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Magisterarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Kunst - Grafik, Druck, Note: 1,0, Philipps-Universität Marburg (Kunstgeschichtliches Institut), Sprache: Deutsch, Abstract: Heute beschreiben Historiker ihn als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (Burgdorff u. Wiegrefe). Der Erste Weltkrieg sprengte alle bisher gültigen Kategorien und wurde zum Paradigma der Gewalterfahrung. Neueste Waffentechniken forderten die maximale Zerstörung. Der zermürbende Stellungs- und Grabenkrieg, der vor allem die Westfront bestimmte, verwüstete ganze Landstriche und forderte insgesamt über 3 Millionen tote Soldaten auf allen Seiten. Otto Dix, Künstler und Soldat, kehrte nach vier Jahren Kriegsdienst an der Front unversehrt zurück. Das Erleben des Krieges prägte fortan sein künstlerisches Schaffen. Diese Arbeit widmet sich seinem 1924 veröffentlichten Radierzyklus "Der Krieg", in dem er das Sterben und Vegetieren der Soldaten in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges schilderte. Es wird die ideologisch geführte Debatte dargestellt, die sich seit der Veröffentlichung 1924 um die Radierungen entspann und der Bogen bis zum gegenwärtige Stand der Forschung gespannt. Die Analyse legt u.a. die künstlerischen Strategien dar, die Dix entwickelte, um dem Betrachter glaubhaft zu vermitteln, hier die Wirklichkeit, wie er sie erfahren hatte, zu schildern. So integrierte Dix beispielsweise in seine Bildkompositionen charakteristische Ästhetiken von Reportagefotografien, um den Authentizitäteindruck des Dargestellten zu verstärken. Aber auch der Vergleich mit zeitgenössischer Kriegsliteratur spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle. Letztlich wird der Frage nachgegangen, inwiefern die 50 Radierungen des Zyklus eine Reflexion und Visualisierung der kriegsbedingten Traumatisierung des Künstlers sind.
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Veröffentlichungsjahr: 2008
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Inhalt
1. Einführung
1.1. Daten und Fakten zum Radierzyklus Der Krieg
2. Vom Pazifisten zum Realisten - Otto Dix und Der Krieg (1923/24) in der kunstwissenschaftlichen Diskussion seit 1924
3. Schwerpunkte und Fragestellungen der Magisterarbeit
4. Der Krieg(1923/24) - Betrachtung des Gegenstandes
4.1. Das Spektrum der Motive
4.1.2. Soldatentod
4.1.3. Verwundung und Erschöpfung
4.1.4. Alltag an der Front
4.1.5. Landschaft
4.1.6. Zivilisten
4.1.7. Vom Zyklus ausgeschlossene Blätter
4.2. Technik und Verwirklichung
4.3. Entwürfe, Studien und zeichnerische Vorlagen
5. Kunsthistorische Einordnung
5.1. Historische Vorbilder - Urs Graf und Jacques Callot
5.2. Historisches Vorbild – Francisco de Goya
5.3. Dix’ Zeitgenossen - Reaktionen auf das Kriegsgeschehen
6. Analyse
6.1. Der Krieg(1923/24) – Ein Abbild der ‚Wirklichkeit’?
6.1.1. ‚Das Bild vom Krieg’ in den Köpfen der Menschen
6.2. Strategien der Authentizitätssuggestion
6.2.1. Die innere Struktur des Krieg-Zyklus
6.2.2. Darstellungstitel
6.2.3. Selbstbildnisse
6.2.4. Krieg-Zyklus versus zeitgenössische Kriegsliteratur
6.2.5. Das Spiel mit der Wahrnehmung – Fotoästhetiken im Zyklus
6.3. Der psychoanalytische Ansatz von Paul Fox
7. Resümee
8. Anhang
8.1. Vorwort zur Buchausgabe von Der Krieg, verfasst von Henri Barbusse
8.2. Brief von Otto Dix an Helene Jacob vom 12. August 1916
8.3. Kurzbiografie - Otto Dix
9. Anmerkungen
10. Literaturverzeichnis
11. Abbildungsverzeichnis
11.1. Abbildungen
Heute beschreiben Historiker ihn als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“.[1] Er sprengte alle bisher gültigen Kategorien und wurde zum Paradigma der Gewalterfahrung. Neueste Waffentechniken forderten die maximale Zerstörung. Der zermürbende Stellungs- und Grabenkrieg, der vor allem die Westfront bestimmte, verwüstete ganze Landstriche und forderte insgesamt über 3 Millionen tote Soldaten auf allen Seiten. Hinzu kamen Millionen Kriegsversehrte mit zum Teil schwersten Verstümmelungen, die aufgrund fortschrittlicher medizinischer Versorgung überlebt hatten.[2] Erstmals band dieser Erste Weltkrieg alle im 19. Jahrhundert entstandenen Großmächte ein und erstmals geriet auch Zivilbevölkerung in größerem Maßstab zwischen die Fronten und wurde zum Opfer militärischer Operationen.
Aus heutiger Perspektive, die uns auf zwei katastrophale Weltkriege zurückblicken lässt, ist es kaum vorstellbar, dass dieser erste weltumspannende Krieg von vielen Menschen in Europa herbeigesehnt und 1914 mit Euphorie begrüßt wurde. Nicht nur im Deutschen Kaiserreich gab es innerhalb der intellektuellen Eliten eine breite Strömung, die sich durch den Krieg eine kulturelle Erneuerung versprach und auf den Durchbruch einer neuen, besseren Weltordnung hoffte.[3] Otto Dix’ Selbstbildnis als Kriegsgott Mars (Abb. 68) von 1915 zeugt in der dynamisierenden Sprache des Futurismus beispielhaft von der bejahenden Haltung der bildenden Künstler zum Krieg, der anfänglich zwar als etwas Schreckliches, aber in gewissem Sinne als ein großartiges Geschehen wahrgenommen wurde, welches eine außerordentliche Erfahrung und Erweiterung des künstlerischen Horizonts bot. Das Erleben des Menschen in dieser extremen Grenzsituation, sollte den Malern, Bildhauern und Literaten neue Dimensionen künstlerischer Kreativität eröffnen.[4] Demgemäß meldeten sich viele Künstler freiwillig zum Militärdienst, darunter auch Otto Dix, der es kaum erwarten konnte, an die Front zu kommen, vermutlich aus Angst der Krieg könne beendet sein, bevor er ihn mitgemacht hätte.[5] Dix verbrachte vier Jahre als Soldat überwiegend an der Westfront und bewährte sich im Kampfeinsatz. Mit nur einer leichten Verletzung, mehreren Beförderungen und Auszeichnungen - darunter das Eiserne Kreuz II. Klasse - überlebte er das Inferno fast unversehrt.[6] Seiner Kreativität tat der militärische Einsatz keinen Abbruch. Im Gegenteil, sozusagen im Schützengraben und unter feindlichem Beschuss fertigte er über 600 Kreidezeichnungen und Gouachen, in denen er seine Erlebnisse reflektierte. Ganz anders erging es vielen seiner Kollegen, bei denen sich nach anfänglichem Enthusiasmus sehr schnell Ernüchterung einstellte. Vielen Künstlern war bereits die militärische Grundausbildung schwer erträglich, andere vermochten die Erlebnisse an der Front emotional nicht zu verkraften und erlitten Nervenzusammenbrüche. Die meisten zogen sich denn auch, früher oder später und soweit dies möglich war, vom Kriegsdienst zurück und wandten sich auch künstlerisch anderen Themen zu.[7] Andere verstummten ganz oder starben, wie z.B. Franz Marc, der 1916 bei Verdun fiel.[8]
Einige suchten unter dem unmittelbaren Eindruck der unbeschreiblichen Schrecknisse nach künstlerischen Formeln den Zustand dieser aus den Fugen geratenen Welt zu fassen. Es schien eine unlösbare Aufgabe zu sein. Aus diesem Dilemma heraus entwickelte sich seit 1916 die Dada-Bewegung als Ausdruck des Scheiterns eigener vor dem Krieg formulierter Hoffnungen und Überzeugungen.[9] Auch Dix experimentierte nach seiner Rückkehr 1918 mit den Ausdrucksformen des Dadaismus und arbeitete daran seine Nachkriegserkenntnisse ab. Die Prager Straße von 1920 (Abb. 99), eine Malerei-Material-Collage, zeigt beispielhaft das gesellschaftskritische Anliegen der Arbeiten und die Tendenz des Dadaismus überkommene, bürgerliche Vorstellungen ins Lächerliche zu ziehen und zu relativieren.[10]
Erst ein halbes Jahrzehnt nach Kriegsende kehrte Dix sozusagen auf das Schlachtfeld des Krieges zurück, um sich seinen persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen zu stellen. Dafür bedurfte er jedoch neuer Ausdrucksformen und die fand er im Erfassen der Realität und nackten Wirklichkeit. Der Schützengraben von 1923 (Abb. 54), in dem er den Betrachter mit dem qualvollen Sterben an der Kriegsfront konfrontierte, wurde aufgrund dieses brutalen „Verismus“, so die Bezeichnung der zeitgenössischen Kritik, von manchen Rezipienten als abstoßend empfunden.[11] In dieser Schaffensphase entstand auch der Radierzyklus Der Krieg, der in 50 Radierungen ein Panorama der schrecklichen und desolaten Zustände an der Westfront des Ersten Weltkrieges entfaltet und der von den Zeitgenossen, welche der Kriegskatastrophe nunmehr kritisch gegenüberstanden, als ein wahrhaftiges Abbild der Wirklichkeit begriffen wurde.[12]
Der Radierzyklus Der Krieg entstand in den Jahren 1923 und 1924. Er besteht aus 50 Radierungen, die in fünf Mappen à zehn Blätter verteilt sind. Den Mappen ist jeweils ein Deckblatt vorangestellt, auf dem die Zählung der jeweiligen Mappe (Erste Mappe, Zweite Mappe etc. bis Fünfte Mappe) vermerkt ist. Ausserdem enthält das Deckblatt ein Verzeichnis mit den Titeln der jeweils enthaltenen Blätter. Die Titel sind von 1-10 nummeriert und damit in ihrer Reihenfolge festgelegt. [14] Jede Radierung ist vom Künstler handsigniert und nummeriert. Die Abfolge der Blätter, weder innerhalb der Mappen noch auf den gesamten Zyklus bezogen, folgt keiner inhaltlichen Chronologie und keiner kohärenten Erzählstruktur. Vielmehr erscheint ihre Anordnung diesbezüglich zufällig. Die von Dix verwandten Drucktechniken Aquatinta, Ätzung und Kaltnadelradierung variieren in ihrer Kombination von Blatt zu Blatt. Auch die Darstellungsgrößen variieren[15], während die Blattgrößen mit 353 x 475 mm gleich bleiben. Die 50 Zinkdruckplatten wurden im Juli 1924 in der Berliner Kupferdruckerei Otto Felsing abgezogen. In einer Auflage von 70 nummerierten Exemplaren erschien der Zyklus im darauffolgenden Monat im Verlag Karl Nierendorf Berlin. Er kostete komplett 1000 Mark, während die einzelnen Mappen vom Galeristen Karl Nierendorf für 300 Mark verkauft werden sollten. Fritz Löffler berichtet, dass damals lediglich ein Exemplar verkauft worden sei.[16] Gleichzeitig erschien zu Reklamezwecken eine billige Buchausgabe mit 24 Offset-Drucken für 2,40 Mark (Buchhandlungen zahlten 1,10 Mark) und einer Auflagenhöhe von 10.000 Stück. Einer weiteren kleineren Auflage des Buches und den Restbeständen der ersten, wurde ein Text des französischen Schriftstellers Henri Barbusse beigelegt (siehe Anhang 8.1.). Die originalen Radierungen wurden erstmals im August 1924 in folgenden Städten ausgestellt: Berlin, Bremen, Breslau, Dresden, Frankfurt, Hamburg, Kiel, Köln, Leipzig, Mannheim, München, Stuttgart, Ulm, Wien und Wiesbaden.
Er sei kein Pazifist gewesen!
So unmissverständlich äußerte sich Otto Dix im Dezember 1963 in einem Gespräch unter Freunden. Er sei Realist, ein „Wirklichkeitsmensch“, der alles mit eigenen Augen sehen müsse! ‚Sehen’, das bedeutete für Dix dasselbe, wie ‚erleben’.[17] Und entsprechend formulierte er sein künstlerisches Anliegen, die Wirklichkeit so darzustellen, wie er sie sah bzw. erlebte.
Es war wohl die Offenheit dieses Konzeptes, das seine Bilder, die sein Erleben des Ersten Weltkrieges reflektieren, zu Projektionsflächen für politische Ideologien rechter und linker Couleur werden ließ. So kam es, dass seit der ersten öffentlichen Präsentation des Gemäldes „Der Schützengraben“ 1923 (Abb. 54) im Kölner Wallraf-Richartz-Museum in der öffentlichen Diskussion und unter den Kunstwissenschaftlern die Frage dominierte, ob Dix’ Weltkriegsreflexionen pazifistisch und antinationalistisch motiviert gewesen seien oder nicht.
Seine späte Aussage, niemals Pazifist gewesen zu sein, widerspricht seinem damaligen Handeln. Denn die Publikation des Radierzyklus „Der Krieg“ durch Dix’ Verleger und Galeristen Karl Nierendorf sowie die zeitgleiche Herausgabe eines billigen Buches mit einer Auswahl von 24 Offsetdrucken aus dem Zyklus in einer Auflage von 10.000 Stück, fiel nicht zufällig in das Jahr 1924. Damals jährte sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum zehnten Mal und die politische Linke propagierte das Anti-Kriegs-Jahr.
Es war mithin die großangelegte Werbekampagne anlässlich der ersten Ausstellung der fünfzig Blätter 1924 in Berlin und 13 weiteren deutschen Großstädten, die dieses Bild vom pazifistischen Dix maßgeblich prägte. Karl Nierendorf, der den Kriegszyklus angeregt hatte[18], war sich des brisanten Gehaltes sehr wohl bewusst und belieferte gezielt Friedensgesellschaften, Menschenrechtsorganisationen und „alle linksstehenden grösseren Zeitungen“ [19] mit der Buchpublikation Der Krieg. Auch die Gewerkschaften bedienten sich der Motive des Radierzyklus’ als propagandistische Unterstützung und orderten für ihren Anti-Kriegs-Tag 1500 Exemplare des Buches.[20] Otto Dix, der zwar behauptete, dass man Entrüstung nicht malen könne[21], Anklage und Abschreckung Kategorien der Moral und nicht der Kunst seien, positionierte sich damit meiner Ansicht nach, sicher nicht versehentlich an der Seite seiner Künstlerkollegen George Grosz, Käthe Kollwitz, Max Beckmann und anderer, deren Bilder in den 20er Jahren als „Antikriegskunst“ verstanden wurden.[22]
Während die einen sein Mappenwerk „Der Krieg“ als pazifistisches Manifest für den Frieden und gegen den Krieg priesen und nur verhalten kritisierten, dass die Verantwortlichen der Misere z. B. nicht benannt und angeprangert wurden, vermisste die konservative Kritik das Bild des heldenhaften deutschen Soldaten. Die ungeschönten Bilder des Frontsoldaten und seines elenden Sterbens, die Dix 1924 schuf, entsprachen in keiner Weise der Ideologie der Deutschnationalen, die in der Weimarer Zeit die Dolchstoß-Legende kolportierten und populär machten. Das deutsche Heer soll demnach „im Felde unbesiegt“ gewesen sein und aus der Heimat durch die sozialistischen und sozialdemokratischen Revolutionäre im Sommer und Herbst 1918 verraten, bzw. hinterrücks „erdolcht“ worden sein.[23]
Die Radierungen Otto Dix’ sind eine vollkommene Obstruktion dieses Wunschbildes vom heroischen Soldaten. Der Heidelberger Kunstwissenschaftler Dietrich Schubert sieht denn auch die Reaktionen der Nationalsozialisten als sicheren Indikator für den wahren Gehalt des Krieg-Zyklus. Sie titulierten Dix’ Reflexionen des Krieges als „gemalte Wehrsabotage“, verunglimpften sie seit 1935 in der Wanderausstellung Entartete Kunst und schränkten letztendlich seine künstlerische Arbeit während ihrer Diktatur drastisch ein.[24]
Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen während des Zweiten Weltkrieges bewirkten eine Zäsur im künstlerischen Schaffen Otto Dix’. Er widmete sich während dieser Zeit der politisch unverfänglicheren Landschaftsmalerei. Auch die Wahrnehmung seiner Person durch die Öffentlichkeit veränderte sich. War er zuvor ein populärer Maler gewesen, wurde er nun an den gesellschaftlichen Rand gedrängt. Im Nachkriegsdeutschland konnte er seine Künstlerkarriere jedoch fortsetzen. Genau genommen machte er zwei Karrieren mit unterschiedlichen Verläufen, die eine in der DDR und die andere in der Bundesrepublik. Während sich die Kulturverantwortlichen in der sowjetisch besetzten Zone recht schnell wieder an seine Kunst aus der Weimarer Zeit erinnerten und ihn 1947 erneut zum Professor an der Dresdner Kunstakademie beriefen[25], nahm man in der jungen Bundesrepublik zunächst kaum Notiz von ihm.[26] Im Westen interessierte man sich nun mehr für abstrakte Kunst und konnte mit dem Realismus eines Otto Dix nichts mehr anfangen. Im Osten dagegen wurde der ‚Sozialistische Realismus’ propagiert und man suchte nach Künstlern, die an der Entwicklung eines neuen Stils im Sinne des sozialistischen Systems mitwirken sollten. Dix hielt man dafür wegen seiner realistischen Formensprache, wegen seiner Vergangenheit als Kriegsgegner in der Weimarer Republik und als verfolgter Künstler im Dritten Reich für besonders gut geeignet. Die Erwartung jedoch, sich künstlerisch wie persönlich eindeutig zum Sozialismus zu bekennen, erfüllte er nie und blieb deshalb auch in der DDR nicht unumstritten, zumal er weiterhin in Hemmenhofen am Bodensee wohnte und nicht in seine zweite Heimat Dresden zurückkehrte. [27] Trotzdem hielt man an ihm fest und machte sich ‚seinen Dix passend’, indem man seine Kunst im Anti-Kriegs-Kontext interpretierte und sie als sozialkritische und friedensstiftende Kraft würdigte.[28]
Otto Conzelmann war in der Bundesrepublik der erste Kunstwissenschaftler, der sich dem künstlerischen Werk von Otto Dix wieder zuwandte. 1959 veröffentlichte er über ihn die für Gesamtdeutschland erste Monografie nach dem Zweiten Weltkrieg und erwähnt darin die Krieg-Mappen als eine Arbeit ganz im Geiste des Gemäldes Der Schützengraben von 1923 (Abb. 54). Hier wie dort, so Conzelmann, der mit Dix persönlich bekannt war, handele es sich um den Versuch des Künstlers, sich von dem entsetzlichen Albtraum des Krieges zu befreien.[29] Was sich im Schützengraben zu einem Gebirge der Abscheulichkeiten auftürmt, wird seines Erachtens im Radierzyklus aufgeteilt und in Einzelheiten erläutert.[30] Tod, Verstümmelung und Verwesung kennzeichneten den Krieg, den Dix dort schildere. Er ergänzt, dass sich in den Krieg-Radierungen auch etwas offenbare, das stärker sei als alle Gewalt des Krieges, nämlich der blinde Lebenswille des Menschen und sein animalischer Selbsterhaltungstrieb. Die Bordellszenen (Abb. 32, 34 u. 36) und nicht zuletzt die vom Zyklus ausgeschlossene Vergewaltigungsszene Soldat und Nonne (Abb. 51) brächten dies anschaulich zum Ausdruck. Diese Gegensätze vermitteln laut Conzelmann eine Dialektik von Leben und Tod, Verwesung und Geburt, blinder Destruktion und wucherndem Wachstum. [31]
Als Jean Cassou, der damalige Direktor des Musée National d’Art Moderne in Paris, Anfang der sechziger Jahre ein Konvolut von über 600 Zeichnungen entdeckte, die Dix während der vier Jahre an der Front (1915-1918) angefertigt hatte, wandelte sich der Blick Conzelmanns auf die Radierungen des Krieg-Zyklus.[32] In den Kriegszeichnungen offenbarte sich ihm der „andere Dix“, der von den gewaltigen Kräften des Krieges fasziniert, diese in der kraftvollen Formensprache des italienischen Futurismus und aus dem unmittelbaren Erleben heraus schildert.[33] Die Kreidezeichnung von 1917 Reihe im MG-Feuer (Abb. 57) z. B. zeigt deutlich die im Vergleich zu den Radierungen andere Herangehensweise an das Kriegsthema und das Kriegserleben. Die Reihe der Soldaten fällt in der spitzen, fächerförmigen Garbe des Maschinengewehrs. Der Mensch als Individuum spielt hier keine Rolle, er verschmilzt mit der Schützenreihe, die Teil der energetisch geladenen Kriegsmaschinerie ist, welche Dix fasziniert und focussiert. Anders als in den Radierungen wird hier das Leiden des Menschen nicht gezeigt, er blutet nicht, er verendet nicht, er verwest nicht und stinkt noch nicht. Im Gegenteil, er fungiert als Symbol imponierender Kriegsgewalt.[34] Zu geometrischen Formen abstrahiert, fallen und liegen die Soldaten fast dekorativ arrangiert, während sie in den Radierungen mit allen ihren menschlichen Regungen und Bedürfnissen detailliert geschildert werden. Conzelmann erkennt nun auch in den Radierungen dieses „Ja“ zum Krieg, das in den Zeichnungen durch die distanziert faszinierte Perspektive des Künstlers so deutlich zutage tritt. Es sei ein „Ja“ des Künstlers zum Menschen und der Welt in allen ihren Ausprägungen und dazu gehöre eben auch, dass der Krieg als Destruktionstrieb naturgegeben und unausrottbar im Menschen angelegt sei. Für Conzelmann tritt an dieser Stelle der Nietzscheaner Dix hervor. „Was Nietzsche und Dix bejahen - Die Vergänglichkeit und alles Negative, was mit ihr zusammenhängt - ist unveränderbar. Es gehört zum naturgegebenen Wesen des menschlichen Daseins. Wie jenseits von Gut und Böse, so steht es hoch und unerreichbar über allen politischen und sozialen Verbesserungs-Tendenzen (…).“[35] Die Möglichkeit den Krieg überhaupt zu bekämpfen oder einzudämmen, bestünde deshalb für Dix nicht.[36]
Auch den Vergleich der Radierungen mit Francisco de Goyas (1746-1828) Desastres de la Guerra (1808-1815) führt er letztendlich in dieselbe Richtung, nämlich Dix vom häufig geäußerten Vorwurf des gewollten Pazifismus und der politischen Agitation freizusprechen. Obwohl Goya aus einer nachweislich patriotischen Position heraus arbeitete, - er stand im Dienst des spanischen Königs als er die Gräuel des Krieges gegen Napoleon in einer Reihe von achtzig Radierungen schilderte -, gewinnen seine Darstellungen eine überzeitliche, überlokale bzw. generelle Bedeutung, so Conzelmann. Wie Dix den Destruktionstrieb im Menschen entdeckte, so entdeckte Goya den Foltertrieb, der in jedem Menschen angelegt sei.[37]
Eben jenen Anspruch der Universalität und Überzeitlichkeit formulierte bereits Ernst Kállai 1927 für Dix’ Gemälde Der Schützengraben.[38] Kállai, ein einflussreicher Kunstkritiker der Weimarer Zeit, war überzeugt, dass Dix’ Glaube an die Allmacht des Krieges es ihm ermögliche, diesen als eine Art monumentale Vision zu gestalten. Er beschwöre das Hässliche und Abscheuliche in seinem Gemälde, indem er es mit kalter Grausamkeit und einem unerbittlichen Verismus darstelle. Jedoch bleibe die Frage offen, ob es sich um eine Ablehnung des Abscheulichen handele oder um einen anbetenden Kult. Das Schützengrabenbild von Dix könne Gegenstand höchster Anbetung eines fanatischen Kriegsgottverehrers sein, so Kállai, aber ebenso gut als pazifistisches Propagandamittel dienen.[39] Diese Erörterung Kállais sei für die Krieg-Radierungen ebenso gültig, erläutert Otto Conzelmann. Denn was dieser als ‚monumentale Vision’ beschreibe, bezeichnet Conzelmann als Kriegsmythos.
Dieser Mythos speise sich aus der Anonymität, in die Dix ihn verbanne. Trotz zahlreicher dokumentarischer Ortsangaben seien die Radierungen weder örtlich noch zeitlich eingeengt. Alle wirtschaftlichen, militärischen und politischen Aspekte und Ursachen fänden keine Ansprache, findet Conzelmann. Selbst das „Ungeheuer an Kraft“, das in den Kriegszeichnungen lebendig sei, bleibe in den Radierungen verborgen.[40]Der Schützengraben und Der Krieg von 1924 sind für den Autor damit in eine andere Sphäre, außerhalb politischer Ideologien, entrückt und zeichnen eine Art „Urbild aller Kriege“.[41]
Conzelmanns Publikation von 1983 Der andere Dix. Sein Erlebnis des Krieges und des Menschen war bis dahin die ausführlichste Auseinandersetzung zur Bedeutung des Ersten Weltkrieges im Oeuvre des Künstlers. Indem der Autor das Verständnis der dixschen Kunst aus dessen Nietzscherezeption generierte, versuchte er die politische Diskussion um Dix zu überwinden und den bis dahin eng begrenzten Blick auf den Künstler zu erweitern. Es gelang ihm nur bedingt. Zunächst empörten sich nicht wenige Kunstwissenschaftler über Conzelmanns Bestreben, Otto Dix zu entpolitisieren und nachzuweisen, dass ihm nichts an einer politischen Wirkung gelegen habe.[42] Dietrich Schubert, der das dixsche Werk für „eminent politisch“ hält, wie er 1984 als Reaktion auf das Buch betonte, entzieht sich sogar demonstrativ einer detaillierten Besprechung von Conzelmanns Thesen mit dem Hinweis auf dessen „unwissenschaftliche Schimpftiraden“, seinen „unreflektierten Anti-Sozialismus und blinden Anti-Kommunismus“ sowie auf die „methodologischen und wirkungsgeschichtlichen Defizite“ des Autors.[43] Andere Wissenschaftler wiederum folgen den Thesen Conzelmanns. Rainer Beck konzipierte zum Beispiel die große Dix-Ausstellung in München 1985 ganz in dessen Sinne, sodass in folgenden Ausstellungsbesprechungen die Frage auftauchte, ob Dix den Krieg am Ende gar verherrlicht hätte?[44]
Ein Jahrzehnt später beschäftigt sich Annegret Jürgens-Kirchhoff im Rahmen ihrer Studie zu „Krieg und Kunst im 20. Jahrhundert“ ausführlich mit Conzelmanns Position. Sie bemängelt, dass dieser die ästhetischen und wirkmächtigen Unterschiede zwischen den Kriegszeichnungen und den späteren Kriegsradierungen zwar richtig beschreibe, diese Widersprüche jedoch nicht ernst nehme und versuche beide Arbeiten zu harmonisieren.[45] Für Jürgens-Kirchhoff äußern sich gerade in diesem Perspektiv- und Stilwechsel die Verarbeitungs- und Erkenntnisphasen eines sich wandelbaren Künstlers, der sein Verhältnis zum Krieg überdenke und verändere. „Wie kein anderer hat Dix den Krieg später als ‚Menschenschlachthaus’ dargestellt und unmissverständlich mitgeteilt, daß er das Sterben im Krieg für sinnlos halte“, so Jürgens-Kirchhoff.[46] Conzelmann dagegen versuche, seinen antikommunistischen Ressentiments entsprechend, die von Otto Dix und anderen Künstlern nach dem Ersten Weltkrieg gewonnenen Einsichten rückgängig zu machen und negiere diese Wandlung des Künstlers schlichtweg, indem er behaupte, Dix vereine das „Scheußliche“ des Krieges mit dem „Großartigen“ des Krieges in einer dialektischen Spannung.[47] Der „andere Dix“, der den Krieg als etwas Kraftvolles und Faszinierendes beschrieben hatte, verändere Conzelmanns Argumentation zufolge sein Bewusstsein nicht. Die nach 1918 entstandenen Arbeiten, darunter auch der Krieg-Zyklus, brächten zudem lediglich das im Krieg Verdrängte zur Sprache[48] und sind demnach kein Zeugnis einer veränderten inneren Haltung des Künstlers. Außerdem sei das Interesse Conzelmanns den Krieg als etwas Unabänderliches und Naturgegebenes auszuweisen, der Versuch von der Verantwortung der kriegführenden Menschen abzulenken. [49]
Jürgens-Kirchhoff widerspricht ferner entschieden seiner Vorstellung, dass die Radierungen ein „Urbild aller Kriege“ zeichneten und einem „Mythos des Krieges“ geschuldet seien. Sie besteht darauf, dass der Zyklus ein sehr genaues Bild des Ersten Weltkrieges zeichne und auf konkrete Erfahrungen des Künstlers zurückgehe. Subskriptionen wie „Gesehen am (…)“ oder „Gefunden beim (…)“ betonten den Dokumentarwert der Bilder, so die Autorin.[50]
Kira van Lil nimmt in ihrer Dissertation aus dem Jahr 2000 diesen Faden auf und prüft anhand formaler Kriterien den dokumentarischen Gehalt des Zyklus.[51] So suggeriere Dix, ihrer Meinung nach, mit der Abfolge der Bilder einen Erlebnisbericht und erhebe damit den Anspruch einer wahrhaftigen Reportage.[52] Die Orts- und Zeitangaben, die Dix den Radierungen hinzufüge, sollen dem Betrachter vermitteln, dass der „Reporter“ Dix zu jedem Zeitpunkt an den entscheidenden Orten der Westfront gewesen sei und deshalb wisse, wie der Krieg dort ausgesehen habe. Und berechtigterweise kann sie Dix eine solche Absicht unterstellen, da ihr Unstimmigkeiten zwischen einigen Zeit- bzw. Ortsangaben und den tatsächlichen Aufenthaltsorten des Künstlers auffallen.[53] Danach konnte Dix, anders als der Titel Abend in derWijtschaete-Ebene (Nov. 1917) glauben macht, im November 1917 nicht an den Kämpfen in der Wijtschaete-Ebene teilgenommen haben, da er sich zu diesem Zeitpunkt in Russland an der Ostfront befand.[54] Aller Kritik zum Trotz, die Van Lil im Einzelnen formuliert, überwiegen in der von ihr gegebenen Gesamtschau, die Übereinstimmungen zwischen der Erinnerung des Künstlers und dessen mittels des Militärpasses rekonstruierten Aufenthaltsorte während des Ersten Weltkrieges. Einige Blätter gingen sogar auf konkrete Erlebnisse zurück, die Dix in Feldpostbriefen an Helene Jacob geschildert hatte.[55] Beides sei, der Argumentation Van Lils folgend, im Krieg-Zyklus gegenwärtig: Die konkrete Dokumentation einer wahrhaftigen Erinnerung sowie Produkte der künstlerischen Fantasie, die eine Augenzeugenschaft historisch bedeutender Schlachten suggerieren sollen.
Der amerikanischen Kunsthistorikerin Linda McGreevy, die sich in ihrer Arbeit Bitter Witness: Otto Dix and the Great War aus dem Jahr 2001 ausführlich dem Kriegsthema im dixschen Oeuvre widmet, fallen keine Unstimmigkeiten bezüglich der Aufenthaltsorte des Künstlers während des Ersten Weltkrieges auf.[56] Sie betont ausschließlich den dokumentarischen Gehalt der Folge und bettet das kriegsbezogene Werk Otto Dix’ sehr sorgfältig in den damaligen politischen, gesellschaftlichen und soziokulturellen Kontext ein. Mit großem historischen Wissen, auch um den beschwerlichen Alltag der Soldaten an den Fronten des Ersten Weltkrieges, betrachtet sie die 50 Radierungen und spürt den Ereignissen nach, die Dix tatsächlich widerfahren sein könnten und die er ihrer Meinung nach hier dokumentiere.[57] Die von Dix sicherlich bewusst hinzugefügten Orts- und Zeitangaben, die bis zur Dissertation van Lils lediglich erwähnt oder schlichtweg vernachlässigt wurden[58], geben Linda McGreevy Hinweise auf dessen Aufenthalts- und Erlebnisorte während des Krieges.[59] Außerdem ermöglichen sie ihr, seine ganz persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse in Umrissen zu rekonstruieren und diese in einem größeren historischen Kontext zu verankern, der die konkreten militärischen und politischen Umstände sowie die Lebensbedingungen der Soldaten an der Front berücksichtigt. Beispielsweise vermittelt sie dem Betrachter anhand des Blattes Mahlzeit in der Sappe (Lorettohöhe) (Abb. 13) eine Vorstellung vom Verpflegungszustand der Truppen im Ersten Weltkrieg, der sich stetig verschlechterte. Sie macht darauf aufmerksam, dass Dix erst 1917 und 1918 auf der Lorettohöhe in Flandern stationiert wurde und zu diesem Zeitpunkt bereits die Versorgung der Soldaten mit Nahrung mehr als unzureichend gewesen sei. Ausserdem erkläre die Ortsangabe das Skelett in der Nachbarschaft des Essenden und die Mondlandschaft im Hintergrund, denn die Lorettohöhe war seit Beginn des Krieges Kampfgebiet gewesen und auf den Schlachtfeldern blieben tote Franzosen, Engländer und Deutsche zurück, die Dix, als er 1917/18 mit seiner Kompanie dort ankam, fast vollständig verwest vorfand. [60]
Linda McGreevys Leistung besteht meines Erachtens darin, den Blick von der polemischen Debatte um die Frage, ob Dix nun bewusst politisch beeinflussen wollte oder nicht, endgültig abzuwenden und dem eigentlichen Gegenstand des Interesses, nämlich dem Kunstwerk selbst, zuzuwenden. Niemand vor ihr hat so ausführlich und genau die einzelnen Radierungen beschrieben und von den Motiven ausgehend analysiert. Sie liefert fundierte historische Fakten und ermöglicht dem heutigen Rezipienten meines Erachtens, eine erweiterte Wahrnehmung der Realität des Schreckens. Das soll heißen, dass man als Betrachter nicht, wie bisher, allein durch die schonungslose Unmittelbarkeit der Schreckensdarstellung in den Bann gezogen wird, sondern dass diese Gräuel teilweise eine konkrete Rückbindung an die erlebte Wirklichkeit des Künstlers erfahren. Die Orts- und Zeitangaben sowie die Bildtitel ermöglichen diese Rückbindung. Außerdem verstärken sie nach meinem Dafürhalten den Realitäts- und Wirklichkeitseindruck und damit die Glaubwürdigkeit der dixschen Zeugenschaft, die für das zeitgenössische Publikum in der Weimarer Republik sicherlich von großer Bedeutung war.