Auslaufgebiet - Lotte Bromberg - E-Book

Auslaufgebiet E-Book

Lotte Bromberg

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  • Herausgeber: Memel Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Im Berliner Auslaufgebiet werden Reste einer Frauenleiche gefunden. Haben Hunde sie getötet? Gibt es Wölfe im Grunewald? Hauptkommissar Oskar Blum, eingeklemmt zwischen Hundehassern und arabischen Doppelmördern, bittet seinen Freund und suspendierten Kollegen Jakob Hagedorn um Ermittlungshilfe unter Eichen. Jakob recherchiert im Auslaufgebiet, folgt der Spur der Wölfe nach Brandenburg, kehrt zurück in die Stadt, stürzt in einen U-Bahn-Tunnel, muß untertauchen, verliert einen Freund, findet verlorene Geschwister und schließlich den Mörder.

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Seitenzahl: 452

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Auslaufgebiet

Im Berliner Hundeauslaufgebiet findet ein Jogger eine unvollständige Frauenleiche. Haben Hunde sie getötet? Als an der Leiche Wolfsspuren entdeckt werden, bricht Hysterie in der Stadt aus. Hauptkommissar Oskar Blum, mit arabischen Doppelmördern beschäftigt und verloren in Gegenden ohne Straßenschilder, bittet seinen Freund und suspendierten Kollegen Jakob Hagedorn um Hilfe.

Der Geisterseher begegnet einem historischen Rudelführer, einem Waldarbeiter mit Samenstau und einer Kreuzbergerin mit Schlagkraft, nimmt die Fährte der Wölfe auf, trifft in Brandenburg eine Wolfsfrau und läßt einen Caniden in sein Hirn ziehen. Eine Schlange rettet ihm im U-Bahntunnel das Leben, ein Russe versteckt ihn vor der Kripo, ein Wolf beschützt ihn vor Gericht, er verliert einen Freund und findet einen Mörder …

Der andere Berlinkrimi - prall, schräg, abgründig, poetisch.

Lotte Bromberg

wurde 1968 geboren. Sie wacht, schläft, arbeitet und schreibt in Berlin. Auslaufgebiet ist nach Fallsucht ihr zweiter Kriminalroman mit den Berliner Ermittlern Jakob Hagedorn und Oskar Blum. Weitere folgen. Mehr unter www.memelverlag.de

Lotte Bromberg

Auslaufgebiet

Der andere Berlinkrimi

Memel Verlag

Dies ist ein Roman. Jegliche Übereinstimmung oder auch nur Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen oder Begebenheiten ist zufällig und in keiner Weise beabsichtigt.

Erstausgabe

© Memel Verlag Berlin 2015

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagphoto © fotolia.com/​craft_666

Umschlaggestaltung anettemartin.de

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-945611-05-0

www.memelverlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Zum Buch / Zur Autorin

Impressum

Widmung

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

XXII

XXIII

XXIV

XXV

XXVI

XXVII

Danke

Für Dich

wen sonst

I

Yoga war etwas für Eunuchen. Morgens als erstes Müsli, die komischen Sprossen auf dem Salat, was tat man nicht alles, um den schärfsten Frauenhintern zum Beben zu bringen. Aber Yoga?

Sein Pulsmesser piepte bedrohlich. Er tippelte auf der Stelle und kontrollierte Brustgurt und Einstellung. Hundert Meter durch den Grunewald und er schwitzte wie ein Schwein. Scheiß Salat.

Er sah sich um, Massen von Grün, bergeweise Sauerstoff. Er versuchte, in die letzten Winkel seiner Lungenflügel Grunewaldaroma zu pumpen. Sprossen vertreiben.

Hustend trabte er los. Fünf Kilometer fürs Erste und dann das T-Bone-Steak, das ihn im Kühlschrank erwartete. Kein noch so vibrierender Hintern glich auf Dauer vegetarische Kost aus. Seit Wochen träumte er von bluttriefendem Fleisch, wilden Autojagden und einer endlosen Anzahl Liegestützen. Kein Wunder, daß er so schlapp war, ihm fehlte Eiweiß. Nur Volltrottel ballerten sich an die Spitze der Nahrungskette und kehrten dann zu Vogelfutter zurück.

Der Pulsmesser meldete sich schon wieder. Nächstes Mal mit Musik, hatte er ganz vergessen nach der langen Zeit. Die dusselige Waldstille und dann noch dieses höhnende Piepen.

Er mußte pinkeln, grub sich seitlich ins Unterholz, fand eine kleine Lichtung mit Ausblick, ließ aus Gewohnheit die Hosen runter und ärgerte sich schon wieder. Wochen hatte er auf ihrer hölzernen Klobrille versessen. Er brauchte sich für nichts zu schämen, weder den Strahl noch den Hahn, aus dem er kam. Schließlich traf er jeden Eierbecher, strammstehend wie ein Stier.

Zufrieden sah er seinem Urin hinterher, folgte dem Bogen bis zum Ende, wo er spritzend und schäumend auf den Waldboden traf, wie ein Hochdruckreiniger den Sand wegspülte. Einen Stein freilegte oder was immer das war.

Sein Magen erkannte es als erster. Das Frühstücksbrötchen, die vier Eier im Glas, Schinkenspeck und Kaffee wollten zum Licht.

Er hatte ihnen keinen Willen entgegenzusetzen, als er begriff, daß er die Reste einer menschlichen Hand freipinkelte. Sie hatte die Farbe geräucherten Schinkens, angebissen von allen Seiten. Sein Urin tröpfelte aus, er taumelte und sein erstes wohlschmeckendes Frühstück seit drei Monaten landete in hohem Bogen auf dem Grunewalder Frühlingsboden. Er traf einen angeknabberten Ringfinger, der etwas abseits lag. Ein Knochen blinkte, eine Sehne hing, lang und weiß. Er wich zurück, sah hoch und entdeckte die zerfledderte Frauenleiche. Schultern, Reste von Armen. Der Kopf, Haare, das Gesicht. Unvollständig. Darüber eine Wolke von Insekten, schwarz, surrend, dröhnend. Sie hatten ihn entdeckt. Sie kamen auf ihn zu. Sein Pulsmesser piepte pausenlos. Er stolperte rückwärts, strauchelte, schlug sich die Knie auf und rannte um sein Leben.

Hauptkommissar Oskar Blum lauschte im Hausflur an einer klapprigen Wohnungstür. Vier Kripobeamte und ein falscher Paketbote warteten hinter ihm, die Waffen im Anschlag, den Blick auf die verschlossene Tür gerichtet. Es stank nach Katzenpisse, Kohlsuppe und billigem Rasierwasser. Unten im Haus plärrte ein Kind, ein Mann brüllte es nieder. Draußen schimpfte ein Martinshorn, dazwischen rief der Muezzin zum Gebet, Autos hupten wütend, Bremsen quietschten, Motoren heulten. Weddinger Sinfoniekonzert.

Sie hatten einen anonymen Hinweis bekommen, in der Wohnung fänden sie die gesuchten Doppelmörder, bewaffnet und bereit, diese Waffen auch einzusetzen. Aber Ismail hatte das Paket vergessen. Ausnahmsweise kam er pünktlich zum Dienst, frech grinsend in seiner DHL-Verkleidung, weil Oskar keinen Grund hatte, ihn zusammenzufalten. Und dann fehlte das Paket, das ihnen Zugang zur Wohnung verschaffen sollte.

Die Haustür klappte, fünf Kriminaler senkten die Waffen und drückten sich an die Wand. Ismail, der falsche Paketbote, beugte sich über das Treppengeländer. Sie erkannten das Schnaufen von Rudi, dem fettesten Streifenpolizisten des Weddings. Keuchend erreichte er mit letzter Kraft das vierte OG und streckte Ismail das Paket hin.

Alle gingen in Deckung, Ismail klingelte.

Nichts geschah.

»Paketpost«, rief er.

Sie hörten Schritte auf knarrendem Dielenboden, die Tür blieb zu.

»Keiner da«, sagte Ismail und zog sein falsches Lesegerät vor. »Ärgerlich, Bruder, mußt Du zur Post, um abzuholen. Echt blöd, wenn Du mich fragst.« Das Lesegrät piepte, die Tür öffnete sich einen Spalt. Ismail sah in schwarze, engstehende Augen unter gegeltem schwarzem Haar. »Wir ham nix bestellt«, sagte der Mann, fast noch ein Kind, und linste auf das Paket.

»Is’ mir egal«, sagte Ismail, »hier steht Al-Ahmadi und da auch.« Er tippte auf das Klingelschild.

»Der is’ verreist.«

»Macht drei Euro achtzig.«

Oskar verdrehte die Augen. Was waren denn das für Preise?

Die schwarzen Augen starrten Ismail an. »Muß ich Geld holen«, sagte der Junge.

»Mach det. Und ich kann nich’ wechseln.« Ismail stützte das Paket am Türrahmen ab und schob eine Fußspitze in die Tür. »Schweres Teil«, sagte er und grinste.

Der Junge ging Geld holen. Ismail gab die Tür frei und seine fünf Kollegen schlichen in die Wohnung. Ismail drückte Rudi das Paket in die dicken Finger, zog seine Dienstwaffe aus der Hosentasche und folgte den Kollegen. Der immer noch schnaufende Rudi sah ihm mit großen Augen zu.

»Drei achtzig, hat er gesagt.« Am Ende des langen Flurs, verhandelte der junge Mann mit einem Baßbariton, der ihm in einer Fremdsprache antwortete. Zu wenig Umlaute für den Türken Ismail.

Oskar wies die Kollegen auf die zwei Seiten des Flurs. Linke Seite die Küche, leer. Zurückgeschobene Stühle am Eßtisch, Essensreste, dreckige Porzellanteller, angebrochenes Fladenbrot, ein offenes Glas Oliven, eine Ketchupflasche. Das Bad daneben, gefüllt mit Flaschen und Tuben, drei Rasierapparaten, nassen Handtüchern am Boden, dazwischen schwarze Haare. In der Badewanne eine Plastiktüte, aus der Wäsche quoll. Ein Schlafzimmer mit großem Einzelbett, sorgfältig abgedeckt mit einer schimmernden schwarzen Decke.

»Passend, hat er gesagt. Kann nich’ wechseln.«

Der Bariton stieß kehlige Verwünschungen aus.

Rechte Seite eine Kammer, dunkel, muffig, fensterlos. Noch ein Schlafzimmer, alles leer. Zwei Einzelbetten, zerwühlt, ein voller Aschenbecher auf einem Plastikstuhl dazwischen, über der Rückenlehne gebrauchte Unterwäsche, neben dem Ascher ein teures Handy.

Dann eine geschlossene Tür. Oskar drückte die Klinke, erfolglos. Er zog den steckenden Schlüssel ab und legte ihn auf den Boden.

Blieb nur das Wohnzimmer, in dem die zwei Männer sprachen. Münzen klimperten.

Oskar holte tief Luft, nickte seinen Kollegen zu, gemeinsam stürmten sie los.

Der Junge hob den Kopf, auf dem schwarzglänzenden Couchtisch lagen lauter Euromünzen. Ein älterer Mann saß neben ihm, ein dritter mit glasigen Augen abseits, in der Hand eine Shisha.

Der junge Mann richtete sich auf und faßte in die Hosentasche. Oskar griff seinen Hosenbund im Kreuz, hob ihn an und ließ ihn fallen, mitten in die Münzen. Seine Hose rutschte bis unter die haarige Pofalte. Oskar drehte seinen Arm auf den Rücken und drückte den Kopf seitlich auf die Tischplatte. Der Junge brüllte wie am Spieß.

Der Ältere hob langsam die geschlossenen Hände hoch. Ein Kollege richtete die Waffe auf ihn. »Fallen lassen«, sagte er und deutete auf seine Hände. Euromünzen klimperten auf den Couchtisch.

Ismail stand mit gezogener Waffe in der Zimmertür, zog Handschellen aus dem Hosenbund und warf sie dem glasigen Shishamann zu. »Anschnallen, Bruder«, sagte er.

Rudi, der schnaufende Streifenpolizist, hatte eine Weile allein vor der Tür gewartet. Nachdem die direkte Gefahr gebannt war, wollte er allerdings auch nichts verpassen. Er rückte seine Mütze gerade, zog die Dienstwaffe und durchmaß den Flur. Den Blick voraus, wäre er fast über den Zimmerschlüssel gestolpert. »Tzzz, tzzz«. Er hob ächzend den Schlüssel auf und steckte ihn in das Schloß. Er wollte ihn eigentlich nur fest hineinstecken und drehte ihn um, damit er nicht wieder auf den Boden fiele. Aber dann offnete sich das Schloß. Er drückte die Klinke, ganz vorsichtig, die Waffe voraus.

»Na, was haben wir denn da«, sagte Oskar Blum aus dem Wohnzimmer. »Eine Halbautomatik. Dafür haben die Herren doch wohl nicht etwa einen Waffenschein?«

Der ältere Mann fluchte wieder in seiner fremden Sprache.

Rudi atmete tief ein und öffnete die Tür.

Auf ihn zu stürzte jaulend ein Bullterrier, wich Rudis Körpermasse aus und raste den Flur entlang. Rudi sah ihm verdutzt hinterher, da stürzte ein zweiter aus der Tür. In hohem Tempo erreichten sie das Wohnzimmer, sprangen auf den Couchtisch, schlitterten in die Euromünzen, knurrten und bellten mit sabbernden Mäulern.

Rudi sah in das Zimmer, als ihm ein dritter Bullterrier an den Hals sprang. Schreiend fiel er hintenüber auf die Dielen.

»Was zum Teufel …«, rief Oskar.

Der Bullterrier auf Rudi winselte, leckte sein Gesicht und pullerte ihm warm in die Uniform.

Oskar nahm die Hände von dem Jungen und versuchte, die zwei Bullterrier vom Couchtisch einzufangen. Einer sprang über einen Sessel und raste aus dem Zimmer. »Rudi, die Wohnungstür«, rief Oskar. Der geflüchtete Hund drehte eine irre Runde über die schimmernde Tagesdecke im Schlafzimmer, Speichel triefte aus seinem Maul. Der vollgepinkelte Rudi hielt seinen Hund im Nacken und robbte zur Wohnungstür. Der dritte Terrier sprang hechelnd im Wohnzimmer von einem Möbelstück zum anderen, verbiß sich schließlich in einem Vorhang, zerrte an ihm und knurrte. Zwei Kripobeamte warfen Kissen auf ihn und versuchten ihn einzufangen.

Der Junge, aus Oskars Klammergriff befreit, zog seine Hose hoch, sah sich um und schlich rückwärts zur Wohnzimmertür.

Der Bullterrier aus dem Schlafzimmer hatte genug von der Tagesdecke und raste zu Rudi in den Flur. Rudi hob die Arme und brüllte »Stop!«. Der Terrier bremste ab, fixierte ihn mit heraushängender Zunge und hervorgequollenen Augen und nahm Anlauf. Rudi warf erst die Mütze nach ihm und dann sich auf ihn. Er bekam ein Bein zu fassen, mußte aber den anderen Terrier loslassen. Der machte einen Satz und verschwand durch die weit geöffnete Wohnungstür. Rudi hörte seine Krallen auf den Treppenstufen abwärts schlittern. Schnaufend hielt er den anderen Bullterrier fest. Fünfzig Prozent, dachte er.

Da kam der Junge in den Flur. Sah Rudi bäuchlings mit dem Bullterrierbein in der Hand quer auf den Dielen liegen, hinter ihm die offene Wohnungstür. Er beschleunigte, um über Rudi und Hund zu springen. Rudi sah seine jungen Muskeln sich anspannen, sah die weißen Turnschuhe, das gegelte Haar, die engstehenden tiefschwarzen Augen, die dicke goldene Kette um den dunklen Hals und hob seinen fetten Hintern.

Der Junge, mitten ihm Sprung abgefangen, schlug krachend der Länge nach hin wie ein nasser Sack. Landete halb auf Rudis Allerwertestem, halb auf dem Dielenboden. Rudi drehte sich, immer noch den Hund fest an der Hand, auf den Rücken, schüttelte das Gewicht des Jungen ab wie ein lästiges Insekt, robbte zur Wand, wischte sich mit dem Oberarm den Schweiß von der Stirn und dachte, hundert Prozent.

II

Hauptkommissar Oskar Blum saß mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz seines Citroën. Die ausgestreckten Beine hatte er auf dem Lenkrad untergebracht, die Schulter an die Tür gelehnt. Neben der geöffneten Fahrertür kniete ein uniformierter Kollege und redete vernünftig auf ihn ein.

Oskar hielt die Augen geschlossen. Nicht mit ihm. Er war die Kripo, verdammt noch mal, er ließ Absperrbändern ziehen und blieb nicht vor ihnen stehen.

Er hatte nach dem Einsatz die zwei verbliebenen Hunde in die Obhut eines Tierheimmitarbeiters gegeben und sich den Verdächtigen gewidmet. Der Älteste hatte sich nach dem Verbleib der Hunde erkundigt und fortan geschwiegen. Bis sechs Uhr früh hatte Oskar in der Keithstraße die immer gleichen Fragen in drei starr schweigende Gesichter versenkt. Nicht einmal Angaben zur Person entlockte er ihnen. Sie hatten keine Ausweispapiere gefunden, aber zwei Schnellfeuergewehre, vier Revolver, neun Handgranaten, vier Kilo Kokain, drei Kilo Crack und zwölfeinhalb Kilo synthetischer Partydrogen. Ein schöner Fang für Drogenfahndung und Organisierte Kriminalität, aber nichts für Oskars Doppelmord. Sah aus, als hätte der anonyme Anrufer die Kripo mißbraucht, um den Drogenmarkt von einem lästigen Konkurrenten zu bereinigen.

Der Mann an der Shisha hatte im Verlauf der Stunden das Glasige aus seinem Blick verloren und mit Blick Richtung Kommissar auf das Linoleum gerotzt. Oskar war auf Berliner Bordsteinen sozialisiert, solches Ziegenhirtengebaren entlockte ihm nur ein halbseitiges Grinsen. Um sechs Uhr vier beendete er die einseitige Kommunikation, ordnete zur Feststellung der Personalien die zwangsweise Abnahme von Fingerabdrücken an, was sofort Leben in die Bude brachte. Er hätte schon um drei darauf kommen können.

Um kurz nach sieben waren die ihn mit fremdsprachigen Flüchen überschüttenden Männer in drei Einzelzellen verstaut und Oskar wankte nach Hause. Er plumpste angezogen in sein Bett, eine halbe Stunde später klingelte ihn die Zentrale aus beginnendem Tiefschlaf, klagte, wer alles mit Grippe abgemeldet oder an unlöschbarem Burnout erkrankt war. Bevor Oskar erfuhr, wie gut es Kollegin Bettina auf einem dänischen Campingplatz und Kollege Ritter im Grill von Antalya ging, legte er auf. Er war eindeutig zu gesund und zu selten verreist.

Oskar versprach seinem Federbett, er käme bald zurück, begoß den bleiernen Kopf mit eiskaltem Wasser und fuhr quer durch die Stadt zum Leichenfundort im Grunewald. Und das alles, um sich jetzt von Zehlendorfer Befindlichkeiten gängeln zu lassen und auf den amtlichen Hausherrn der Bäume zu warten, bevor er mit seinem Auto dessen Revier befuhr, um eine Leiche in Augenschein zu nehmen.

»Det kann ewig dauern, bis der Förster kommt«, seufzte der Uniformierte.

»Eben«, sagte Oskar, »kurz vor ewig durchbreche ich das Hindernis.« Er zog die Beine vom Lenkrad. Wenn er sich erinnerte, wie er früher brünftig die Sitze abgescheuert hatte, kamen keine knarzenden Glieder vor. Nicht nur sein Auto alterte.

»Es ist wirklich nicht weit«, quengelte der Uniformierte. »Höchstens zwanzig Minuten zu Fuß.«

»Neunzehn zu viel. Ich zeig’ Dir, daß meine Kutsche viel besser zum Wandern geeignet ist als meine Großstadtfüße.«

Oskar Blum war gebürtiger Neuköllner. Sein Kinderbettchen hatte in der Tempelhofer Einflugschneise geschaukelt, seinen nuckelnden Schlaf die blinkenden Lichter westalliierter Flieger behütet. Mamas Streusel dazu, ab und zu Kloppe von Papa.

Schritt für Schritt hatte er sich eingelaufen in die puckernden Adern seiner Heimatstadt. Lauscher aufgestellt, Nase im verrußten Wind, große Klappe sowieso. Immer det letzte Wort. Nüscht vapassen, jetzt komm’ ikke.

Ging zur Oberschule, schrieb von schlauen Mädchen ab und machte im dritten Anlauf als erster im Block Abitur. Landete bei der Berliner Polizei, das Richtige tun, zu den Guten gehören. Papa war stolz, Mama bügelte die Uniform.

Er zog weg aus Neukölln, traute sich immer mehr, linste zu den Kollegen von der Kripo. Das wär was. Ganz andere Liga. Sperrte wieder alle Sinne auf, wurde verlacht, keiner war jemals von den Uniformierten gewechselt. Oskar Blum wollte der erste sein. Schob sich in wichtige Vorzimmer, schenkte Sektretärinnen Zeit und Pralinen, füllte sorgfältig Anträge aus. Trank Bier mit Kriminalern, berlinerte und baggerte. Den Polizeipräsidenten rührte sein Aufsteigereifer, er bekam die Ausnahmegenehmigung. Is ’n Netter, aber schafft der soundso nich’.

Er büffelte und sein ganzes uniformiertes Revier half. Hörte ab, schob Dienste zur Seite und saß daumendrückend im Flur, als es so weit war. Oskar trickste, quatschte, riß mitten in der Prüfung Neuköllner Witze, legte seine Straßenkindheit auf die ächzende Waagschale und schaffte es. Der Flur jubelte, verteilte Selbstgebrannten, klopfte Schultern, stolz, daß es einer von ihnen geschafft hatte, sicher, daß Blum sie alle nie vergessen würde.

Oskar landete bei der Kripo und grub sich wieder ein. Lernte Geburtstage, kommentierte Ehesorgen und Kindernöte und machte sich unersetzlich. Wurde in Fußballmannschaften gewählt, zu Besäufnissen und auf Schrebergartenpartys geladen und paddelte in seinem Element. Kannte jeden, grüßte jeden, war einer der ihren.

Und dann kam ein Akademiker zu ihnen in die Keithstraße. Jakob Hagedorn. Lange Latte, schluffiger Gang, den er auch noch stundenlang durch menschlich ausgebombte Gegenden lenkte. Wald und Flur, so was. Und wenn er nicht latschte, dann las er. Hatte zuhause Altbauwände hoch bis zum Stuck voller Bücher.

Dazu verträumt wie ’ne Jungfrau, aber einen Blick, der wie eine Schußfahrt durch Deine Seele donnert. Bis in den allerletzten Winkel. Seine blauen Augen zogen Oskar aus, betrachteten ihn von allen Seiten und reichten ihm eine flauschige Decke. Oskar hatte nix zu verbergen, zumindest nicht vor diesem Blick, fand die Decke wohlig und hatte zum ersten Mal im Leben einen richtigen Freund. Erfuhr dann alles über ihn. Von der umtriebigen Kindheit mit den bösen Zwillingen Manie und Depression seines bildhauernden Vaters und eines späten Abends vom langen Trauerflor über der toten Mutter.

Oskar schob seinen neuen Freund durch eingetretene Türen und übergab ihm lamentierende Mörder zusammen mit deren neunmalklugen Anwälten. Der Neuköllner übernahm das Geplauder mit Uniformierten, kotzende Säufer und den Abtransport der Leichen. Seinem Freund legte er heulende Witwen und rotzende Waisen in den Arm und überließ ihm jene Fragen nach dem großen Ganzen, die Oskar in Alkohol einlegte.

Das Arbeiterkind bestaunte Jakobs lässige Größe, noch mehr aber seine Arbeit. Während Oskar mühsam den Hauptweg aus Fakten freiharkte, stieg sein Freund im Kopf um zwölf Ecken, fand mitten im Geröllfeld Wege und knöpfte Verdächtigen durch seinen Grubenblick das Herz auf. Selbst mieseste Killer gierten nach seinem Verständnis. Als Jakob dann auch noch Geister von Mordopfern sah, die ihm den Weg zum Täter wiesen, war es zu spät für Oskars treue Neuköllner Seele.

Natürlich überforderte ihn das. Er war Bulle, hatte das Abitur mit Petting gewonnen, schnarchte bei jedem Buch ab Seite fünf, hatte keinen Bock, irgendwelchen Arschlöchern in die Seele zu gucken und war froh, wenn ihn Geister, die es natürlich ohnehin nicht gab, in Ruhe ließen. Aber wen interessierte das schon. Irgendwer da oben hatte ihm diesen langen Spinner auf den Schoß gesetzt, da half kein Jammern. Oskar hob also die Fäuste hoch und verteidigte den Paradiesvogel gegen jeden, der auch nur zischend Luft holte.

Und Luft geholt wurde reichlich. Erst fand man die Geisternummer kleidsam und verdrehte in Jakobs Rücken die Augen. Aber dann entdeckte die akademische Wunderlatte, daß der altgediente Kollege Pommerenke seine Geliebte ermordet und einen Unschuldigen an seiner statt hinter Gittern versenkt hatte. Die Reihen schlossen sich. Nicht hinter Jakob, dem Aufdecker und Moralisten, sondern rings um die mordende Kumpelseele Pommerenke.

Oskar wich mit seinem Franzosen fluchend einem auf dem Weg liegenden Ast aus. Achsbruch im Wald, das fehlte ihm noch. Ruf mal eine Pannenhilfe in die Berliner Forsten.

Das wäre ein Fall für Jakob, überall Gegend, Bäume bis zum Horizont. Oskar gehörte auf Asphalt. Baumscheiben für die Fiffis, der Rest für ihn. Als er acht war, fand der Vater seinen Sohn zu fipsig und verordnete sonntäglich frische Luft. Oskar schlug das gerade anlaufende deutsch-amerikanische Volksfest vor. Stattdessen nahmen sie U-Bahn und Bus, um auf irgendeiner Ausflugswiese zu landen, meist am Wasser. Dann gab es rote Weiße, die Sonne brannte, Oskar langweilte sich und zählte Bäume.

Er brauchte das alles nicht. Sicher war Berlin quietschgrün. Spree und Havel, die Seen, der Tegeler Forst, die Müggelberge, der Grunewald. Und dazu der Kleinkram der Proletenstadt. Kein Kiez ohne Park, alle grillten auf löchrigem Rasen, fläzten sich auf Bänken, rauchten Tabak und Shit, tanzten zu orientalisch jaulenden Radios, sangen sozialistische Kampflieder unter klapprigen Bäumen, führten scheißende Hunde und Pflanzen rausreißende Kinder in Wald und Flur, einzigartig. Zum Protzen in der weiten Welt war das super, aber nüscht für Oskars Freizeit.

Die letzten zweihundert Meter bis zum Tatort mußten sie doch zu Fuß gehen, Oskars Schuhe sahen aus wie die eines Bauern, er war sauer. Auf einer kleinen Lichtung abseits des schmalen Waldweges tummelten sich die Kollegen. Oskar sah kein einziges Auto, nur zwei an einen Baum gelehnte Fahrräder. Wollten die die Leiche auf den Gepäckträger nehmen?

»Morgen, Hanno«, sagte er zum Rücken des Spurensicherers. Hanno trat einen Schritt zurück, in Oskars Magen schaukelte das hastige Frühstück. Er zählte auf die Schnelle sieben Einzelteile einer Frau. Knapp vor ihm lag eine Hand, der kleine Finger fehlte zu zwei Dritteln, die übriggelassenen Nachbarn leuchteten rot lackiert. Teure Klunker, scharfer Mini, abseits lagen schicke Pumps. Völlig deplaziert, mal abgesehen vom zerfledderten Zustand des Körpers.

»Unsere Schlachtermeisterin aus Baden-Württemberg wäre beleidigt«, sagte Hanno. »Kein Handwerk, eine Riesenschweinerei.«

Oskar schluckte. »Der fehlt ja ein Ohr.«

»Das nehmen sie gern zu Anfang.«

»Wer, zum Teufel?«

»Die Wildtiere«, sagte Hanno. »Ratten, Füchse, so’n Zeugs. Genauer kenn’ ich mich nicht aus, Wald ist nicht so mein Ding.«

»Was Du nicht sagst.«

Hanno lachte. »Deins auch nicht, soweit ich weiß.«

»Aber eine Frau ist das schon?« Oskar sah sich um.

»Einen Schwanz brauchen wir gar nicht erst zu suchen.«

»Der kommt noch vor den Ohren?«

»Sie hatte keinen. Eine Brust ist übrigens auch weg. Sieht man bloß nicht durch das viele Blut und den dunklen Pullover.«

Oskar wurde grau.

»Jetzt kotz’ mir hier nicht hin, Hauptkommissar.« Hanno klopfte ihm auf die Schulter. »Die nächste Leiche finden wir sicher wieder in geschlossenen Räumen.«

»Wenigstens ein versiffter Hinterhof dürfte es sein.« Oskar sah zu den Bäumen hoch und auf den knallblau zuversichtlichen Berliner Himmel dahinter. »Wißt Ihr schon was über die Todesursache?«

»Nee, das dauert. Außerdem war noch kein Rechtsmediziner da. Aber wenn Du mich fragst, wir sind hier im Hundeauslaufgebiet.«

»Was soll das heißen?«

»Hunde stammen von Wölfen ab, Du weißt schon.«

»Berliner Fiffis sollen eine Frau zerfleischen?«

Hanno beugte sich vertraulich zu Oskar vor. »Mich hat mal ein Pudel gebissen. Mußte mit vier Stichen genäht werden.«

»Der wollte an Deine Eier, wetten?« Oskar lachte und zog sein Handy aus der Tasche. »Das heißt, ich soll hier ermitteln. Kein harmloser Suizid, kein Herzinfarkt durch Sauerstoffüberschuß?« Er deutete auf den Wald ringsum. »Oskar Blum unter Eichen.«

»Das sind Buchen, Du Depp«, sagte Hanno.

Oskar seufzte. »Das habe ich schon befürchtet.« Er tippte die Kurzwahl Null in sein Handy. Das war eindeutig etwas für kopfkranke Geisterseher.

III

Seine Schwester biß ihn in den Rücken. Knurrend machte er eine Rolle rückwärts auf sie zu. Hell bellend hopste sie zur Seite. Gemeinsam jagten sie über die Wiese, schnell hatte er sie eingeholt, mit weit geöffnetem Maul stürzte er sich auf ihren Nacken, zog an ihrem Fell und rüttelte. Er hatte Haare im Hals, hustete und würgte. Seine Schwester fiepte unterwürfig, drehte sich auf den Rücken und streckte ihm die Beine entgegen.

Er verlor das Interesse, sah über die Wiese und trollte sich zu den Erwachsenen. Seine Mutter schlief, die anderen dösten. Sie hatten ein Reh erlegt, erst gestern, und waren alle satt und blutbesudelt. Nur der alte Rüde putzte sich, leckte sorgsam mit geschlossenen Augen seine Vorderläufe.

Er zupfte Gras, setzte sich hin, hob den Hinterlauf unentschlossen zum Ohr und kratzte sich. Ging über zur Lefze, dem Hals. Eine Fliege kam ihn zu ärgern. Er schnappte nach ihr, sprang auf, schlug Haken, hielt plötzlich inne und legte sich ins Gras.

In ihm zog es wieder. Er fiepte und legte den Kopf auf die Pfoten. Sein Herz schlug um das Ziehen herum, kreiste es ein. Er fraß etwas Gras, ein paar Gänseblümchen, kaute ausgiebig, die Blütenblättchen kitzelten ihn, das Ziehen blieb. Er stand auf und pinkelte an die nächstbeste Kiefer, neuerdings hob er das Bein. Er blickte auf seinen dampfenden Urin, kontrollierte den Geruch, bellte auffordernd, aber seine Geschwister beachteten ihn nicht.

Die sich senkende Sonne wärmte seine Nase, er nieste. Von dort rief ihn etwas. Er witterte und ließ den Kopf kreisen. Scharf, kühl und fremd schien ihm die Witterung. Er folgte ihr bis an den Rand der Wiese, bis zur Anhöhe vor dem Wald. Blieb stehen, witterte erneut, sah zurück. Seine Mutter gähnte. Sein Bruder schlug Purzelbäume, bellend verfolgt von seiner Schwester. Ein Schlag ging durch seinen Körper, er tollte den Abhang hinunter und stürzte sich auf seinen Bruder. Gemeinsam rollten sie durch das Gras.

Jakob Hagedorn sah in den Motorraum eines antiquarischen Bullis und fragte sich, wohin mit dem Schraubenzieher.

»Find’ste wenigstens den Keilriemen, Schatzi?« Grete gackerte.

Jakob grunzte und überlegte, ob er sich von einer 80jährigen in Faltenrock, Strumpfhose und Wanderstiefeln auf einem Brandenburger Waldparkplatz beleidigen ließe. »Hat der überhaupt TÜV?«

»Noch vier Wochen, kein Grund, nervös zu werden.«

Jakob tauchte aus dem Motorraum auf. »Wir brauchen eine Werkstatt.«

»Blödsinn. Seit zwanzig Jahren repariere ich dieses Auto selbst.« Sie nahm ihm den Schraubenzieher aus der Hand.

Diese verschrumpelte Schachtel mit ihren himmlisch blauen Augen machte Jakob völlig wehrlos. Erstmals begegnet waren sie sich im vergangenen Jahr, als er nachts um drei aus der Wohnung seiner frisch aufblühenden Liebe Hanna in den Hausflur gestürmt war und die heimkehrende Grete beinahe umgerannt hatte.

Am folgenden Tag war er dann während einer Geiselnahme auf den Fußboden eines Weddinger Lehrerzimmers gekracht, hatte gezappelt und gesabbelt und sein Bewußtsein erst in einem Krankenhausbett wiedergefunden. Ungute Voraussetzungen für das Werben um eine so lange wie bildschöne Ärztin. Gewisse Meinungsverschiedenheiten Hannas mit ihrem Arbeitgeber und eine Mordanklage hatten die Verhältnisse allerdings wieder gerade gerückt.

Bei einer Flasche Single Malt, die Grete, mit dem fürsorglichen Hinweis auf die von Alkohol ausgehende Gesundheitsgefahr für verpurzelte Hirne, nahezu allein geleert hatte, erfuhr Jakob später den Grund für Gretes nächtliche Heimkehr. Sie hatte in der Wohnung eines ehemaligen Schülers und Hobbycannabisgärtners der mit Durchsuchungsbeschluß anrückenden Polizei die demente Oma vorgespielt: kreischend stand sie in der Wohnungstür und forderte, man solle den Weg in den Luftschutzkeller freigeben, sie riefe sonst den Blockwart. Die peinlich berührten Polizisten ergriffen die Flucht.

Da sie, vermutlich mit Zwangsjacke und Krankenwagen für Oma, wiederkommen würden, mußte die Cannabis-Plantage weichen. Grete klingelte die nachbarschaftliche Kundschaft zusammen und verteilte Zubehör und Technik über das ganze Mietshaus. Die meisten Pflanzen landeten in der Komposttonne eines neuerbauten Townhouses zwei Straßen weiter.

Der dankbare Gärtner versprach Grete für ihre Hilfe lebenslangen Nachschub auf Kosten des Hauses, was die Alte bis zum letzten Atemzug auskosten wollte. Jakob gab etwas acht, daß sie es nicht übertrieb. Während ihre Pflegetochter Hanna bis zur Gerichtsverhandlung durch die Welt reiste, hatte er sich angeboten, für Grete zu sorgen. Hanna erzählte es der Alten, die senkte ihre blauen Augen in Jakobs, kniff ihn in die Wange und sagte, ich hab Dich auch lieb.

Mit Schraubenzieher und Stablampe bewaffnet sah sie Jakob an. »Du mußt mich hochheben und leuchten.«

Jakob seufzte, hob das Fliegengewicht auf die Stoßstange und hielt sie in der Taille fest. Er sah auf den grauen Lockenkopf und hörte es professionell klappern, als sein Handy klingelte.

»Wenn Du jetzt rangehst, bin ich verloren.« Gretes Stimme klang hohl.

Jakob löste vorsichtig die Hand von der alten Hüfte und fingerte nach seinem Handy.

»Mann, hat das lange gedauert. Liegst Du im Koma?«

»Grüß Dich, Oskar. Ich bin in Brandenburg im Wald.«

»Wie romantisch.«

»Mit Grete.«

»Sucht Ihr einen neuen Standort für ihre Kifferplantage?«

»Ich soll Dich auch lieb grüßen. Warum rufst Du an?«

»Ich habe hier eine Leiche.«

»Was geht mich das an?«

»Sei nicht gleich beleidigt, nur, weil Du suspendiert bist.«

Jakob hatte außer der Gesundheit auch seinen Beruf eingebüßt, Beamtenrecht und Corpsgeist sich, bisher erfolgreich, gegen ihn verbündet. Er war suspendiert und stand vor Gericht. Eine Serienmörderin und seine große Liebe hatte er allerdings in diesem Seuchenjahr auch gefunden, als mit den Gliedern rappelnder, kopfkranker Geisterseher nicht schlecht.

Und es war ja nicht so, daß er nichts zu tun hatte. Montag bis Freitag entstaubte er seine Bücherregale, schlich sich zwischen Schulklassen durch Museen, besuchte die neuesten Berliner Baustellen, fuhr auf dem S-Bahn-Ring im Kreis und ging jeden zweiten Tag einkaufen. Am Wochenende, wenn auch Nicht-Suspendierte Zeit hatten, pflegte er rostige Freundschaften. Und abends, wenn ihn zielloser Tatendrang ansprang, verhinderte die Geisterrunde von Martinas Opfern naturtrübe Gedanken.

Die schienen sich bestens zu verstehen, er kam sich zwischenzeitlich in seiner eigenen Wohnung wie ein Zimmerwirt vor. Hübsche junge Frauen, die Platten auflegten und sich auf Sesseln und Sofa räkelten, als sei das ein Geisterzuhause. Jakob fand das unhöflich. Er hatte ihre Geschichte aufgeklärt und verstreute Körperteile aus einer Berliner Tiefkühltruhe in ländlich idyllische Gräber verfrachtet. Na gut, nicht alle in die passenden, was konnte er für hartherzige Eltern.

Vermutlich mußte er nur endlich wieder arbeiten, dann fände er zurück in die Realität oder neue Mordopfer vertrieben die alten. Letzte Woche hatte er mit seinen Geistern ernsthaft geredet, sie sollten zu ihren Angehörigen zurückkehren, mal bei Penta und Sohn in der Mark vorbeischauen, oder ihre vermutlich schlecht gelaunte Mörderin in der Zelle besuchen. Aber sie hatten ihn nur mitfühlend angesehen. Als könnten sie ihn nicht allein lassen in seinem arbeitslosen, nutzlosen Freizeitdasein.

Mitleid von toten Frauen, denen einzelne Körperteile fehlten, hervorragend. Die kaugummilangen Tage und geistergefüllten Nächte machten ihn zu einer jammernden Mimose. Gute Voraussetzungen für eine Umschulung zum Haremseunuchen, aber schlechte für den rauhbeinigen Alltag als Kriminaler auf Berliner Straßen. Den er so vermißte, daß es ihm das Zwerchfell zusammenkrempelte, wenn er nur daran dachte. Bekäme er die Chance zurückzukehren, er schwiege über endlose Überstunden, kaputte Mitmenschen und mißgünstige Kollegen.

»Mir geht es vorzüglich ohne Arbeit, Oskar.«

»Aber sicher, deshalb turnst Du auch mit Deiner alten Kifferschachtel durch die Pampa.«

Jakob schwieg.

»Sie liegt im Auslaufgebiet.«

»Armer Oskar.«

In Gegenden ohne Straßenschilder war sein Freund verloren. Das Hundeauslaufgebiet im Grunewald war zwar nicht Nord-Kanada, aber immerhin. Ein paar Hundert Hektar Wald, Wasser am einen Ende, die S-Bahn am anderen. Ganz zu schweigen von den vielen freilaufenden Hunden und ihren landschaftserfahrenen, selbstbewußten Begleitern. Oskar mußte sich fühlen wie auf dem Mond.

»Ich kann das nicht, hier sind überall Bäume.«

Oskar schlug genau den Ton an, bei dem er alles stehen und fallen ließ. Keine Frau konnte das. Jakob seufzte. »Hat Deine Franzosenkutsche ein Abschleppseil?«

»Warum?«

»Du holst uns hier ab, und ich sehe mir Deine Leiche an.«

»Du bist ein Schatz, Alter. Und wo seid Ihr?«

»Burg Rabenstein, Gretes Bulli hat die Steigung nicht geschafft.«

»Das finde ich nie.«

»Fahr bis Belzig. Du weißt schon, Autobahn, der Spargel …«

»Und wenn die Häuser aufhören?«

»Rufst Du mich an.«

»Was Du bloß an Gegend findest.«

»Komm her, dann erkläre ich es Dir.«

Er lag auf der Anhöhe, den Wald im Rücken. Seit er nicht mit zur Jagd gedurft hatte, war das sein Platz. Als die Erwachsenen aufbrachen, wollte er sie erstmals begleiten, hatte sich mit angelegten Ohren, Kopf und Rute gesentk, zwischen sie gestellt und gebettelt. Er war doch so gut wie erwachsen. Aber die Rüden knurrten, scheuchten den Halbstarken zurück zu seinen Geschwistern.

Sie waren mit fetter Beute zurückgekehrt. Ein Frischling, genug für alle. Aber er wartete schmollend abseits. Erst, als alle satt schliefen, war er zu den Resten gegangen, hatte Knochen abgenagt und geknackt. Sein Magen war voll, aber das Ziehen blieb.

Er schlief jetzt auch am Waldrand, den Blick auf das Rudel. Ging in den Wald, um sich zu lösen und der Witterung hinzugeben. Der Wald war klein, er konnte am anderen Ende die Sonne untergehen sehen. Glutrot und dick senkte sie sich in die warme Erde, in seine Brust, füllte ihn aus.

Dieses Mal gab er nach. Mit weit ausgreifenden Schritten lief er in das Rot, immer weiter, bis es verschwand, die Nacht sich senkte, der Mond stieg, die Sterne auf seinem Weg blinkten. Er spürte Sand unter den Pfoten, die kühler werdende Luft in seiner Brust, horchte auf das Wispern und Knispern der Nacht. Tau senkte sich in sein Fell, aber ihm war warm und wohl. Er lief und lief, trank aus Pfützen, ruhte aus unter Bäumen, und lief, bis die Sonne wieder stieg. Erst als sie steil über ihm stand, suchte er Schutz vor ihrer Hitze unter einer weit ausgreifenden Fichte, grub sich eine Mulde und rollte sich ein. Steckte die lange schmale Schnauze tief unter seine Flanke, horchte auf die Geräusche des fremden Waldes, das ferne Pfeifen des Bussards, das Keckern der Elstern, den Warnruf des Eichelhähers. Sein Herzschlag wurde ruhiger und er schlief ein.

Seine Schwester war zum Waldrand hinaufgelaufen, hatte die Witterung des Bruders aufgenommen, war durch den Wald, die Nase tief am Boden, seiner Spur gefolgt. Auf der anderen Seite des Waldes sah sie über die Ebene und hielt inne. Sah sich um, fiepte ratlos. Legte den Kopf in den Nacken und heulte.

Es antwortete ihr Rudel im Rücken, der ferne Bruder schwieg. Da drehte sie um. Durchmaß mit hüpfenden Zwischenschritten das Wäldchen, fand den früheren Schlafplatz ihres verlorenen Bruders, kratzte mit den Hinterpfoten etwas Sand in seine Mulde, löste sich darauf, lief den Hang hinab zu ihrem Rudel und vergaß ihn.

Die Sonne hatte sich vor ihm gesenkt, ein zweites, drittes Mal. Jetzt, am vierten Tag, hatte sie die Landschaft noch nicht in rotes Licht getaucht, noch blendete sie den auf sie zulaufenden jungen Rüden. Vor ihm lag ein breiter Fluß. Das Licht tanzte auf seinen trägen Wellen. Auf dem gegenüberliegenden Ufer bewegte sich etwas, das er nicht kannte. Er witterte fremde, schwere Gerüche, die der Wind herübertrug. Verwirrende Geräusche füllten seine großen, feinen Ohren. Seine Stirn zog sich zusammen.

Er blieb in Deckung, wartete. Mit der Dämmerung wurde es ruhiger am anderen Ufer. Nur ab und an bewegte sich ein großes Wesen langsam, stinkend und röhrend von einer Seite zur anderen. Er folgte mit dem Kopf seinen zwei großen Augen, die über den Uferweg tanzten, dem kleinen Licht, das über den Fluß streifte und schließlich den zwei roten Augen an seinem Ende.

Als die Dunkelheit überall war, schlich er sich zum Fluß und trank. In ihn grub sich nagende Leere ein. Sie sprach mit dem Ziehen. Er sicherte nach allen Seiten. Außer ein paar Fledermäusen war alles leer. Er stieg in den Fluß, setzte vorsichtig Pfote für Pfote und wurde mitgerissen. Die Strömung war stark, weit zog sie ihn hinaus. Er bewegte die Beine im Wasser. Kraftvoll schwamm er durch den Strom. Nur die graue Rute und sein schmaler Kopf waren zu sehen, dicht angelegt die Ohren. Er fühlte seine Kraft, die das Wasser durchteilte. Sah Bäume am Ufer vorüberziehen, Sterne über sich.

Die Fledermäuse begleiteten ihn, stürzten auf den Schwimmenden nieder, bogen kurz vor ihm ab in den Nachthimmel. Das Wasser war kalt, unter ihm wirbelte es. Seine Beine wurden schwer, seine Züge langsamer. Der Fluß war breit und stärker als der unerfahrene Wolf auf dem Weg in ein neues Leben. Seine Rute sog sich voll Wasser, wehrlos schleuderte sie hin und her. In seine Ohren lief der Strom, er fror trotz der Anstrengung. Sein Atem ging keuchend. Immer schneller wirbelte das Ufer vorbei, immer härter attackieren ihn die Fledermäuse.

Endlich spürte er Sand. Wirbelnden, weichen Sand. Noch ein, zwei Züge mit den lahmen Beinen, dann stand er, schwankend. Stieg auf zum Ufer, zog sich mit den zitternden Vorderbeinen die Böschung empor. Das Wasser lief in Strömen an ihm hinab. Er schüttelte sich, der Nachthimmel zerstob vor Wasserfunken. Er trabte hoch auf einen grasbewachsenen Deich und sicherte ringsum. Die Fledermäuse hatten ihn verlassen. Ein Fuchs war vorbeigekommen am Abend, unter sich hörte er Nager in ihren Bauen trappeln, in der Ferne einen Kauz. Er drehte sich um und sah zurück auf den Strom. Hob den Kopf, immer höher, legte ihn in den Nacken und heulte. Er bekam keine Antwort.

IV

Als ein Kollege ihm in der Keithstraße sagte, wo er die Angehörigen der Frauenleiche aus dem Grunewald fände, hatte Oskar gehofft, er träfe auf ganz normale Berliner, die zufällig in der Platte im Osten wohnten. Man will sich ja in seinen Vorurteilen nicht einrichten. Außerdem gab es wirklich nette Ostler, die in Prenzlberg das System zu unterbuddeln versucht hatten, allerdings heute in Charlottenburg wohnten, weil Stuttgarter ihre Wohnungen aufgekauft und von den Überwachungskabeln der Stasi befreit hatten.

All seine guten Vorsätze lösten sich schon im Hausflur auf. Schichten frischer Farbe hatten diesen unnachahmlichen DDR-Duft nicht beseitigen können. Piefigkeit, Braunkohleruß und viel Süßliches klebten Oskar auf den Bronchien.

Jetzt saß er auf einer Lichtenberger Couch im siebten Stock des Arbeiter-und-Bauern-Paradieses für verdiente Kleinkader, eingekeilt zwischen plüschigen Kissen und sah in das starre Gesicht von Walter Gerber, dessen ältestes Kind Iris den Grunewalder Ratten Teile ihres Körpers geopfert hatte.

»Mein Mann kommt nicht so zurecht in der neuen Zeit. Sie müssen schon entschuldigen«, sagte die Mutter. Seit einer halben Stunde drehte sie jetzt ihr rechtes Handgelenk zwischen Daumen und Zeigefinger der Linken.

»Was heißt das?«, fragte Oskar. Er sah sich im Wohnzimmer um. Gerüschte Gardinen über einer mit Engelchen vollgestellten Fensterbank. Porzellan, buntes Glas, Hölzernes aus dem Erzgebirge. An der Wand Dürers Karnickel, der Eiffelturm und ein kleiner Honecker. Auf einer dunkel glänzenden Kommode Photos aufgereiht wie Pokale, Iris und zwei Jungs. Das Erreichte im gerahmten Rechteck. Schultütenpräsentation eins, zwei, drei. Jugendweihe. Iris mit leichten X-Beinen in weißen Kniestrümpfen, ihre freche Stupsnase ragte noch vollständig in den Himmel.

Dann als Erwachsene. Ein Bruder in knappem Anzug inmitten businessgekleideter Klone, der andere mit Kindern am Strand. Bunte Schippen und Förmchen ringsum, eine übergewichige Frau mit Sonnencreme auf dem Nasenrücken an seiner Seite. Iris vor Skyline, mit angeknipstem Strahlen, ohne Kniestrümpfe.

Schließlich die Drei auf der elterlichen Couch. Alle in Jeans, Iris in der Mitte, lässig die Hände auf den Beinen ihrer Brüder, die sie von der Seite ansahen.

»Man hat mich aussortiert, das heißt das.« Die Lippen des Vaters bewegten sich kaum.

Oskar sah zu Iris’ Bruder, der unglücklich auf dem Sessel seiner Kindheit hing. War sicherlich damals Grund zur Freude gewesen, eine Couchgarnitur zugeteilt zu bekommen.

»Das kannst Du so nicht sagen, Vati.« Seine Frau sah ihn an. »Was hätten sie denn tun sollen, den Staatsrat gab es ja nun nicht mehr.«

»Staatsrat?« Oskars Stimme kiekste.

Die Mutter erlöste das Handgelenk und täschelte ihrem Mann den Oberschenkel. »Verwaltungsaufgaben hat er dort erfüllt«, sagte sie.

»Schließer war er«, sagte der Sohn.

Er hatte die schmalen Lippen seines Vaters, war aber schmächtiger. Kurze, breite, gepflegte Finger, die flach auf seinen Oberschenkeln lagen. Oskar vermutete feuchte Kälte, die von den Handflächen in die Hose drang. Er trug einen hellgrauen Anzug, immer noch zu eng, ein Seidenanteil ließ ihn knittern. Der Schlips war zu bunt, das Hemd hatte einen Stich Rosa.

»Diese Respektlosigkeit hätte es früher nicht gegeben.« Der Vater bleckte die Zähne.

Sein Sohn sah unbeteiligt aus dem Fenster. Am Rand seiner anthrazitfarbenen Socke war ein Fußball aufgedruckt. Westverseucht, dachte Oskar, auf sozialistischer Ostcouch, die Welt war früher schlichter. »Der Staatsrat ist aber lange beerdigt. Was haben Sie denn nach Mauerfall gemacht?«, fragte er.

Der Mann schwieg.

»Pförtner werden ja auch anderswo gebraucht.«

Der Mann schnaubte.

»Oder waren Sie IM?«

»Das könnte Euch so passen.«

Ein Neuköllner Arbeiterkind als Klassenfeind, Oskar parkte seinen Blick vorsichtshalber Richtung Kommode. An der Wand noch mehr Photos. Iris im Kostüm, etwas jünger als vor der Skyline, schmal und langbeinig, die Schultern hochgezogen. Sie lächelte gequält in die Kamera, im Hintergrund der Palast der Republik.

»Eine sehr schöne Stelle im Innenministerium hat man ihm angeboten«, sagte die Frau.

»War ihm nicht genehm«, sagte der Sohn, nahm ein Stofftaschentuch aus der seidigen Hose und wischte sich die Handflächen.

»Sehe ich aus, als liefe ich einfach so über?«

»Hast lieber Mutti schuften lassen und Arbeitslosenhilfe kassiert. Die Dir dann auch noch gekürzt wurde, als Du Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen abgelehnt hast.« Das Taschentuch verschwand zerknüllt in den Tiefen der Hosentasche.

»Computerkurs und im Archiv Akten entstauben. Wer bin ich denn?«

»Haben Sie auch gearbeitet?«, fragte Oskar die Frau.

»Kindergärtnerin war ich«, antwortete sie. »Nach Mauerfall wollte man mich aber nicht mehr. Es hieß, das waren die falschen Methoden. Alle zugleich auf den Pott, alle zusammen schlafen legen. Dabei hat das bißchen Disziplin nicht geschadet. Aber«, sie schlug die Hände zusammen, als mache sie sich an den nächsten Kuchenteig, »das muß man als Chance sehen. Habe ich mich eben verändert.«

»Kassiererin.« Der Mann schnaubte wieder.

»Ja und? Ist das vielleicht kein anständiger Beruf? Kommt man wenigstens unter Leute.«

»Denen für Unnützes Geld aus der Tasche gezogen wird.«

»Der böse Kapitalismus. Nicht schon wieder«, sagte der Sohn.

»Und unserem Kleinen konnte ich so helfen, einen Ausbildungsplatz zu finden. Habe bei meinem Chef ein gutes Wort für ihn eingelegt.« Oskar sah fragend zum Sohn, der den Kopf schüttelte, er war nicht der Kleine.

»Eine Schande für die Arbeiterklasse. So weit sind wir schon, um die Gunst des Chefs werben.« Der Vater verschränkte die Arme.

Oskar wurde das alles zu familiär. »Und Ihre Tochter?«

»Die hat es geschafft«, sagte die Mutter. »Abitur gemacht an der Polytechnischen Oberschule und dann an der HU studiert. Tolle Abschlüsse hingelegt. Betriebswirtschaft, war es nicht so?« Sie sah zum Sohn, der nickte. »Und dann hat sie sich um ein Aufbaustudium beworben, in Amerika.«

»Ausgerechnet«, sagte der Vater hinter seinem Armpanzer.

»Ja und? Sie haben sie genommen und uns hat es keinen Pfennig gekostet. Ein Stipendium hat sie bekommen für eine MBA. Heißt das so?« Der Sohn nickte. »Ihr späterer Chef hat das finanziert. Er fand es gut, daß sie aus dem Osten kam, sich hochgearbeitet hat. Wissen Sie, für die Amerikaner sind wir Exoten. Die denken, wir hätten alle in Käfigen gehaust und kommunistische Lieder gesungen.« Sie kicherte.

»Und nach dem Studium?«

»Erst mußte sie überall rumreisen. Hat nicht viel verdient, sollte alles kennenlernen. Aber das ist lange vorbei. Inzwischen betreut sie einzelne Projekte, hat völlig freie Hand. Und verdient richtig viel Geld.«

»Einen Mann hat sie nicht«, sagte der Vater.

»Was sollte sie mit dem auch anfangen bei der vielen Arbeit. Aber später will sie schon, auch Kinder, sie ist ja erst dreiunddreißig.« Die Frau strahlte stolz.

»Wissen Sie etwas über Freunde Ihrer Tochter? Menschen, die uns mehr über ihr jetziges Leben sagen können?«, fragte Oskar, bevor der Mutter bewußt wurde, daß ihre Tochter immer dreiunddreißig bleiben würde.

»Eine Klassenkameradin hatte noch Kontakt zu ihr«, sagte der Bruder. »Aber ich glaube nicht, daß die Ihnen weiterhelfen kann. Ist bei der BVG, fährt Bus, glaube ich, hat Mann, zwei Kinder, ein Häuschen hinter Oranienburg. Das waren nur Erinnerungen, nichts, was sie jetzt noch verband. Meine Schwester hatte kein Privatleben. Die hatte nur Zeit für ihren Bonzen.«

Die schmalen Lippen waren wirklich unvorteilhaft. Jetzt mahlte auch noch Juniors Kiefer.

»Und wissen Sie etwas über Feinde, Neider?«, fragte Oskar.

»Sie war nicht gerade eine Schmusekatze.«

Die Mutter schluchzte, der Traum von Zukunft war zuende.

»Ihr Auftreten hat vielen nicht gepasst. Sie ließ gern mal den Kontostand raushängen.«

»Als ob die Brüder es nicht auch zu etwas gebracht hätten«, sagte der Vater. »Mein Ältester hier ist Banker, der Kleine leitet ein Lebensmittelunternehmen.«

Alles Kapitalisten, dachte Oskar, armes Schwein. Aber so bezahlt wenigstens jemand Deine stalinistischen Flausen. »Und wissen Sie, an welchem Projekt sie gerade arbeitete?«

»Umweltschutz«, sagte die Mutter und schneuzte sich. »Das kommt noch hinzu, ihr Arbeitgeber war eine soziale Stiftung.«

Der Vater schnaubte wieder. »Ist ja wohl das mindeste, daß die ihre erbeuteten Gewinne in das Gemeinwohl zurückführen.«

Aber sicher, dachte Oskar, wie Dein Staatsrat.

»An der FU unten in Dahlem war sie. Dadurch hatte sie jetzt viel in Berlin zu tun, wir konnten uns öfter sehen.«

»Wieso weiß ich davon nichts?«, fragte der Vater.

Jetzt heulte die Mutter richtig. »Du wärst doch nie damit einverstanden gewesen, daß sie in Westberlin arbeitet. Du wolltest ja nicht mal in ihre Wohnung, dabei war die im Osten.«

Oskar wurde das alles zu eng. Da lobte er sich seine Neuköllner Kindheit. Kohleofen, Kohlrouladen, klare Ansagen und Dankbarkeit gegenüber den amerikanischen Beschützern. Jakob hätte das alles hier viel besser gekonnt, der weckte in jedem gescheiterten Arschloch den flauschig-weichen Kern. Wenn Oskar an Staatsratspapas Kern dachte, sah er nur ausgekotzten Karamellpudding vor sich. Die letzte Frage und dann nüscht wie an die Luft. »Haben Sie eine Idee, wer Ihrer Tochter das angetan haben könnte?«

»Irgendsoein Perverser aus dem Grunewald«, rief der Vater. »Joggen in knatschengen Klamotten. Da muß sie sich nicht wundern. Wußte nicht, wo sie hingehört.«

Warum gerade hier? Eine abseitige Lichtung im Wald. Jakob überstieg das Polizeiabsperrband, blieb in der Mitte des Areals stehen und drehte sich langsam im Kreis. Er übertrug, was er auf den Tatortphotos gesehen hatte.

Das Bild einer Schlacht. Verwirbelte Laubhaufen, zerwühlte Erde. In der Mitte die tote Frau, auf dem Rücken liegend. Die Arme waren ausgebreitet, ein Unterarm abgetrennt. Keine Hände. Der Kopf seitwärts, blutiges Haar in der Stirn, Teile der Nase fehlten. Blutverschmiert der offene Hals, behängt mit einer breiten goldenen Kette.

Reste eines Pullovers. Ein hochgeschobener schwarzer Minirock, Löcher in Ober- und Unterschenkeln. Eine Schleifspur führte zu dem Unterarm abseits. Die Hand war mit teuer blinkenden Ringen geschmückt, sechs an drei verbliebenen Fingern. Grell lackierte Fingernägel. Neben ihrem Bauch Pumps, leuchtend rot, mit gelber Sohle, keine Waldspritzer auf der Farbe, keine Erde am Absatz.

Wie auf einer Bühne. Wäre die Leiche aufgebahrt gewesen, er hätte an ein Bestattungsritual gedacht, eine Toteninszenierung. Gab es nicht bei Indianern die Vorstellung, Greifvögel holten die Seele ab, indem sie sie verspeisten? Vielleicht war sie auch eine Opfergabe gewesen. Ein Kniefall vor Berliner Wildschweinen und Ratten? Jakob, Du staubst zu viele Bücher ab.

Er war auf Oskars Fall gesprungen wie ein sabbernder Jagdhund. Hatte auf die Tatortphotos gestiert und war in die Leine gestiegen, wann es endlich losginge. Oskar hatte ihn besorgt angesehen. Fall mir nicht wieder hin. Keine Sorge, wenn sein Gehirn jetzt schlapp machte, reichte er unverzüglich die Scheidung ein. Sicher, das Ganze war nur ein Freundschaftsdienst, inoffiziell, versteckt, illegal. Na und? Endlich wieder Arbeit, Frischluft in jeder Windung. Durchgepustete graue Zellen, flirrende Nervenbahnen, er fühlte sich hervorragend. Etwas nervös vielleicht, geschlafen hatte er nach seiner Recherche wenig, aber so ging das wohl von der Couch hopsenden Frührentnern.

Den gestrigen Abend hatten sein aufgekratzes Hirn und er recherchierend in der Unibibliothek verbracht. Vor über 200 Jahren war der Berliner auf den Hund gekommen, 1850 gab es schon zehntausend beste Freunde des Menschen in der Stadt. Wenig später versuchte die Obrigkeit, durch Steuern, Verordnungen und Verbote vor allem die Armen von ihrer Liebe zum flohtragenden Mitgeschöpf abzubringen. Man erließ einen Maulkorbzwang, an den sich selbstverständlich niemand hielt. Alle Maßnahmen waren vergebens, selbst im hungerreichen, verfrorenen Blockadewinter 1948 spannte sich die Luftbrücke über einer ungebremst wachsenden Hundezahl im Westteil der Stadt.

Vor knapp hundert Jahren richtete man aus Verzweiflung oder Verantwortungsgefühl Hundeauslaufgebiete ein. Zwölf an der Zahl auf 1250 Hektar bewaldetem Stadtgebiet. Einzigartig in Europa, so las er. Jakob vermutete, Brasilien, Neuseeland oder Saudi-Arabien hätten wohl kaum größere. Mal wieder ein Berliner Weltrekord.

Das größte Auslaufgebiet der Stadt war zugleich das beliebteste. Gelegen im Grunewald, geschmückt mit Krummer Lanke, Schlachten- und Grunewaldsee. Am Ufer des letzteren lag in prachtvoller Breite der Hundekudamm. Es gab eine Würstchenbude direkt am sandigen Badestrand für Wüstlinge und Elegante, Halbstarke und Olle. Dort trafen sich Hunderte Exemplare aller Rassen. Terrier protzten vor Doggen, Dackel liebäugelten mit Schäferhundedamen – und alles ohne Leine, Straßenverkehrsordnung und Beleuchtung.

Die entstellte Frauenleiche lag weiter draußen. Oberhalb von Krummer Lanke und Schlachtensee verteilten sich Herr und Hund weiträumig unter Eichen, Buchen und Kiefern. Hin und wieder schaute eine Rotte Wildschweine vorbei.

MM, alte Freundin und Friseurmeisterin aus seinem Kiez hatte Jakob ihren Mops in den Arm gedrückt, damit er im Auslaufgebiet nicht auffiel und Anschluß fand. Nach wüsten Drohungen, was ihm alles blühe, nähme Hektor im finsteren Wald Schaden, war Jakob mit neun Kilo Faltenwurf am Ende einer straßbesetzten violetten Leine zur U-Bahn gestiefelt, jetzt sicherte der schnaufende Knirps breitbeinig Jakob und die Lichtung.

Iris Gerber, das ehemalige Kind aus der Plattenbauwohnung im Osten der Stadt, hatte ein teures Penthouse am Potsdamer Platz bewohnt. Sie fuhr einen schneeweißen BMW-Roadster mit roten Ledersitzen, in ihrem Navigationsgerät war zwei Mal pro Woche als Ziel der Parkplatz Hüttenweg im Grunewald eingegeben. Sie war regelmäßig im Auslaufgebiet gewesen. Im Kofferraum des Wagens lag eine Sporttasche mit zwei Garnituren frisch duftender Joggingkleidung, daneben zwei Paar identische Laufschuhe, am einen hing noch das atemberaubende Preisschild.

Heute war einer der Joggingtage, die Zeit stimmte, Jakob wollte ihre Laufstrecke rekonstruieren und Zeugen finden. Falls Jakob das Finden nicht verlernt hatte. Immerhin mußte er, wenn er sich täppisch anstellte, kein hämisches Kollegenpublikum befürchten, keine Buche wußte, wie sich ein professioneller Kriminaler und wie ein auf den Kopf gefallener Exbulle benahm. Oskar hatte, als er das ungewohnte Fremdeln seines Freundes bemerkte, gefeixt, er könne ihn ja vom Wald aus anrufen, falls gar niemand vorbeikäme.

Hektor stromerte durchs Gebüsch, als sich Jakob auf dem Weg ein Rudel Wölfe näherte. Jakob rief nach dem Knirps, aber Hektor reagierte nicht. Das hier war weder sein Friseursalon noch ein Schöneberger Bürgersteig, und er eindeutig im Urlaub.

Also ging Jakob allein auf ein Dutzend freilaufende Hunde zu. Immerhin ragte ein Erziehungsberechtigter aus ihrer Mitte. Jakob erkannte Rottweiler, Terrier, Boxer, Schäferhundmischlinge und einen Labrador. Nichtsahnend brach der gut gelaunte Hektor aus dem Unterholz.

Jakob sah sich schon auf der Suche nach einer neuen Friseurin, aber der Schöneberger hielt sich tapfer. Alle beugten sich freudig zu dem drallen Zwerg hinunter, beschnupperten gedetschte Schnauze und Ringelschwanz. Das Straßgeschirr blinkte eitel und Hektor setzte sich erst einmal.

»Napoleon, nicht so aufdringlich«, sagte der Mann. Der Labrador nahm die Nase aus Hektors Hinterteil.

»Hören die alle so gut?«, fragte Jakob und behielt den Rottweiler im Auge.

Der Mann grinste. »Neu hier?«

»Ich führe den Hund einer Freundin aus.«

Der Mann nickte verständnisvoll. »Ich bin Thies und wenn die nicht alle gut hören würden, hätte ich meinen Beruf verfehlt.«

»Ich bin Jakob. Und was bist Du von Beruf?«

Thies lachte. »Hundeausführer. Außerdem Trainer für die dazugehörigen Zweibeiner.«

Jakob sah ihn an. Er trug eine randlose Brille vor ruhigen und genauen Augen, Cargohose und Outdoorjacke mit prallen Taschen, alles etwas abgegriffen. Seine Wanderschuhe waren ähnlich ausgelatscht wie Jakobs. »Wie wird man denn sowas?«, fragte Jakob.

»Als Richtungswechsler. Eine Kollegin hatte einen Bioladen in der falschen Gegend, einer wartet seit zehn Jahren auf einen Studienplatz in Tiermedizin, ein anderer war mal Friseur.«

»Und Ihr habt genug zu tun?«

»Es gibt 100.000 Hunde in Berlin, und das sind nur die Steuerzahler. Aber laß uns ein Stück gehen, ich werde schließlich nicht fürs Rumstehen bezahlt.« Als er sich in Bewegung setzte, hampelten die Hunde begeistert los. Hektor bemühte sich, Schritt zu halten. »Jeder findet die Kunden, die zu ihm passen.«

»Und warum gehen die Leute nicht selbst mit ihren Tieren?«

»Machen sie ja, aber ein-, zweimal die Woche wollen sie dem Hund ein Rudelerlebnis gönnen. Es gibt natürlich auch Leute, die sich in Mitte einen schicken Weimaraner leisten und keinen Waldboden an ihren edlen Schuhen mögen. Ganz zu schweigen von denen, die berufstätig sind und acht Stunden an einem Stück weg. Oder sie werden plötzlich krank und der Hund soll trotzdem raus.«

»Sind die denn alle friedlich?«

»Hunde sind Rudeltiere mit ausgeprägtem Sozialverhalten.«

Im Gegensatz zu den Zweibeinern, dachte Jakob. Gibt viel Galle in der Stadt. »Und was war Deine alte Richtung?«, fragte er.

»Althistorisch. Erbsenzählen bei Cicero. Ist schon o.k., wenn Du dafür einigermaßen bezahlt wirst.«

»Wurdest Du aber nicht.« Jakobs Prof hatte aus ihm einen promovierten Literaturwissenschaftler machen wollen. Aber Literatur half nicht beim Umgang mit dem jämmerlichen Tod geliebter Menschen, Jakob brauchte einen Richtungswechsel.

Das Zeitlupenableben seiner Mutter hatte Jakobs Kindheit wie eine dräuende Wetterfront begleitet, er verstand eindeutig am meisten von Sterbenden und Toten. Dem Medizinsystem traute er außer sadistischer Hilflosigkeit nichts zu, als nekrophiler Beruf fiel ihm nur noch Bestatter ein.

Er hospitierte bei einem Sarghersteller, wusch Leichen und entwarf Trauerreden. Eines Morgens las er über seinen Pausenkaffee gebeugt in der Morgenpost von einem mörderischen Familiendrama, dachte sich, das Knäuel hätte er gern und besser entwirrt und bewarb sich bei der Kripo. Der Umgang mit Mördern und Toten, deren mitten im Satz abgerissene Geschichte er zuende erzählte, schlug bis heute jedes Doktorandencolloquium.

»Drei Monate Drittelstelle«, antwortete Thies, »paar Monate Pause, wieder Drittel. Ich saß in einer Einzimmerbude in Neukölln und habe mir eingebildet, für ein authentisches Leben als Wissenschaftler zu darben.«

»Und hattest Zeit für einen Hund.«

»Dessen Hundesteuer ich dann nicht mehr zahlen konnte.«

»Und jetzt?«

»Muß ich Neukunden ablehnen. Brutus, laß das.« Ein Jack-Russel zog den Kopf aus einem Mauseloch.

»Sind das alles Historikerhunde?«

Thies deutete auf eine schmalen Podengo mit riesigen Ohren, durch die die Sonne schien. »Mommsen. Das professorale Herrchen hat eine Finca auf Mallorca. Dort schreibt er seine ungelesenen Bücher und mümmelt Oliven.«

»Die Drittel sind ungerecht verteilt.«

»Jetzt bekomme ich ja auch ein paar Krumen davon ab. Übrigens«, Thies deutete auf Hektor, »zwei Speckrollen weniger würden ihm guttun, sag das Deiner Freundin.«

Jakob seufzte. »Ihr Sohn ist Staatsanwalt, schämt sich für seine wellenlegende Mutter und läßt sich zu selten blicken.«

»Und die Liebe muß irgendwohin, verstehe.«

»Apropos Liebe«, Jakob zog ein Photo von Iris Gerber mit vollständigem Gesicht hervor, »kennst Du diese Frau?«

Thies griff sich Jakobs Kopie und schüttelte den Kopf. »Zeig mir lieber ein Bild ihres Hundes.«

»Sie hatte keinen.«

»Hatte?«

»Die Leiche da hinten, das war sie.«

»Bist Du Bulle?« Er blieb abrupt stehen, seine Hunde auch.

»Suspendiert. Ich habe trotz Krankschreibung gearbeitet.«

»Der Berliner Öffentliche Dienst bestraft neuerdings Leute, die freiwillig arbeiten?« Thies lachte.

»Dann war da noch meine geladene Dienstwaffe auf dem Tisch neben einem Geiselnehmer.«

»Ups.«

»Ich lag auch da, unter dem Tisch.« Jakob seufzte. »Bewußtlos, mit Spucke vor dem Mund.«

Thies sah ihn fragend an. Die Hunde folgten seinem Blick.

»Epilepsie.« Sag’s öfter Jakob, irgendwann wird es leichter. »War mein erster Anfall, mitten im Einsatz.«

»Das ist fies.« Er legte Jakob die Hand auf die Schulter. »Hunde haben das auch. Richtig fies.«

»Na ja, ich stehe ja immer wieder auf«, sagte Jakob, gerührt von der epileptischen Hundegesellschaft.

»Das spricht für Deinen Charakter.« Thies hatte sein Mitgefühl sortiert und setzte sich wieder in Bewegung. »Aber Krankheit können sie Dir doch nicht zur Last legen.«

»Sie können.« Und mangelnden Corpsgeist, ein schartiges Wesen, zu viel Bildung und eine Ladung ungebetener Geister, dachte Jakob. »Eine Anklage habe ich auch am Hals.«

»Scheiße.«

»Ich soll ein Handy vom Tatort haben mitgehen lassen.«

»Unterschlagung von Beweismitteln, heißt das so? Wollen sie Dich denn überhaupt noch bei der Kripo? Vielleicht fällst Du mal in einen Verdächtigen oder eine Waffe.«

»So richtig wollten die mich nie.«

»Willst Du nicht ein Praktikum bei mir machen? Klingt schon sehr nach Richtungswechsel. Du könntest Dich auf Bullenhunde spezialisieren.«