Ausschreibung für einen Mord – Auf Mord gebaut - Jan Eik - E-Book

Ausschreibung für einen Mord – Auf Mord gebaut E-Book

Jan Eik

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Beschreibung

In dem Fundament eines Berliner Regierungsbaus wird die Leiche eines unbekannten Mannes gefunden. Als bei dem verantwortlichen Architektenbüro wenige Tage später eingebrochen wird, wittert der Seniorchef eine Intrige und bittet Oliver John, seines Zeichens Privatdetektiv und ein Liebhaber feiner Lebensart, um Hilfe. Er soll sich undercover in die renommierte Firma einschleusen und herausfinden, wer da ein mörderisches Spiel treibt und warum. Der Auftrag führt OJ in eine bunte Architektengruppe, in der anscheinend jeder etwas gegen jeden hat. Und plötzlich geschieht ein weiterer Mord ... LESEPROBE: Zähneknirschend kehrte OJ zu seinem Golf zurück. Die Rückfahrt von Mädenberg hatte ihm ausreichend Gelegenheit geboten, seine Erkenntnisse zu ordnen und sich zu dem Entschluss durchzuringen, sofort Kommissar Timm zu informieren. Anscheinend aber waren solche Leute nur in Kriminalromanen zu jeder Tages- und Nachtzeit erreichbar und machten nie Feierabend. Wenn er es recht bedachte, war der Wochenanfang allemal gut genug, um Timm mit der Identität des Toten im Fundament zu überraschen. Den Rest durfte der Kommissar sich selber zusammenreimen. Russisch Inkasso wollte OJ ihm großzügig als zusätzliches Stichwort liefern; ob Timm dann selbstständig auf Nurejew und einen eventuellen Zusammenhang mit dem Mord an Rocky kam, war ausschließlich seine Sache. Das Geld in dem Umschlag mit der Nummer des gestohlenen Handys von P & H gedachte OJ nicht zu erwähnen. Kostas hatte einen glaubwürdigen Eindruck auf ihn gemacht. Wenn der zur Mafia oder zu einer Inkasso-Gang gehörte, und danach sah es nun einmal aus, war seine Geschichte dennoch nicht echt. Wahrscheinlich waren die Fünfhundert einfach sein Anteil, und der Briefumschlag gehörte tatsächlich Rocky, von dem der Tipp mit dem Pfeiler stammen mochte. Wer anders als ein ausgefuchster Bauarbeiter kannte die beste Stelle, um eine Leiche im Beton verschwinden zu lassen, die man vorher ihrer besonderen Merkmale beraubt hatte. OJ hätte sehr zufrieden sein können mit sich und seinem Ermittlungsergebnis, aber erstens schmerzten das Handgelenk und die aufgeschlagenen Fingerknöchel höllisch und behinderten sowohl seine Fahrweise wie sein Wohlbefinden, und zweitens blieb ihm da einfach zu viel offen in diesem so überraschend gewonnenen Spiel. Wo beispielsweise lag der Bezug zu P & H und damit zu seinem Auftrag, für den er bezahlt wurde? Herbert C. hatte ihn nicht engagiert, um dem Kommissar die Arbeit abzunehmen.

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Impressum

Jan Eik

Ausschreibung für einen Mord – Auf Mord gebaut

ISBN 978-3-95655-419-3 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien unter dem Titel „Ausschreibung für einen Mord. Architektenkrimi“ erstmals 1998 bei avedition Stuttgart und unter dem Titel „Auf Mord gebaut“ 2002 bei berlin. krimi.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Die Personen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Geschehnissen und Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Hüte dich vor einem Mord! Er verleitet zum Diebstahl, und von da ist es bis zur Lüge nur ein Schritt.

Julian Tuwim

1. Kapitel

Von der künftigen Schönheit des Gebäudes mitten im Berliner Regierungsviertel war wenig zu erkennen. Aus der Decke der oberen Kelleretage erhoben sich Bewehrung und Schalung für das repräsentative Erdgeschoss. Alle zwölf Minuten rollte ein neuer Transporter mit neun Kubikmeter Beton heran und pumpte die Ladung zwischen die Schaltafeln. Fünfundvierzig Kubikmeter in einer Stunde an jeweils zwei Stellen der massiven Außen- und der Zwischenwände, die das ausladende Foyer von den beiden Gebäudeflügeln trennen würden.

Die Betonierung hatte am Morgen nicht rechtzeitig begonnen, weil der gefürchtete Prüfingenieur Adlé bei seiner Begutachtung der Stahlbetonbewehrung nicht gerade großzügig verfuhr und tausenderlei zu bemäkeln hatte. Möglicherweise wäre man am Abend dennoch planmäßig fertig geworden, hätte es am frühen Nachmittag nicht plötzlich eine unerklärliche Stockung beim Beton gegeben und wäre nicht zu genau diesem Zeitpunkt die Polizei samt Gewerbeaufsichtsamt, Arbeitsamt und einem halben Dutzend weiterer Behörden auf der Baustelle aufgetaucht, um nach Schwarzarbeitern zu fahnden.

Meisner, der verantwortliche Bauingenieur, fluchte in sich hinein und war doch insgeheim froh, dass weit über die Hälfte seiner Arbeitskräfte sich im Augenblick gerade an den umliegenden Imbiss- und Pommesbuden mit einer zusätzlichen Stärkung auf den langen Abend vorbereitete. Die meisten waren immerhin so pfiffig, die Gefährlichkeit der gezielten Aktion zu erkennen. Im Verlauf der nächsten halben Stunde kehrten nur die zurück, deren Papiere in Ordnung schienen, und das waren wenig genug.

Das kam davon, wenn man sich auf das alles überwuchernde Subunternehmertum einließ, auf windige Geschäftemacher, die einem den Abhub an billigsten Arbeitskräften aus halb Europa, Nordafrika und Vorderasien auf die Baustelle kehrten. Alles angebliche Baufacharbeiter, von denen manche nicht wussten, wozu der Zement im Beton nötig war oder wie man sich eines Zollstocks bediente. Meisner sah den Tag kommen, an dem ein philippinischer Polier mit einer lendenschurzbekleideten malayisch-turkestanischen Crew an Bambusstangen auf dem Bau herumturnen würde. Er selber hatte nicht das Geringste gegen Ausländer, solange sie Lokale betrieben, ihm gelegentlich geschmuggelte Zigaretten verkauften oder ihn im Urlaub so freundlich empfingen, wie er es glaubte verdient zu haben. Auf der Baustelle hatten sie für seine Begriffe nichts verloren. Jedenfalls war es spät geworden. Sehr spät sogar. Zum Glück waren bei der Razzia nur drei Ausländer ohne gültige Papiere angetroffen worden; die meisten der Männer hatten sich im Lauf des Nachmittags wieder auf der Baustelle eingefunden. Nachdem die tägliche Rushhour in den normalen Abendverkehr übergegangen war, fuhren die Trudelbecher mit dem Transportbeton pünktlich vor und stauten sich mitunter für ein paar Minuten.

Meisner wusste nicht, wo ihm der Kopf stand. Er war seit vier Uhr morgens auf den Beinen, und es sah nicht so aus, als würden sie vor vier Uhr früh fertig sein. Blieben ihm zwei, maximal drei Stunden Schlaf im Auto, wie schon öfter, wenn es für die Fahrt zu seinem eigenen Heim weit draußen im westlichen Berliner Umland zu spät, vielmehr zu früh wurde. Glücklicherweise gab es ja Funktelefone, sodass seine Frau sich nicht sorgen musste. Ansonsten hasste Meisner Handys, die es aufgeblasenen Bauherrn, selbstgefälligen Architekten oder wer immer glaubte, ihm Vorschriften machen zu müssen, erlaubten, ihn zu jeder beliebigen Tages- und Nachtstunde zu belästigen.

Meisner hatte inzwischen Bauscheinwerfer heranschaffen lassen, denn trotz Sommerzeit und hohem Sonnenstand war allmählich die Dämmerung auf die Baustelle herabgesunken. Sorgenvoll blickte er hinüber zu den Betontransportern. Gerade reihte sich der Dritte in die Schlange ein, die sich gebildet hatte. Es fehlten einfach genügend Leute, um ein Sockelgeschoss von derartigen Ausmaßen in einer Schicht zu gießen. Aber das den Leuten von P & H klarzumachen, insbesondere der arroganten Architektin mit dem Doppelnamen, die vom Bau so viel verstand wie ein Gewerkschaftsboss vom Mindestlohn, hatte er längst aufgegeben. Von ihr stammte der preisgekrönte Entwurf für den Bau der hauptstädtischen Bundesverwaltung, und dementsprechend gebärdete sich die Dame.

Mit dem alten Planckh, dem Seniorchef des renommierten Berliner Architekturbüros Planckh & Heppener, einem Mann in Meisners Alter und mit ähnlicher Lebenserfahrung, war am leichtesten auszukommen. Auch mit Gerald Heppener, einem fähigen Architekten, der bekannt war für seine unkonventionellen gestalterischen und bautechnischen Lösungen, gab es gewöhnlich kaum Schwierigkeiten. Weshalb die beiden sich ausgerechnet auf eine Mareike Lässig-Domagalla und ihr nicht gerade umwerfendes Projekt eingelassen hatten, stand auf einem anderen Blatt. Die glatte Fassade des zurückgesetzten Haupttraktes erinnerte Meisner an die in Berlin üblich gewordene Schuhkarton-Architektur - fehlten nur noch die spitzen Ecken. Da halfen auch die Säulen im Eingangsbereich nicht. Und die Seitenflügel wirkten kaum attraktiver. Hauptsache, den Hausherren aus Bonn gefiel der Bunker mit der geschliffenen Betonfassade.

Die Architektin hingegen war zweifellos eine sehr attraktive Dame aus dem Süddeutschen, und wahrscheinlich waren es ihre augenfällige Erscheinung und ihr davon bestimmtes Auftreten, die jedem Mann den Widerspruch gegen sie erschwerten, ja beinahe unmöglich machten. Es sei denn, man versuchte, sich in frotzelnd-kameradschaftlichem Ton mit ihr zu messen, was sie duldete, solange sie sich überlegen fühlte oder das Ganze als harmlose Anbaggerei abzutun bereit war. Dafür hatte sie etwas übrig. Allerdings nicht von einem kaum mittelgroßen alten Zausel wie Meisner, den seine Ehre als Bauingenieur und Mann der Praxis dazu zwang, ihr gelegentlich die Grenzen ihres bautechnischen Wissensstandes nachzuweisen. Also hatte es Meisner am Nachmittag unterlassen, P & H über die aufgetretenen Schwierigkeiten zu informieren. Das brachte ohnehin nichts. Er war hier der verantwortliche Bauleiter, niemand sonst. Und bis zum Morgen hatte der Sockel zu stehen. Basta.

Auf der Rüstung hinter dem Pfeiler rechts von dem für Meisners Geschmack ein wenig pompös geratenen Eingang war sein Sorgenkind Rocky dabei, zusammen mit einem jungen russischen Bauarbeiter den Rüssel der Mastpumpe in die Schalung zu hängen, als der Russe aufgeregt mit dem Arm zu winken begann und Rocky mit Stentorstimme „Halt, ihr Idioten!“ schrie, um im nächsten Atemzug auf seinen Kumpel einzublöken: „Nurejew, du blöder Hund! Was hast du da reingeschmissen?“

Der unverdientermaßen mit dem berühmten Solisten Verglichene, der in Wahrheit weder Russe noch Tänzer war, antwortete nicht, sondern ließ sich an den Bewehrungsstählen vorsichtig auf das Niveau der Betonsohle hinab und griff in die schon erstarrende Schlempe, in der etwas Dunkles aufschwamm, das da auf keinen Fall hineingehörte.

Meisner, sensibilisiert für Katastrophen, bemerkte sofort, dass am Pfeiler etwas vorging, das ihn weitere Minuten kosten konnte, rannte über eine Bohle durch eine der Wandöffnungen und kletterte auf die fahrbare Innenrüstung.

„Was ist denn los?“

Rocky, der eigentlich Hotte hieß und den alle Welt mit dem Kürzel des Boxers ansprach, der mit dem Mundwerk ebenso schnell und unkontrolliert reagierte wie mit den Fäusten, krähte: „Da hat irgend so ‘ne taube Sau seine Jacke reingetan oder so was.“

Tatsächlich hatte der Ausländer, ein stämmiger, blonder Kerl aus Litauen, einen Jackenschoß aus dem Beton gefischt und zog heftig daran. „Zu schwer!“, sagte er zu Rocky. „Du musst helfen.“

Nichts erschien Rocky widerwärtiger, als auf fremdländisches Geheiß in den frischen Beton zu steigen und das Zeug auch noch mit den Händen zu berühren. Doch Meisner drängte: „Nun macht schon. Ich möchte wenigstens Silvester zu Hause feiern.“

Der Blonde sprach recht gut Deutsch; der Sinn von Meisners grimmigem Scherz entging ihm dennoch. Er zerrte an der Wattejacke und hatte doch längst erkannt, dass mehr daran hing. Vielmehr drinhing. Ein Körper nämlich. Der Körper eines Toten.

Den Bauarbeiter fröstelte in der Abendkühle. „Wir brauchen Schaufel“, sagte er hilflos.

„Dann hol endlich eine!“, fuhr Rocky ihn an. Ihm war inzwischen auch klar geworden, was sich da im Beton verbarg. Weiter rechts sah es wie ein Bein und ein Gummistiefel aus. Verdammte Scheiße! Wie kam der hierher? Oder hatte sich jemand nur einen Scherz erlaubt und ein Bündel Altkleider in die Pampe getan? Den Ausländern war alles zuzutrauen, nach Rockys Meinung jedenfalls.

Es vergingen fast zwanzig Minuten, bis sie den Körper des Toten mit Mühe freigeschaufelt und mit noch mehr Mühe herausgezogen hatten. Die Leiche steckte seitwärts verdreht mit Kopf und Armen voran in dem mächtigen Pfeiler, und zu allem Übel hing sie in den Eisen fest. Da half keine Schaufel. Wahrlich kein Vergnügen, den dicht an das Stahlgeflecht gepressten Oberkörper freizulegen; eine Arbeit, die Rocky denn auch ohne zu zögern dem anderen überließ. Er selber zerrte immer wieder an den Beinen des Toten und bekam schließlich auch das linke frei. Der Gummistiefel, den der Mann getragen hatte, blieb im Beton. Rocky hatte nicht die Absicht, ihn auszugraben. Er buddelte ein bisschen um die Hüften herum und fühlte, als er dabei nach der Jacke griff, dass ein dickes Päckchen in der Tasche steckte. Er fasste hinein. Zu seiner Überraschung war die Jackentasche leer.

Rocky sah sich um. Niemand beobachtete ihn. Meisner war verschwunden, um die Polizei zu verständigen, und Nurejew wühlte am Kopf des Toten. Rocky hatte, wenn er es für nötig hielt, eine sehr zupackende Art. Rücksichtslos riss er das Futter der Jacke auf und fand auch richtig ein nahezu quadratisches weißes Päckchen, das sich verheißungsvoll anfühlte: ein zusammengefaltetes Kuvert, in dessen Fenster es nach Geld aussah, wenn Rocky nicht alles täuschte, und in Bezug auf Geld täuschte er sich seiten. Er schob den Umschlag in die Hemdtasche und spürte im gleichen Augenblick Nurejews Blick.

„Bist du endlich fertig!“, blaffte er.

Gemeinsam schafften sie es tatsächlich, den Toten aus seinem feuchten Grab zu befreien und über die Bewehrung auf die Rüstung zu bugsieren. Inzwischen war auch Meisner wieder da. Er richtete den Scheinwerfer auf die Gestalt zu ihren Füßen. Deren Gesicht und Hände waren völlig zerschunden, Haare und Kleidung unter der Betonschicht kaum zu erkennen.

„Den müssen wir abspülen“, sagte Rocky ungerührt.

Von unten bläkte der Betonkutscher, wann es denn nun endlich losginge, er setze die Ladung sonst einfach im nächsten Loch ab, bevor sie hart würde.

„Macht da drüben weiter!“, schrie der entnervte Meisner. „Hier muss erst mal die Polizei her.“

„Und bis die fertig sind, hat der Beton abgebunden“, ergänzte Rocky trocken.

Meisner sah ihn wütend an. Der Polizist am Telefon hatte etwas von „nichts verändern, bis wir kommen“ gesagt, aber wo dieses Großmaul Rocky recht hatte, hatte er nun mal recht. Die Polizei würde den Schaden nicht ersetzen, wenn ausgerechnet im vorderen tragenden Pfeiler ein solches Ding passierte.

„Also gut“, sagte er gepresst. „Habt ihr alles raus von dem hier?“ Er wies auf die vor ihnen liegende Gestalt.

„Bis auf den zweiten Gummistiefel“, sagte Rocky gefühllos. Nurejew hielt sich am Eisen fest und murmelte: „Mir ist nicht gut.“ Ganz in der Nähe erklang ein Martinshorn.

„Okay.“ Rocky erwies sich plötzlich als sehr hilfreich. „Ich muss auch mal runter. Und du verschwindest sowieso besser, bevor die Bullen kommen.“

„Ach, und wer hat den Toten gefunden und ausgebuddelt?“, wandte Meisner ein.

Rocky schob den Russen zur Leiter. „Na, wir beide doch, Herr Ingenieur. Oder etwa nicht?“

Meisner war ganz und gar nicht geheuer bei der Sache, aber sich mit der Polizei nicht nur über einen Toten im Fundament, sondern auch noch über Schwarzarbeiter auseinanderzusetzen, dazu fehlte ihm im Augenblick der Mumm. Es war schon rätselhaft genug, woher die Leiche überhaupt kam.

Genau das war die Frage, die den Kriminalkommissar Dietmar Timm, zuständig für Unnatürliche Todesfälle bei der Direktion Delikte am Menschen, besonders interessierte. Meisner fühlte sich unter Timms ungeduldigem Blick alles andere als wohl. Die Frage konnte er dennoch nicht beantworten.

In Timms kantigem Gesicht spiegelte sich der blanke Unglaube. „Sie sind hier der verantwortliche Bauleiter und merken nicht mal, wenn einer Ihrer Leute in den Beton fällt? Haben Sie wenigstens gezählt, ob einer fehlt?“

Er blickte über die von Scheinwerfern beleuchtete Baustelle, auf der gemäß Meisners strenger Anweisung gearbeitet wurde, als sei nichts geschehen. Über die durchnässte Leiche, die inzwischen von Rocky und zwei weiteren Kollegen ein paar Meter neben dem Fuß des Unglückspfeilers abgelegt worden war, hatte jemand eine Plastikplane geworfen.

Timm hob die Plane an und musterte den Toten, der die auf dem Bau übliche Arbeitskleidung trug. „Wer ist das?“, wollte er wissen. Meisner kam sich vor wie ein Lehrling, den hämische Kollegen nach dem Hohlmaß geschickt hatten. „Hier sind die verschiedensten Gewerke zugange ...“, sagte er, bemüht, nicht so unsicher zu klingen, wie er sich fühlte. „Alle möglichen Firmen und Subunternehmen. Man kann unmöglich auf jeden ein Auge haben.“

„Sie müssen doch aber wissen, wie viele Arbeiter ihre Schicht begonnen haben und wie viele davon jetzt noch anwesend sind.“ Meisner schüttelte den Kopf. „Genau das weiß ich nicht. Die Subunternehmer setzen ihre Leute ein, wie sie das für richtig halten.“ Er sah sich hilflos um, und dann brach es aus ihm heraus: „Das ist nicht mehr wie früher, verstehen Sie? Diese ganze Schlamperei mit den Ausländern zu Billiglöhnen, die noch dazu kein Wort Deutsch verstehen und überhaupt keine ausgebildeten Facharbeiter sind ...“ Er verstummte unter Timms durchdringendem Blick.

„Sie meinen also, es handelt sich bei dem Mann um einen ausländischen Mitarbeiter? Oder sagen wir es deutlicher: um einen Schwarzarbeiter?“

„Ich bin hier der verantwortliche Bauingenieur“, entgegnete Meisner gequält. „Ich bin dafür zuständig, dass die Beamten aus Bonn termingemäß ihre Arbeitsplätze vorfinden. Ich werde leider auch für die Arbeitsunfälle verantwortlich gemacht, die auf so einem Bau immer mal passieren. Aber ich bin weder für die Arbeitsverträge, Lohnfragen oder Passangelegenheiten noch für Arbeitserlaubnisse und Krankenversicherungen der verschiedenen Firmen zuständig. Die Betonarbeiten hat hier die Olympus GmbH erledigt, bis sie vor drei Wochen Pleite ging, und jetzt macht das irgendein Kölner Sub-Subunternehmen. Ich sage Ihnen gerne die Telefonnummer.“ Für einen wie Meisner war das eine lange Rede.

Timm nickte unzufrieden. „Na schön. Das klären wir später. Sie geben also an, den Mann nicht zu kennen?“

Jedem anderen hätte Meisner ins Gesicht geschrien: Ich gebe nicht an - ich kenne den Kerl wirklich nicht! Aber für einen solchen Aufschrei fühlte er sich im Augenblick zu müde, und dieser Timm war kaum der geeignete Partner zum Anbrüllen. Also nickte Meisner nur resigniert. Er fühlte sich hundeelend.

„Dann werde ich mir mal angucken, wo Sie die Leiche gefunden haben“, sagte der Kommissar. Und zu dem Fotografen gewandt: „Du kannst gleich mitkommen.“

An der Spitze der kleinen Karawane schritt Meisner durch den zurückgesetzten Eingangsbereich zum Ostflügel des Baus, um von innen die Rüstung am Pfeiler zu ersteigen. Oben war Rocky längst wieder mit dem Beton beschäftigt, der sich aus dem Rüssel des Transportfahrzeugs in die Schalung um das Eisengeflecht ergoss. „Da“, sagte Meisner. „Genau da, wo der Kollege jetzt steht.“

Timm musterte ihn verblüfft. „Sie haben einfach weiterarbeiten lassen? Passiert es jeden Tag, dass Sie Leichen im Beton finden?“ Langatmig versuchte Meisner, ihm zu erklären, was Zeitverzug und hohe Außentemperatur für die Verarbeitung von Fließbeton bedeuteten.

Timm blieb unbeeindruckt. „Sie haben hier einen tödlichen Arbeitsunfall gehabt, dessen Opfer anscheinend nur durch Zufall entdeckt wurde, und Sie haben nichts Eiligeres zu tun, als alle Spuren zu beseitigen. Ist das richtig?“

„Nein“, entgegnete Meisner matt. „Aber das wollen Sie ja sowieso nicht verstehen. Ich hoffe, die Architektin kann es Ihnen verständlich machen.“

„Haben Sie die informiert?“

Meisner schüttelte den Kopf. Der Gedanke, Frau Lässig-Domagalla aus dem Bett zu holen, war ihm noch gar nicht gekommen. Wie würde die auf den Toten reagieren? Wahrscheinlich war es zweckmäßiger, gleich den alten Planckh anzurufen. Oder noch besser, Heppener.

„Dann tun Sie das“, riet ihm Timm. „Wer hat denn nun den Toten gefunden?“

Meisner wies auf Rocky. Bis der Trudelbecher leer war, blieb der unabkömmlich. Das musste der Kommissar einsehen.

„Sie melden sich bitte sofort bei mir!“, brüllte er Rocky zu. Der nickte mit stumpfem Gesicht.

Heppener ging nicht ans Telefon, und Planckh wollte Meisner denn doch nicht belästigen. Weshalb nicht die lässige Frau Domagalla? Wer weiß, in wessen Armen sie gerade ruhte. Bei einer mit ihrem Aussehen fehlte es nicht an Vermutungen und Gerüchten, vom Wunschdenken ganz abgesehen.

Mareike Lässig-Domagalla meldete sich nach dem ersten Rufton und klang so frisch und energisch, als habe sie den neuen Tag gerade mit einem guten Frühstück begonnen.

„Was heißt, einen Toten im Beton gefunden? Drücken Sie sich bitte präzise aus, Herr Meisner. Was für einen Toten in welchem Beton?“ Meisner erklärte es ihr und fügte hinzu: „Am besten wäre es, Sie kämen hierher.“

„Was glauben Sie, was ich vorhabe? Ich bin in einer Viertelstunde vor Ort.“

Es vergingen fünfunddreißig Minuten, bis ihr feuerwehrroter Porsche durch den Staub heranfegte. Inzwischen hatte der Fotograf ein paar Bilder von dem Toten gemacht und Timm den Abtransport genehmigt. Als Rocky endlich aus dem Eingangsbereich trat, verstauten die Männer vom Transport den Körper gerade in einem Leichensack.

„Eigentlich müsste sich jeder hier auf der Baustelle den Mann angucken“, sagte der Fotograf. „Vielleicht kann ihn doch jemand identifizieren.“

Timm winkte ab. „Mehr als auf deinen Fotos ist ohnehin nicht von ihm zu erkennen“, sagte er und ging auf Rocky zu. „Sie haben also den Toten gefunden.“

„Das ist korrekt“, sagte Rocky, der sich anscheinend kein bisschen unsicher fühlte.

Meisner registrierte es mit Erleichterung. Rocky war ein ausgeschlafener Bursche. Manchmal ein bisschen zu ausgeschlafen und auf den eigenen Vorteil bedacht. Meisner ahnte, dass ihn die Kumpanei mit diesem Urbild eines flapsigen Bauarbeiters noch etwas kosten würde. Rocky, gebürtiger Berliner und im tiefsten Wedding zu Hause, war nicht der Typ, ohne Gegenleistung für einen Bauleiter jemanden anzulügen, und sei es nur die Polizei.

2. Kapitel

Wie jeden Morgen, wenn der Funkwecker um sechs Uhr dreißig zirpte, brauchte Oliver John zwei, drei Minuten, um sich darüber klar zu werden, wo er sich befand. Seit er in der alten Grunewaldvilla wohnte, schlief er traumlos und fest; nicht einmal in der ersten Nacht im neuen Heim, deren Träume angeblich in Erfüllung gehen, war ihm im Schlaf Erinnernswertes begegnet.

Oliver John hatte die ersten neunzehn Jahre seines Lebens in einem Reihenhaus am Rande einer westfälischen Kleinstadt verbracht, das darauf folgende Jahrdutzend in der wunschlosen Freiheit mehrerer Kreuzberger Wohngemeinschaften, in denen man fraglos voraussetzte, dass es einen einigermaßen intelligenten jungen Westfalen, ja sogar Bayern in die bunte Frontstadt an der Spree zog, sei es, um wirklich zu studieren, oder sei es nur, um den markigen Sprüchen beim Bund zu entgehen. Oliver kam nach Berlin, um sich dem Studium der Architektur zu widmen - was er im näher gelegenen Hannover oder in Braunschweig ebenso gekonnt hätte - in Wahrheit jedoch, um endlich das wirkliche Leben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit und Fülle kennen zu lernen. Und um endlich der fürsorglichen Bevormundung durch die Mutter und den kaum leichter erträglichen Kommandos des Vaters zu entfliehen.

Was er in Berlin vorfand, war die blanke Sahne, wie sich seine erste Wohngemeinschaftsliebe Astrid auszudrücken beliebte, die sich seit vier Jahren in Berlin aufhielt und im Rahmen ihrer dringend notwendigen Selbstverwirklichung gerade dabei war, zum dritten Mal die Studienrichtung zu wechseln, bevor sie endgültig in einer Alternativsiedlung an der Nordwestküste von La Palma verscholl. Von Astrid lernte Oliver eine Menge, am Ende sogar, wie man Frauen ihrer Art füglich aus dem Wege ging. Seine sexuellen Erfahrungen hingegen ergänzten zwei junge Damen, die den Vorzug besaßen, keine Damen zu sein, und die den knackigen Bundi kurzerhand vernaschten, sobald ihnen der Sinn danach stand und keine anderen Kunden warteten. Die beiden echten Berlinerinnen stammten aus Opole und Manila.

Der junge Mann, der sich nach sechs Wochen in der Großstadt mit Fug und Recht als Berliner bezeichnete, fand allgemeinen Anklang im multikulturellen Kreuzberg, wo die Nächte bekanntlich langsam anfangen - aber dann, aber dann! Nach zwei Jahren musste Oliver feststellen, dass sich seine Studienergebnisse im krassen Gegensatz zur gewonnenen Lebenserfahrung in engen Grenzen hielten. Es ehrte ihn, dass er sein Studium dennoch nicht völlig aufgab. Zwar wurden die überwiesenen Summen aus der Heimat kleiner, zumal er selbst in den ausgedehnten Semesterferien nur im elterlichen Heim auftauchte, wenn ihn der Rückweg aus Holland, Frankreich oder Irland direkt daran vorbeiführte, aber in Berlin fand sich immer eine Gelegenheit, eine schnelle Mark zu machen und irgendwo als Fahrradbote, Aushilfskellner oder Kaufhausdetektiv zu jobben.

Allmählich entwickelte er sich zum fast anspruchslosen Lebenskünstler, dem gelegentliche Recherchen für eine Detektivagentur mehr Spaß bereiteten, als öde Belegarbeiten für vorzeitig vergreiste Professoren anzufertigen. Einen festen Job, den ihm die Detektei anbot, lehnte er ab. So leicht gedachte er die einmal gewonnene Unabhängigkeit nicht aufs Spiel zu setzen. Er kam mit wenig Geld zurecht, und für den absoluten Notfall blieb ihm immer noch Tante Mathilde, die eigentlich Mechthild hieß und neben allerlei anderem Besitz eine Villa im Grunewald ihr Eigen nannte.

Der Grunewald ist eins der großen Waldgebiete in Berlin. Seit Bismarck im vorvorigen Jahrhundert am nordöstlichen Zipfel eine Villenkolonie gründete, gilt sie weit vor den neureichen Vororten Zehlendorf, Dahlem oder Schlachtensee als eine besonders exquisite Wohnlage. Die durchweg gepflegten Straßen tragen Bezeichnungen wie Kronprinzendamm, Königs- oder Bismarckallee mit einer gewissen Würde. Nur dem Kronprinzessinnendamm hatte der Senat im Überschwang tiefer Dankbarkeit den Namen eines amerikanischen Generals verliehen.

In den stillen Nebenstraßen, deren Namen in Ermangelung ausreichender Titel in der kaiserlichen Familie an verstorbene Berliner Architekten erinnern, stehen die Villen auf Grundstücken, die solche Bezeichnung noch mit Recht tragen, nicht auf Miniparzellen von der Breite des Autobahnmittelstreifens. Ein Haus in dieser Lage ist mehr wert als ein dickes Aktienbündel jener Autofirmen, deren Erzeugnisse man in diesem Teil der Stadt bevorzugt fährt. Die Nummer 19 war ein stattliches dreigeschossiges Gebäude aus rotem Klinker, mit schweren, an die griechische Antike gemahnenden Fensterumrahmungen aus schlesischem Kalkstein, einem ionischen Tempelvorbau gleicher Güte vor der schmiedeeisernen Eingangspforte und einem Krüppelwalmdach mit Mansardenfenstern, die im Sommer von hoch aufragenden Ahornbäumen weitgehend verdeckt wurden. Dort oben hatten von jeher die Domestiken gehaust, die ihrem Tagewerk in den hellen Räumen der Untergeschosse nachgingen und der Sonne in ihren Schlafkammern deshalb nicht bedurften.

In den düsteren Nachkriegsjahren war die gottgewollte Ordnung ein wenig durcheinandergeraten. Zeitweise hatte sich eine Flüchtlingsfamilie im Obergeschoss breitgemacht, aber als der Anwalt und Militärgerichtsrat Dr. Joseph Nagelschwert nach elf Jahren der Gefangenschaft endlich in den Grunewald heimgekehrt war, stellte er Recht und Ordnung im eigenen Haus wieder her, bevor er bald darauf infolge der im Osten erlittenen Unbill das Zeitliche segnete, wie man sich in seinen Kreisen auszudrücken pflegte.

Seine Witwe Mechthild Nagelschwert, geborene John, einzige Schwester von Olivers Vater, war eine lebenslustige und durchaus praktisch veranlagte Frau, die gerade deshalb das Haus zwar gründlich renovieren und - zumindest was Heizung und Sanitätaranlagen anging - modernisieren ließ, jedoch beschloss, es weiterhin alleine zu bewohnen und so zu tun, als strömten noch immer die Klienten in die seit dem Jahre 1942 erloschene Praxis ihres Gatten im Erdgeschoss.

An dem eines Sonnabends unerwartet auftauchenden Neffen fand die kinderlose Tante Mathilde sofort Gefallen. Sie war tolerant und klug genug, ihn mit bohrenden Fragen über Privatleben und Studienverlauf zu verschonen, und sie bedrängte ihn auch nicht, zu ihr in die Villa zu ziehen, in der Platz für zwölf Studenten gewesen wäre. Stattdessen drückte sie ihm beim Abschied zweihundert Mark in die Hand. Später bot sie ihm an, wann immer er wolle, das Arbeitszimmer und die riesige Bibliothek des Verstorbenen zu nutzen, ja hin und wieder sogar den antiken Volvo, den sie selbst allenfalls noch bis zum nächsten Supermarkt bewegte.

Oliver und Tante Mathilde verstanden sich prächtig. Gelegentlich fuhr er sie im Volvo zum Wannsee und nach der Maueröffnung bis Potsdam und Caputh; Orte, mit denen sich Erinnerungen an ihre ersten Ehejahre verbanden, die mehr als fünfzig Jahre zurücklagen. Irgendwann überließ ihm Mathilde, deren Augenlicht sich verschlechtert hatte, den Volvo gänzlich - vielleicht aus stiller Begeisterung darüber, dass er inzwischen unter dem zeitweiligen Einfluss einer jungen Dresdnerin von den zeichnerischen Tücken der Architektur zur trockenen Jurisprudenz übergewechselt war, allerdings ohne in diesem Fach durch besondere Leistungen zu glänzen.

Tante Mathilde, die niemals Obst oder irgendwelches Grünzeug aß - ich bin doch keine Ziege! -, war kerngesund. Bis zu dem Tag, an dem Oliver auf den altmodischen Klingelknopf unter dem ionischen Tempeldach drückte und die weinende Frau Herzlieb, Mathildes Stütze, wie sie ihre Haushälterin nannte, die schwere eiserne Pforte mit den Jugendstilornamenten öffnete und sagte: „Ihre Tante ist vor zwei Stunden entschlafen.“

Sechs Wochen später zog Oliver mit einem zu drei Vierteln gefüllten Seesack, einem alten Koffer und etwa vierhundert Taschenbüchern auf den Rücksitzen des Volvo als Universalerbe in die Villa ein. Frau Herzlieb empfing ihn wiederum mit Tränen, Freudentränen diesmal, denn sie durfte bleiben, nachdem sie von sich aus gelobt hatte, sich mit keiner Silbe und keiner Geste in das Privatleben des jungen Herrn einzumischen - was sie, bis auf vier, fünf Ausnahmen pro Tag, auch getreulich einhielt.

Anfangs verspürte Oliver gewisse Schwierigkeiten, seine unkonventionelle Lebensweise dem geregelten Regime einer auf Ordnung und peinliche Sauberkeit bedachten Frau anzupassen, deren nachsichtig-missbilligender Blick zum steten Begleiter seines Tuns zu werden drohte. Zum Eklat kam es, als eine zeitweise bei ihm einwohnende Bekannte oder Freundin - es war erst die zweite in dem Haus - während seiner Abwesenheit die gute Idee hatte, die Möbel im einstigen Salon der Tante teils zu entfernen, teils umzuräumen und den alten Bauernschrank in der Diele - Mathildes westfälische Mitgift - mit bunten Folkloremotiven zu bemalen.

Frau Herzlieb erwartete Oliver schon in der Eingangshalle, um ihm tränenfeuchten Auges von dem Frevel zu berichten. Oliver ging nach oben, sah sich die Bescherung an und fasste einen Entschluss. Er kündigte ihr sofort. Der Freundin nämlich. Und er versprach sich und der ungläubigen Frau Herzlieb, dass er künftig kein Möbelrücken zulassen und überdies seine Lebensweise gründlich ändern würde.

Das tägliche Geräusch des Weckers um halb sieben gehörte zu diesen Veränderungen, an die sich Oliver nun schon einige Jahre hielt. Er stand auf und schlug die Decke ordentlich zurück. Kühle Morgenluft wehte durch das offene Fenster. Nach dem Gewitter in der Nacht versprach es, ein weiterer heißer Maitag zu werden. Oliver reckte sich und machte ein paar Lockerungsübungen, bevor er sich unter die kalte Dusche stellte, um seinen Kreislauf in Wallung zu bringen. Sein alter Herr hätte gewiss daran gezweifelt, dass es sich um seinen wasserscheuen Sohn handelte, und manchmal erschien es Oliver selber übertrieben, was er da mit sich veranstaltete. Er frottierte sich ab und zog den leichten Jogginganzug über. Auch das gehörte zur neuen Lebensweise. Anfangs war er kurze Strecken gelaufen, gewissermaßen nur, um den inneren Schweinehund zu überwinden. Inzwischen war er, wie alle echten Jogger, süchtig nach dem ausgedehnten Morgenlauf. So verrückt, eine Stoppuhr oder einen Schrittzähler mitzuführen, war er allerdings nicht. Er beschloss, die große Runde zu laufen, etwa zehn Kilometer, wie er schätzte. Um nicht vor sich selbst als ein verdammter Pedant wie sein Vater dazustehen, hielt er sich zurück und prüfte die Strecke nicht auf dem maßstabgetreuen Lageplan der 3,5 km westlich vom Zoologischen Garten (Berlin) gelegenen Kolonie Grunewald nach, der wahrscheinlich seit 1895 in der unteren Diele hing. Bis zum Wald waren es nur ein paar Hundert Meter. So früh am Morgen war die Luft hier tatsächlich noch frisch. Die Feuchtigkeit des Gewitterregens machte die Wege weich und nachgiebig. Er lief, unbeirrt von aufgeregten Hunden samt Besitzern, gelegentlich auch von Reitern, die unter dumpfem Gepolter aus dem Forst hervorbrachen. Die meisten kannte er, denn er traf sie jeden Morgen. Manchmal war er versucht, das Tempo zu erhöhen. Etwa wenn er das Jagdschloss am Grunewaldsee umrundete und durch das Naturschutzgebiet wieder nach Norden abbog. Von ferne drang das dumpfe Tosen der Avus zu ihm, gelegentlich überlagert vom hellen Singen der S-Bahn und dem scharfen Fauchen des ICE.

Auf dem letzten Kilometer kam er an einem Tabak- und Zeitungskiosk vorbei, wo er seine beiden Morgenzeitungen abholte. In den ersten Monaten hatte er dort noch Zigaretten gekauft, aber auch dieses Laster war seinem veränderten Leben zum Opfer gefallen. Joggen und Rauchen zusammen erschien ihm einfach zu blöd. Gegen halb acht langte er wieder zu Hause an, duschte erneut und ließ sich zum Frühstück im Wintergarten nieder. Von hier hatte er einen Ausblick über den Garten, dem er selten Beachtung schenkte. Der Gärtnerfimmel seiner Mutter hatte ihm die gestaltete Natur frühzeitig vergrämt, und wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte alles so wachsen dürfen, wie es wollte. In dieser Frage aber ging es nicht nach ihm. Er wohnte schließlich in einer der vornehmsten Gegenden Berlins.

Frau Herzlieb nahte mit dem Frühstückstablett und sagte: „Ein Herr Planckh hat angerufen. Er muss Sie unbedingt sprechen.“ Oliver blickte gedankenverloren vom Morgenblatt auf. „Soll ich zurückrufen?“

„Nein, er meldet sich wieder. Es klang sehr wichtig.“

Das walte Hugo! Er stellte sich Planckh am Telefon vor und war beinahe sicher, dass Frau Herzlieb am Apparat einen Knicks gemacht hatte. Bei Planckh klang alles wichtig.

Kennen gelernt hatte er Herbert C. Planckh gleich zu Beginn seines Studiums und dank der Fürsprache seines Vaters. Die beiden hatten 1955 in Münster ihr Abitur gebaut, cum acho et kracho, wie Planckh beim Rotwein gerne erzählte: mit knapper Not. Nach den Worten des Vaters waren sie fleißige Musterschüler gewesen. Herbert C. Planckh war der Sohn des Gründers eines renommierten Berliner Architektenbüros. Vater Planckh hatte bereits am Flughafen Tempelhof mitgebaut, dem damals längsten Gebäude der Welt, und an dem nicht weniger lang gestreckten KdF-Bau auf der Insel Rügen. Nach dem Krieg zog er es vor, das Unternehmen vorerst im Westfälischen zu betreiben, kehrte jedoch rechtzeitig zur Internationalen Bauausstellung 1957 nach Berlin zurück, wo er dank seiner alten und neuen Beziehungen eine wichtige Rolle bei der Errichtung der autogerechten Stadt zu spielen begann. Stadtautobahn und U-Bahn-Bau machten aus Planckh & Partner, inzwischen zu Planckh & Sohn mutiert, eines der großen und angesehenen Unternehmen der Branche. Nach dem frühen Tod des Alten führte Herbert C. - die Abkürzung des großväterlichen Carl machte sich gut, wie Herbert fand - die Firma durch manche Fährnisse der insularen Westberliner Wirtschaft. Er verdiente an Subventionen und Abschreibungen mindestens ebenso viel wie am Wedding-Kahlschlag und den Bauten im Märkischen Viertel, blieb jedoch von den Turbulenzen eines riesigen Bestechungsskandals nicht verschont. Zwei gescheiterte Ehen mit attraktiven und - besonders nach der Scheidung - anspruchsvollen Partnerinnen begünstigten den vorübergehenden Niedergang des Hauses Planckh, bis etwas geschah, womit weder Herbert C. noch seine politischen Freunde je gerechnet hatten: Die Mauer fiel, und alles war plötzlich ganz anders.

Während die in Frontstadtpose erstarrten Berliner Politiker nicht begriffen, dass man nunmehr vom Bonner Subventionsempfang zur endgültig befreiten Marktwirtschaft übergehen musste, erkannte Herbert C. die Zeichen der Zeit sofort. Wenn in den nächsten Jahren in dieser neuen alten preußischen Hauptstadt etwas gebraucht wurde, dann waren es Architekten und Bauunternehmer. Erfahrene und mit allen Wassern gewaschene wie er, aber auch junge, innovative, mit knowledge und power, wie Herbert sich auszudrücken beliebte, als er kurz entschlossen den vielversprechenden Sieger im ersten hauptstädtischen Wettbewerb Gerald Heppener mit ins Boot nahm. Heppener brachte nicht nur das Preisgeld und den großen Bauauftrag als Finanzspritze mit, er steckte auch sonst voller blendender Ideen, besaß Organisationstalent und konnte mit den Leuten. Mit den Bauleuten wie mit den Behörden. Und er gehörte zu den Erstplatzierten weiterer Wettbewerbe, was Ansehen und Gewinn von Planckh & Heppener beträchtlich hob.

Das alles wusste Oliver aus den Zeitungen und den kärglichen Erzählungen Herbert C.s. Der war ursprünglich durchaus gewillt gewesen, auch aus dem Praktikanten Oliver John einen Architekten von Format zu machen, aber an ebendiesem Format schien es dem Sohn des Schulfreundes zu mangeln. Schließlich suchte Oliver sich lieber andere Jobs, als in Planckhs Prachtbüro am Ku’damm am Zeichenbrett zu dilettieren oder sich bei niederen Archivarbeiten zu langweilen. Er schämte sich vor Planckh und fürchtete, dass der seinen Alten über jede Dämlichkeit informieren würde. Erst später, als er mit Herbert C. ein paar Flaschen Miltenberger geleert hatte, erkannte er, dass der kein Anscheißer war und ihm ehrlichen Herzens zu seinem Wechsel zur Juristerei gratulierte. Noch mehr aber hatte sich Herbert C. für das interessiert, was Oliver über seine Tätigkeit als Detektiv zu erzählen wusste, und so verdankte ihm Oliver seinen ersten Job als freiberuflicher Privatdetektiv. Natürlich eine Scheidungsangelegenheit, aus der Herbert C. Planckh um einiges ärmer, dennoch glücklich und dankbar gegenüber dem erfolgreichen Beschatter seiner Exfrau hervorging, um sofort die nächste Operettenschönheit eines Berliner Theaters zu ehelichen. Oliver widerfuhr die große Ehre, zum Polterabend geladen zu werden.

Von da an arbeitete er öfter auf eigene Rechnung als private eye. Zumal es sich um eine Profession handelte, die keinerlei papierene Voraussetzungen erforderte. Und das im bürokratischen Deutschland, wo die Öffnungszeiten jedes Käsehändlers strenger gesetzlicher Regelungen bedürfen.

Am Gartentor ließ er ein unauffälliges Messingschild anbringen:

Oliver John

Detektei

Einfach nur O. John hätte zu Missverständnissen führen können, soweit kannte er die deutsche Nachkriegsgeschichte; die Abkürzung OJ, wie ihn seine Freunde nannten, inzwischen zu noch größeren. Aus ihm war ein respektabler Bürger geworden, wie aus fast allen Alt-68ern, die er als Professoren, Anwälte oder im höheren Dienst der Ämter erlebte. Er gab das Studium endgültig auf, vertrieb sich die Zeit zwischen den spärlichen Aufträgen mit historischen Studien in der Bibliothek des angeheirateten Onkels, dem er seinen Besitz verdankte und den er nie kennen gelernt hatte. Neben juristischen und kunstgeschichtlichen Nachschlagewerken, dem belletristischen und dem Lexikabestand der Vorkriegszeit fand sich darin alles an Literatur, was zwischen 1939 und 1955 über den Zweiten Weltkrieg erschienen war. Kein uninteressantes Spezialgebiet, wie OJ fand. Den Uralt-Volvo der Tante tauschte er ein gegen ein aktuelles Modell der gleichen Firma. Es erschien ihm angemessener als eine heimische Protzkarosse. Benötigte er für seine Arbeit einen unauffälligen Wagen, so nutzte er seine guten Kontakte zu einem ehemaligen Kommilitonen, der als Chef eines Rent-a-car-Unternehmens ungefähr das Doppelte von dem kassierte, was sein und Olivers gemeinsamer bester Freund Markus im gehobenen Dienst der Polizei verdiente.

Um die Frage seines Lebensunterhalts brauchte sich OJ dank Tante Mechthild und Onkel Joseph nie mehr zu sorgen, es sei denn, die gesamte deutsche Industrie und der Immobilienmarkt dazu brächen eines Tages zusammen. Oliver verstand nicht übermäßig viel von Aktien. Seine Kenntnisse genügten jedenfalls, um dem Juniorpartner von Mathildes langjährigem Anlagenberater Respekt abzuverlangen. Der schlug OJ einen weiteren Deal vor. Eignete sich die Büroetage der Grunewald-Villa doch ganz hervorragend als Adresse für seine Immobilienfirma, die im Wesentlichen aus einem massiven Messingschild samt Briefkasten und der gelegentlichen Nutzung des Herrenzimmers zu vertraulichen Gesprächen bestand. Schon zweimal hatte Herbert C. Planckh der Detektei John lukrative Aufträge zugeschanzt. Oliver war nicht übermäßig gespannt auf die nächste Scheidungsaffäre in Planckhs weitläufigem Bekanntenkreis. Einmal war es allerdings um Erpressung gegangen; eine Angelegenheit, die OJ schnell und diskret zugunsten des verschreckten Auftraggebers erledigt hatte.

Hätte jemand OJ am Frühstückstisch beobachtet, erstaunlich korrekt gekleidet für die beginnende warme Jahreszeit, nur die Designerbrille ein wenig zur Nasenspitze hin verschoben - jeder hätte ihn für den erfolgreichen Immobilienhändler gehalten, kaum jemand für einen Privatdetektiv in Erwartung eines neuen Auftrags.

Aus seiner Architektenzeit hatte er die Gewohnheit beibehalten, immer und überall einen Stift bei sich zu führen, möglichst seinen kostbaren Lamy-Füller mit der besonders gehärteten Feder, mit der man selbst die Morgenzeitung mit Ausrufezeichen, Strichen oder Anmerkungen versehen konnte. Das Ding besaß nur einen Nachteil: Es brauchte öfter eine neue Patrone als der Volvo eine Tankfüllung, sodass OJ ausgerechnet in dem Augenblick, in dem Herbert C.s sonores Organ am Telefon erklang, fieberhaft nach einem anderen Schreibutensil fahnden musste. Er konnte kein Telefongespräch führen, ohne dabei in seiner gestochenen Handschrift Notizen anzufertigen oder die Linke wenigstens durch das Zeichnen und Schraffieren kunstvoller Ornamente zu beschäftigen. Heute brauchte er nur einen bestimmten Text in der Morgenzeitung mit Ausrufezeichen zu versehen.

„Hör mal, mein Lieber, ich habe da was für dich und dein aufstrebendes Unternehmen“, sagte Herbert C. ungewohnt kurz angebunden. „Am besten machen wir um eins irgendwo zum Essen ein Date.“

„Im ‚Nordwind‘„, schlug OJ vor. Eigentlich war Freitag sein Fischtag, aber noch war er beweglich genug, seine Pläne kurzfristig veränderten Erfordernissen anzupassen.

„Okay“, sagte Planckh und legte auf. Roger, hätte er nach OJs Meinung eigentlich hinzufügen müssen. Wie bei vielen Berlinern in diesem Teil der Stadt war Herbert C.s Amerikanisierung weit fortgeschritten.