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Jack Unterweger: Das ist mehr als bloß Stoff für True Crime. Bis heute hält der Serienmörder und »Häfenpoet« die Nachwelt in seinem Bann. 1990 kommt der verurteilte Frauenmörder, der sich im Gefängnis zum gefeierten Schriftsteller gewandelt hat, frei – auf Druck der Kulturszene. Jelinek, Grass, Jandl machen sich für ihn stark. Er gilt als rehabilitiert, wird in Wiens besserer Gesellschaft verehrt. Doch Unterweger mordet weiter. Elf Frauen verlieren ihr Leben. Wie gelang es diesem Ungeheuer, die Menschen für sich zu vereinnahmen? Sie regelrecht zu verführen? Der deutsche Journalist und Autor Malte Herwig beleuchtet in »Austrian Psycho« den Fall aus einem neuen, unbekannten Blickwinkel: Er verwebt verbriefte Fakten, Gespräche mit Zeitzeug:innen und Unterwegers Aussagen zu einer packenden dokumentarischen Erzählung – und entlarvt so die abgründige Faszination als das trickreiche Spiel des Serienkillers mit Sprache.
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Seitenzahl: 155
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„Amen, amen, ich sage euch:
Ich bin die Tür zu den Schafen.
Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Mörder, aber die Schafe haben nicht auf sie gehört.“
Evangelium des Johannes 10,7
„Jail poet of society
critics and swells suck up to me
successfully resocialised
but I’m a psycho and I lapse back
into crime.“
Bloodsucking Zombies from Outer Space
I. Fegefeuer
II. Paradies
III. Inferno
Quellen | Chronologie | Podcast
Als sie sich ausgezogen hatte, hat er sie wieder gefesselt, und zwar Hände auf den Rücken. Dann ist er ums Auto rumgegangen. Wir waren einen Moment alleine. Sie sagte zu mir, Bärbel, kannst du mir nicht helfen, was will der mit mir machen. Ich konnte gar nichts mehr sagen, ich habe nur mit den Schultern gezuckt. Ich wusste ja in dem Moment, was er machen wollte.
Zeugenaussage von Barbara S., 30. Januar 1975
Seine Augen werde ich nie vergessen, diese tiefbraunen, verletzlichen, hilfesuchenden, hoffnungsvollen Augen. Sie waren das A und O, das Erste und das Letzte, was ich von ihm gesehen habe. Er war ein Verführer. Weniger mit seinen Worten, obwohl wir ihm gerne zuhörten: War es nicht ein Wunder, dass einer wie der unsere Sprache lernen und einer von uns werden wollte? Aber als ich ihm das erste Mal auf einer Lesung gegenüberstand, da waren es seine Augen, die zu mir sprachen. Die Augen, heißt es, sind das Fenster zur Seele. Aber seine Augen waren keine Fenster, sondern Spiegel.
Mein Name tut nichts zur Sache. Es stimmt: Ich bin dabei gewesen, als diese schreckliche Geschichte sich ereignete. Aber das ist lange her, und ich habe nie das Bedürfnis verspürt, mich an die damaligen Ereignisse zu erinnern. Ich schreibe diesen Text im Auftrag und habe kein Interesse, mit dieser Angelegenheit noch einmal öffentlich in Verbindung gebracht zu werden.
Herwig will, dass ich meinen Bericht noch einmal überarbeite. Er will kurze Sätze, eine klare Haltung, keine Klischees. Typische Zeitungssätze. Er traut mir nicht. Ich soll Distanz halten zu meinem Gegenstand. Schließlich dürfe man mit einem Mörder kein Mitgefühl haben. Ich verachte diese Journalisten, die immer so tun, als stünden sie über den Dingen. Warum hat Herwig dann ausgerechnet mich gebeten, diese Geschichte aufzuschreiben? Ich hätte diesen Auftrag nie annehmen sollen. Denn ich habe an den Schriftsteller Jack Unterweger geglaubt.
Zugegeben, er war Insasse einer Haftanstalt, als wir uns kennenlernten. Sogar einer von den Auserwählten, die lebenslänglich dort eingemauert bleiben sollten. Denn in Österreich lautete der Urteilsspruch damals in den Siebzigerjahren noch „Die Strafe endet mit dem Tode“. Allein dieser Satz machte klar, dass auch die lebenslängliche Strafe eine Art Todesstrafe ist, die jede zivilisierte Gesellschaft nur kategorisch ablehnen kann.
Ich hatte studiert und dann mit dem Schreiben von Zeitungsartikeln und Büchern mein Geld verdient und mit meinem Dasein glücklicherweise niemals irgendeiner Institution Anlass gegeben, mich in eine Haftanstalt zu schicken. Bis zum 30. September 1983.
Der Wiener Kunstverein organisierte eine Butterfahrt nach Krems an der Donau, und ich betrat zum ersten Mal die Justizanstalt Stein, die früher ein Frauenkloster war und heute das härteste Gefängnis Österreichs ist. Häftlingsrevolten, Ausbrüche, Geiselnahmen, alles schon passiert in Stein. Aber noch nie gab es eine Veranstaltung wie an diesem Tag. Und das hatten wir Jack zu verdanken.
An diesem 30. September 1983, Namenstag des Heiligen Hieronymus, an diesem Tag also durfte zum ersten Mal in der österreichischen Justizgeschichte ein Lebenslänglicher vor auswärtigem Publikum aus seinen Büchern lesen.
Ich muss gestehen, dass ich weder gläubig noch abergläubisch bin, sondern mich schon im Studium den Idealen der Aufklärung und des Rationalismus verschrieben habe. Meine Schutzpatrone sind der heilige Immanuel und der heilige Michel. „Cunt und Fuck-Oh“, wie Herwig spottet, „Verstand und Wahnsinn“.
Ich erwähne den Namenstag jedenfalls nur, weil die katholische Kirche den heiligen Hieronymus auch als Schutzpatron der Gelehrten und Gelehrigen verehrt, und was war Jack, wenn nicht ein gelehriger Schüler? Als er 1976 wegen Mordes verurteilt wurde und „in den Häfen einfuhr“, wie das Gefängnis auf gut österreichisch bezeichnet wird, konnte er kaum lesen und schreiben. Neun Jahre später ist er Schriftsteller, und wüsste ich nicht, wie hart und mühsam er sich das alles selbst erarbeitet hat, dann müsste ich es für ein Wunder halten.
Es war nicht einfach gewesen, die Genehmigung der Justizbehörden für diese Aktion zu bekommen. Seit ich 1981 das erste Mal in der Grazer Literaturzeitschrift „manuskripte“ etwas von Jack gelesen hatte, wusste ich, dass seine Werke an die Öffentlichkeit gehören. Also haben wir Solidaritätsveranstaltungen und Lesungen für Jack organisiert, Gesuche und Eingaben geschrieben und im Dezember 1982 sogar eine Petition an den Bundespräsidenten der Republik Österreich und den Bundesminister für Justiz verfasst:
Der in der Justizvollzugsanstalt Stein inhaftierte Schriftsteller Jack Unterweger versteht es in geradezu exemplarischer Weise, ohne Polemik und Schuldzuschreibungen seinen Lebenslauf und die Entwicklungsgeschichte seiner Straftaten darzustellen. Es ist daher das dringende Anliegen einer nicht nur literarisch interessierten Öffentlichkeit, diesen außerordentlichen Autor auch persönlich seine Entwicklung darlegen zu hören, um auf seine für unsere Gesellschaft bedeutsame literarische Arbeit in angemessener Weise reagieren zu können.
Ja, auch ich habe unterschrieben, und ich war in guter Gesellschaft mit Schriftstellerkolleginnen und -kollegen wie Erich Fried, Ernst Jandl, Elfriede Jelinek und Gert Jonke! Anfangs hatten wir wenig Erfolg. Der geschätzte Herr Bundespräsident und sein geschätzter Minister waren entschieden dagegen, einen dichtenden Häftling auf irgendeiner Bühne in Wien oder Graz auftreten zu lassen, und begründeten das mit der in solchen Fällen üblichen bürokratischen Floskel „Beispielsfolgen“. Dabei war Jack für sie ein Häftling, an dem sich nicht nur seine Häfenbrüder ein Beispiel nehmen konnten – sondern wir alle.
Im Frühjahr 1983 veröffentlichte Jack nach acht Jahren Haft seinen autobiografischen Roman „Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus“, in dem er die Geschichte seiner Kindheit und Jugend erzählte. Der Vater unbekannt, die Mutter eine Prostituierte, der Großvater ein Dieb und Betrüger. Ein ungeliebtes, einsames, geprügeltes Kind. Erzählte Hoffnungslosigkeit, Endstation Zuchthaus.
Die Kritik war begeistert von Jacks Buch und von der „unkalkulierten Dringlichkeit, mit der sich da einer an sein Leben heranschreibt“. Und wir hatten mit unseren Aktionen genug öffentlichen Druck auf die Anstaltsleitung ausgeübt, um sie zu Verhandlungen zu bewegen. Der Gefängnisdirektor Hofrat Schreiner ließ sich erweichen und gestattete Jack eine Lesung in der Justizanstalt. Also sind wir im September 1983 zu ihm gereist in den Knast. Elfriede Jelinek und die Wiener Kulturszene sind gekommen, dazu Abgesandte der Grazer Literaturszene und natürlich Alfred Kolleritsch, der Unterweger in seiner Literaturzeitschrift „manuskripte“ entdeckt und bekannt gemacht hat. Wir waren in guter Gesellschaft. Eine Delegation hoher Ministerialbeamter aus der Hauptstadt und Dutzende Journalisten waren angereist, einige sogar aus dem Ausland. Selbst der Abt des benachbarten Benediktinerstifts Göttweig war von seinem Kloster herabgestiegen und in die Haftanstalt gepilgert.
Brav hatten wir unsere Ausweispapiere vorgezeigt, uns auf versteckte Waffen abtasten und durch die vergitterten Eisengänge des sternförmigen Gefängnisbaus führen lassen, bis wir schließlich in den ehemaligen Gebetsraum der Nonnen vorgelassen wurden, der nun als Kultursaal diente.
Wir alle kamen, um uns selbst ein Bild zu machen von diesem außergewöhnlichen Gefangenen. Und weil es kein teilnahmsloses Beobachten gibt und keine Show ohne Publikum, wurde aus einem schreibenden Häftling an diesem Tag durch unsere Aufmerksamkeit ein inhaftierter Schriftsteller.
Nachdem alle Platz genommen hatten, wurde Jack von zwei Beamten hereingeführt. Er setzte sich an einen kleinen Tisch auf der Bühne. Der Hofrat, der dem Gefängnis vorstand, begrüßte artig seine Vorgesetzten aus dem Wiener Ministerium, schwärmte vom modernen „Behandlungsvollzug“ in seiner Anstalt und verkündete, dass hier und heute ein Licht des Strafvollzugs entzündet werde.
Je länger ich diesem jovialen Mann zuhörte, desto mehr kam es mir vor, als sei der Gefängnisdirektor selbst ein Freund der schönen Literatur und eine Art Mentor für Jack.
Der Hofrat war Herr über mehr als 300 Mitarbeiter und fast 1000 Häftlinge: Diebe, Räuber, Mörder, Totschläger, Drogenhändler und Betrüger. Die Haftanstalt ist eine Schule des Hasses, in die kaputte Menschen gespült werden, die einander noch kaputter machen. Es scheint unmöglich, diese Kette aus Armut, Gewalt und Kriminalität zu durchbrechen. Die Wärter haben es auch nicht besser: Sie werden mit eingesperrt, auch sie haben lebenslang.
Es ist eine düstere Welt im Abseits, aus der wenig nach draußen dringt. 1982 hatte ein ehemaliger Sozialarbeiter der Justizanstalt Stein einen Band mit Texten von Gefangenen veröffentlicht. „Das Ende der Strafanstalt“ lautete der optimistische Titel, aber er passte gut in diese Zeit des Aufbruchs und der Reformen im Strafvollzug.
In diesem Band ist ein Text abgedruckt von einem gewissen „Jack U., 29 Jahre, verurteilt zu lebenslanger Haftstrafe“, der nicht ohne Mitgefühl über die Wärter schreibt:
Dann denke ich an den, der im Wachturm oben sitzt oder steht und mit sich selbst streitet. Allein. Unter sich die Herde, vor ihm das bereitgestellte Sturmgewehr der Bundespolizei. Er selbst abgerichtet zum Töten aus Sicherheitsgründen. Glückloses Töten. Meine Gedanken beginnen zu hassen. Ich werde müde. In mir die stumme Resignation. Das Hoffnungslose am Menschsein.
Der Hofrat, der den ganzen Laden schließlich zusammenhalten musste, gab die Hoffnung nicht auf: „Wenn sich auf diesem harten Pflaster kleine und zarte Pflanzen entwickeln, statt brutal niedergetreten und niedergewalzt zu werden, wenn also an einem Ort wie diesem Kunst entstehen kann – das ist doch schon was!“ Er bedankte sich höflich bei Jack und fügte zur allgemeinen Belustigung hinzu: „Wir sind alle seine Angestellten, er ist der Chef.“
Und dann trat Jack auf – so sanft, so einfühlsam. Das Gefängnis sei ein Raubtiergehege, erklärte er dem Publikum, und sie seien die Zoobesucher. Er erwähnte die vergitterten Eisengänge und die davon abgehenden Zellentüren, hinter denen das Leben auf sieben mal vier Schritten erstickte, und begann vorzulesen:
Ich warte auf mein Frühstück. Schlüssel rasseln, klirren gegen meine Eisentür, das kleine Loch in der Mitte wird aufgestoßen, dieFressluke ist freigegeben. Draußen ein Bauch, dann ein zweiter, jeder zeigt ein wenig vom Oberkörper, mehr vom Unterleib, einer ist uniformiert, der andere wie ich in grauer Drillichmontur. Ich sehe kein Gesicht, höre kein „Guten Morgen“, ich bleibe stumm. Dafür schmerzt mich der Gedanke, dass ich ein Mensch sein könnte. Der schwarze Kaffee ist ungesüßt. Ich leere ihn fort. Das Frühstück ist zu Ende. Die Fressluke wird von einem anderen uniformierten Bauch zugeschlagen.
Wie ergreifend waren diese kurzen, rhythmischen Sätze, mit denen sich dieser Häftling seiner Entmenschlichung entgegenstemmte! Die Tiere im Zoo haben keine Sprache, mit der sie sich wehren können. Auch Jack war stumm und ohnmächtig, als sie ihn eingesperrt hatten, und wäre er einer wie alle, dann wäre es wohl dabei geblieben. Aber er hat das Wort ergriffen, hat sich der Sprache bemächtigt und sich seiner Vergangenheit gestellt. „Da drinnen sind jene Punkte“, erklärte Jack, „die mich belastet haben, von familiären Angelegenheiten bis zu den sexuellen Bereichen hin bis zu den juristischen Ungerechtigkeiten.“
Herwig hat mir Akten aus der Justizanstalt Stein gegeben, um mir die Arbeit an meinem Bericht zu erleichtern. „Das Gedächtnis lügt gern“, hat er gesagt. Ich vermute, er spricht aus eigener Erfahrung, denn mein Gedächtnis belügt mich nicht. Ich ruhe in mir und weiß, was ich erlebt und getan habe. Aber Herwig scheint einfach sein Ding durchzuziehen. Für ihn ist die Welt ein riesiges Experiment, eine Versuchsanordnung, die er beobachten und beschreiben kann. Ab und zu gibt er Futter oder ein Spielzeug in den Rattenkäfig, um zu sehen, wie wir uns verhalten. Er hat mir eine Akte auf den Tisch gelegt: Eine sechsseitige Besucherliste der Lesung vom 30. September 1983, auf der gut hundert Namen aufgeführt sind, und ein zweiseitiges Schreibmaschinenskript der Rede, die Jack an jenem Tag vor uns gehalten hat.
Darin sprach Jack von Schuld und Schönheit und von der Zukunft:
Der Schatten in dieser Schönheit des heutigen Tages, dieser gemeinsamen Stunde, liegt in meiner Vergangenheit, an die ich denken muss, die es gab, die mich hierherbrachte und die hinter all dieser Freude Bestand hat. Denn ganz klar gesagt, ohne diese Vergangenheit wäre ich nicht hierhergekommen, ohne meine Schuld wäre es nie zu dieser Strafzeit gekommen und ohne diese Kerkerzeit wäre ich nie zu meinen heutigen Gedanken, Einsichten, Ansichten gekommen, und die wiederum waren es, die mich zum Schreiber gemacht haben.
Auch wenn ich mich nicht mehr an jedes Wort erinnern kann, habe ich doch nie vergessen, wie sehr mich Jacks Rede bewegt hat. Es war still, so still im Raubtiergehege, während er über die Berufung des Schreibens und die Bedeutung der Schuld sprach. Und auch Jack schien ergriffen von seinen eigenen, wohlgesetzten Worten. Er stockte, seine Stimme geriet ins Schwanken, dann fuhr er fort:
Deshalb möchte ich heute, hier an dieser Stelle, nicht nur sagen, ich bin schuldig, sondern ausführen, für mich ist Schuld heute mehr als ein juristisches Eingeständnis eines Angeklagten, es ist für mich ein Begriff, eine Last, aber auch eine Begleitung in dieser Zeit, in der Zukunft, mit der ich leben muss, die mich oft zu ersticken droht, aber mit der ich auch gemeinsam arbeite, damit die Schuld aus dem Wort zur inneren Bedeutung gelangt.
Zugegeben, bei genauer Betrachtung scheint mir heute nicht ganz klar, was er damit eigentlich meint, dass die Schuld aus dem Wort zur inneren Bedeutung gelangen soll. Er sprach und schrieb oft über Schuld, aber nie über seine Tat. Trotzdem klangen seine Worte an jenem Tag und jenem Ort in meinen Ohren wie ein existenzielles Bekenntnis, und dafür habe ich ihn bewundert und auch ein wenig beneidet.
Ich weiß schon, was Herwig denken wird, wenn er das liest. Er ist ein Zyniker und glaubt nicht an das Gute im Menschen. Jede Zeile ist ihm suspekt, jedes Wort ein Verdachtsfall. Gefühle wie Andacht und Bewunderung kennt er nicht. Und er kann nicht verstehen, dass man als freier Autor einen gefangenen Kollegen beneiden kann.
Schreiben ist mein Beruf. Nur Laien glauben, dass die Tätigkeit eines Schriftstellers etwas mit Inspiration zu tun hat. „Jaja, zehn Prozent Inspiration, neunzig Prozent Transpiration“, sagt Herwig, und auch diesen Kalenderspruch hat er sicherlich bei irgendeinem anderen Autor abgerissen. Jedenfalls ist das Schreiben eine einsame und anstrengende Tätigkeit, die überhaupt keinen Anlass zur Verklärung bietet.
Täglich muss man sieben oder acht Stunden am Schreibtisch sitzen, den Ablenkungen des Alltags widerstehen und der Versuchung, aufzustehen und nachzusehen, was im Kühlschrank liegt oder in der Inbox gelandet ist. Herwig hilft mir. Er bringt mir Kaffee und Zigaretten vorbei und hat den Kühlschrank aufgefüllt. Im Badezimmerschrank liegen ein paar Schachteln Captagon, Olidon und Mandrax, für alle Fälle. Ich bräuchte die Wohnung nicht zu verlassen und könne mich ganz auf das Schreiben konzentrieren. Fast komme ich mir wie ein Gefangener vor. Im Gefängnis gibt es keine Versuchung, weil es dort keine Freiheit gibt. Vier mal sechs Meter konzentrieren den Geist. Die Vorschriften sind geregelt, der Alltag ist immer gleich. Wie das Motto, das Jack seinem Roman vorangestellt hat:
jeder tag jeder
pausenloses
wiederholen
Wenn ein Jandl so was schreibt, ist es halt ein lustiges Sprachspiel. Aber Jack spielte nicht. Er war, was er schrieb. Jack lebte Zweigs „Schachnovelle“, Kafkas „Prozess“, Dostojewskijs „Verbrechen und Strafe“. „Meine Freizeit ist Schreibzeit, täglich von 17.30 bis 23.00! Eisern. Und wenn ich’s am nächsten Tag wieder in den Papierkorb leere.“ Das Schreiben war für ihn keine Therapie, sondern Selbstzucht. Anders als wir hatte Jack keine Wahl. Er musste schreiben, um zu überleben, und „Fegefeuer“ war kein Buch, sondern ein Befreiungsschrei, das hatte er selbst im Radio so gesagt. Für ihn gab es keine Kompromisse. Worte waren für ihn die einzige Brücke zur Außenwelt, und weil er diesen Weg auch anderen öffnen wollte, gab er im Gefängnis eine Zeitschrift mit dem Titel „Wort-Brücke“ heraus.
Sieben Jahre Haft in Stein schienen ihn tatsächlich geläutert und gereinigt zu haben. Natürlich, das betonte er immer wieder selbst, konnte nichts auf der Welt seine Untaten ungeschehen machen. Schon gar nicht jene, die „den reinen materiellen Wert überstiegen“, wie Jack es etwas bürokratisch formulierte, ohne genauer auf jene Verbrechen einzugehen.
Natürlich war allen bewusst, dass er einen Mord meinte. Eine junge Frau war zu Tode gekommen, und er war schuld. Jack zeigte uns während der Lesung ein Foto aus dem Jahr 1976. Sein damaliges Ich, eingekeilt zwischen Justizwachebeamten auf der Anklagebank: lange dunkle Haare, eingefallenes Gesicht, leerer Blick. Vermutlich war die absurd gemusterte Siebzigerjahrekrawatte daran schuld, dass der stumme junge Mann wie ein Fremder aus einer anderen Zeit wirkte, der mit dem wortgewandten Dichter auf der Bühne im Kultursaal der Justizanstalt Stein nichts mehr zu tun hatte.
Sein erster Lyrikband „Tobendes Ich“ war eine Trotzreaktion gegenüber der Behörde gewesen. Gedichte als Angriffstexte, Klage, Hilfeschrei. „Das sind keine Texte, bei denen der Gedanke vorhanden war: Durch diese Texte will ich ein neuer Mensch werden. Das war noch weit entfernt.“
Dann las, nein, rezitierte er in rhythmischem Stakkato seinen Lebenslauf als Gedicht:
(…)
mit zehn die Mutter gefunden
drei Monate schweben auf Glückswolken
unsagbares Zufriedensein
schmerzvoll der Sturz
nach ihrem spurlosen
Verschwinden
die lange Suche nach ihr
geflüchtet aus allen Pflegeplätzen
Einweisung ins Heim
Haßliebe als aufgehende Saat
loderndes Feuer in mir
das Mutterbild im Herzen
haltlos durch das Leben hetzend
Hunger ohne festen Wohnsitz
als Vagabund die ersten Diebstähle
noch immer auf Mutters Spuren
jedesmal um Tage zu spät
Knast, Freiheit, Knast
…
der Traum vom Leben
eine Zukunft suchend
nach dieser Kerkerzeit
Das war keine bloße Häfenpoesie, das hatte den gleichen Sound und Drive und Punch wie ein Wolf Wondratschek, ein Charles Bukowski; aber anders als die meisten Barden der Beat Generation war Jack nicht nur zu Gast in der Gosse gewesen, sondern dort geboren und hatte sich erst im Häfen am eigenen Schopf herausgezogen. Jack war keiner von den schweren Jungs, die sich mit Machogehabe breitmachen müssen, nein: Jack hatte die Kraft, Gefühle zu zeigen. In einem alten Exemplar der „Wort-Brücke“ habe ich Jacks Gedicht „Knastbrüder“ wiedergefunden, das er uns damals ebenfalls vorgetragen hat:
Knastbrüder sind wie Blätter
im ewigen Herbst
knapp vor dem Fall
flattern im Wind
vom Herbststurm getragen
kein Widerstand mehr
Ich hätte Herwig dieses Gedicht lieber nicht zeigen sollen. Er las es ganz anders als ich und machte ein paar abfällige Bemerkungen über „Kackmetaphern“, die dabei herauskämen, wenn man Rilke und Bukowski kreuzen würde. Ich machte mir erst gar nicht die Mühe, mit ihm zu streiten, denn solche Fäkalausdrücke zeigen ja nur, wie sehr ihm das Feingefühl für Lyrik abgeht.
Warum soll ich so tun, als hätten mich Jacks Worte nicht im Innersten berührt, damals in der Justizanstalt, als ich ihn das erste Mal persönlich erlebte? Am Ende sagte er etwas, das wie eine Art Schwur klang, der die Verbindung zwischen ihm und uns über alle Mauern hinweg besiegeln sollte. Noch heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich seine Worte in den Unterlagen wieder lese: