Ave Maria - Andrea Tozzio - E-Book
SONDERANGEBOT

Ave Maria E-Book

Andrea Tozzio

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Maria Rossi aus dem verschlafenen toskanischen Nest Fiesole hat Angst: Ein Mörder treibt sein Unwesen in der Region. Bereits drei Frauen, alle im selben Alter wie sie, fanden durch seine Hand einen langsamen Tod. Und mehr noch: Sie alle heißen Maria. Commissario Vito Carlucci und Laura Gabbiano von der Kriminalpolizei übernehmen den kniffligen Fall, als die erste tote Maria in einem Mehlsilo gefunden wird. Doch sie stehen vor einem Rätsel: Was steckt hinter den Taten des grausamen Mörders und was hat das Pasta-Imperium Mamma Marelli mit der Sache zu tun?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DASBUCH

Maria Rossi aus dem verschlafenen toskanischen Nest Fiesole hat Angst: Ein Mörder treibt sein Unwesen in der Region. Bereits drei Frauen, alle im selben Alter wie sie, fanden durch seine Hand einen langsamen Tod. Und mehr noch: Sie alle hießen Maria. Commissario Vito Carlucci und Laura Gabbiano von der Kriminalpolizei übernehmen den kniffligen Fall, als die erste tote Maria in einem Mehlsilo gefunden wird. Doch sie stehen vor einem Rätsel: Was steckt hinter den Taten des grausamen Mörders und was hat das Pasta-Imperium Mamma Marelli mit der Sache zu tun?

DERAUTOR

Andrea Tozzio ist ein Pseudonym. Als großen Italienliebhaber und -kenner zieht es ihn regelmäßig in den Süden, um Land, Leute und kulinarische Köstlichkeiten zu genießen. Er schreibt erfolgreich Kriminalromane und Thriller und kennt sich dank seines beruflichen Hintergrunds bestens mit der Polizeiarbeit und kniffligen Fällen aus.

ANDREA TOZZIO

AVE MARIA

EIN TOSKANA-KRIMI MIT GABBIANO UND CARLUCCI

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 03/2024

Copyright © 2024 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde entwickelt in der lit.factory, Germany.

Redaktion: Dr. Loel Zwecker

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere unter Verwendung von Stocksy.com (Studio Marmellata)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-31512-2V001

www.heyne.de

PROLOG

Sie stolperte vorwärts und spürte, wie eine breite Laufmasche an ihrem Oberschenkel nach oben kroch. Ihr Knie blutete, aber es war der wandernde Riss in dem dünnen Stoff, der sich ihr einprägte. Die schmerzenden Abschürfungen an ihrem Bein und den Innenseiten ihrer Hände erreichten kaum ihr Bewusstsein. Adrenalin pumpte durch ihren Körper. Sie keuchte leise und spürte das Brennen in ihrer Lunge, als sie weiterhastete.

Wäre sie doch nur im Büro geblieben und hätte auf Alonzo gewartet. Aber nein, sie hatte die Firma verlassen, um den Bus zu nehmen. Jetzt rannte sie, hörte hinter sich die schnellen Schritte ihres Verfolgers, sein Atmen und wie er sich ihr näherte, Schritt um Schritt. Sie hatte dem dunkel gekleideten Mann ausweichen wollen und war Richtung Fluss gerannt, weg von der Via dell’Argingrosso, wo ihre Bushaltestelle lag. Weg von den Menschen, der Cantina und der Transportfirma.

Sie sah vor sich den Arno. Wenn sie die Ponte all’Indiano erreichte, wäre sie in Sicherheit. Es war spät, aber dort herrschte reger Verkehr, mehr als hier in dem heruntergekommenen Industriegebiet. Doch aus ihrem Plan, am Ende der Straße nach rechts abzubiegen, wurde nichts. Ihr Verfolger tauchte direkt neben ihr auf, ein dunkler, bedrohlicher Schatten. Seine Finger streiften ihre Schulter, ein Paar Haare verfingen sich in ihnen, als sie nach links stürzte, um ihn abzuschütteln, und dann noch schneller lief. Sie konzentrierte sich auf ihre Schritte und rannte um ihr Leben. Ihr Atem ging stoßweise, ein Stechen in ihrer Brust kam zusätzlich zum brennenden Schmerz in ihren Beinen, die immer schwerer wurden. Die hinderlichen Pumps hatte sie schon im Rennen von sich geschleudert.

Ob sie sie später wiederfinden würde?

Der Gedanke, absurd und abwegig, blitzte kurz auf. Die letzten langen Schatten der Dämmerung verschwanden, die Sonne hatte schon vor ein paar Augenblicken den Himmel verlassen, und die Strahlen verblassten über den hohen Baumkronen, die den Arno säumten. Das Wasser hörte sich friedlich an, der Fluss floss ruhig dahin.

Ihre Schritte wurden gedämpft, als sie den Teer der Straße verließ und auf die Uferböschung zulief. Die Kühle des Grases fühlte sich tröstlich an. Sie wünschte sich, sie wäre zu Hause, könnte ihre Tür schließen, und ihre Katze Matteo würde ihr um die Beine streichen, wie immer, wenn sie nach einem langen Tag endlich Feierabend hatte.

Sie hörte den Verfolger nicht mehr. Ihr eigener keuchender Atem und das Pochen ihres Blutes dröhnten laut in ihren Ohren.

War der Mann noch da? Hatte sie ihn abgehängt?

Sie wusste es nicht, doch sie würde weiterlaufen. Er konnte direkt hinter ihr sein. Umzudrehen traute sie sich nicht.

Sie war jetzt direkt am Fluss, das dunkle, nahezu schwarze Wasser des Arno zog träge den berühmten Brücken und Sehenswürdigkeiten von Florenz entgegen.

Ein Geräusch hinter ihr, ein knackender Ast, kleine Steine, die die Böschung hinunterrollten. Das leise Platschen, als die Kiesel in den Fluss fielen.

Der Schreck über die Geräusche, viel zu nah, wie ein Schuss, der ihren Körper traf und einen klaren Befehl in jede Zelle sandte: keine Verschnaufpause, kein Zögern.

Sie rannte, rannte weiter, während sie versuchte, sich allein auf die eigenen Schritte zu konzentrieren und ihr Tempo beizubehalten. Ihr Fuß trat in etwas Spitzes, Scharfes. Ihr Schrei wurde gedämpft, als sie in das hohe Gras fiel. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Sie zitterte unkontrolliert, als sie versuchte, sich hochzustemmen. Schweiß stand auf ihrer Haut, ihr Fußballen pochte, und Blut rann aus der klaffenden Schnittwunde.

War er noch da? Hatte sie sich die Geräusche vielleicht doch nur eingebildet?

Sie lauschte in die Dunkelheit, versuchte, etwas zu erkennen, Töne wahrzunehmen, die nicht dem Arno und der nächtlichen Umgebung geschuldet waren. Voller Furcht fokussierte sie sich auf die Schwärze um sich und das, was darin lauern mochte …

KAPITEL 1

Das Café 12oz an der Piazza della Stazione lag gegenüber dem Park Giardino del Valfonda und ganz in der Nähe der Questura. Es war kein schönes Café, hatte nur wenige Sitzplätze mit abgewetzten roten Kunstlederbezügen und war in erster Linie auf Kunden ausgerichtet, die vom Bahnhof kamen und einen Coffee-to-Go oder einen Snack im Vorübergehen wollten. Dennoch brühten sie den besten Doppio, den man hier im Westen der Altstadt bekommen konnte. Dazu reichten sie hervorragendes Gebäck, Biscotti oder Cantuccini, und auch die obligatorischen Panini mit fruchtigen Tomaten und herzhaftem Mozzarella di Bufala Campana.

Vito hatte beschlossen, es nach seinem Urlaub erst einmal ruhig angehen zu lassen und Laura, die bereits vor einer Woche den Dienst wiederaufgenommen hatte, an seinem ersten Arbeitstag zu einem Frühstück im Freien einzuladen. Die muffige Questura konnte warten. Es blieb noch genug Zeit, den heißen Julitag im stickigen Büro mit Schreibtischarbeit zu verbringen.

Laura verspätete sich, und Vito bestellte bereits seinen zweiten Doppio, als sich seine junge Kollegin, zwei Taschen in der Hand, durch den Strom der Menschen kämpfte, die gerade mit dem Zug angekommen waren und vom Bahnhof aus zu ihren Arbeitsplätzen in der Stadt strebten.

Sie trug eine blaue Leinenhose, Riemensandalen, eine weiße Bluse, dazu einen weiß-blau geblümten Sommerschal. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt. Sie sah atemberaubend aus. Vito hatte sie seit drei Wochen nicht mehr gesehen. Zielstrebig kam sie auf ihn zu, an diesem Montagmorgen war er der bislang einzige Gast im Café.

»Du bist spät dran«, sagte er und erhob sich. Er rückte ihr einen Stuhl zurecht und wartete, bis sie mit einem lauten Seufzer Platz genommen hatte.

»Der Verkehr ist heute wieder unmöglich«, erklärte sie etwas außer Atem. »An der Ponte Giovanni da Verrazzano gab es einen Unfall, und ich musste über eine halbe Stunde warten.«

Vito lächelte. »Ich sagte dir schon einmal, fahr über die Via Aretina, da kommst du schneller durch die Stadt.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wenn die Gemüsehändler nicht wieder in zweiter Reihe parken. Außerdem hat es ewig gedauert, einen Parkplatz zu finden.«

Vito wies auf die beiden Taschen, die Laura neben sich abgestellt hatte. »Hast du Arbeit mit nach Hause genommen?«

Laura schüttelte den Kopf und fasste an die schwarze Ledertasche zu ihrer Linken. »Das ist unser neuer Laptop. Ich wollte ihn nicht im Auto lassen. Jede Abteilung hat einen bekommen. Er ist mit einem Modem ausgestattet, damit kannst du draußen auf der Straße arbeiten, aber auch jederzeit im Homeoffice, falls du dir mal den Weg in die Questura sparen willst.«

Vito winkte dem Kellner. »So weit kommt es noch, dass ich die Arbeit mit nach Hause nehme.«

Die Bedienung eilte herbei. Laura bestellte einen Caffè Latte und dazu zwei Cornetti al Cioccolato.

Sie hob die Tasche hoch, platzierte sie auf dem Tisch und öffnete sie. »Schau, der gehört uns. Modernste Technik, hat Conte gesagt. Und das Beste daran ist, dass du damit auch von außerhalb Zugriff auf all unsere Systeme hast. Ich helfe dir später beim Einrichten. Du musst einen eigenen Account eröffnen, damit du Zugriff hast.«

Vito winkte ab. »Das hat Zeit, ich brauche das nicht.«

»Na ja, wir werden sehen«, entgegnete sie, schloss die Tasche und stellte sie wieder neben ihrem Stuhl auf den Boden.

»Was hast du in der anderen Tasche?«

»Abendgarderobe«, entgegnete Laura. »Ein Kleid, das ich von der Reinigung abgeholt habe. Ich habe später noch eine Verabredung.«

Vito wiegte den Kopf hin und her. »So? Wohin soll’s denn gehen?«

»Ich will heute Abend noch zu einer Ausstellung in den Palazzo Strozzi, Gemälde von Francesco Madena und Susanna Borg.«

Vito zuckte mit den Schultern. »Klingt interessant.«

Der Kellner erschien und servierte die Hörnchen und den Caffè Latte.

Vito fragte sich insgeheim, mit wem sie wohl zur Ausstellung ging, doch als der Kellner verschwand, wechselte sie auch schon das Thema.

»Jetzt sag, wie war dein Urlaub?«

Vito griff nach seinem Doppio. »Marina Grande war toll, da solltest du auch mal hin. Sonnenschein den ganzen Tag, und eine frische Brise weht vom Meer über den Strand. Das Wasser ist kristallklar und hat beinahe an die dreißig Grad.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht jeder hat das Glück, einen Onkel zu haben, dem eine Villa mit Meerblick auf Capri gehört.«

»Wenn ich ein gutes Wort für dich einlege, dann überlässt er sie sicherlich auch dir für ein paar Wochen. Und wie war dein Urlaub?«

»Ich habe mit meinem Bruder Antonio in den Weinbergen meiner Eltern geschuftet und bin jeden Abend todmüde ins Bett gefallen«, entgegnete sie. »Ich wusste gar nicht mehr, wie viel Arbeit so ein Weinberg machen kann. Auch mein Bruder war platt und meinte, dass er lieber tausend Knochen schient, als sich den Weinbau anzutun. Als wir Kinder waren, hat es uns überhaupt nichts ausgemacht, wenn wir den ganzen lieben langen Tag auf dem Weinberg verbracht und Blätter gezupft oder Reben zurückgeschnitten haben.«

»Dann musst du dich im Dienst erholen«, scherzte Vito. »War denn was los, als ich weg war?«

»Fraccinelli hat seinen ersten Totschlag selbst bearbeitet und abgeschlossen«, erklärte Laura. »Eine Kneipenschlägerei unter betrunkenen Kumpels in Rifredi ist aus dem Ruder gelaufen. Einer zog sein Messer, und plötzlich lag der andere in seinem Blut auf den Dielen. Ihm war nicht mehr zu helfen. Fünf Zeugen, Täter und Tatwaffe vor Ort, ich dachte, das ist ein guter Einstieg für Fraccinelli. Ich musste ihm nur sehr wenig helfen.«

Vito hob den ausgestreckten Zeigefinger in die Höhe. »Mach ihn nur nicht zu schnell zum Ispettore, sonst müssen wir uns bald einen neuen Primo Assistente suchen, und die sind rar, wie du weißt.«

»Was war in Rom, hat mein Tipp dich weitergebracht?«

Vito seufzte. »Es war genau so, wie du es mir erzählt hast. Eine üble Spelunke an der Ponte Flaminio und Pico mittendrin. Ich habe ihn sofort erkannt, er mich aber wohl auch und ist durch die Hintertür verschwunden. Die riechen einen Polizisten schon einen halben Kilometer gegen den Wind.«

»Sagte ich dir doch.«

»Ja, und genau deshalb habe ich mir zuvor den Hintereingang genau angeschaut. Er also durch die Hintertür, ich vorne raus und durch den kleinen Schlupf runter zum Tiber. Und genau da habe ich ihn in der dunklen Gasse abgepasst …«

Gianna Nannini meldete sich auf Vitos Handy lautstark zu Wort. Auch Lauras Telefon klingelte, und zusätzlich gab die schwarze Tasche, die neben ihr am Boden stand, einen hellen Dreiklang von sich.

»Was ist denn jetzt los?«, fragte Vito überrascht und griff zum Telefon. Laura warf lediglich einen Blick auf ihr Display und wartete, bis Vito das Gespräch angenommen hatte. Maria, die Sekretärin des Morddezernats, war am Apparat.

»Hallo, Vito«, sagte sie. »Conte braucht euch. Dein erster Arbeitstag beginnt schon mit einer Leiche. Ihr müsst sofort kommen. Ich versuche noch, Laura zu erreichen.«

»Alles klar«, entgegnete Vito. »Laura ist bei mir und hört mit. Wo geht es denn hin?«

»Nach Camaioni in die dortige Nudelfabrik.«

»Mamma Marelli?«

»Richtig, zu Mamma Marelli«, bestätigte Maria.

*

Ihr Weg führte sie mit dem Dienstwagen am Arno entlang über die Staatsstraße in die westlichen Außenbezirke der Stadt. Camaioni lag knapp fünfzehn Kilometer von der Questura entfernt direkt an einer sanften Schleife des Arno.

Die Pastificio Mamma Marelli war über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt und exportierte Nudelspezialitäten in viele europäische Nachbarländer. Eine besondere Spezialität der Nudelmanufaktur waren Raviolacci aus Kastanienmehl mit einer feinen Füllung aus polpa di granchio, erlesene Nudeln mit einer delikaten Krebsfüllung, die in einigen ausgewählten Restaurants der Stadt und der Region auf der Speisekarte standen. Knapp achtzig Mitarbeiter beschäftigte der Betrieb, der sich noch immer im Familienbesitz befand. Maria hatte in der Kürze der Zeit das Internet bemüht, um möglichst viel über die Firma herauszufinden, in der es den mysteriösen Todesfall gegeben hatte. Sie hatte Vito kurz eingewiesen, während sie in der Questura den Dienstwagen geholt hatten.

»Was ist so sonderbar an dieser Leiche?«, fragte Laura, als sie sich in den Wagen setzten und losfuhren.

»Conte erwartet uns in der Firma«, entgegnete Vito. »Ich weiß nur, dass es wohl wie ein Unfall aussehen sollte, aber vor Ort werden wir mehr erfahren.«

Eine halbe Stunde später bog der rote Alfa auf das Gelände der Nudelfabrik ab. Nachdem Vito dem Beamten an der Zufahrt seinen Dienstausweis gezeigt hatte, tastete er sich an einem quer stehenden Streifenwagen der Carabinieri vorbei.

Noch während der Alfa hinter Contes weißem Bus langsam ausrollte, kam der Spurensicherungsexperte der Florentiner Polizei auf die beiden Kommissare zu. Sie waren kaum ausgestiegen, da winkte er sie schon zu sich. »Kommt mal mit!«

Sie überquerten den Parkplatz, auf dem sich mittlerweile die Mitarbeiter der Firma hinter einer mit blau-weißem Flatterband notdürftig eingerichteten Absperrung versammelt hatten. Ihr Weg führte sie in den hinteren Teil der Fabrik, wo ein mächtiger Silozug mit der Aufschrift Farina del Mulino Porponi parkte. Ein Rettungswagen mit blinkenden Blaulichtern stand direkt neben dem großen Lastwagen.

»Die Tote lag dort hinten in einem der Silos«, erklärte Conte. »Sie ist erstickt. Kohlenmonoxydvergiftung, meint der Gerichtsarzt. Der Fahrer der Mühle hat sie entdeckt, als er das Silo befüllen wollte. Den hat es glatt umgehauen. Zum Glück hat er zuvor noch mal einen Blick ins Silo geworfen, sonst hätte man sie erst entdeckt, wenn das Mehl schlecht geworden wäre.«

»Die Tote«, wiederholte Laura. »Eine Frau?«

Conte nickte, während er mit eiligen Schritten voranging.

»Wie kommt die in das Silo?«, fragte Vito.

»Sie arbeitete hier bei der Qualitätskontrolle«, fuhr Conte mit seinem Vortrag fort. »Fraccinelli ist im Personalbüro und erhebt die Daten der toten Frau. Offenbar hat das Opfer gestern Abend noch einmal das Silo überprüft. Dann wurde sie dort eingeschlossen.«

»Eingeschlossen, wie meinst du das?«

Sie umrundeten den hinteren Bereich der Fabrik und blieben vor dem ersten der drei Silotürme stehen. Die Tür des Silos stand offen.

Der beleibte Spurensicherer blieb vollkommen außer Atem vor einem Klapptisch stehen, der zur Ausrüstung seines Teams gehörte, und deutete auf das ausgebaute Schloss der Silotür.

»Es war reiner Zufall«, erklärte Conte. »Wenn der Fahrer nicht noch einmal die Tür geöffnet hätte, dann …«

»Ich weiß schon«, fiel ihm Vito ins Wort. »Dann hätte man sie nicht so schnell entdeckt, aber jetzt mal der Reihe nach. Weshalb war die Frau im Silo? Es weiß doch jeder, dass dort Erstickungsgefahr droht.« Vito zeigte zur Bekräftigung seiner Aussage zu den roten Warnschildern neben der Tür des Silos und blickte sich suchend um.

»Falls du eine Kamera suchst, die haben wir auch noch nicht entdeckt.«

»Gibt es hier überhaupt welche?«

Conte zuckte mit den Schultern, während Vito seinen Block aus der Jackentasche zog und etwas notierte.

»Also«, sagte Conte und räusperte sich. »Der Betriebsleiter, Signore Emoli, meinte, dass sie am gestrigen Abend wohl noch einmal das Silo überprüfte, weil für den heutigen Tag neues Mehl bestellt war. Dabei wurde sie eingeschlossen.«

»Eingeschlossen, mit einem Schlüssel, meinst du?«

Conte schüttelte den Kopf. »Nicht mit einem Schlüssel, da reicht ein einfacher Vierkant. Den hat auch der Fahrer. Nein, die Tür ist so konstruiert, dass man sie auch von innen öffnen kann, sollte sie einmal versehentlich zufallen. Was eigentlich kaum passieren kann, da sie in einem bestimmten Winkel angebracht ist, bei dem man regelrecht mit Kraft dagegendrücken muss. Und wie gesagt, sollte sie dennoch einmal geschlossen werden, dann kann man sie jedenfalls von innen wieder öffnen.«

»Ohne Schlüssel?«

»Ja, ohne Schlüssel, nur über eine einfache Türklinke. Das Mehl wird über die Leitung von oben hineingepumpt. Davor sollte man nur überprüfen, ob die Tür auch wirklich zu ist.«

»Verstehe«, sagte Vito, der Contes Handbewegungen bei der Erklärung der Befüllung des Silos mit seinem Blick gefolgt war. »Aber in diesem Fall ließ sie sich nicht von innen öffnen.«

Conte schnippte mit seinem Finger. »Genau, darauf wollte ich hinaus. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Zuerst dachte ich an einen Unfall. Es kann ja immer mal vorkommen, dass etwas an einem Schloss kaputtgeht. Aber diese Silos sind ja relativ neu. Deshalb habe ich das Schloss auch sofort ausgebaut.«

Conte umrundete den Tisch und ging zu einem aufgeklappten Werkzeugkoffer. Dort zog er ein kleines Plastiktütchen hervor und hielt es mit stolzgeschwellter Brust in die Höhe. »Da habe ich dann das entdeckt.«

Vito griff nach dem Tütchen und warf einen nachdenklichen Blick darauf. Laura trat an Vitos Seite.

»Das ist Staub oder so was Ähnliches«, sagte sie.

»Genau«, bestätigte Conte und nahm das Tütchen wieder an sich. »Feiner Metallstaub, und ich kann euch auch genau sagen, woher er stammt.«

Er legte das Tütchen zurück in den Werkzeugkoffer, lief erneut um den Tisch herum und blieb vor einem daraufliegenden zylindrischen Gegenstand stehen.

»Das ist der Schließzylinder«, erklärte er und zeigte mit dem Kugelschreiber in die Mitte der silbern glänzenden Röhre. »Und hier, wo ihr die aufgeraute Stelle seht, da sollte sich eigentlich eine kleine Zunge befinden, doch die fehlt. Und das noch gar nicht so lange.«

»Abgebrochen?«, fragte Vito.

Conte schüttelte vehement den Kopf. »Die Zunge wurde sauber herausgefeilt. Das war ein Profi.«, sagte er. »Damit ließ sich der Zylinder von innen nicht mehr öffnen, und die Klinke ging ins Leere, versteht ihr?«

Laura nickte. »Das heißt, da wollte jemand, dass man die Tür nicht mehr öffnen kann.«

»Ganz genau!«, bestätigte Conte.

»Das heißt, wir reden hier von Mord«, fügte Vito hinzu und wandte sich zum Silo.

»Wollt ihr meine Theorie hören?«, fragte Conte.

»Ich bin gespannt«, erwiderte Laura.

»Die Frau kontrolliert kurz vor Feierabend das Silo. Ihr Mörder hat sich hier irgendwo versteckt, wartet, bis sie drinnen ist, und dann schlägt er die Tür zu. Da es kurz vor Feierabend ist und die meisten der Belegschaft schon den Heimweg im Sinn haben, fällt ihr Fehlen nicht weiter auf, und sie erstickt langsam und qualvoll.«

Vito klopfte Conte anerkennend auf die Schulter. »Ich sehe es genauso wie du, eine Nacht im Kohlenmonoxyd reicht für einen Mord vollkommen aus.«

»Der Rechtsmediziner meint, dass der Tod noch vor Mitternacht eintrat. Ihre Finger waren aufgeschürft und die Nägel abgebrochen. Sie muss noch versucht haben, irgendwie herauszukommen, doch das hat sie nicht geschafft, die Tür ist massiv, schließlich muss sie ja Tonnen von Mehl im Silo halten.«

»Wer weiß am besten über die Abläufe hier Bescheid?«, fragte Vito.

»Der Betriebsleiter, Signore Emoli, würde ich sagen.«

»Wo finde ich ihn?«

Conte zeigte zum Fabrikgebäude. »Irgendwo dort drinnen am Cutter, hat er gesagt. Eine Firma zur Reparatur ist hier, und er will dabeibleiben, um das Ganze zu überwachen.«

»Okay«, sagte Vito und wandte sich Laura zu. »Dann spreche ich mit Signore Emoli, und du nimmst dir mit Fraccinelli bitte die Belegschaft und den Lkw-Fahrer vor.«

KAPITEL 2

Laura ging zur Absperrung hinüber. Die Angestellten dahinter standen in kleinen Gruppen zusammen, sahen verstohlen zu ihr hinüber und tuschelten miteinander. Fraccinelli, der kurz zuvor aus einem der Gebäude getreten war, unterhielt sich mit zwei der Carabinieri, die den Tatort sicherten.

Er sah wie immer ein wenig fehl am Platz aus in seinem einmal mehr missglückten Versuch, sich modisch zu kleiden. Das grell karierte Hemd betonte seine sehr lange, schlanke Gestalt, und dessen Farbe biss sich mit dem Ton der Leinenhose.

Sein Grinsen wurde breiter, während er mit den beiden jungen Kollegen sprach. »Und dann habe ich dem Täter im Verhör ganz deutlich auf den Kopf zugesagt, dass er es war, der das Opfer abgestochen hatte. Dass die Beweise unzweifelhaft auf ihn hindeuten. Das Geständnis aufzunehmen, war quasi Formsache.«

Laura wartete kurz, um Fraccinellis Erzählung nicht zu unterbrechen. Er war stolz auf seinen ersten Fall, und sie gönnte es ihm von Herzen, auch wenn er ein klein wenig übertrieb. Ihr Kennenlernen war etwas holprig gewesen, aber mittlerweile mochte sie den Assistente.

»Das war auch gute Arbeit, Fraccinelli. Kommen Sie, wir befragen den Fahrer des Lkw, Vito nimmt sich den Betriebsleiter vor. Sie können mir helfen.«

Fraccinelli nickte und war sichtlich erfreut. Laura schätzte seine Arbeit, auch wenn er verbal oft wie ein Elefant im Porzellanladen agierte. Er hatte noch viel zu lernen.

»Haben Sie die Personalien der Toten bekommen?«

Der Assistente nickte. »Eine Signora Maria Rossi. Ich habe in der Questura angerufen, Maria wird die Verwandtschaft ihrer Namenskollegin ausfindig machen.«

Laura nickte – auf sie oder Vito würde heute noch eine nicht so angenehme Aufgabe zukommen: der Familie die Nachricht vom Tod der Frau zu überbringen. Sie seufzte leise und fröstelte bei dem Gedanken. Dann zwang sie sich ein freundliches Lächeln für ihren Kollegen auf die Lippen.

»Kommen Sie, Fraccinelli, wir sehen nach dem Fahrer. Wo ist er?«

Er deutete zum Krankenwagen, dessen Blaulicht noch immer Lichtreflexe auf die Silos und Gebäude um sie herum warf. Die Fabrik und ihre Gebäude waren modern, alles sah recht neu aus und machte einen sehr guten Eindruck auf sie. Wäre da nicht die Tote aus dem Mehlsilo gewesen.

»Die Sanitäter versorgen den Fahrer gerade. Der arme Kerl war komplett geschockt. Er hat die Frau mit einem Angestellten der Firma aus dem Silo gezogen. Sie dachten, sie wäre noch am Leben, und als sie mit der Reanimation anfangen wollten, merkten sie, dass die Leiche schon steif war.«

Laura schauderte. Der Leichenwagen fuhr gerade vor, und sie sah neben dem Krankenwagen eine abgedeckte Trage stehen. Als sie an der hinteren Tür ankamen, konnte sie den Lkw-Fahrer beim Einstieg sitzen sehen, der in den Innenraum führte. Ein Sanitäter zog gerade eine Spritze auf und injizierte dem Mann dann etwas.

»Kann ich mit ihm sprechen?« Laura zeigte ihre Dienstmarke, als sie sich an den Sanitäter wandte, der kurz nickte. »Und stellen Sie das Blaulicht aus, bitte. Wir sind hier nicht in der Disco.« Sie sah, wie Fraccinelli schmunzelte und der Sanitäter zur Fahrertür des Wagens eilte. Laura wandte sich an den Lkw-Fahrer, einen kleinen, rundlichen Mann, der so glatt rasiert war, dass sein Gesicht wie der Vollmond wirkte, blass und kreisrund. Um die Schultern hatte er eine graue Decke geschlungen. Seine blaue Latzhose war voller Mehlstaub.

»Buongiorno, Signor …?« Laura sah den zitternden Mann an, der tief ein- und ausatmete.

»Barollo, Stephano Barollo.« Er konnte das Zittern nicht aus seiner Stimme halten.

»Es tut mir sehr leid, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.« Laura beobachtete den Mann, der nervös seine Finger ineinander verschränkte. »Meinen Sie, das wäre möglich?«

Er nickte, sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, während er sie mit weit aufgerissenen Augen ansah. Ihr Anblick schien ihm zu helfen, er wurde ein wenig ruhiger.

»Die arme Frau.« Die Worte purzelten aus dem Mann heraus, es schien ihm ein Anliegen, sein Erlebnis zu schildern. »Ich konnte sie mit dem Mitarbeiter, der mir beim Umfüllen des Mehls helfen sollte, rausholen. Ich dachte, sie lebt noch.« Er schauderte und blinzelte hektisch.

»Lassen Sie sich Zeit.« Laura setzte sich neben ihn auf die Ladekante des Krankenwagens und folgte seinem Blick zum Silo, wo noch immer Contes Mitarbeiter Spuren sicherten, Bilder schossen und herumliefen wie geschäftige Ameisen.

»Sie haben getan, was Sie konnten«, sagte Laura mit ruhiger Stimme. »Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen, bevor Sie ins Silo gesehen haben? Etwas Ungewöhnliches?«

Signore Barollo schüttelte den Kopf. »Nein, Commissaria, es war alles wie sonst.« Der Blick des noch immer blassen Mannes glitt zu dem Lkw mit dem glänzenden Siloauflieger, der neben den Mehltürmen stand. »Ich müsste schon längst wieder in der Mühle sein und neu laden.«

Laura erhob sich. »Fraccinelli, nehmen Sie bitte die Personalien des Fahrers auf und rufen Sie seine Firma an, damit er keinen Ärger bekommt. Ich werde kurz mit Vito sprechen.«

Laura bedankte sich bei dem Fahrer und ging zu dem Gebäude, in dem Vito verschwunden war. Er sprach gerade mit einem Mann mit grauen struppigen Haaren und einem zerknautschten Gesicht, der weiße Hygienekleidung trug und sie böse ansah, als sie eintrat. Ihr Blick fiel auf Vitos Schuhe, die in blauen Überziehern steckten. Sie musste sich ein Lächeln verkneifen, was ihr nur mit Mühe gelang.

»Das ist kein Eingang, Signora! Wir sind ein Hygienebetrieb! Maledetto inferno!« Nachdem er seinem Unmut Luft gemacht hatte, schimpfte der Mann in der weißen Kleidung noch leise etwas weiter vor sich hin.

Vito sah zu ihr herüber und rollte mit den Augen. In der Halle stand eine riesige Maschine, und der Seiteneingang, durch den sie gekommen war, offenbarte sich als Notausgang. Laura wollte sich schon zurückziehen, als ihr Kollege auf sie zukam und den schimpfenden Mitarbeiter hinter sich stehen ließ.

»Das ist der Betriebsleiter, Signore Emoli. Ich habe gerade versucht, eine Schilderung von ihm zu bekommen, wie der gestrige Abend des Mordopfers abgelaufen sein könnte, was es da im Betrieb noch gemacht hat. Aber er will erst die Reparatur des Cutters beaufsichtigen und sich dann Zeit für mich nehmen.« Vitos Tonfall verriet Laura, dass er mit seiner Geduld schon ziemlich am Ende war. Bei einer Ermittlung konnten die Kommissare oft keine besondere Rücksicht auf normale Abläufe nehmen, und es gab immer Leute, die das wiederum nicht einsehen wollten oder denen nicht viel an der Aufklärung von Morden zu liegen schien.

»Ich werde den Kerl gleich befragen, ob er will oder nicht. Bist du mit dem Fahrer fertig?«

»Ja. Der Mann steht noch unter Schock. Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich jetzt mit Fraccinelli die Angestellten und Kollegen der Toten befrage. Hören wir mal, was sie zu berichten haben.«

Vito nickte, und Laura verließ rasch die Halle, als sich der Betriebsleiter mit einem grimmigen Blick näherte.

Die Schatten waren kürzer geworden, die Sonne stand schon relativ hoch, und die Luft begann in der Hitze des späten Vormittages zu flirren. Laura stopfte ihren dünnen Schal in ihre Handtasche und war froh, die leichte Bluse gewählt zu haben. Der Juli hatte sich bisher von seiner besten Seite gezeigt und schien noch weiter an Fahrt aufzunehmen. Fraccinelli war noch am Telefonieren, weshalb sie zu den Kollegen hinüberging, die zusammen mit der Belegschaft vor dem Haupteingang der Firma herumstanden.

»Warum sind alle hier draußen?« Lauras Frage war an einen der Carabinieri gerichtet, aber eine junge Frau mit dunklen, schulterlangen Haaren antwortete.

»Die Idioten, die die Leiche gefunden haben, haben den Feueralarm betätigt. Deshalb wurde das Gebäude evakuiert. Als wir festgestellt haben, dass es nicht brennt, war die Polizei schon da, und keiner hat uns bisher erlaubt, wieder die Arbeit aufzunehmen.« Sie sagte es freundlich, ohne gereizten Tonfall oder eine Anklage in der Stimme.

Laura wandte sich der Frau zu. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«

»Ornella Abate, ich bin stellvertretende Qualitätsbeauftragte.«

»Interessant. Dann waren Sie eine direkte Kollegin der Toten?« Ihre Frage wurde mit einem Nicken beantwortet. Signora Abate schien nicht sehr betroffen über den Verlust ihrer Vorgesetzten zu sein, zumindest wirkte sie nicht traurig oder bestürzt.

Fraccinelli näherte sich.

»Können wir die Mitarbeiter irgendwo drinnen versammeln?«, fragte Laura ihn. Er zuckte mit den Schultern.

Erneut schaltete sich die junge Frau ein. »Wir haben einen Aufenthaltsraum, da könnten die Mitarbeiter warten.«

Laura nickte und wies die Carabinieri an, Fraccinelli dabei zu helfen, die Angestellten dorthin zu begleiten, alle Personalien aufzunehmen und jeden Einzelnen zu befragen, bevor die Leute entlassen werden konnten.

»Dürfen wir denn die Produktion wieder aufnehmen?« Signora Abate sah Laura neugierig an.

»Heute würde ich damit nicht rechnen. Sie wirken nicht besonders betroffen, dass Signora Rossi tot ist.«

Ein Schulterzucken war die Antwort. »Wir waren keine Freundinnen. Wir haben erst seit kurzer Zeit zusammengearbeitet, ich bin gerade erst mit der Ausbildung fertig. Sie war nett, aber auch sehr von sich eingenommen und neuen Ideen gegenüber nicht aufgeschlossen.«

»Wenn Sie erst seit Kurzem hier arbeiten, war sie sicher nicht begeistert, dass Sie schon versucht haben, ihr in die Arbeit hineinzureden.«

Signora Abate zog eine Augenbraue hoch und sah Laura hochnäsig an. »Ich bin mit dieser Firma groß geworden. Mein Onkel leitete sie jahrelang, und ich habe hier schon gearbeitet, als ich ein Teenager war. Ich habe jedes Recht, Vorschläge zu machen. Signora Rossi war eine Angestellte, die manchmal vergaß, wo ihr Platz war.«

»Also ist das hier ein Familienbetrieb?«

Die junge Frau schnaubte laut. »Sie sind wohl nicht aus Florenz, Signora. Wir sind eine hoch angesehene und traditionelle Pastificio und natürlich ein Familienbetrieb. Seit einigen Jahren exportieren wir in die gesamte EU und sind die Adresse, wenn es um Pasta-Spezialitäten geht. Meine Familie hat schon zu Zeiten der Medici Pasta hergestellt und die Fürstenfamilien damit beliefert! Wir produzieren noch nach alten, florentinischen Originalrezepten.« Der Stolz in den Worten der jungen Frau war unüberhörbar.

»Bei so viel historischem Überblick sind Sie sicher auch in der Lage, mir zu sagen, wo Sie gestern Abend waren?« Laura betrachtete die Gesichtszüge der Frau, die jetzt genervt mit den Augen rollte.

»Sie glauben doch nicht etwa, ich habe die arme Maria auf dem Gewissen! Zu Ihrer Information: Ich war gestern essen, Signora. Wir haben den Geburtstag meines Bruders Ignazio im Nuovo Bianco gefeiert. Mein Bruder Roberto und seine Freundin waren ebenfalls dort sowie noch ein paar Freunde von Ignazio und meine Mutter.«

Das klang nach einem hieb- und stichfesten Alibi, aber Laura würde dem Restaurant trotzdem einen Besuch abstatten, um die Aussage zu überprüfen. Sie hatten beim letzten Fall den Besitzer kennengelernt, und seine Kochkünste waren wirklich fantastisch.

»Danke, Signora Abate. Wer hat noch mit der Toten eng zusammengearbeitet und könnte etwas über ihr Privatleben wissen?«

Signora Abate deutete auf eine Frau, die sich gerade dem Strom der Mitarbeiter ins Hauptgebäude anschließen wollte. Sie hatte eine stachelige blonde Kurzhaarfrisur und war um die dreißig Jahre alt.

»Das ist Nina Corlione. Sie ist die Schreibkraft, die auch für unsere Abteilung arbeitet. Sie hat eng mit Signora Rossi zusammengearbeitet.«

»Danke. Ach ja, es kann sein, dass ich noch mal auf Sie zukommen werde«, verabschiedete sich Laura.

Fraccinelli und die Carabinieri waren wie die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter schon im Gebäude verschwunden, aber die Schreibkraft zog noch einmal an einer E-Zigarette. Ein süßlicher Geruch nach Melone kam Laura entgegen, und sie versuchte, nichts von dem chemisch angehauchten Aroma einzuatmen.

»Signora Corlione? Könnte ich Sie kurz sprechen?« Die Frau nickte und inhalierte erneut tief, bevor ihr Gesicht in einer Wolke des weißen Dunstes verschwand.

»Dürfte ich Sie bitten, kurz das Rauchen einzustellen?«

Nina Corlione nickte hektisch, und Tränen sammelten sich in ihren Augen. »Tut mir leid, mir geht das sehr nahe. Wir haben jetzt über sechs Jahre zusammengearbeitet. Wie konnte das nur passieren? Maria wollte gestern nur noch ein paar Abklatschproben nehmen, bevor heute die neuen Lieferungen kommen.«

Laura nickte mitfühlend, während Nina Corlione dem Weinen nahe schien. »War irgendetwas ungewöhnlich? Hatte sie Feinde oder Neider?«

Die Frau starrte sie an, dann schluchzte sie auf. »Nein. Sie hat sich zwar vor einiger Zeit von ihrem Freund getrennt und sich eine neue Wohnung eingerichtet, aber in der letzten Zeit hatte sie sich wieder ein wenig gefangen. Sie war voller Tatendrang und hatte eine Verabredung mit einem Mann am kommenden Wochenende. Maria war sehr liebenswert. Wer würde einer so netten Person etwas so Grausames antun wollen? Sie war immer freundlich und hilfsbereit. Alle hier mochten Maria.«

Laura deutete zum Haupteingang, über dem in verschnörkelter roter Schrift Mamma Marelli Pasta prangte und in dem gerade die letzten Mitarbeiter verschwunden waren. »Lassen Sie uns doch drinnen weiterreden. Dort ist es bestimmt kühler, und ich denke, ein Glas Wasser würde Ihnen guttun.«

Die Signora nickte, und Laura ging mit ihr hinüber.

Maria Rossi klang nicht nach jemandem, der Feinde hatte. Eher wie eine nette Frau von nebenan, die jeder mochte. Wer also hatte sie in dem Silo einem so grausamen Tod überlassen?

KAPITEL 3

Nach dem kurzen Gespräch mit Laura erschien nun auch Conte in der Halle und teilte Vito mit, dass sie am Silo so weit fertig waren. Zwar hatte man genügend Spuren gefunden, doch da im Prinzip jeder das Silo betreten konnte, gab es dort jede Menge überlagerter, verwischter und auch überalterter Fingerabdrücke sowie eine Melange von DNA, deren Extrahierung sehr viel Zeit in Anspruch nehmen dürfte, falls sie sich überhaupt noch verwerten ließ.

Vito war wenig begeistert über Contes Neuigkeiten. Als er sich umwandte, war der Betriebsleiter verschwunden. Er blickte sich um, entdeckte aber lediglich einen jungen Mitarbeiter, der gerade Säcke mit Hartweizengrieß neben der großen Maschine auf eine Palette stapelte. Vito rief ihn zu sich und fragte nach Signore Emoli.

»Ich führe Sie zu ihm«, sagte der Mann.

Bevor Vito die nächste Fertigungshalle betreten durfte, musste er sich in einen engen weißen Arbeitsmantel zwängen, dazu bekam er Latexhandschuhe im selben Blau wie der Latexüberzug seiner Schuhe. Doch damit nicht genug, auch seine Haare verschwanden unter einer blauen Schutzhaube. Am Ende sah er aus wie einer von Contes Spurensicherungsbeamten.

»Tut mir leid, Commissario, das ist Vorschrift«, entschuldigte sich der junge Mitarbeiter, der sich als Florent Sacci vorstellte. »Ich führe Sie jetzt zu Signore Emoli, wir finden ihn in der Fleischerei.«

»Fleischerei?«, fragte Vito. »Ich dachte, hier wird Pasta produziert.«

»Das ist schon richtig, Commissario. Aber unsere Pasta, ob Ravioli oder Tortellini, enthalten nur selbst gefertigte Füllungen. Das ist Tradition bei Mamma Marelli.«

Auf dem Weg durch die Halle befragte Vito den jungen Angestellten, ob er die Tote gekannt hatte, doch der schüttelte nur den Kopf. »Gekannt ist zu viel gesagt, vom Sehen natürlich, aber Kontakt hatte ich nicht zu ihr. Ich arbeite in der Teigzubereitung, das ist eine andere Abteilung.«

Die Fleischerei befand sich am Ende der benachbarten Halle, die durch einen langen Flur zu erreichen war. Als sie die Fleischerei durch die Sicherheitstür betraten, stand der Betriebsleiter vor einem Monteur im blauen Arbeitsanzug und redete lautstark auf ihn ein.

»Wir sind da«, flüsterte Vitos Begleiter kleinlaut. »Sie brauchen mich dann wohl nicht mehr?« Noch bevor Vito antworten konnte, verschwand der junge Mann durch die Tür.

»… das ist unerhört, so etwas darf es nicht geben, wozu gibt es die Vorschriften, wenn sich niemand daran hält!«, schimpfte Emoli.

Der Monteur zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder zu der großen Maschine, zu der ein Förderband führte.

»Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass niemand etwas in seinen Taschen hat, wenn er hier am Cutter arbeitet«, fluchte Emoli. »Doch scheinbar scheint das keinen zu interessieren.«

Vito trat an ihn heran und sprach den wütenden Mann mit lauter Stimme an. »Signore Emoli.«

»Was ist jetzt, soll ich die Messer auswechseln?«, fragte der Monteur, der inzwischen auf die Maschine geklettert war.

»Tun Sie es, damit wir nicht noch mehr Zeit verlieren«, knurrte der Betriebsleiter.

»Signore Emoli«, versuchte Vito noch einmal sein Glück.

Emoli drehte sich zu ihm um. »Was wollen Sie denn noch hier, und wer hat Sie hier hereingelassen?«, schnauzte er ihn an. »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nicht weiß, wie das passiert ist. Allerdings, wenn sich die Mitarbeiter an die Vorschriften …«

»Hören Sie, Signore, ich entscheide, wann wir fertig sind«, fiel ihm Vito kühl ins Wort. »Und ich bin noch lange nicht fertig.«

»Nur weil sich wieder jemand nicht an die Vorschriften gehalten hat«, lamentierte Emoli weiter und wies auf ein rotes Schild, das an der Maschine klebte. »Dabei weiß jeder, dass man nicht allein in ein Silo geht. Wozu haben wir überall die Warnhinweise angebracht.«

»Signore Emoli, beruhigen Sie sich, oder sollen wir diese Unterhaltung in der Questura fortsetzen?«

Emoli atmete tief ein. »Wenn es nach mir gegangen wäre, dann würde sie längst nicht mehr hier arbeiten, aber leider war der Chef anderer Ansicht. Er meinte, sie hätte noch eine Chance verdient. Nun sehen wir ja, was wir davon haben.«

Vito runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit?«

»Was ich damit meine?«, wiederholte Emoli. »Maria war unzuverlässig, kam oft zu spät und hielt sich nicht an die Vorschriften. Und jetzt hat sie dieser Leichtsinn das Leben gekostet.«

»Sie meinen, sie war selbst schuld?«

Er zuckte mit den Schultern, bevor er sich wieder dem Monteur zuwandte.

»Wird das heute noch was!«, rief er dem Mann zu, der mit einem Schraubenzieher an der Maschine hantierte.

»Ich muss zuerst die Sicherungsstifte lösen«, entgegnete der Monteur.

Die Schleusentür wurde geöffnet, und ein weiterer Mitarbeiter trat ein. Er trug zwar einen Mantel, doch die Kopfbedeckung fehlte. Wie von der Tarantel gestochen, stürzte Emoli auf den Mann zu.

»Nur in vollständiger Kleidung!«, schnauzte er ihn an. »All’inferno, wo kommen wir hin, wenn sich niemand an die Kleiderordnung hält!«

Vito folgte ihm und hielt ihn an seinem Mantel fest. »Jetzt bleiben Sie endlich hier und reden mit mir«, sagte er mit lauter Stimme. »Das hier ist eine Mordermittlung und kein Schmierentheater!«

Emoli wirkte verunsichert, schließlich blieb er stehen.

»… eine Mordermittlung«, stammelte er unsicher. »Wie meinen Sie das?«

»Wo können wir uns ungestört unterhalten? Oder muss ich Sie tatsächlich mit zur Questura nehmen?«

Emoli wies auf eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite der Halle. Er ging voraus und führte Vito in ein kleines Büro. Dort bot ihm der Betriebsleiter einen Platz vor dem Schreibtisch an und nahm ihm gegenüber Platz.

»Darf ich jetzt erfahren, was hier los ist?«, fragte Emoli, diesmal eine ganze Spur leiser und mit einer hörbaren Unsicherheit in seiner Stimme.

»Signore Emoli, so, wie es aussieht, wurde das Schloss an der Silotür manipuliert, sodass sich die Verriegelung von innen nicht mehr öffnen ließ.«

Emoli wurde bleich. Er fuhr sich mit der flachen Hand, die in blauen Latexhandschuhen steckte, über das Gesicht. Seine Erschütterung war nicht zu übersehen und wirkte ehrlich.

»… und ich dachte … das ist unmöglich … wer sollte … das verstehe ich nicht.«

Vito wartete, bis sich der Betriebsleiter wieder einigermaßen beruhigt hatte.

»Wie lange arbeiten Sie schon hier in diesem Betrieb?«, fragte Vito, um die Situation etwas zu entspannen.

Emoli schüttelte den Kopf. »Das ist unfassbar, Commissario. Ich bin schon seit beinahe vierzig Jahren hier. Bereits unter dem Seniorchef, Gott hab ihn selig, leitete ich den Betrieb, aber Mord, das habe ich hier noch nicht erlebt. Ist das denn sicher?«

Vito sparte sich die Antwort und zückte seinen Notizblock. »Wie lange arbeitete Signora Rossi schon hier?«

Emoli legte den Kopf zurück und überlegte. »Sechs, sieben Jahre. Wenn Sie es genau wissen wollen, müsste ich in der Personalabteilung nachfragen.«

Vito winkte ab. »Das reicht mir. War sie schon immer im Qualitätsmanagement tätig?«