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Im Juni 1932 wird in Charlottenburg Elisabeth Tirschenreuth, eine gebildete junge Frau aus gutem Hause, erdrosselt aufgefunden. Die attraktive Blondine war für den Wissenschaftler Dr. Harry Bernsdorff tätig und wusste von der bahnbrechenden Entdeckung, die sich in dessen Institut für Atomforschung ankündigte. Bernsdorff steht als Jude sofort unter dringendem Tatverdacht, denn der antisemitische Zeitgeist ist mittlerweile auch im Polizeipräsidium am Alexanderplatz spürbar. Kommissar Hermann Kappes Vorgesetzter drängt darauf, Bernsdorff trotz zweifelhafter Beweislage zu verhaften. Doch Kappe nimmt entgegen aller Anweisungen seine eigenen Ermittlungen auf … „Es geschah in Berlin“, der große Kettenroman um Kommissar Hermann Kappe, spiegelt in fiktiven Kriminalfällen das Berlin des frühen 20. Jahrhunderts wider. In Band zwölf schildert der versierte Berliner Krimiautor Jan Eik einen spannenden Kriminalfall vor dem Hintergrund des aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland.
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Seitenzahl: 268
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Jan Eik
Goldmacher
Kappes 12. Fall
Kriminalroman
Jan Eik, geboren 1940 in Berlin als Helmut Eikermann, ist seit 1987 freiberuflicher Autor und Publizist. Er schrieb zahlreiche Kriminalromane und -erzählungen sowie Hör- und Fernsehspiele. Zu seinen Veröffentlichungen gehören u. a. «Der siebente Winter» (1989), «Der Geist des Hauses» (Ein Friedrichstadtpalastkrimi, 1998) und «Trügerische Feste» (2006). Im Jaron Verlag erschienen von ihm «Schaurige Geschichten aus Berlin» (2007) und «Der Berliner Jargon» (2009) sowie in der Reihe «Es geschah in Berlin …» «Der Ehrenmord» (2007) und «Nach Verdun» (2008, mit Horst Bosetzky).
Originalausgabe
1. Auflage 2010
© 2010 Jaron Verlag GmbH, Berlin
1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
www.jaron-verlag.de
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin
ISBN 9783955520113
Cover
Titelseite
Impressum
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
NACHBEMERKUNG
Es geschah in Berlin …
Berliner Mauerkrimis
DER MORGEN verspricht, was man nach der lang anhaltenden Kälte von einem Frühsommertag erwartet. Unwirklich blau leuchtet der Himmel über der Stadt. Die kühle Luft weht einen Hauch von Frische durch die Straßen, und der Verkehr in der breiten Allee hält sich in Grenzen.
Kriminaloberkommissar Hermann Kappe genießt das seltene Glück eines morgendlichen Frühstücks auf dem Balkon. Wenigstens für eine halbe Stunde darf er sich rundherum wohl fühlen, bevor er sich wieder dem täglichen Trott ergibt, der längst nicht mehr die alte, gemütliche Gangart ist, an die er sich in 23 Dienstjahren gewöhnt hat. Ein neuer Geist muss und wird hier einziehen, hat Kriminalpolizeirat Brettschieß schon ein paar Mal gedroht, und er und seinesgleichen meinen es ernst, das weiß Kappe. Wenn diese Richtung wirklich einmal an die Macht gelangt, dann gute Nacht, Marie.
So angenehm der Morgen scheint, Kappes Gedanken sind schon wieder im Dienst. Kein Wunder. Längst ist die Atmosphäre im Polizeipräsidium vergiftet von politischen Auseinandersetzungen, die mehr oder weniger offen ausgetragen werden. Die einen, zu denen sich Kappe stillschweigend zählt, halten sich an die verfassungsmäßige Ordnung, andere wie Liebermann von Sonnenberg oder neuerdings auch Nebe, der Chef des Raubdezernats, haben nur ihren Hitler und seine braune Partei im Kopf. Im Augenblick sind SA und SS zwar verboten, doch wen schert das schon. Auf den Straßen herrschen Einschüchterung und Gewalt, ständig gehen Rote und Braune aufeinander los.
Mord und Totschlag – dafür ist Kappe dienstlich zuständig, doch die meisten Delikte werden zurzeit der Politischen Polizei übertragen. Die hat sogar einen Beamten, den Polizeimeister Teichmüller, zur Mordinspektion abgeordnet. Teichmüller muss zwischendurch aber immer wieder im Felseneck-Prozess aussagen. Die Nazis hatten die rote Laubenkolonie überfallen, es hat Tote und Verletzte auf beiden Seiten gegeben, und die Richter versuchen vergeblich, Licht in das Dunkel der Tatnacht zu bringen. Am Ende werden die Braunen wieder gut dabei wegkommen.
Kappe seufzt und trinkt gedankenverloren seinen Kaffee aus.
«Na, sehr redselig bist du nicht gerade», sagt Klara tadelnd.
«Dabei hast du extra das Frühstück auf dem Balkon bestellt!»
Das hat er wirklich. Er liebt den Blick über die morgendliche Allee dort unten, in die von Osten her die langerwartete Sommersonne scheint. Mitte Juni, und noch immer ist es kühl. Das Gewimmel der Fußgänger, das Gebimmel der Straßenbahnen – Kappe klingt es angenehm in den Ohren. Selbst Klara hat sich inzwischen an die helle, große Wohnung und wohl oder übel auch an die Gegend gewöhnt. Das Kaufhaus von Hermann Tietz gegenüber mag das Seine dazu beigetragen haben. Dort kann sie immer mal einen Blick hineinwerfen, wenn auch selten etwas kaufen. Zaghaft hatte Klara einmal davon gesprochen, sich dort vielleicht als Verkäuferin zu bewerben. Was für ein Gedanke in diesen Zeiten! Überall wurde Personal abgebaut. Das Geld könnten sie schon gebrauchen. Kappes Gehalt ist gerade mal auskömmlich. Jedenfalls brauchen sie nicht zu hungern, und die Kinder gehen anständig gekleidet in die Schule.
Die verabschieden sich jetzt. Margarete wirkt wie aus dem Ei gepellt, Hartmut ist wie immer ungekämmt. Sie haben auf Klaras Wunsch – «Lasst mich mal ein paar Minuten mit Papa ungestört» – in der Küche gefrühstückt wie gewohnt, wo es den Jüngsten nun nicht mehr hält.
«Du wolltest mit mir in den Zoo, Papa!», kräht der vierjährige Karl-Heinz, Klaras Sorgenkind und Kappes Liebling.
«Aber nicht heute», vertröstet Kappe ihn, «vielleicht am Wochenende.»
Klara ist skeptisch. «Wenn sie bis dahin nicht wieder einen umbringen und du Tag und Nacht im Dienst verbringst», sagt sie spitz.
Kappe weiß, dass sie Recht hat, aber ändern kann er es nicht. Der Mord an einem Ehepaar vor einem Monat hat ihnen eine Menge Arbeit beschert, und jetzt müssen sie sogar noch nach einem gefährlichen Chicagoer Juwelenräuber fahnden. Sollen die Amerikaner sich doch gefälligst alleine um ihre Gangster kümmern! Nicht mal die Entführer und Mörder des Lindbergh-Babys haben die bis heute gefunden.
In Berlin ist die gesamte Kriminalpolizei bis an die Grenze des Zumutbaren überlastet, das muss selbst Polizeivize Weiß zugeben, doch Stadt- und Staatssäckel sind leer, und Weiß muss mehr als Kappe um seinen Posten fürchten. Die Braunen haben sich auf den Vizepräsidenten eingeschossen und verhohnepipeln ihn jeden Tag in ihren Blättern.
«Warum macht man auch einen Juden zum Polizeipräsidenten?», hatte Klara angemerkt.
Es war einer der wenigen Fälle, in denen Kappe die gewohnte Ruhe verlor und die Faust auf den Tisch donnerte. «Weil er ein hervorragender Fachmann und ein guter Deutscher ist!», brüllte er.
«Da ist es doch wohl gleichgültig, ob er an Moses oder an die Jungfrau Maria glaubt!»
Klara war richtig erschrocken. «Ich meine ja nur …», hatte sie sich schwach verteidigt. «Er könnte sich doch eine Menge Ärger ersparen …»
«Du auch!» Damit war Kappe aufgestanden. So weit war es jetzt schon: Die Politik schwappte in die eigene Familie.
Er tritt aus dem Haus auf den breiten Bürgersteig. Siebzehn Minuten braucht er für den Weg zum Präsidium. Die Straßenbahn benutzt er nur bei starkem Regen. Mit der Untergrundbahn fährt er nicht gerne. Außer dicken Kabelsträngen gibt es im Tunnel nichts zu sehen, da scheint ihm das Fahrgeld für nur zwei Stationen verschwendet. Andererseits gefällt es ihm natürlich, direkt an der neuen U-Bahn-Linie E zu wohnen, die bis raus nach Friedrichsfelde fährt. Weiter als bis zur Frankfurter Allee, zur Ringbahn, ist er allerdings noch nicht gelangt – dienstlich. Was er privat braucht, findet er hier in der nächsten Umgebung, zwischen Weberwiese und Strausberger Platz. Das hat selbst Klara inzwischen eingesehen. Das prächtige Kino im Germania-Palast ist nicht weit, das Rose-Theater liegt beinahe gegenüber, zum Varieté in der Plaza kann man laufen, und im Residenz-Theater am Schlesischen Bahnhof waren sie auch schon mal.
Schlesischer Bahnhof bleibt allerdings ein Reizwort für Klara, mehr als ein paar Schritte wagt sie sich nie in die Frucht- oder Koppenstraße hinein. «Hier beginnt die Unterwelt», pflegt sie naserümpfend zu sagen, und sie hat nicht einmal unrecht. Wobei die Lebuser oder die Fürstenwalder Straße auf der Nordseite der Großen Frankfurter auch nicht gerade vornehme Adressen sind, wie Kappe weiß. Dass sich auf dem Strausberger Platz einst das Berliner Schafott erhob, hat er seiner Frau lieber nicht verraten. Ist da nicht mal einer gehängt worden, der dem König versprochen hatte, aus Blei Gold zu machen?
Ja, der Berliner Osten ist nun einmal ein raueres Pflaster als die beschauliche Idylle von Britz, wo sie vier Jahre lang gewohnt haben. Die Berliner Ringvereine – angeblich gibt es 85 davon –, in denen Hunderte von Straftätern organisiert sind, haben die Stadt in einem breiten Gürtel rings um den Alex fest im Griff und rekrutieren hier ihre Mitglieder. Prostitution, Zuhälterei, Einbruch, Raub, Diebstahl – so etwas geht auf deren Konto. Sexualstraftaten oder Mord allerdings widersprechen dem Ehrenkodex. Zu den rauschenden Vereinsbällen laden sie großherzig die Kripo ein.
Aber eigentlich ist das Vergangenheit. Nicht mal den Ganoven geht es gut in diesen schlimmen Zeiten. Der kriminelle Nachwuchs verspricht sich mehr davon, in die Kampforganisationen der Parteien abzuwandern und auf den Straßen Krieg zu führen. Gerade kommt Kappe an dem Haus vorbei, in dem zwei Jahre zuvor der SA-Führer Horst Wessel erschossen worden ist. Zwei Burschen in bräunlichen Hemden stehen rechts und links vom Eingang als eine Art Ehrenwache. Uniformen dürfen sie nicht tragen, dennoch markieren sie eine straffe, militärische Haltung.
Für den in der Frankfurter Allee erschossenen Oberwachtmeister Kuhfeld steht keiner Ehrenwache, denkt Kappe bitter. Gegen die Polizistenmörder vom Bülowplatz hat noch immer kein Prozess stattgefunden. Zwei der Täter sollen nach Moskau entkommen sein.
Neuerdings führt die Verlängerung der Großen Frankfurter Straße direkt auf die Landsberger Straße zu, doch Kappe biegt vorher in die Kaiserstraße ab und sieht den Ziegelbau des Präsidiums schon vor sich. Er braucht nur noch die Alexanderstraße zu überqueren, das Portal V zu durchschreiten und in den dritten Stock hinaufzusteigen, wo ihn schon Kommissar Gustav Galgenberg erwartet, der treue Kollege seit Kappes erstem Tag bei der Kripo.
Kappe, der seine Herkunft aus Wendisch Rietz nicht vergessen hat, fühlt sich längst als Berliner. Galgenberg jedoch ist Berliner. Mit Leib und Seele, nölend und vermeckert und mit seiner respektlosschnoddrigen Schnauze der Schrecken aller Vorgesetzten. Aber auch der Ganoven. Dem macht keiner was vor, das wissen sie alle.
Wie immer hat Galgenberg die Zeitung vor sich und blickt kaum auf, als Kappe eintritt. Dann jedoch schiebt er das Blatt mit einer verdrießlichen Geste von sich und schlägt mit dem Handrücken drauf. «Debededehakapeh!», sagt er ebenso unverständlich wie verächtlich. Ob er damit die Zeitung oder die darin kritisierte Regierung meint, bleibt offen.
«Wenn du meinst …», erwidert Kappe. Er hat sich längst abgewöhnt, sich nach der Bedeutung von Galgenbergs eigenwilligen Äußerungen zu erkundigen. Die liefert er meist ungefragt. So ist es auch diesmal.
«Doof bleibt doof, da helfen keene Pillen», erklärt Galgenberg. Kappe widerspricht ihm nicht.
Beinahe schnurgerade zieht sich die Kantstraße vom Zoo bis zum Funkturm durch den Berliner Westen. Selbst um diese späte Mittagsstunde im Juni ist der Verkehr beachtlich. Fußgänger hasten, Radfahrer klingeln, Kraftwagen hupen. Und dazwischen immer mal ein Pferdegespann, das alle anderen behindert. Vier Straßenbahnlinien der Berliner Verkehrsbetriebe passieren die Straße, die beinahe eine Allee ist, und befördern die Menschen von der Gedächtniskirche über den Lietzensee bis hinaus zu dem bläulich schimmernden Klinkerbau des neuen Funkhauses an der Masurenallee.
Parallel dazu fährt auch noch die rot-gelbe elektrifizierte Stadtbahn. Kein Gedanke mehr an die dampfspeienden Ungeheuer früherer Jahre. Hier scheint alles neu, glänzend und in bester Ordnung. Daran ändert auch der einbeinige Bettler am Fuß der Bahnhofstreppe nichts, an dem der Mann im hellen Staubmantel achtlos vorüberstürmt.
Schrecklich, all diese Invaliden und Arbeitslosen, aber nicht zu ändern. Er hat es eilig und verschwendet keinen Gedanken an die niederschmetternde Wirtschaftslage oder die politischen Querelen. Auch für den Zeitungshändler an der Ecke wie für den Funkturm in der sonnigen Ferne hat er keinen Blick, hastet blind an den Geschäften vorbei und hält Ausschau nach den Hausnummern. 34 – hier ist er richtig.
Im Hausflur umfängt ihn Kühle. Gerade setzt rasselnd der ornamentverzierte Fahrstuhl auf, und eine schwergewichtige Matrone samt Hund entsteigt ihm.
Das Tier bekläfft den Fremden, den die Besitzerin misstrauisch mustert. Was sie sieht, beruhigt sie. Der junge Mensch ist gut gekleidet, trägt eine sorgfältig gebundene Krawatte und einen modischen Hut, den er jetzt höflich, wenn auch ein wenig abwesend lüpft.
Es nützt ihm nichts. Sie umschifft ihn mit einer so hoheitsvoll nichtachtenden Miene, dass ihm jede Frage im Halse steckenbleibt und er seinen Blick doch zum Stillen Portier mit den Namen der Hausbewohner erheben muss. Ergebnislos – wie er befürchtet hat. Selbst im Adressbuch hat er vergeblich nach dem Namen Tirschenreuth gefahndet. Dort sind nur die Namen der Haushaltungsvorstände aufgeführt, wie hier am Brett die Namen der Hauptmieter.
Im ersten Stock hat ein Notar sein Bureau. Daneben praktiziert ein Zahnarzt. Doch bereits im zweiten Stock wird er fündig. Über dem Klingelring im Löwenmaul aus Messing sind unter einem verschnörkelten Namensschild aus dem gleichen Metall drei Kärtchen befestigt: Enno Damerow, von Kutzschberg und dazwischen E. Tirschenreuth, 3x klingeln .
Erleichtert hebt er den Ring und lässt es dreimal schellen. Kurz nur, schließlich etwas länger. Denn nichts hat sich gerührt in der Wohnung, aus der er das gedämpfte Klappern von Geschirr zu vernehmen glaubt.
Ungeduldig liest er den zur Klingel passenden Namen Leuwenthal . Jetzt erinnert er sich auch, ihn aus dem Munde von Fräulein Tirschenreuth vernommen zu haben. In solchen Dingen ist er einfach zu achtlos, und als er nun anhaltend Sturm läutet, verstößt auch das ein wenig gegen die guten Sitten, die hier im Neuen Westen noch gelten mögen. Aber er hat nicht viel Zeit, das Labor wartet.
Immerhin hört er schlurfende Schritte, die sich der Tür nähern, bis eine weibliche Stimme sich in schroffem Ton erkundigt, wer da wie ein Verrückter klingle.
«Entschuldigen Sie bitte», sagt er ehrerbietig und lüftet vor der geschlossenen Tür ganz gewohnheitsmäßig den teuren Hut.
«Ich muss bitte dringend Fräulein Tirschenreuth sprechen.»
«Und wer sind Sie?» Die Stimme hinter dem Spion klingt eine Spur weniger schroff, aber immer noch argwöhnisch.
«Mein Name ist Bernsdorff. Dr. Harry Bernsdorff. Ich bin sozusagen der Chef von Fräulein Tirschenreuth.»
Dem Wort Chef scheint eine gewisse magische Wirkung innezuwohnen. Augenblicklich wird ein Sicherheitsschloss zweimal bewegt, die Tür öffnet sich.
«Ja bitte», sagt die verhärmte Frau in der schäbigen Schürze,
die da vor ihm steht und so etwas wie einen Knicks andeutet, «womit kann ich dienen?»
Bernsdorff ist ein wenig irritiert. Mit Dienstboten hat er seit Jahren nicht mehr zu tun gehabt, und seine Erzieherin zu Hause in Oldenburg war eine gebildete, überaus charmante Dame gewesen. Um die wechselnden Dienstmädchen hatte sich die Mutter gekümmert.
Stockend sagt er: «Fräulein Tirschenreuth ist heute – ganz entgegen ihrer gewohnten Zuverlässigkeit – nicht in der Firma erschienen. Bis vor etwa einer Stunde lag auch keinerlei fernmündliche Entschuldigung vor.»
Die Frau scheint zu überlegen. Das dauert. «Ich hab sie heute noch nicht jesehen», sagt sie schließlich. «Ich werd mal klopfen.» Unsicher, ob sie ihn einlassen soll, sieht sie ihn an, tut es dann aber doch.
Vor ihm erstreckt sich ein langer, düsterer Korridor, erhellt nur vom Lichtschein, der durch das Milchglas der Küchentür fällt. Direkt gegenüber öffnet sich eine Zimmertür, und eine empörte weibliche Person erkundigt sich, wer da so lautstark ihre geheiligte Mittagsruhe zu stören wage.
Bernsdorff entschuldigt sich ein weiteres Mal und greift wiederum nach dem Hut, was die majestätische Frau im Morgenmantel und mit Lockenwicklern in den pechschwarzen Haaren immerhin huldvoll registriert.
«Ham Sie Frollein Tirschenreuth heut schon jesehen, Frau von Kutzschberg?», erkundigt sich indessen die Türöffnerin.
Der adlig Angesprochenen entschlüpft nur ein nichtssagender Laut des Unmuts. «Emma! Ich bin froh, wenn mir der Anblick dieser Dame erspart bleibt», erwidert sie erhobenen Lockenhauptes und knallt die Tür hinter sich zu, Bernsdorff nahezu im Dunkeln zurücklassend.
Ein paar Meter weiter vernimmt er das Pochen an eine andere Zimmertür, hinter der es still bleibt. Er tastet sich bis zu der hohen, doppelflügeligen Tür vor und klopft selbst recht energisch. «Fräulein Tirschenreuth», sagt er vernehmlich, «hier ist Bernsdorff. Sind Sie etwa erkrankt?»
Eine andere Erklärung will er sich im Augenblick gar nicht vorstellen. Es ist kein weiter Weg von hier zum Alex, nur acht Stationen mit der Stadtbahn, kaum eine halbe Stunde, aber auch da kann einer jungen, gutaussehenden Person in einer Großstadt wie Berlin allerlei widerfahren, was Bernsdorff sich lieber nicht ausmalt.
«Ist sie denn gestern Abend pünktlich nach Hause gekommen?», erkundigt er sich und erntet nur ein brummiges «Keine Ahnung».
«Ich kann mich nicht um alle Untermieter kümmern», setzt die Frau noch hinzu, während sie schon die Klinke herunterdrückt, die Tür gibt zu ihrer Überraschung nach.
Im Zimmer ist es ebenfalls schummrig. Es wird auch kaum heller, als sie den Lichtschalter betätigt, der an der hohen Decke eine schwache Glühbirne zum Leuchten bringt.
Abgestandene Luft und ein fremdartig süßlicher Geruch schlagen dem beklommen dreinblickenden Bernsdorff entgegen. Die ganze Angelegenheit ist ihm höchst unangenehm. Uneingeladen hat er noch nie das Schlafzimmer einer Dame betreten, und um eine junge Dame aus gutem Hause mit besten Referenzen handelt es sich bei Fräulein Elisabeth Tirschenreuth ganz zweifellos, sonst wäre sie gar nicht für die weitgehend selbständige Vertrauensstellung in seiner Radiolyt-Vertriebsgesellschaft in Frage gekommen.
Emma, die hagere Frau in der Schürze, ist inzwischen am Fenster angelangt und zieht die schweren Vorhänge auf.
Es ist ein großes, mit schweren, dunklen Möbeln ausgestattetes Zimmer mit Parkettfußboden, eindeutig das ehemalige Herrenzimmer, das irgendwie unaufgeräumt wirkt. An der linken Längswand steht genau vor den Doppelflügeln zum Nachbarzimmer ganz unpassend ein weißes Metallbett, das Bettzeug ist unordentlich daraufgeworfen. Ein schlanker Fuß ragt wächsern darunter hervor, am anderen Ende sind blonde Haare auf dem Kopfkissen zu erkennen.
«Fräulein Tirschenreuth!», ruft Bernsdorff erschrocken aus und tritt unwillkürlich einen Schritt zurück in den Korridor, als würde das Fräulein sich sogleich in höchst unschicklicher Aufmachung vor ihm erheben.
Doch dazu kommt es nicht.
Emma ist an das Bett getreten und hat das Deckbett zurückgeschlagen. Ein jäher Schreckenslaut entfährt ihrer Kehle. Ihre Hand greift der Liegenden ins Gesicht. «Das ist ja ’ne schöne Bescherung», stellt sie erstaunlich nüchtern fest.
Nun wagt auch sich Bernsdorff ein paar Schritte ins Zimmer hinein.
Emma sieht ihn an. «Tot», sagt sie. «Sind Sie nich’n Doktor?» Bernsdorff schluckt. «Aber kein Mediziner», entgegnet er schwach.
Dennoch überwindet er sich, tritt an das Bett und schlägt das Deckbett vorsichtig ein wenig zurück.
Fahl leuchtet ihre Haut ihm entgegen, ein seltsamer Kontrast zu dem rosafarbenen Hemd mit dem weißen Spitzenbesatz. So nah ist er noch keiner Leiche gekommen, schon gar nicht einer nur mangelhaft bekleideten weiblichen.
Er vermeidet es, in das vertraute Gesicht zu schauen, und greift nach dem nackten Arm von Elisabeth Tirschenreuth. Der lässt sich nicht bewegen. Das muss die Totenstarre sein. Leise sagt er: «Sie ist tatsächlich tot.»
«Sag ich ja. Mausetot. Dafür habe ich einen Blick.»
«Sie müssen einen Arzt verständigen.»
Emma, jetzt ganz Herrin der Situation, misst ihn mit einem abschätzigen Blick. «Das weiß ich selber. Und wer kommt für das alles auf? Den Arzt, den Sarg, das Grab, das alles – Sie etwa?»
Bernsdorff windet sich. «Darüber wird zu gegebener Zeit zu befinden sein», äußert er unklar. Er weiß nicht einmal, ob Fräulein Tirschenreuth Eltern oder Verwandte in Berlin hat. Plötzlich sieht er sich einem Berg von Fragen gegenüber, die er unmöglich beantworten kann. Außerdem drängt die Zeit. Er muss zurück ins Labor.
«Kümmern Sie sich bitte erst mal um den Arzt», sagt er und ist schon auf dem Rückzug, was Emma einigermaßen zu befremden scheint.
Vergebens versucht sie, ihn zurückzuhalten. «Warten Sie wenigstens, bis ich Frau Leuwenthal …» sagt sie, doch er ist nicht aufzuhalten.
«Ich melde mich morgen wieder», versichert er noch an der Wohnungstür.
Dann ist er weg.
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