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Alice Berend (1875 - 1938) war eine deutsche Schriftstellerin, die eine Reihe von humoristisch bis realistischen Romanen, die häufig im Berliner Bürgertum angesiedelt waren, sowie Kinderbücher schrieb. Ihr Werk "Bruders Bekenntnis" wurde 1922 veröffentlicht.
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Seitenzahl: 202
(Beginnt mit einer nachdenklichen Betrachtung, über die sich streiten läßt)
Nicht jeder kann ein Mensch sein. Möchte es nicht einmal. Ich selbst habe es mir nie gewünscht. Vielleicht, weil ich mein ganzes Leben mit Menschen verbracht habe. Geliebkost oder mit Füßen getreten. Unbeachtet unter Tisch oder Sofa, je nach ihrer Laune.
Nicht, daß ich sie hassen lernte. Nur bedauern. Mitleid aber führt zur Liebe.
Manches lernte ich ihnen ab. Vieles hätte ich sie zu lehren gewünscht. Ihr Hochmut verhinderte dies. Aber noch heut, grau geworden an Brust und Schnauze, bekümmert mich dies. Betrübt es mich, daß sie es nicht aufgeben, vom ersten Atemzug an nur für das Später zu sorgen, zu opfern. Alles zu erforschen suchen, nur nie die Stunde, in der sie leben. Der Sprung durch den Augenblick, verständen sie ihn noch, sie würden vor Jubelgebraus wenigstens wieder lernen, mit den Ohren zu wackeln. Da sie nicht mehr den ausdrucksvollen Körperteil zu eigen haben, der uns aller Schwierigkeiten verschiedener Sprachen enthebt, uns ohne Grammatik überall Verständigung finden läßt.
Besonders einstmals bedachte ich dies. Damals, als mein geliebter Herr vier lebendige und zwei tote Sprachen erlernen mußte. Zu einer Zeit, als sich unsre Muskeln streckten und reckten und wir beide am liebsten Tag und Nacht über Stock und Stein gesprungen wären.
Ich lag unter seinem Pult. Ein Freund genießt nicht ohne den andern.
Ich war dreiviertel Jahr alt, als wir gelernt hatten, in fünf Sprachen fehlerfrei den griechischen Satz zu übersetzen: »Arbeite, Eselchen, wie ich gearbeitet habe.« ...
(Die Stätte einer Kindheit wird uns vorgestellt)
Man sagt, daß Steine nicht reden können. Blumen stumm sind. Baum und Sträucher nichts sagen. Ich glaube das nicht. Wer sommertags vom Staub der Landstraße durch das schmiedeiserne Gitter auf die weiten Rasenflächen sah, wo ich meine ersten Tage vertummelte, mußte denken, daß man es hier gut hatte. Hier im grünen Schatten kühlatmender Stille.
Schmale Wege durchschnitten den samtnen Grasteppich. Jeden Morgen frisch geharkt, befreit von jedem spitzen Stein. Umrahmt von Blumen und Gesträuch. Die nicht der wehende Wind aus Laune oder Zufall dorthin gebracht. Sie waren von Rang und hohem Geblüt. Trugen ihre Visitenkarte im Knopfloch ihres Blütenrocks. Mit Unbekannten verkehrte man hier nicht.
Alle diese Wege, einen Stern in den Erdboden schneidend, führten zu einem weißen Haus. Mondkühl silberte es aus dunklem Grün. Am heißen Mittag wie vor Sonnenaufgang. Seine Schattenseite umrankten Rosen. Neben dem großen Portal standen blühende Oleander in Reih und Glied wie Soldaten.
Vorübergehende nannten dies Haus: Die Schachtel der Geborgenheit. Wer es nicht wußte, konnte von einem kleinen Kupferschild ablesen, daß hier Senator Eberhaus wohnte. Ein andres Schild gab kund, daß man hier Mitglied des Armenvereins war. Es ersuchte Bettler, sich nicht unnütz zu bemühen und warnte vor den Hunden.
Diese Hunde waren meine Mutter und ich.
Meine Mutter hieß Lonni. Sie stammte aus dem Geschlecht der Dobermann. Ihr Stammbaum hing eingerahmt im Jagdzimmer des Herrn Senators. Es gab niemanden in ihrer Familie, der nicht öffentliche Auszeichnungen aufzuweisen hatte.
Auch meine Mutter selbst trug mehrere Medaillen am Halsband. Darunter die Rettungsmedaille. Sie hatte eines Vormittags einen kleinen Knaben aus dem Strom geholt. Während der Herr Senator auf dem Wege zu seinem Bureau schnell einige Austern mit einem Glas Sekt im »Pavillon« hinunterspülte. Er hatte von dem Vorgang nichts bemerkt. Erst aus der Zeitung davon erfahren. Doch erhielt er bald darauf selber eine Auszeichnung. Der Gerettete war der Sohn eines hochgestellten Mannes gewesen. Meine Mutter hatte dies natürlich nicht gewußt. Wir Dobermanns kennen da keinen Unterschied. Kind ist Kind. Und hilflos hilflos.
Ob den Herrn Senator seine Auszeichnung freute, weiß ich nicht. Er trug sie bei allen Festen. Uns Dobermanns ist unverdientes Lob ebenso beleidigend, wie ungerechter Tadel.
Die Hütte meiner Mutter stand zwischen den Oleandern. Sie war das Werk eines Künstlers. Ich hörte die Frau Senator häufig ihren Gästen erklären, daß das kleine Bauwerk etwas Hervorragendes wäre. Eine kühne Stilmischung von Indianerhütte und altdeutscher Gotik. Die gnädige Frau verfehlte dann auch selten, auf den hohen Stammbaum meiner Mutter hinzuweisen.
Trotzdem durfte meine Mutter das weiße Senatorhaus nie betreten. Bis zur Terrasse durfte sie hinauf. Nicht weiter. Auch dazu war Frau Senator die Ursache. Die gnädige Frau war der Ansicht, daß kein Hund ohne Ungeziefer sei. Vor diesem aber fürchtete sie sich, wie sie sagte, mehr als vor Dieben und Räubern.
Die gnädige Frau war nicht bewandert in Zoologie und Menschenkunde. Darum nahm meine Mutter, und später auch ich, ihr niemals etwas übel.
Das Gesinde beurteilte die gnädige Frau strenger. Da war die dicke Lina, die in ihrer blauen Schürze immer ein junges Tier streichelte. War ich es nicht, so war es ein Kätzchen, ein Kücken oder Kaninchen. Sie hörte ich sagen, die Gnädige hätte alle ihre Weisheit erschöpft bei der Wahl ihres Eheherrn. Sie sähe das Leben nur durch einen Goldvorhang. Alle Dienstboten waren sich darin einig, daß es nicht gut sei, wenn der Mensch es zu gut habe.
Herrschaft und Gesinde fand ich selten gleicher Meinung. Hier stimmten sie überein. Auch die gnädige Frau war immer besorgt, daß ihre Dienstboten ein zu gutes Leben führten. Müßiggang bei andern hielt sie für den Anfang aller Laster. Sie klingelte ihre Untergebenen darum von früh bis abends im Haus und Garten umher.
Doch wünschte sie niemandem etwas Schlechtes, sie weinte bei jeder traurigen Nachricht. Ich erinnre mich, wie bitterlich sie schluchzte, als sie eines Morgens ein totes Rotkehlchen fand, das von der Katze gewürgt worden war. Man mußte der gnädigen Frau stärkende Essenzen bringen. Sie bedeckte die Augen, als man den Vogelleichnam davontrug. Sie selbst graute sich, ihn zu berühren. Sie wollte alle Katzen des Hauses vernichten lassen. Aber dann taten ihr auch diese leid. Hübsch und graziös, wie sie waren. Es schien ihr unbegreiflich, daß diese eleganten Tiere vom Schöpfer selbst zum Morden vorausbestimmt wären. Sie klagte einmal über das andre, wie gräßlich kompliziert das Leben eingerichtet.
Schließlich fand sich ein Ausweg aus dieser Komplikation. Der Gärtner wurde entlassen. Er hatte für die Sauberkeit des Gartens zu sorgen. Seine Pflicht wäre es gewesen, die Vogelleiche zu entfernen, bevor die Gnädige ihren Spaziergang unternahm.
Die gnädige Frau wußte nicht, wie man das Leben ertragen sollte, wenn man nicht einmal im eignen Garten vor schaurigen Eindrücken bewahrt werde.
Der Gärtner glaubte sich ungerecht behandelt. Er lief zum Hafen, verdingte sich als Seemann. Unglücklicherweise auf einem Schiff, das nie wieder einen Hafen erreichen sollte. Ein Mädchen, jung, fröhlich, hübsch und hundelieb, das ihm nahegestanden, verschwand im Strom, als sie davon erfahren hatte.
Alles dies, weil eine wohlgenährte Katze zu faul gewesen war, ihre Beute aufzufressen. Darin allein fand ich das Verbrechen.
So viel ich zu verstehen vermag. Wozu man geboren, darin kann man nicht widerstehen. Aber Fressen wäre hier Pflicht gewesen.
Ich bin kein Mensch. Geschweige ein Gelehrter. Sie vielleicht verstehen mittels ihrer Bücher, Tintenfässer und Schreibtische die Gründe solcher Zusammenhänge aufzuklären ...
Die gnädige Frau erfuhr nichts von diesen Geschehnissen. Es hätte ihre Nerven angegriffen, hörte ich sagen. Daß auch dem Herrn Senator nichts davon bekannt wurde, war selbstverständlich. Er schien ein Gast in seinem Hause zu sein. In den ersten Tagen meines Lebens passierte mir daher das Ungeschick, ihn heftig anzubellen. Ich hielt ihn für einen Eindringling und wollte meine Kenntnisse beweisen. Im nächsten Augenblick hatte ich den ersten Fußtritt meines Lebens erhalten.
Man sagt, der erste Eindruck bei neuer Bekanntschaft sei ausschlaggebend. Ich glaube, die Menschen haben recht mit dieser Behauptung. Verwischt sich dieses erste Empfinden auch im Lauf der Zeit, in Augenblicken der Entscheidung wittert es wieder auf.
Der Herr Senator und ich wurden nie wahre Freunde. Obwohl ich ihn, als ich größer geworden, häufig in die Bureaus, die großen Lagerstätten und die Verpackungsräume zwischen Hafen und Eisenbahn begleitet habe. Ich folgte ihm aus Gehorsam. Nicht aus Zuneigung. Die Augen der Arbeiter, an denen wir vorüberschritten, funkelten wie die unsern, wenn wir einen Fußtritt erhalten haben, unsre Zähne aber nicht brauchen, weil es unser Herr gewesen ist, der uns diese Schmach angetan hat.
Man nannte Herrn Senator Eberhaus den Kaffeekönig. Wegen seiner Machtstellung im Kaffeeimport. Später erfuhr ich dies, von meinem geliebten Herrn. Als er in schlaflosen Nächten Erinnerungen in mein struppiges Fell murmelte. Er hatte in seiner Kindheit immer nach der Krone seines Vaters gesucht.
Pflicht ist Pflicht. Ob sie Spaß macht oder nicht. Ich gehorchte auch dem Herrn Senator auf dem ersten Pfiff. Aber mir war nie leicht und sprunglustig in seiner Nähe. Sein Veränderungsvermögen erschreckte mich. Es erinnerte mich an die Schilderung meiner ersten Vorfahren, von denen ich durch die Übersetzung einer griechischen Fabel erfuhr, die meinem geliebten Herrn viel Mühe gemacht und oft hatte wiederholt werden müssen. Von dieser unheimlichen Raubtierart, die untereinander sanft und heiter waren, aber furchtbar und grausam dem Schwächeren gegenüber.
In seinem Hause lächelte der Herr Senator manchmal. In den Arbeitsräumen nie.
Hatte ihn sein Automobil nach der Schachtel der Geborgenheit gebracht, begrüßte er Frau Alwine mit einem Handkuß. Fand er sie bunte Seidenfäden durch eine Stickerei ziehen, bat er sie dringend, sich nicht zu überanstrengen. Als er sie einmal im Garten mit einer Gießkanne in der Hand antraf, hörte ich ihn sagen: »Liebste, arbeitest du wieder wie ein Neger?«
Unerfahren wie ich damals war, hielt ich demzufolge Blumengießen für bedeutend schwieriger, als zentnerschwere Kaffeesäcke tragen. Denn ich war kurz zuvor Zeuge gewesen, wie streng ein Arbeiter angefahren worden war, weil er sich eine Ruhepause von der bezahlten Stunde gegönnt hatte.
Die Zeit läßt uns manches anders auffassen ...
Hatte der Herr Senator die gnädige Frau begrüßt, kam Fräulein Angelika herzugesprungen. Bänder und blonde Locken flatterten ihr um Schläfen und Stirn. Sie lachte stets. Sie streichelte den Papa genau so, wie sie mir und den Katzen das Fell strich. Sie glich sehr der gnädigen Frau. Nur daß alles noch neu an ihr war.
Ihr gegenüber klang die scharfe Stimme des Herrn Senator am süßesten.
Die dicke Lina, in voller Tätigkeit zwischen Kochlöffeln und Kupferschüsseln, brummte dann: »Wie er zwitschern kann, der Menschenfresser.«
War Fräulein Angelika des Streichelns müde und mit einem Geschenk davongesprungen, das sich in des Herrn Papas Rocktasche gefunden hatte, fragte der Herr Senator, wo eigentlich Achim wieder stecke?
Da hieß es wohlerzogen sein. Mit einem Satz kamen mein geliebter Herr und ich aus dem Busch hervorgesprungen, hinter dem wir, im Grase liegend, alles belauscht hatten ...
(Man erhält den Namen Bärchen. Fühlt des Menschen Macht und Launenhaftigkeit. Und muß schon Liebesgeschichten mit anhören)
Die Leute sagten, daß Achim seinem Vater gleiche.
Des Menschen Urteil geht vom Auge aus. Wer mit der Schnauze zu wittern vermag, wußte vom ersten Augenblick der Annäherung, daß jeder von ihnen von ganz andrer Art war. Daß sie verschiedner waren, als Katze und Hund. So war es auch. Das Leben zeigte es.
Aber eh' ich mir dies alles zurückrufe, muß ich von meinen ersten schönsten Lebenstagen erzählen. Mir scheint, ich bin in meinem Bericht noch gar nicht auf die Welt gekommen.
Natürlich kam ich das nicht in dem feinen stilisierten Kunstwerk zwischen den Oleandern. Schon längere Zeit vorher war meine Mutter weit davon in den Gemüsegarten verbracht worden. Frau Alwine sah, wie jede feine Dame, in solchen natürlichen Vorgängen, wie sie meiner Mutter bevorstanden, unnatürliche, zu versteckende Schrecklichkeiten.
Erst eine Woche nach meiner Ankunft wurde ich der gnädigen Frau gezeigt. Sie ließ Angelika herbeirufen und rief ihr zu: »Sieh nur, Kind, was sich bei unsrer Lonni angefunden.«
Daran erinnre ich mich genau, weil meine Mutter bei diesen Worten heftig über meine Schnauze leckte. Wie wenn sie ihr Besitzrecht an mich geltend machen wollte, das vielleicht doch nicht ganz mühelos erworben war. Sie wendete dabei den Kopf unruhig hin und her, als suche sie etwas, das man ihr genommen hatte. Seit ich weiß, daß ein Hund selten allein auf die Welt kommt, nehm ich an, daß ich Geschwister gehabt, die man sogleich fortgebracht hatte. Ich habe nie darüber nachgedacht. Bestimmt dazu, mit all unsern Fähigkeiten nur für den Menschen da zu sein, sein Freund und Beschützer zu werden, bis zum letzten Atemzug, haben wir den Sinn für die eigne Familie verloren. Nur der einzelne wagt für andre etwas zu wagen. Die Menschen sind meist stolz auf ihren Familiensinn. Mein geliebter Herr jedoch sagte einmal, daß gerade diese Eigenschaft sie hartherzig mache und zugleich schwach. Ihre Liebe wäre nur Eigenliebe. Sie liebten auch in ihren Kindern nur sich selbst. Aber mein geliebter Herr war damals noch sehr jung ...
Fräulein Angelika kam herbeigesprungen. Der Gärtner mußte mich ihr reichen. Meine Mutter winselte. Ich sah in ihren blanken, klugen Augen etwas aufblinken, das ich nie vergaß. Das mich mein ganzes Leben hindurch ermahnte, wenn mein Gehorsam Furcht zu überwinden hatte.
Angelika war entzückt von mir. Sie fand, ich gliche einem kleinen Bären und wünschte, daß ich Bärchen genannt werden sollte. Sogleich rief alles Bärchen. Mein Name war entschieden.
Angelika zog ein Seidenband aus ihrem Haar und wünschte es mir um den Hals zu binden. Meine Mutter richtete sich auf, leckte Angelikas Hände und zugleich mich, der ich mich zwischen ihnen befand.
»Sie ist eifersüchtig,« rief Angelika und lachte.
Das Band würgte mich fürchterlich. Meine Mutter begann stark zu knurren.
Nun wollte der Gärtner nicht feiger sein, als ein Tier. Er nahm höflich die Mütze ab und erlaubte sich, das gnädige Fräulein darauf aufmerksam zu machen, daß das Band mich jungen Hund erwürgte. Er fügte höflich hinzu, daß das gnädige Fräulein schon in wenigen Tagen unbeschadet solche Späße mit mir treiben können würde.
Fräulein Angelika ließ mich los. Ich paddelte rasch unter meine Mutter. Sie legte sich über mich wie ein festes, schweres Gewölbe. Solche Empfindungen des Geborgenseins kommen nicht wieder im Leben. Darum vergaß ich niemals diesen Vorgang. Und nie sprang ich toller und fröhlicher, als wenn ich irgendwo Mutter und Kind beisammen sah. Gleichviel ob Mensch oder Tier.
Bald tummelte ich mich auf dem grünen Rasen. Sah ich sich etwas vorwärtsbewegen, sprang ich nach. Ich machte keinen Unterschied zwischen einem windgetriebenen Blatt, einer Eidechse, einer Henne oder einem Ball. Ich knurrte ärgerlich, als sich ein Papierblatt nicht weiterbewegen wollte, obwohl ich es mit der Pfote dazu antrieb. Ich wußte noch nichts davon, daß der freie Wille nicht all und jedem gegeben!
Ich trug nun eine Schleife hinter dem Ohr, die mich wütend ärgerte. Ich zerrte und biß beständig daran herum. Was Fräulein Angelika das größte Vergnügen bereitete.
Allen Gästen wurde ich gezeigt. Jeder machte Komplimente über mich, als wäre ich das Werk der gnädigen Frau oder des gnädigen Fräuleins.
Mich beleidigte dies, denn meine Mutter hatte mir schon die Würde unseres Geschlechtes erklärt. Mir an den Medaillen ihres Halsbands die Pflichten der Tradition erläutert.
Pflicht will gelernt sein. Ihr Studium ist eine harte Sache. Immer wieder fiel ich in den Fehler zurück, meine Zähne zu gebrauchen, wenn mir etwas gefiel oder auch wenn es mir nicht gefiel. Wie kleine Kinder hatt' ich den unzähmbaren Trieb, alles ins Maul stecken zu wollen. Mit dem gleichen Genuß, wie ich Frau Alwina und Fräulein Angelika Konfekt knabbern sah, mußte ich unbezwingbar Stiefel, Stuhlbeine, Strümpfe und Schirmstöcke benagen. Ein paar seidne Pantöffelchen wären beinah mein Tod geworden. Nicht, daß ich daran zu ersticken gedroht. Sie waren mir vorzüglich bekommen. Aber sie waren ein kostbares Geschenk des Herrn Senators gewesen und noch niemals benutzt worden. Es war ein Glück, daß mich Frau Alwine nie in den Arm nahm, aus ihrer schon erwähnten Furcht. Sie hätte mich sonst, wie ich sie rufen hörte, mit eignen Händen erwürgt.
Die Bestrafung, die folgte, haftete mir besonders im Gedächtnis. Ich danke ihr die erste Erinnerung an meinen geliebten Herrn.
Ich hatte mich plötzlich in feuchtem Dunkel gefühlt. Man hatte mich in ein zur Hälfte gefülltes Wasserfaß geworfen. Ich versuchte vergeblich, an den nassen Wänden emporzuklimmen.
Da mischte sich in mein Winseln der gleiche Angstton einer menschlichen Stimme. Eine Hand packte mich. Eine knochige Knabenhand mit einem Tintenfleck am Zeigefinger, den ich sofort zu belecken begann. Es kommt bei allen Dingen darauf an, in welchem Moment unseres Lebens wir ihre Bekanntschaft machen. Ich behielt zeitlebens eine Vorliebe für Tinte. –
Achim streichelte mich, steckte mir Zucker zu und sprach zu mir, wie wenn er ein echter Dobermann wäre. Ich leckte ihm Rock und Hände und schließlich einige salzige Tropfen aus dem Gesicht, die seinen Augen enttropften. Ich hörte kein Pfui. Ich wurde warm und trocken an seiner Wärme. Ich fühlte mich überglücklich. Ich begann herumzuspringen in aller Tollheit. Meine Freude dämpfte endlich Achims Hauslehrer, der ihn zur Mathematikstunde ins Haus holte. Grade als ich mit einem Knochen im Maul kam, der mein Dank hatte sein sollen.
Wo ich nun Achim sah, umkreiste ich ihn. Stets suchte ich seine Spur. Immer wieder rief man mir Achim fort zum Studieren. Lange wußte ich nicht, was dies Wort bedeutete. Bevor ich mich schließlich entschloß, mitzustudieren. Lange Zeit hatte ich geglaubt, es sei gleichbedeutend mit Schlafen. Ein Irrtum, der durch Achims Hauslehrer entstanden war. Der sich nach Tisch stets auf sein Zimmer zurückzog, um, wie ich ihn sagen hörte, seinen Privatstudien obzuliegen. Mich nahm er mit sich. Damit Achim inzwischen auch fleißig wäre und sich nicht mit mir herumtummelte.
In sein Zimmer angelangt, legte sich der Herr Hauslehrer aber sofort fest schlafen. Ich durfte weder winseln noch kratzen. So blieb mir nichts andres übrig, als mich dem gleichen Privatstudium hinzugeben, wie der gelehrte Mann ...
Es war dies noch immer günstiger für mich, als wenn sich mir das Interesse Fräulein Angelikas zuwendete. Besonders wenn sie in der Jelängerjelieber-Laube saß, neben einem jungen Herrn, den ich Harald nennen hörte. Ich wurde dann auf Fräulein Angelikas Schoß gezogen und vier heiße Hände strählten ruhelos mein junges Fell. Oft aber faßten sich die vier glühenden Hände gegenseitig und ich lag wie in einem Backofen. Einmal ließ mich Fräulein Angelika wohl zehn Minuten lang an einem Bein mit dem Kopf nach unten hängen. Ohne es zu bemerken. Ihre Augen hatten sich ganz in denen Haralds verloren.
Endlich wurde ich wieder auf ihren Schoß gezogen. Ich hörte zu meinem Staunen, daß ich selbst Veranlassung zu dem Gespräch gegeben hatte, das Fräulein Angelika so blind gegen mich gemacht hatte. Oder vielmehr mein Name war es gewesen.
Herr Harald erzählte von einem alten Bären, der von dem merkwürdigen Wunsch besessen gewesen, Menschenvater zu werden.
»Oh,« sagte Fräulein Angelika und hielt mich vor ihr Gesicht, wie ein Taschentuch. Kein Zappeln half.
Herr Harald erzählte weiter. Eines Vorfrühlingstages suchte eine Prinzessin im Wald nach Veilchen. Der Bär stürzte hervor und schleppte sie ins Dickicht. Er muß sich ganz menschlich benommen haben. Die Prinzessin kehrte ohne Kratzwunden zurück. Ehe jedoch ein Jahr zu Ende ging, hatte sie plötzlich einen kleinen Knaben im Arm. Schön und wohlgebildet, aber mit einer Bärenhaut. Er wurde der Stammvater eines weitverzweigten Geschlechtes. Noch heute gäbe es Nachkommen genug von ihm. Große Städte führten ihn noch heute im Wappen.
Fräulein Angelika rieb ihre kurze Nase in meinem Fell, und sagte, es wäre schauderhaft zu denken, daß man Menschen mit solchem Urgroßpapa begegnen könne.
Herr Harald lachte. Er sagte, wer könne wissen, wieviel Raubtierblut in andern stecke und griff nach einer blonden Locke.
Hier hob für mich ein Pflichtgebot das andre auf. Gehorsam war gut. Aber wo jemand nach dem Besitz deiner Herrschaft greift, ist zuzubeißen. Dessen hatte mich meine Mutter belehrt, noch als ich blind gewesen.
Ich biß kräftig in die räuberischen Finger.
Auch Pflicht kann Vergnügen sein. Ich spürte es. Nur einen Augenblick lang. Im nächsten schon hatte ich solchen Faustschlag auf meine junge Schnauze erhalten, daß meine Erinnerung erst wieder wach wurde, als die dicke Lina mir einen Napf voll süßer Milch vor das mißhandelte Organ hielt.
Sie brummte, daß nicht alles schön sei, was Verliebtheit mit sich brächte.
Der Sinn dieser Worte war mir dunkel. Ich dachte nur an meine brennende Schnauze. Ich glaubte zu verstehen, daß Verliebtheit eine schmerzliche Angelegenheit sei.
(Bärchen tummelt sich ln den Irrgängen ahnungsloser Jugend. Er lernt die Katzen kennen. Wird zum Lebensretter seines Feindes. Erhält als Belohnung von Menschenmund den Namen Bruder. Eine Würde, die er im Hochmut des Jugendstolzes oder auch seiner rassereinen Abstammung halber skeptisch auffaßt)
Die Jugend ist das schönste Stück des Lebens. Wenn man auf sie zurückschaut. Mitten in ihrem Getümmel fühlt man sich oft ebenso einsam wie im Greisenalter. Überall stößt man auf Wunder, weiß niemanden, der sie erklären könnte.
Es war wohl nicht lange, nachdem ich Herrn Haralds Bärengeschichte verwunden hatte, als mir wieder Unbegreifliches widerfuhr.
Wie gewöhnlich hatte ich mich wieder an den frischgefüllten Futternapf neben meine Mutter gesellt. Rasch war es mir gelungen, den fettesten Knochen im Maul zu haben. Plötzlich wendete sich meine Mutter gegen mich und riß mir den guten Bissen aus den Zähnen.
So ging es nun bei jeder Mahlzeit. Alle Zärtlichkeit war fort. Meine Mutter benahm sich gegen mich, wie wenn wir uns nie näher gekannt hätten.
Zuerst hielt ich es für Spiel. Alles dünkte mir damals Scherz. Ich lernte den Ernst der Angelegenheit begreifen, als ich einige tüchtige Bisse zu fühlen bekommen hatte.
Es war vorbei. Meine Mutter kümmerte sich nicht mehr um mich. Wo ich ihr im Wege war, ließ sie es mich fühlen.
Diese Erwähnung darf nicht das Andenken meiner Mutter schmälern. Wie ich schon sagte, wir haben eine andre Auffassung von Familiensinn, als die Menschen. Die einmal in Elternschaft geraten, nie wieder der Sorge um ihre Nachkommen ledig werden. Die sich besonders in guten Erfahrungen kund gibt. Die mir leichter scheinen, als gute Beispiele.
Ist es Familiendünkel bei mir, oder Mangel an besserem Verständnis, ich glaubte meiner Mutter später gerade für diese Bisse dankbar sein zu müssen. Die mich lehrten, daß man nicht zeitig genug beginnen könne, sich allein auf sich selbst zu verlassen.
Ich hatte begriffen, daß ich das Leben mit der eignen Schnauze zu studieren hatte. Die erste Folge davon war mancher Klaps auf sie. Im Winkel der Küche hatte ich einen Eimer entdeckt, der mir ein Wunder dünkte. Eine geheime Stätte leckerster Bissen. Bald verstand ich es, ihn auf die Seite zu legen, so daß sich sein duftender Inhalt auf dem Bodenausbreitete. Nun konnte ich zwischen Schmackhaftem und weniger Bekömmlichem nach Belieben wählen. Genau wie der Herr Senator an seinem vollbesetzten Tisch.
Dies Kunststück brachte mir Prügel auf sämtliche Körperteile.
Es machte mir nichts aus. Dieser Eimer war für mich, was kleinen Menschenkindern wahrscheinlich das Märchenbuch ist.
Immer enthielt er ungeahnte Herrlichkeiten in Hülle und Fülle. Versteckt zwischen vielen häßlichen und verabscheuungswürdigen Dingen, die überwunden werden mußten. Sobald sich Gelegenheit fand, umkreiste ich ihn aufs neu, warf ihn geschickt auf die Seite und stürzte mich mit ganzer Schnauze in seine Wonnen. Im Umstülpen brachte ich es zur Meisterschaft.
Worin man sich tüchtig weiß, will man sich gern hervortun. Besonders in der Jugend. Eines Tages kam ich dazu, wie der Herr Senator, zur Verhütung eines Embonpoints, mit einigen andern Herren Kegel spielte. Ein Spiel, das ich Frau Alwina plebejisch schelten hörte. Weil es geräuschvoll war und transpirieren machte. Mir gefiel es. Mit einem Sprung war ich zwischen den Kegeln und hatte alle neun geworfen.
Der Lohn für diese Einmischung in das Privatvergnügen vornehmer Herren blieb nicht aus. Eine Kegelkugel, an den linken Hinterfuß geschleudert, brachte mich viele Tage um Sprung und Lauf. Ich merkte, falsch angewendet gereichen uns die besten Kenntnisse zum Schaden ...
Kein Wunder, daß uns dann Unvernunft erst recht in Verwicklungen und Schwierigkeiten bringt.
Ich meinte damals, daß alles Gute, das ich entdeckte, für mich da war. Ein schöner Irrtum, dem vielleicht auch die Menschen immer wieder aufs neu unterliegen werden. Ich wünsche jedem, er möge auf die schonendste Weise davon geheilt werden. –
Zu meiner Belehrung wurde eine Hundepeitsche in Bewegung gesetzt. Ihre Sprache war deutlich und eindringlich. Man wunderte sich, wie rasch ich lernte, nichts mehr von Tisch oder Teller zu holen. Ich selbst wunderte mich nicht.
Mit zehn Wochen hatte ich die Entsagung gelernt, auch mit hungrigem Magen zusehn zu können, wie andre schmausen. Geduldig auf die Abfälle ihres Mahls zu warten.
Es soll dies keine Anklage sein. So viel Wert auf Essen wie die Menschen legen wir nicht. Nur während der ersten Lebenszeit regiert uns das Maul. Zum Unterschied von den Menschen, die, wie ich beobachtete, gerade in den spätern Jahren den Genüssen des Magens großen Ernst zumessen.
Ich begreife, daß man nur mein Gutes gewollt. Selbstüberwindung kann nicht früh genug gelehrt werden dem, der für andre leben muß und will und an sich selbst zuletzt denkt. Und das wollen und müssen wir Dobermanns. Ein andres Leben wäre uns nicht möglich.
Aber es gibt Gefahren, die keine Peitsche lehren kann. Sondern nur die Erfahrung.
Das sollte ich einige Tage später zu wissen bekommen.
Ich lebte in einem Hauswesen peinlichster Ordnung. Was nicht zusammengehörte, blieb sorglich getrennt. Daß Hund und Katze nicht zusammenpaßten, glaubte der einfachste Dienstbote aus seinem Schulbuch zu wissen.
Woher diese zum Sprichwort erhobene Antipathie stammt, hab ich nicht erforschen können. Daß sie keine Notwendigkeit, beweisen viele Fälle von Freundschaft zwischen Hund und Katze. Allerdings nur in menschlicher Umgebung. Wo vielleicht die Einwirkung des Vorbildes in Betracht gezogen werden muß. Da menschliche Erziehung als eine der ersten Bedingungen lehrt, daß man durchaus nicht fauchen, bellen oder Zähne und Krallen zeigen darf, wenn man es möchte.
Sicher scheint mir aber, daß Menschen, die Hunde mögen und solche, die Katzen lieben, meistens von ganz verschiedener Art sind.
Ich glaubte, bei Menschen, die mich nicht mochten, oder Furcht vor mir empfanden, stets Katzengeruch zu spüren. Ich versuchte, meinen geliebten Herrn vor ihnen zu warnen, indem ich sie anbellte. Auch wenn sie gut gekleidet waren...
Ich war in der Schachtel der Geborgenheit also noch keiner Katze begegnet. Bis ich eines Morgens einer großen, grünen Stachelbeere nachgesprungen war. In ungestümer Freude jagte ich blindlings zwischen den Büschen.