zwistes war, daß Sebastian das Geld der Tante als preußische Staatsanleihe anlegen wollte, dem einzigen Papier, zu dem er Zutrauen hatte.
Der Rechtsvertreter rang die Hände.
»Aber verehrter Herr, Sie bringen sich um dreißigtausend Mark im Jahr. Das ist eine Verschwendung, die man nicht mit ansehen kann!« schrie er. »Sie sind ein heilloser Verschwender.«
Sebastian Wenzel fuhr zusammen. Verschwender hatte ihn noch niemand gescholten. Er wurde unruhig. Und immer wieder verließ er grübelnd das Zimmer, ohne zu einem Schluß gekommen zu sein. Dabei war er sich klar, daß ihm jeder Besuch teuer berechnet wurde.
Zum erstenmal bedauerte Sebastian, niemand zu haben, mit dem er sich aussprechen konnte. Er überlegte. Im Büro war ein Kollege, dem wohl zu trauen gewesen wäre. Er hatte viele Kinder und Sorgen und kannte das Leben. Nach reiflichem Bedenken wartete Sebastian Wenzel eines Abends auf diesen Mann vor dem Tor, durch das er selbst Jahre hindurch ein- und ausgeschritten war.
Müde kam der Erwartete die ausgetretenen Stufen herunter. Auf seinem schlaffen Gesicht, das ein grauschwarzer Bart bewucherte, zuckte das trostlose Hinundherrechnen des bedrängten Familienvaters.
Sebastian Wenzel sprang auf ihn zu und bat ihn um einige Augenblicke Gehör. Der andere folgte ihm in der stillen Freundlichkeit des Übermüdeten. Es war ihm zu viel Anstrengung, diese Bitte abzuschlagen.
Sie gingen in Sebastian Wenzels enges Mansardenzimmer, dessen verschlissene Vorhänge zu beben begannen, als die Männer sich über die Papiere beugten und fünf- und sechsstellige Zahlen durch den Raum flogen. Der müde Familienvater rechnete. Er kam zu dem gleichen Schluß wie der Rechtsanwalt.
»Sie haben allerdings bedeutend weniger, sind aber dafür sicher wie der liebe Gott«, sagte er. »Denn ich glaube, eher fällt der Himmel ein als der preußische Staat.«
Das war als treuer Beamter zu einem treuen Beamten gesprochen. Und wirkte. Sebastian Wenzel wurde es klar, daß er fest bei seinem Willen beharren mußte.
Er stand auf und sagte: »Ich danke Ihnen.« Der andere blieb sitzen, obwohl er unruhig zu sein schien.
Dann sagte er leise:
»Werter Kollege, wenn Sie – mir hundert Mark leihen könnten!«
Auch das war Sebastian Wenzel noch nicht geschehen. Wer ihn kannte, wußte, daß ihm schon der Pfennig heilig war. Aber die Hunderttausende lagen noch in der Luft.
Sebastian sah in die matten, unruhigen Augen des Wartenden, und ohne daß es ihm bewußt geworden war, hatte er dem andern einen blauen Schein gegeben ...
Sein ganzes Leben lang wunderte er sich darüber. Am stärksten am folgenden Morgen. Er fühlte sich beunruhigt. War mit dem Geld auch schon der Leichtsinn der Reichen über ihn gekommen?
Er legte den langen Weg zum Notar wieder zu Fuß zurück. Sein Gefühl sagte ihm, daß er etwas einzusparen habe.
Aber bei dem Notar blieb er standhaft bei seinem Willen.
»Sie sind der größte Verschwender, der mir je begegnet ist«, sagte dieser zum Abschied.
»Niemand kann aus seiner Haut«, erwiderte Sebastian kühl.
Eines Tages fühlte Sebastian Wenzel wirklich den Schlüssel zum eigenen Heim in der Tasche.
Es lag in keiner der Straßen, durch die nur Gummiräder rollen, auch nicht in einem jener Häuser, wo hinter den vornehm verhängten Fenstern niemand zu ahnen schien, daß man Brot auch ohne Butter essen kann.
Um diese Gegenden war die Sehnsucht Sebastians nie gestrichen.
Er erinnerte sich noch zu deutlich der Sonntagsspaziergänge seiner Kindheit. Wenn sie in den ungewohnten Feiertagskleidern, die immer irgendwo drückten oder preßten, durch diese ruhigen, baumbeschatteten Straßen gingen, sagte die Mutter: Hier wohnt das Geld. Aber auch das Laster und die Sünde. –
Sebastian hatten von frühauf die kurzen, belebten Straßen gefallen, wo ein kleiner Laden mit unterhaltenden Auslagen neben dem andern lag. Wo man Menschen hinter den Fenstern sah, wo sich jeder zu kennen schien.
Eine jener Straßen, die eine Kleinstadt für sich im Getriebe der Großstadt ist.
Hier hatte Sebastians Traum die behaglichsten Parterrewohnungen mit den von Pelargonien rot umsäumten Balkonen umschwebt. Er kannte nur die Fenster der Hinterhäuser, wo man Schornsteine zählen konnte von früh bis spät, ohne fertig zu werden. Welch ein Vergnügen müßte es sein, aus niederem Fenster das Leben der Straße beobachten zu können:
Da saß er nun wirklich.
Er begann, sein neues, geregeltes Leben zu führen. Langsam durchdrang ihn die Würde des Besitzenden. Seine Person wurde eine Wichtigkeit. Nicht für die Welt, die ihn übrigens nichts anging, aber für die Welt, die die seine war. Für diese kleine, tätige, lebhafte Straße. Hier war er nicht ein reicher Herr, sondern der reiche Herr. Jeder kannte ihn. Man wußte genau, um welche Zeit der reiche Herr an seinem Platz am Fenster oder auf dem Balkon saß oder nicht saß.
Der Bäckerjunge versuchte einen leutseligen Gruß zu erwischen, der Milchmann mit den klappernden Blechkannen schob an seiner Mütze, wenn er vor dem Hause hielt. Der Schutzmann, der auf der andern Seite der Straße von einem Bein auf das andere trat, wußte, wenn der reiche Herr spazierenging, wurde er bald abgelöst. Wenn Herr Sebastian Wenzel in Gummischuhen ausging, sagte man: Es wird heute regnen.
Kurzum, was dem Südländer die Sonne, dem Fischer der Polarstern, dem Wetterpropheten der Frosch, das war Sebastian Wenzel für seine kleine Straße.
Man sah zu ihm auf und richtete sich nach ihm. Er ahnte dies, und es tat ihm wohl.
Mit dem liebenswürdigsten Lächeln, das je eines Wenzels Lippen umspielt hatte, schritt er durch seine Straße und ließ jedem Ladeninhaber Zeit zu einem ehrerbietigen Gruß.
Täglich wuchs er mehr hinein in seinen neuen Beruf. Sein Gaumen wurde immer geübter und verwöhnter. Als er das erstemal den gediegenen Zobelpelz trug, fühlte er sich selbst als der reiche Herr. Einen Pelz zu besitzen war ihm schon zu der Zeit, in der er als Schulkind an grauen Wintermorgen fröstelnd zur Schule eilte, als etwas Ungeheuerliches erschienen.
Aber das wußte er jetzt nicht mehr. Ebensowenig wie vieles andere, von dem er nicht mehr zu sagen vermochte, ob er es erlebt oder vor vielen Jahren einmal in der Zeitung gelesen hatte.
Man kann trotz redlichen Bemühens nicht immer folgerecht im Leben handeln. Das mußte auch Sebastian Wenzel erfahren. Trotz seines tiefen Hasses gegen das andere Geschlecht wurde sein erster Gast eine Frau. Seine Nachbarin, die auf dem gleichen Flur die andere Wohnung und den von Blumentöpfen umrahmten Balkon innehatte.
Sie hieß Amalie Zwink und war ganz das Gegenteil des langen, hagern Herrn Wenzel. Auf einem kurzen, prallen, runden Körper saß ein wohlfrisierter, rotwangiger Apfel, aus dem zwei blanke Kanarienvogelaugen neugierig und freundlich blinzelten. Daß dieses runde Apfelhaupt und das übrige Rund durch einen Hals verbunden war, verrieten ein weißer Kragen und eine goldene Brosche, die sonst wohl nicht dagewesen wären. Zu sehen war er nicht.
Freundschaft ist ein Geschenk des Himmels. Ohne jedes Zutun war Sebastian Wenzel zu dieser Freundin gekommen.
Eines Tages klingelte sie bei Herrn Sebastian Wenzel und war da. Sie sagte, daß sie noch aus der guten, alten Zeit stamme, wo Nachbar und Nachbar sich besuchten, setzte sich ihm gegenüber und erzählte ihm nach wenigen einleitenden Worten ihre Lebensgeschichte.
Sie war immer ein anständiges Fräulein gewesen und jeder Mann hatte sich ihr gegenüber auch anständig benommen. Der Liebenswürdigste von allen hatte ihr ein Schnittwarengeschäft eingerichtet, das sie nun verkauft habe. Jetzt war sie Privatiere und nichts weiter. Sie wollte Ruhe haben. Ihr ganzes Leben hatte sie sich dieses Heim gewünscht, wo niemand außer ihr zu mucksen habe.
Hier nickte Sebastian Wenzel langsam. Er verstand dieses Fräulein.
Aber noch in einem wichtigeren Punkt stimmten beide Nachbarn überraschend überein. Amalie Zwink beseelte eine ebenso große und starke Abneigung gegen das weibliche Geschlecht wie Herrn Wenzel. Sie verabscheute es.
»Ich kenne die Weiber«, sagte sie. »Herr Gott, was haben sie mir zugesetzt im Leben. Dieses Geklatsch, dieses Spionieren, dieses neidische Getue. Noch heute, wo ich doch sozusagen über die Grenze bin und mich um niemand mehr zu kümmern habe, sind mir diese Teufel im Unterrock ein Greuel. Dagegen die Männer. Welch ein vornehmes Geschlecht. Wieviel Liebenswürdigkeit, Nächstenliebe und Offenherzigkeit begegnet man, wenn man nur halbwegs seine Auswahl zu treffen weiß.«
Fräulein Zwink schloß ihre Rede mit der Versicherung, daß sie das stets vollkommen anerkannt habe. Sie habe Gutes mit Gutem vergolten. –
Amalie Zwink sprach immer. Zu Haus, wo niemand außer ihr zu mucksen hatte, mit ihrem Papagei. Der widersprach nicht, sondern krähte zu allem: Recht so, mein Pappelpäppchen. Genau wie es einst sein Herr getan, dem das Fräulein diese lebende Gabe verdankte. Das war ein Kapitän gewesen, der, als er alt und müde und dick geworden war, seine Tage bei Amalie Zwink vergähnt hatte. Tief aus dem Lehnstuhl heraus hatte er auf alle Fragen der lebhaften Ladendame: Recht so, mein Pappelpäppchen, geantwortet. Als ein guter Mann mit einem Gemüt wie ein Kind war er seiner Freundin im Gedächtnis geblieben ...
Wenn Fräulein Amalie dem Papagei nichts mehr zu sagen hatte, kam sie, wie sie sich ausdrückte: auf einen Sprung zu Herrn Wenzel hinüber. Mit diesem Sprung schlug sie den Weltrekord aller Sprünge, denn er währte mindestens eine Stunde. Sie erzählte und erzählte, und es war beinahe, als ob sie zu Haus wäre. Sebastian Wenzel rührte sich nicht. Und so wie der Papagei stets liebenswürdig: Recht so, mein Pappelpäppchen lobte, sagte Sebastian Wenzel in kurzen Abständen: Wie Sie das Leben kennen, mein Fräulein.
Und diese Worte schürten aufs neue die Flamme der Beredsamkeit.
Herr Sebastian Wenzel hatte sich schon an die Eigentümlichkeiten seiner beredten Nachbarin gewöhnt. Von ihrer langjährigen Wirksamkeit hinter dem Ladentisch hatte die Dame eine eigentümliche Angewohnheit zurückbehalten. Ihr war noch immer der Meter das Maß aller Dinge. In der Eile ihrer Rede sagte sie:
»Nein, wenn ich denke; was jetzt der Meter Milch kostet. Und erst der Meter Butter.« Oder sie fragte heftig:
»Was zahlen Sie für den Meter Kaffee, werter Freund?«
Manchmal ertappte sie sich bei ihrem Irrtum und sagte lachend:
»Ja, mir steckt der Meter nun einmal im Leibe.«
An den langen Winterabenden wurde es Sitte, daß Herr Sebastian Wenzel eine Tasse Tee bei Fräulein Zwink trank. Da saßen sie sich in der wunschlosen Schläfrigkeit alternder Leute gegenüber. Neben ihnen schlief der Papagei auf seiner Stange, den Kopf unter den Flügeln. Nur wenn Amalie Zwink sich bei dem lebhaften Erzählen ihrer vielen, reichen Erinnerungen zu einem lauteren Wort hinreißen ließ, steckte er den Schnabel hervor und stotterte: Recht so, mein Pappelpäppchen. Dies weckte für gewöhnlich auch Herrn Wenzel aus seinem leichten Dusel, und er murmelte: Wie Sie das Leben kennen, mein Fräulein.
Diese Abende mußten beide gemütlich finden. Herr Wenzel war beinahe ärgerlich, als sich ein Dritter dazugesellte, trotzdem es sich um ein männliches Wesen handelte.
Es war ein alter General außer Diensten, der – nach Amalie Zwinks Aussagen – eine kleine Wohnung im Hinterhaus und das Podagra im großen Zeh hatte. Fräulein Zwink wußte dies durch den Portier. In einem ihrer nicht seltnen Augenblicke unbezwinglicher Neugier hatte sie sich auch seine Bekanntschaft erzwungen, als sie eines Tages gleichzeitig das Haus betraten.
Und auch er wurde schwach gegen sie.
Wenn auch aus ganz anderer Ursache als Herr Sebastian, den der Haß zum Weibe mit ihr verband. Er im Gegenteil konnte keinem weiblichen Wesen etwas abschlagen. Als Amalie Zwink mit dem ganzen Geschütz ihrer galanten Jugenderinnerungen anrückte, schloß er die Augen und begann sie sich jung und schlank und schön vorzustellen. Denn er träumte immer noch von den Reizen junger Frauen. Er sagte: Das Weib ist das Kleinod der Welt.
Aus diesem Grunde mußte er Herrn Sebastian Wenzel unausstehlich sein. Es war schade um den Mann, dessen ganzes Wesen sonst vornehm und einwandfrei war. Auch war Herr Wenzel nicht ganz unempfindlich gegen das Wort Exzellenz. Es war immer wieder angenehm zu hören, wenn die Haushälterin anmeldete:
»Seine Exzellenz ist da, Herr Wenzel.«
Außerdem wußte der feine alte Herr einige ganz auserlesene Gerichte. Zum Beispiel eine Pastete mit Krebsschwänzen. Noch ganz spät am Abend war er mit dem Rezept dazu angehumpelt gekommen, das er lange unter seinen Papieren gesucht hatte. Trotzdem er sich selbst alle diese guten Dinge versagen mußte.
»Das Podagra, mein Lieber, die vielen allzu guten Stunden ...« erklärte er.
Ein Lächeln lag um die welken Lippen. Die spitzfingrigen, wohlgepflegten Hände hielten ein feines weißes Tuch, dem ein zarter Blumenduft entstieg. Man sah ihm an, daß er sich um viele Jahre zurückträumte. Dann erlosch sofort alle Herzlichkeit für ihn bei Sebastian, und er fand ihn unausstehlich.
So ging es ihm wie manchem in der Welt. Den einzigen Freund, den er hatte, mochte er nicht leiden. –
Wenn sich Sebastian und Amalie wieder einmal einig über die Schlechtigkeit der Frauen waren, schüttelte Exzellenz mit leichtem Lächeln den Kopf, strich sich mit der schmalen Hand über das dünne Haar, das sorgsam gescheitelt war, und sagte:
»Glauben Sie mir, mein Freund, die Frauen haben trotzdem ihr Gutes.«
»Nichts, das wir nicht besser hätten«, murrte Sebastian Wenzel.
»Nun – nun – immerhin ...« Exzellenz versank in lächelndes Lächeln. Erst nach einer langen Pause sagte er:
»Die Liebe, mein Freund, ist alles.«
»Und die Freundschaft schätzen Sie für nichts?« rief Amalie Zwink. Seit sie die Fünfzig überschritten hatte, stellte sie die selbstlose Freundschaft höher als die Liebe. Sie nannte dies ihre Lebenserfahrung.
»Freundschaft?« Exzellenz zuckte die Schultern. »Vertraut ist jeder nur mit seinen eigenen Sorgen und Wünschen. Freundschaft ist ein Unterhaltungsspiel oder ein Betrug. Aber die Liebe ... Auf den ersten Blick versteht man einander. Nur durch die Liebe kann man sich einander verständlich machen. Darum ist man in der ersten Jugend und im Alter einsam.«
Amalie Zwink seufzte hörbar.
»Ich will nicht widersprechen«, sagte sie schwach.
»Aber ich bestreite das durchaus«, entgegnete Sebastian beinahe heftig.
»Das nehme ich Ihnen durchaus nicht übel, lieber Herr«, sagte Exzellenz.
Diese Liebenswürdigkeit entwaffnete Herrn Sebastian Wenzel. Sein Zorn verrauchte. Er wurde wieder freundlich gesinnt.
Denn er liebte die Zufriedenheit.
Wenn er wieder allein war und ihm der angenehme Dunst guter Bratensoßen oder der frische Duft saftigen Tafelobstes in die Nase stieg, sagte er sich: Was geht mich das alles an? Die Hauptsache ist, daß man sich gesund fühlt, Angenehmes zu genießen versteht und Unangenehmes vermeidet.
Dann setzte er sich auf seinen Fensterplatz, sah hinaus und überlegte, wann es wieder Zeit sei, sich den Bart schneiden zu lassen. Und so einmal ins Denken gekommen, fiel ihm bald die frische Gänseleberpastete ein, die er heute abend öffnen wollte, und ihm wurde unendlich wohl zumute.
Am Abend, als es ganz still im Zimmer war, strich er, bei behaglich gedämpftem Licht, die reich getrüffelte Pastete auf die knusprig gerösteten Semmelscheiben.
Lächelnd dachte er an den Freund, der die Macht der Liebe pries. Der hatte das Podagra.
Er hatte Leberpastete und Gesundheit.
So spann sich Sebastian Wenzel in seinem Netz kleiner Behaglichkeiten zufrieden durch die Tage. Ruhig und gesund. Dann und wann schreckte ihn auch ein Zwischenfall, aber es lief am Ende immer alles gut ab.
So zum Beispiel der Beinbruch Amalie Zwinks.
Ein schlecht besohlter Schuh hatte das stets anständige Fräulein in diesen hohen Jahren zu Fall gebracht. Sebastian hörte den Lärm vor seiner Tür und öffnete sie. Aber als er sah, daß man seine Bekannte verletzt, oder gar tot, vorübertrug, war er wieder rasch in seine Wohnung zurückgetreten.
Durch die Dienstboten erfuhr er später den wahren Zusammenhang der Dinge. Eine heftige Beunruhigung erfaßte ihn. Er wagte sich kaum vom Stuhl zu erheben.
Endlich klingelte er und veranlaßte, daß man alle seine Schuhe und Stiefel bringe. Nun ließ er auf einem Fleck des Zimmers mehrere Daunendecken übereinander legen. Auf diesem gepolsterten Boden ging er in jedem Paar einige Zeit vorsichtig auf und ab, um diese gefährlichen Dinger auf ihre Sicherheit hin zu prüfen. Bis er zu wissen glaubte, welchem Paar er sich, soweit Menschen voraussehen können, unbesorgt anvertrauen dürfe. –
Einige ungewöhnlich schwere Tage brachen über ihn herein, als ihn, trotz seines vorsichtigen und behutsamen Lebenswandels, heftiges Zahnweh befiel. So entsetzlich heftig, daß er fürchtete, zum Zahnarzt gehen zu müssen. Diesen Weg kannte er nicht. So frei wie seine Lippen vom Küssen, waren seine guten zweiunddreißig Zähne, von denen jeder noch stramm seine Pflicht tat, frei von Plomben.
Fräulein Zwink tröstete und ängstigte ihn zugleich. Sie erzählte, daß sie oft monatelang zum Zahnarzt gegangen sei. Sie riet ihm, zu einem jungen Arzt zu gehen. Das hätte auch sie stets getan. Die jungen Ärzte hätten eine leichtere Hand und einen geschickteren Griff. Und dann solle er sich Goldplomben machen lassen. Die nimmt man noch in den Sarg mit.
Sebastian schauderte. Er wollte überhaupt nicht zum Zahnarzt gehen.
Er fragte den feinen, lebensgewandten General um Rat. Ob er denn kein Mittel gegen Zahnschmerz wisse.
»Ausziehn lassen«, sagte dieser.
»Das war vielleicht zu Ihrer Zeit Sitte. Heute tut man das nicht mehr«, rief Sebastian entrüstet. »Lesen Sie doch die Anzeigen in den Zeitungen.«
»Ihr Schmerz reißt Sie hin«, sagte der andere. »Ich weiß nur ein Radikalmittel, das einmal ein Soldat in meinem Regiment anwendete.«
»Nun?« fragte Sebastian gespannt.
»Er riß, von Schmerz gepeinigt, seine Pistole heraus und schoß den Zahn nieder.«
»Nicht möglich«, stieß Sebastian hervor. »Und das half?«
»Ja, das half gründlich. Aber bei Ihrer sehr begreiflichen Vorliebe für das Angenehme würde ich Ihnen doch raten, es erst einmal mit Kamillenumschlägen zu versuchen.«
Zorn und Zahnschmerzen bohrten und pochten in Sebastian. Wütend ging er nach Haus. Er zog die Vorhänge zu und machte sich Kamillenumschläge.
Da kam Amalie Zwink auf einen Sprung herüber. Sebastian hatte den Umschlag mit einem Riemen am Kopf angeschnallt und sah aus seinem Maulkorb mit bösen Augen auf die Nachbarin. Jetzt wird sie wieder in fünf Minuten von hundert ausgezogenen und tausend plombierten Zähnen sprechen und das ganze Zimmer mit Lachgas, Chloroform und Kokain erfüllen. Alle Weiber sollten dauernd unter Narkose gelegt werden, dachte er und wendete der Besucherin den Rücken.
»Hier hab ich etwas für Sie«, sagte Fräulein Zwink. »Es hat Tausenden geholfen.«
Das veranlaßte Sebastian, sich widerwillig umzudrehen und ein dargereichtes Fläschchen ärgerlich an sich zu nehmen.
Entsetzt prallte er zurück. Ein Totenkopf fletschte ihn an.
Was bedeutete das? In plötzlicher Ideenverbindung schnellte sein Blick von dem Fläschchen nach der Kouponschere drüben auf dem Schreibtisch. Was hatte dieses Weib mit ihm vor? Dabei pochte es in dem Zahn zum Verrücktwerden.
Amalie Zwink gab indessen ahnungslos in rascher, reicher Rede alle Anweisungen für die Verwendung des Mittels. Es war Jod, und ein Pinsel war auch dabei.
»Leise, leise über das Zahnfleisch streichen, lieber Herr Wenzel«, rief sie noch einmal in der Tür.
Sebastian warf ihr einen bösen Blick nach und schnallte sich seinen Maulkorb ab. Er war fest entschlossen, dieses Gift nicht in die Nähe seiner Lippen kommen zu lassen.
Zahnschmerz durchnagt die festesten Entschlüsse.
In der Nacht stand Sebastian auf und griff mit zitternden Fingern zum Fläschchen. Leise, leise strich er über das Zahnfleisch.
Am andern Morgen erwachte er ohne Schmerzen. Große Dankbarkeit gegen Amalie Zwink erfüllte ihn. Er zweifelte beinahe an ihrer Zugehörigkeit zu dem andern verruchten Geschlecht.
Exzellenz bemerkte Herrn Wenzels dankbare Freude und sagte:
»Sein Sie vorsichtig, lieber Freund. Machen Sie ihr keinen Heiratsantrag im Überschuß Ihres Glücks. Sie haben dann wieder niemand, bei dem Sie des Abends eine Tasse Tee trinken können.«
»Sie kennen mich wenig, Exzellenz«, erwiderte Sebastian würdig.
Aber er zeigte seine Dankbarkeit doch. Alle leeren Marmeladenbüchsen aus seiner Speisekammer ließ er zu Fräulein Zwink hinüberschaffen. Er hatte nicht vergessen, daß sie ihn kürzlich um etwas bat, in dem sie das Papageienfutter aufbewahren konnte.
Der Zahnschmerz kehrte nicht zurück. Bald war dieser Schreck überwunden und vergessen. Nach wenigen Tagen rechnete Amalie Zwink wieder unbedingt zum weiblichen Geschlecht, und alles ging wieder seinen gleichmäßigen, ruhigen Gang. –
Man war wieder einmal in der reichsten Zeit des Jahres, wenn überall die Welt in Blüten steht.
Von jeher hatte Sebastian Wenzel das Leben im Sommer doppelt angenehm empfunden. Wenn ihm die langen Tage und die ersparte Lampe auch nicht mehr dasselbe bedeuten konnten wie früher, brachten sie ihm dafür reichlich andere Freuden.
Wieviel Anregung brachte man von einem Sommerspaziergang nach Haus. Die Auslagen der Gemüse- und Obsthändler glichen wahren Ausstellungen. Wenn man zurückkam und wieder im kühlen Zimmer saß, konnte man stundenlang die verschiedenartigsten Speisezettel zusammenstellen. Und gesunde Mahlzeiten, denen man sich wirklich ohne Sorgen und Gewissensbissen hingeben konnte.
Die köstlichen Grützen von Johannistrauben und Himbeeren. Die grünen kleinen Erbsen, leicht durchwellt von kräutiger Sommerbutter. Reife rote Tomatenscheiben unter Weinessig und französischem Öl. Duftende Erdbeeren unter geschlagener süßer Sahne, die auf Eis gekühlt war. Weißwein, ein wenig von Waldmeister durchzogen und gewürzt. Der Sommer hatte sein Gutes, das stand ohne Zweifel fest.
Fräulein Zwink packte einen schwarzen Wachstuchkoffer, legte einen wallenden blauen Schleier um ihren Regenhut und fuhr in eine Sommerfrische an der See.
»Ich begreife Sie nicht«, sagte sie zu Herrn Sebastian Wenzel, als sie sich verabschieden kam. »Wenn ich Sie wäre ...« und sie sah sich im Zimmer um, als suche sie den Geldschrank, an den sie im Augenblick dachte.
»Niemand kann aus seiner Haut«, sagte Sebastian.
»Nun, man braucht wohl nicht gleich aus der Haut zu fahren, wenn man eine kleine Reise tut«, entgegnete Amalie Zwink. Sie war gereizt und hatte Reisefieber. Außerdem vertrug sie keine Hitze.
»Wenn ich nicht wüßte, daß man überall auf Weibervolk stößt ...« Sebastian betrachtete die erregt Atmende mit spöttisch zugekniffenen Augen.
»Das kann man vermeiden, wenn man will. Ich bin immer nur mit Herren gereist«, erwiderte Fräulein Zwink voll Würde. Dann ging sie.
Sebastian sah hinter den Pelargonien zu, wie sie mit Koffer, verschnürten Schachteln und Schirmrollen davonfuhr.
Er dachte: In dieser Zeit der jungen Gänse, frischen Gemüse und reifen Früchte braucht man wirklich keinen menschlichen Umgang. –
Der General jedoch verreiste auch nicht. Er sagte, daß er zu alt dazu sei. Dann und wann kam er auf Herrn Sebastian Wenzels schattigen Balkon, um Sommerluft zu atmen.
Meist saßen sich die beiden Männer schweigend gegenüber. Sebastian hatte genug mit seinen Speisezetteln zu tun. Drängten sich doch alle die guten Sachen auf eine kurze Zeit zusammen. Es war nicht leicht, diese Fülle des Guten wirklich geschickt auszunutzen, Nachdenken und Überlegen gehörte dazu. Aus seinem Grübeln heraus konnte er entrüstet sagen:
»Es ist beinahe lächerlich, daß Kirschen, Erdbeeren, ja, alle Beerensorten und Pfirsiche und Aprikosen zu gleicher Zeit reifen. Es ist doch ausgeschlossen, daß man da allen gleichmäßig gerecht werden kann.«
»Warum haben Sie nur diese rauhen Pelargonien auf dem Balkon? Lieben Sie keine Rosen?« sagte der alte Herr statt einer Antwort.
»In dieser Jahreszeit, wo sie preiswert sind, mag ich sie eigentlich recht gern«, erwiderte Sebastian nachdenklich. Er beschloß, sich den nächsten Vormittag freizuhalten, um einige Rosenstöcke zu kaufen.
Der Sommer wurde sehr heiß.
Herr Sebastian Wenzel nahm jeden Tag ein kühles Bad in seiner Badestube und fühlte sich ungemein wohl.
»Wie man sich nach dem Meer sehnt«, sagte der alte General. »Ich verstehe nicht, wie es ein Mann wie Sie hier aushalten kann.«
»Ich bade doch hier«, antwortete Sebastian. »Auch im Meer kann schließlich auf meinen Körper selbst nicht mehr Wasser kommen als in einer Wanne.«
Exzellenz seufzte und erwiderte nichts.
Nach einer Weile sagte er:
»Ich verstehe es, daß Sie niemals geliebt haben, Herr Wenzel.«
»Also doch, das freut mich.« Sebastian wurde fast lebhaft. »Gerade Sie, der Sie die großen Erfahrungen haben, Sie müssen mir im Grunde recht geben. Wieviel nutzlose Erregung, Mühe und Unkosten hab ich mir dadurch erspart«, rief er erfreut.
Sein Freund sah ihn lächelnd an.
»Es wird uns nichts erspart, mein Lieber«, sagte er. »Sie werden auch noch daran glauben müssen. Altes Holz brennt am besten.«
Sebastian lachte. Das war etwas sehr Ungewohntes und sah aus, als ob sich der ernsthafte Herr Sebastian Wenzel verschluckt habe.
»Vielleicht – Fräulein Zwink«, sagte er und verschluckte sich wieder.
»Selbst das wäre möglich. Ehe der Sargdeckel nicht zuklappt, ist kein Mann sicher«, antwortete der General. Er richtete sich mühsam auf, um einem weißgekleideten jungen Mädchen, das leichten Schrittes durch die Straße ging, möglichst lange nachsehen zu können.
»Wie würde ich dieses Mädchen lieben, wenn ich selbst noch liebenswert wäre«, murmelte er.
Sebastian wurde verstimmt. Das Wort Sarg war ihm unappetitlich. Anspielungen auf Alter und Tod brachten ihn um alle Laune. Störten ihm Schlaf und Verdauung.
Man sollte überhaupt mit niemand sprechen, sagte er sich, als er des Abends ins Bett stieg. Was hat man von andern Menschen? Nichts als Beunruhigung. Würde man sich selbst je etwas Unangenehmes sagen? Nein. Das hat man nur von andern zu erwarten.
Im Bett verzehrte er noch von einem feinen Glastellerchen einen saftigen Pfirsich.
Dabei dachte er: Merkwürdig, daß sich die Zunge, der allein wir den Geschmack verdanken, auch zu ödem Geschwätz hergeben muß.
Dann schlief er ein.
Als Erdbeeren und Kirschen schon vorüber waren und man sich mit Reineclauden trösten mußte, kam Fräulein Zwink von der Reise zurück. Sie war eine andre geworden. Ihre Vorliebe für die Männer war erloschen.
Erst nach einigen Tagen beim Tee erfuhren ihre Freunde, aus welchem Grund das Fräulein ihren Geschmack geändert hatte.
Amalie hatte in der See im Familienbad gebadet. Da kam ein Herr auf sie zu. Er maß ihre volle Figur, die im roten Badeanzug zwischen den Wellen wogte, und sagte seufzend: Weniger wäre hier mehr. Alle um sie herum hatten laut aufgelacht.
»Wenn es viele solche Männer gibt, dann kenne ich mich nicht mehr aus in dieser wunderlichen Welt«, hatte Fräulein Zwink ihre Erzählung beendet.
»Man badet dort mit dem weiblichen Geschlecht zusammen?« fragte Herr Sebastian Wenzel. Ekel lag auf seinem Gesicht.
»Nun – nun –« erwiderte Exzellenz begütigend der aufgeregten Amalie. »Es war ein dummer Scherz. Von Ihren Reizen konnte Ihnen damit nichts genommen werden.«
Fräulein Zwink sah ihn mißtrauisch von der Seite an.
»Ich weiß nur, daß die Männer früher anders waren«, sagte sie bestimmt.
»Recht so, mein Pappelpäppchen«, schrie der Papagei und schlug mit den Flügeln. Aber seine Herrin rief: »Kusch, alter Schwätzer.« Man merkte, daß sie den Papagei zum andern Geschlecht zählte.
Ihr Glaube war erschüttert. Die alte Gemütlichkeit zwischen den dreien wollte nicht wiederkommen.
Auch der Sommer wurde alt. Die ersten Herbstregen fielen. Im großen Zeh der Exzellenz zwickte das Podagra. Amalie Zwink sagte:
»Nun haben wir wieder einmal alles hinter uns.«
Sebastian Wenzel antwortete:
»Immerhin kommen noch die Trauben und Nüsse.«
Doch schien auch Herrn Sebastian Wenzel etwas zu zwacken. Er hatte die Doppelfenster einsetzen und die Filzstreifen gegen den Zugwind annageln lassen, er hatte die Speisekammer mit eingelegten Früchten und Gemüsen gefüllt – und doch schien er nicht zufrieden zu sein. Er saß auf seinem gewohnten Platz, aber nicht mehr mit der ruhig lächelnden Miene des Zuschauers. Eher schien ihn die Erregung des Mitspielenden zu plagen, der auf sein Stichwort wartet.
Alles ärgerte ihn; auch der Anblick seiner beiden Bekannten – und doch suchte er häufiger als sonst ihre Gegenwart.
Er sah Amalie Zwink oft und lange prüfend an. Er hätte gern gewußt, wie alt sie war. Sie darum zu fragen fand er überflüssig. Frauen sagen nicht die Wahrheit.
Amalie Zwink beunruhigte dieses Anstarren. Sollte es möglich sein? Nun, er war nicht der erste, dem sie gefiel. Nach einiger Überlegung kaufte sie sich einen neuen, dicken Zopf. Einige Tage später auch das Korsett, wovon in der Zeitung stand, daß es nicht nur hüftenlos und schlank mache, sondern auch eine Vorrichtung habe, mit der man bequem darin sitzen könne. Das letztere war übertrieben, wie vieles, was in der Zeitung steht. Sich damit zu setzen war ein schwieriger Trick, der geübt sein wollte, wie alle akrobatischen Kunststücke. Aber schließlich gelang es, und schließlich verdankte Fräulein Zwink dieser neuen Erwerbung den glücklichsten Augenblick jedes Tages. Das war am Abend, wenn die eisernen Verschlüsse aufkrachen durften und alles, was irdisch an ihr war, sich wieder frei bewegen konnte.
Herr Sebastian Wenzel merkte keinerlei Veränderung. Die unappetitliche Haarschlange auf ihrem Kopf vermeinte er immer gesehen zu haben, und die Hüftenlosigkeit konnte er nicht bemerken. Sein strenger Blick ging niemals tiefer als bis zur zweiten Etage ihres Doppelkinns, das rosig und leicht behaart war.
So wird im Leben viel kostbarer Aufwand vergebens getrieben. –
Den alten General aber fragte Herr Sebastian Wenzel eines Tages geradezu nach seinem Alter.
Er zögerte mit der Antwort.
Dann sagte er langsam:
»Nun, im Vertrauen auf Ihre Verschwiegenheit, ich bin seit zehn Jahren fünfundsechzig Jahre alt.«
Sebastian sah ihn mitleidig an.
»Denken Sie schon manchmal an den Tod?« flüsterte er. Er sah sich scheu und rasch im Zimmer um.
»Nein«, erwiderte der andere ruhig. »Manche behaupten zwar, daß man sich auf den Tod vorbereiten müsse – ich glaube aber, daß er mir ohne Vorübungen gelingen wird.«
»Ja«, sagte Sebastian nach einer Weile. »Es ist wohl das beste, sich solche Gedanken fernzuhalten.« Und wieder nach einer Weile fügte er hinzu:
»Denken Sie, meine Tante wurde beinahe hundert Jahre alt.«
»Eine tüchtige Frau.« Der General lächelte.
»Ja«, meinte Sebastian, »aber ich glaube, Frauen sind dauerhafter.«
Der General wußte, wie Herr Sebastian Wenzel die Frauen verabscheute. Sonst hätte er in diesem Augenblick denken können, daß Herr Wenzel die Frauen beneide.
Die beiden Herren schwiegen. Vor dem Fenster, an dem sie saßen, schwebte der Schnee fort und fort still herab. »Ein früher Winter«, sagte Exzellenz. »Der Winter kommt immer zu früh und der Frühling zu spät. Oder scheint es uns nur so?«
Sebastian Wenzel sah ernst auf den Schnee. Er schien berechnen zu wollen, wieviel Flöckchen niedersanken.
»Sie werden Ihrer Tante keine Unehre machen«, fing der General wieder an. »Sie haben das Zeug dazu, um mehr als hundert Jahre alt zu werden. Sie besitzen das Glück der Gleichmäßigkeit und die Gabe innerer Zufriedenheit, wie selten jemand.«
»Oh«, lehnte Herr Wenzel angenehm berührt ab.
»Ich bin überzeugt davon«, fuhr der General fort. »Das ewige Einmaleins der Ärzte ist: Hüten Sie sich vor Aufregung. Wer aber kann das befolgen? Sie sind der erste, den ich diesem Ausspruch gemäß leben sah.«
»Sie irren, ich habe auch meine Aufregungen«, sagte Sebastian würdig. »Erst heute mittag zum Beispiel. Denken Sie nur, da vergaß die Köchin, diese flüchtige Person, bei dem Entenbraten, den sie mir vorsetzte, das Kümmelsäckchen, das im Leib der Ente mitzubraten hat, zu entfernen. Sie brachte es also mit der Ente auf den Tisch, ich zerschneide das Säckchen zusammen mit dem Vogel, und die Kümmelkörner werden zerstreut. Man braucht nur auf eins dieser Körnchen zu beißen und kann sich, abgesehen von dem abscheulichen Geschmack, das ernsthafteste Zahnweh zuziehen.«
»Sehr unangenehm«, erwiderte der General. »Aber an diesen Aufregungen stirbt man nicht. Seien Sie unbesorgt, mein Freund.« –
Aber Herr Wenzel war nicht unbesorgt und nicht mehr zufrieden mit seiner Zufriedenheit. Wenn er in dem winterlich dunkeln, gut geheizten Zimmer saß, quälte ihn das Gefühl, daß im nächsten Augenblick jemand Ungebetenes hereintreten könne. Wenn er von seinem Spaziergang zurückkehrte, sah er sich im Zimmer um, ob inzwischen niemand gekommen war.
Er fürchtete das Alter.
Er sah etwas Unangenehmes auf sich zukommen, dem er nicht aus dem Weg gehen konnte. Denn das geschmacklose Wort, wer nicht alt werden will, muß jung sterben, gefiel ihm noch weniger.
In wenigen Tagen würde er sein sechzigstes Lebensjahr vollendet haben. Seine Freunde ahnten es nicht. Es würde sie auch sicherlich wenig beunruhigen, sagte er sich verärgert und bitter.
Aber ihn beunruhigte es.
An den langen Winterabenden hatte er aus alter Vorliebe für Zahlen seine Jahre nachzurechnen begonnen. Und er hatte herausbekommen, daß er, trotz aller Sparsamkeit, die größere Hälfte seines Lebens verbraucht zu haben schien; selbst wenn er annahm, daß im Erbe der Tante auch die Höhe ihres Alters mit inbegriffen war, blieben ihm nicht mehr volle vier Jahrzehnte für sein weiteres Dasein.
Er sann nach, was ihm die vergangenen Jahrzehnte gebracht hatten. Es war Angenehmes dabei. Aber er wurde doch nicht froh darüber. Was hatte er davon, wenn es hinter ihm lag. –
Eine seiner stillen Freuden war bis jetzt die Pünktlichkeit seiner Uhren gewesen. Er hatte in jedem Zimmer ein solches Räderwerk stehen und er sorgte unermüdlich dafür, daß sie alle gleichgingen und vor allen Dingen alle möglichst gleichzeitig schlugen. Dies zu erreichen hatte er sich manche Minute seines Lebens kosten lassen. Jetzt ärgerten ihn diese hartnäckigen Dinger. Mitten hinein in seine Berechnungen hämmerten sie ihre Schläge, um ihn zu verhöhnen. Riefen sie doch nichts anderes, als daß wieder eine Stunde vorbei sei. Was ging ihn das an? So alt war er schließlich noch nicht, daß es auf eine Stunde mehr oder weniger ankam. –
So schlich sich sein sechzigster Geburtstag heran.
Herr Sebastian Wenzel war am dreiundzwanzigsten Dezember geboren. An dem Tage, an dem Gott selbst sparsam mit Licht und Wärme war, wie sonst nicht im ganzen Jahr.
Diesmal lag die große Stadt unter einer weißen, feierlichen Decke. Der Schnee warf einen milden Glanz in die dunkeln Morgenstunden des Wintertags.
Sebastian Wenzel saß beim Frühstück. Das Zimmer war behaglich durchwärmt, und ein köstlicher Kaffeeduft durchquerte es. Sehr sorgfältig bestrich Sebastian die knusprigen Brötchen mit Butter, die hell und ungesalzen war. In diesem Augenblick hatte er die Bedeutung dieses schicksalsschweren Tages vergessen.
Aber schon rüstete man sich, um den Ahnungslosen zu stören – zu feiern.
Überall, wo Mitglieder der Familie Wenzel wohnten, öffnete man die Schränke und holte die Feiertagskleider hervor. Die Feiertagskleider und ein Geschenk, das gehörte sich nun einmal so.
Es gibt in jeder anständigen Familie ein Geschenkfach. Das heißt, man hat in der Wohnung eine Stelle, wo man jene guten Gaben aufhebt, bei deren Empfang man sich, während man sich herzlich bedankt, sofort sagt: An wen werd ich dies wieder loswerden? Es sind die Gegenstände, die sich selbst der Anspruchsvollste niemals wünscht, aber auch der Bescheidenste nicht zu benutzen weiß. Kurzum Dinge, die als Geschenke geboren und für nichts andres zu verwenden sind. Wie der ewige Jude durch die Welt, wandern sie durch die Familien. Wer sie weitergibt, hat nur darauf zu achten, daß sie nicht sofort zu dem zurückkehren, von dem sie kamen. Sebastian gegenüber war diese Sorge nicht nötig und jeder Irrtum ausgeschlossen. –
Gegen Mittag, als die messinggelbe Wintersonne aus den Wolken heraus einen raschen Blick über die verschneite Stadt warf, klingelte es zum erstenmal bei Herrn Sebastian Wenzel.
Dieser sah gerade sinnend auf den sonnigen Schein hinter den Scheiben. Er hatte beschlossen, noch einen Spaziergang vor Tisch zu machen. Er überlegte nur noch, ob er die wärmste Sorte von Strümpfen, die aus Kamelhaar, anziehen solle, oder ob die aus weicher pyrenäischer Wolle genügen würden.
Als ihn das Klingeln in seinen Erwägungen störte, dachte er, daß es Amalie Zwink auf einem ihrer Sprünge sei. Denn Exzellenz humpelte bei Schnee nicht aus dem Zimmer. Er runzelte die Stirn und verschwand mit langen, ärgerlichen Schritten hinter der Tür seines Schlafzimmers. Knallend schlug sie zu.
Er tat seiner Nachbarin sehr unrecht.
Sie stand in diesem Augenblick vor ihrem Herd, durchaus nicht hüftenlos und ohne den neuen Zopf, und briet sich, ganz ihrem Tun hingegeben, eine Taube.
Vor Sebastians Tür stand Vetter Fritz, mit dem Herr Wenzel einst auf die Bäume geklettert war. Mißtrauisch ließ ihn die Wirtschafterin näher treten. Der Atem des dicken Herrn pfiff durch die stille Wohnung. Sie pochte heftig an die Tür und sagte:
»Herr Wenzel, da ist noch ein Herr Wenzel.«
Erschreckt trat Sebastian aus der Tür und stand dem Vetter gegenüber.
»Ich gratuliere dir, lieber Sebastian«, sagte dieser. »Und Glück für die andere Hälfte des Lebens.«
Er lachte, was seinen Atem noch mehr in Unordnung brachte. Sebastian zog erstaunt die Augenbrauen hoch und sagte:
»Setze dich doch und hole langsam Atem.«
Diese Worte begleitete die Wohnungsklingel mit einem Läuten. Gleich darauf schellte es wieder, dann wieder und wieder. Man hörte das dumpfe Gemurmel von Stimmen, wodurch sich Unglücksfälle oder große Feierlichkeiten verraten.
Sebastian riß die Tür auf und rief: »Was ist denn geschehen?«
Da kamen seine Schwestern herein. Beide trugen in Seidenpapier gehüllte Pakete, die sie aber nicht hinderten, den Bruder zu umarmen.
»Nichts ist geschehen«, sagte die Ältere feierlich. »Nichts, als daß unser Sebastian sechzig Jahre alt wird.«
Sie zerdrückte eine Träne und überließ es jedem selbst, sich über die Ursache dieses salzigen Tropfens klarzuwerden.
Sebastian hatte keine Zeit, darüber nachzudenken.
Seine Schwager umarmten ihn, seine Cousinen versuchten ihn zu küssen. Verheiratete Nichten mit Männern, die er nie gesehn zu haben meinte, Kinder, die er nicht kannte, alle waren in seine Wohnung gedrungen und umgratulierten ihn, der steif wie ein Pfahl unter ihnen stand.
Erstaunt und entsetzt starrte er geradeaus. Er glich einem Nachtwandler, der plötzlich im Löwenkäfig erwacht.
Schließlich setzten sich die älteren Besucher auch ohne Aufforderung. Die Kinder sprangen herum und prüften die umherstehenden Gegenstände auf ihre Festigkeit.
»Nun, Sebastian, willst du nicht unsere kleinen Gaben auspacken?« sagte seine ältere Schwester.
Sie war es, die sich an das Datum des Tages erinnert und die andern darauf aufmerksam gemacht hatte. Daher empfand sie eine Art Verantwortungsgefühl. Während Sebastian gehorsam in den Berg von Seidenpapier griff und auszuwickeln begann, sah sie sich beunruhigt und vergeblich nach dem üblichen Imbiß um, ohne den keine wahre Feier zu denken war. Sebastian mußte seiner Familie etwas anbieten. Er blamierte sich sonst vor sich und vor allen.
Sie ging zur Wirtschafterin hinaus.
Diese wußte von keiner Feierlichkeit, die hier im Hause gefeiert werden sollte. Aber sie gehorchte nicht ungern, als die Dame sie beorderte, rasch einige Torten vom Konditor holen zu lassen, Brotscheiben zu belegen, Wein zu entkorken.
Als die Schwester wieder in das Zimmer zurückkehrte, hatte Sebastian fünf Standuhren und zwei hohe Barometer enthüllt.
Die Uhren waren alle verschieden und sich doch durchaus nicht unähnlich. Sie arbeiteten eifrig, aber ihre Zeiger verrieten, daß sie sich untereinander nicht ganz einig waren. Eigenschaften, die bei den Mitgliedern einer Familie häufig vorkommen.
Den Barometern ging es nicht besser. Das eine meldete: Schön Wetter. Das andere: Nebel. Vor den Fenstern schneite es wieder.
Die vielen Uhren tickten übereifrig in die Stille.
Selbst die Geber waren betroffen und schwiegen. Endlich ergriff eine der verheirateten Nichten das Wort. Sie galt als sehr weltgewandt in der Familie und hatte, wie ihre Mutter sagte, ein besseres Los verdient. Sie war mit einem Steuereinnehmer verheiratet, der gern Pfarrer geworden wäre.
»Ja«, sagte diese Nichte. »Das ist die Großstadt mit ihren großen Entfernungen. Keiner hat Zeit für den andern. Sonst hätten wir uns besprechen können.«
»Gewiß«, riefen die andern und sahen dankbar zu der Sprechenden, die sich ihrer Wichtigkeit bewußt war und mit schiefgezogenem Mund und halbgeschlossenen Augen über ihre Familie hinwegsah.
»Was geschehn ist, ist geschehn«, sagte Vetter Fritz, der ein Barometer gebracht hatte.
»Ich wußte nur eins, von Kindheit an«, sagte eine der Cousinen schweratmend und beleidigt, »der Sebastian liebt die Uhren. Ich hoffte ihm eine Freude zu machen.«
Die letzten Worte klangen befehlend. Alles sah jetzt zu Sebastian. Er blickte von einem Zifferblatt auf das andre und dachte ängstlich: Fünf Nager mehr, die mir die Stunden zernagen.
Aber kein Wort des allseitig erwarteten Dankes kam über seine Lippen.
Die Verwandten sahen sich stumm untereinander an. In solchen Augenblicken verstehn sich Familien schweigend.
Augenblicke tiefsten Verständnisses dürfen nicht zu lange ausgedehnt werden, da nichts in der Welt so bleibt wie es ist. Es war daher ein günstiger Zufall, daß jetzt die Tür aufgerissen wurde und die Wirtschafterin hereinkam mit Torten, mit blanken, melodisch aneinanderklingenden Gläsern, mit allen den guten Dingen, die einen Geburtstag erst feierlich machen.
Sebastian sah auf.
»Wo haben Sie das her?« fragte er die Haushälterin.
»Vom Konditor herübergeschickt«, war die kurze Antwort der eifrig mit Tellerchen und Löffeln Klappernden.
Sebastian merkte sofort, daß auch jene Speise aus Mokka-Creme darunter war, der er vor allen Torten den Vorzug gab.
»Ich danke euch herzlich«, sagte er plötzlich laut und schüttelte allen der Reihe nach die Hand. Der Bann war gebrochen. Man gruppierte sich um den Tisch und griff zu.
Die Löffel klapperten, die Uhren tickten.
Sebastian saß lächelnd unter seinen Verwandten. Er verzehrte langsam ein gehäuftes Tellerchen voll von der vorzüglichen Speise. Allerdings mit Gewissensbissen. Süßes so kurz vor Tisch genossen verdirbt den Appetit. Aber einmal ist keinmal. Hoffentlich.
Eigentlich lag der allgemeinen Freude – wie oft im Leben – auch hier ein Irrtum zugrunde. Denn Sebastian hielt den reichgedeckten Tisch für eine Aufmerksamkeit seiner Verwandten, daher hatte er sich plötzlich so lebhaft bedankt.
Viel wurde nicht gesprochen. Jeder wollte liebenswürdig sein und nichts reden, was Sebastian ärgern konnte.
Aber da kam jemand, der aller Wortkargheit ein Ende machte.
Amalie Zwink hatte ihre Taube nicht in Ruhe zu Ende essen dürfen. Ihr Mädchen kam herein und sagte: »Da klingeln und klingeln schwarzgekleidete Leute an Herrn Wenzels Tür und gehen hinein und kommen nicht wieder heraus. Vielleicht ist der Herr gestorben.«
Fräulein Zwink sah totenbleich auf den Taubenknochen in ihrer Hand. Was heute dem einen geschieht, kann morgen den andern treffen, fuhr es entsetzensvoll durch ihren Kopf. Der arme, arme Mann, und Tränen rannen aus ihren Augen.
Mit zitternder Stimme bat sie das Mädchen, leise an der Hintertür der Nachbarwohnung zu klopfen und anzufragen, was geschehen sei.
Das Mädchen kam zurück und meldete, daß Herr Wenzel nicht tot sei, sondern sogar etwas Feierliches feiere. Was, wisse auch die Wirtschafterin nicht. Im nächsten Augenblick stand Fräulein Amalie vor dem Toilettentisch in ihrem Schlafzimmer und schlug den Panzer um ihres Körpers Reichtum. Damit war der erste Schritt zum Gesellschaftsmenschen getan. Hastig arbeitete sie weiter an seiner Vollendung.
Schon acht Minuten später stand sie lächelnd unter der Familie Wenzel. Eine Minute darauf wußte sie den Grund dieser seltenen Ansammlung und hatte ihrem alten Freund auf das innigste gratuliert. Und wieder eine Minute später saß sie, ein Löffelchen in der Hand, vor einem Teller. Schmatzend, schwatzend.
Sie wurde schnell der Mittelpunkt der Frauengruppe. Die Männer rückten etwas ab und sahen schweigend in den Rauch ihrer Zigarren. Die Kinder, die sich endlich weniger beobachtet fühlten, näherten sich vorsichtig mit den Zeigefingern den Kuchenresten. Feierliche Familiengemütlichkeit herrschte in Sebastians Junggesellenwohnung.
Amalie und die Damen Wenzel sprachen von den hohen Preisen des täglichen Lebens. Tiefe Entrüstung verband sie. Allerdings, als Amalien zum erstenmal: ein Meter Gans, ein Meter Butter, entfuhr, hatte es Wenzels – was sie sich später mitteilten – ordentlich gegruselt. Aber dann hatte Fräulein Zwink geschwind und geschickt erzählt, woher ihr der Meter noch im Leibe stecke und ihre Unachtsamkeit damit wieder gutgemacht. –
Dann und wann trank einer der schweigenden Männer Sebastian zu, der sich darauf ungelenk verbeugte.
»Ja, man muß nicht zuviel und nicht zuwenig vom Leben verlangen. Das ist das Kunststück«, sagte der Mann der Schwestertochter, der gern Pfarrer geworden wäre. Er trank dabei zum fünftenmal mit einem vollen Gläschen auf das Wohl des Onkels.
Endlich erhob sich als erster Vetter Fritz. Er bürstete sich seinen Schnurrbart um den jeder Seehund ihn beneidet hätte, und sagte schnaufend:
»Wie spät mag es sein? Vor lauter Uhren weiß man die Zeit nicht.«
Er lachte so heftig über seinen Scherz, daß Sebastian in die größten Unannehmlichkeiten zu kommen fürchtete. Es sah ganz so aus, als wollte der Mensch hier ersticken und verröcheln.
Der übrigen Familie war dieses Rasseln ein gewohntes Geräusch. Niemand kümmerte sich darum. Durcheinandersprechend suchte man seine Überkleider zusammen und ging endlich davon.
Ein kleiner Knabe hatte bis zuletzt den fremden Onkel in großer Neugier umkreist. Lächelnd über diese Zutraulichkeit strich Sebastian über den glattgeschorenen Kopf mit den abstehenden Henkelohren. So bin ich auch einmal herumgelaufen, dachte er wehmütig, beinahe gerührt. Der Knabe sagte mit mutiger, heller Stimme: »Zeige mir bitte den Stuhl, wo du immer sitzt, lieber Onkel.«
Lächelnd tat Sebastian dem törichten Kind seinen Willen. Dieses befühlte den Sitz von allen Seiten, sagte enttäuscht: »Auch Großmütter lügen« und sprang eilig davon.
Sebastian schüttelte den Kopf. Kinder waren noch schwerer zu verstehn als Erwachsene.
Er konnte nicht wissen, daß das Kind den häufig gehörten Worten seiner Großmutter, der Schwestern von Sebastian, vergeblich nachgeforscht hatte. Sobald die Rede auf den Bruder kam, pflegte diese zu sagen: »Sebastian sitzt auf seinem Geld.«
Leicht hätte die kleine Rührung, die der ungewohnte Weingenuß am Vormittag verursachte, Sebastian auf den Gedanken bringen können, sein Testament zu machen und gerade dieses zutrauliche Kind als Erben einzusetzen. Denn alles wiederholt sich, sagen die Philosophen.
Die Uhren lenkten Herrn Wenzel ab. Er sah mit Schreck, daß bei zweien der Pulsschlag ausgesetzt hatte, und er begann sie zart zu rütteln und zu schütteln. –
Die Gratulanten tappten durch den Schnee. –
»Wir müssen uns von nun an mehr um Sebastian kümmern«, sagte seine ältere Schwester, die noch immer über ihre alte Energie verfügte. »Es ist in seinem eignen Interesse. Die fette, asthmatische Person fängt ihn sonst ein.«
»Das ist schon möglich«, antwortete die andre, bedächtigere.
»Unpraktisch genug scheint der Onkel zu sein«, sagte die weltgewandte Tochter. »Was würden andre mit seinem Geld anfangen.«
Dann trugen die Straßenbahnen sie in alle Windrichtungen. –
Inzwischen hatte Sebastian erfahren, daß er selbst der Spender dieses reichen Festtisches war.
Rot vor Zorn stand er vor der Wirtschafterin. Sie schüttelte ergebungsvoll den Kopf. Sie habe gedacht, daß die dicke alte Dame im Auftrag des gnädigen Herrn handle.
Auf weitere Vorwürfe kicherte sie. Sie hatte in einem hohen Grad von Ordnungssinn alle Weinreste geleert.
Der Herr solle sich nur nicht kränken, mahnte sie. Man kann nur einmal sechzig werden. Und sie kicherte wieder.
Sebastian war entwaffnet. Alle seine peinigenden Gedanken waren wieder da. Sie hatte recht, zweimal sechzig konnte man in unserer Zeit nicht mehr werden.
Wie mag das eigentlich mit Methusalem gewesen sein? Ob die alten Juden sich einer besonders bekömmlichen Lebensweise befleißigt hatten?
Am Nachmittag seines Geburtstages blätterte Herr Sebastian Wenzel in der Bibel ...
Gegen Abend ging er zur Exzellenz hinüber, dem er die Reste der Mokkatorte und eine geöffnete Flasche Wein geschickt hatte.
Er wollte sich aussprechen.
Der alte General winkte lächelnd ab.
»Ich weiß alles. Durch einen Seitensprung unserer Amalie«, rief er.
Sebastian setzte sich ihm gegenüber. Müde und abgespannt.
»Ja«, sagte sein Freund. »Die liebe Verwandtschaft. Man wollte sehn, wie lange es noch dauern wird, bis man das fette Schwein schlachten kann.«
»Meinen Sie mich mit dem fetten Schwein?« fragte Herr Wenzel unruhig.