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Andrea Tozzio

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Beschreibung

Ein mysteriöser Mord in den malerischen toskanischen Hügeln von San Miniato: Stefano Simonetti, Chef des berühmten Michelin-Restaurants Tartufo wird in einem Waldstück kaltblütig umgebracht. Der einzige Zeuge: Sein Trüffelhund Gonzo, der Lagotto Romagnolo. Commissario Vito Carlucci und seine neue junge Kollegin Laura Gabbiano von der Kriminalpolizei Florenz übernehmen den Fall. Doch das Ganze ist verzwickt. Simonetti wurde mit seiner eigenen Vanghetta, einem Werkzeug für die Trüffelsuche, hingerichtet. Wer hat den berühmten Koch auf dem Gewissen? Sein größter Konkurrent, mit dem er sich einen erbitterten Streit um Michelin-Sterne lieferte? Seine Frau Isabella, erbost über seine desaströsen Affären und heimlichen Leidenschaften? Oder einer der Angestellten des bösartigen Spitzenkochs, der Hunde offenbar lieber mochte als Menschen?

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DASBUCH

Ein mysteriöser Mord in den malerischen toskanischen Hügeln von San Miniato: Stefano Simonetti, Chef des berühmten Michelin-Restaurants Tartufo wird in einem Waldstück kaltblütig umgebracht. Der einzige Zeuge: sein Trüffelhund Gonzo, der Lagotto Romagnolo. Commissario Vito Carlucci und seine neue junge Kollegin Laura Gabbiano von der Kriminalpolizei Florenz übernehmen den Fall. Doch das Ganze ist verzwickt. Simonetti wurde mit seiner eigenen vanghetta, einem Werkzeug für die Trüffelsuche, hingerichtet. Wer hat den berühmten Koch auf dem Gewissen? Sein größter Konkurrent, mit dem er sich einen erbitterten Streit um Michelin-Sterne lieferte? Seine Frau Isabella, erbost über seine desaströsen Affären und heimlichen Leidenschaften? Oder einer der Angestellten des bösartigen Spitzenkochs, der Hunde offenbar lieber mochte als Menschen?

DERAUTOR

Andrea Tozzio ist ein Pseudonym. Als großen Italienliebhaber und -kenner zieht es ihn regelmäßig in den Süden, um Land, Leute und kulinarische Köstlichkeiten zu genießen. Er schreibt erfolgreich Kriminalromane und Thriller und kennt sich dank seines beruflichen Hintergrunds bestens mit der Polizeiarbeit und kniffligen Fällen aus.

ANDREA TOZZIO

SCHWARZE TAGE

EIN TOSKANA-KRIMI MIT GABBIANO UND CARLUCCI

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 03/2023

Copyright © 2023 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde entwickelt in der lit.factory, Germany.

Redaktion: Dr. Loel Zwecker

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere unter Verwendung von iStockphoto/samuel howell

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30478-2V001

www.heyne.de

PROLOG

Langsam senkte sich die Dämmerung auf die hügelige Landschaft an der Strada Provinciale Nr. 9 zwischen San Venanzio und Pievasciata. Seit Stunden lag der blaue Rucksack im überfüllten Mülleimer der Bushaltestelle nahe der Abzweigung nach Corsignano, und nichts hatte sich getan. Nur einmal hatte ein Bus dort gehalten, und zwei Kinder waren ausgestiegen und in Richtung des alten Hofguts Le Macie gelaufen, ohne auch nur einen kurzen Blick auf das vollgepackte Gepäckstück zu werfen.

Die Entführer hatten diese Stelle knapp zehn Kilometer nordöstlich von Siena mit Bedacht gewählt. Sie war übersichtlich, menschenleer, und nach allen Seiten gab es Ausfallstraßen und schmale Wirtschaftswege, die in Wälder und benachbarte Weinberge führten. Ideal für eine Flucht.

Zwei Millionen Euro in unterschiedlichen Scheinen befanden sich in dem Rucksack. Vor allem Hunderter und Zweihunderteuroscheine waren es, ansonsten hätte die Summe unmöglich in dem Behältnis Platz gehabt. Doch noch etwas war in das Innenfutter eingearbeitet, unsichtbar und kaum größer als ein Zehncentstück. Mehrere GPS-Tracker, eingenäht in den groben Stoff des Rucksacks.

Vor zehn Tagen war Lucia am helllichten Tag entführt worden. Kaum fünf Minuten hatte die Betreuerin sie aus den Augen gelassen, weil eines der anderen Kinder gestürzt war und getröstet werden musste. Mitten in der belebten Innenstadt von Siena, direkt vor dem Kinderhort in der Via Santa Caterina, hatten zwei maskierte Personen Lucia in einen schwarzen Fiat gezerrt.

Drei Tage später stand fest, dass es sich um ein am Strand von Livorno gestohlenes Fahrzeug handelte. Der ausgebrannte Wagen wurde kaum zehn Kilometer von Siena entfernt in einem dichten Eichenwald bei Montecagnano gefunden. Von dem Mädchen und den Tätern keine Spur.

Lucias Vater, ein Rechtsanwalt, und ihre Mutter, eine Lehrerin, durchlebten ein Martyrium aus Hoffnung, Kummer, Pein und grenzenloser Trauer. Als sieben Tage später ein anonymer Brief in seiner Kanzlei einging, wurde zur Gewissheit, dass es sich um eine Entführung handelte. Zwei Millionen für das Leben der kleinen Lucia, so lautete die Forderung. Und keine Polizei. Die hatten die Eltern zu dem Zeitpunkt allerdings schon längst eingeschaltet.

Zweimal war der Motorradfahrer an dem Mülleimer vorbeigefahren, bevor er anhielt und abstieg. Argwöhnisch blickte er sich um, ehe er nach dem Rucksack griff und ihn nicht wie erwartet schulterte, sondern in einem metallenen Topcase seiner Geländemaschine verstaute. Dann brauste er mit hoher Geschwindigkeit die Strada Provinciale entlang und bog in dem hügeligen Gelände in einen Feldweg in Richtung Petroio ab.

Der Commissario zuckte zusammen, als er die Meldung erhielt, dass kein Trackingsignal zu orten war. Die Sender im Lösegeldrucksack hätten ihn zum Aufenthaltsort der vierjährigen Lucia führen sollen. Mit einem Spezialeinsatzteam wollte er die Kleine aus den Klauen ihrer Häscher befreien. Doch irgendwie war es dem Motorradfahrer gelungen, das Signal zu stören.

Mit einem Motorrad hatte der Commissario gerechnet und deshalb vorsorglich einen Hubschrauber der Polizia di Stato aus Florenz in das Einsatzgebiet beordert. Der Pilot verfolgte den Flüchtenden, nachdem die Zivilstreifen ihn aus den Augen verloren, weiter. Der Motorradfahrer wendete und fuhr wieder in Richtung San Venanzio.

Der Commissario wusste es sofort: Das waren Profis und keine Anfänger. Und sicherlich flüchtete der Motorradfahrer nicht zum ersten Mal vor der Polizei. Denn seine Fahrmanöver waren durchdacht, er war geübt darin, Verfolger abzuschütteln. Aber diesmal würden sie an ihm dranbleiben.

Beinahe wieder an der Bushaltestelle angekommen, setzte der Motorradfahrer seine Flucht in Richtung Norden fort. Noch waren die Zivilstreifen weit entfernt, doch andere Einheiten in der Umgebung standen bereit.

Erst als der Motorradfahrer San Venanzio hinter sich ließ und mit hoher Geschwindigkeit in Richtung San Fedele fuhr, konnten zwei Motorräder der Carabinieri die Verfolgung aufnehmen. Kurz vor dem Castello di Aiola in einer scharfen Linkskurve verlor der Flüchtende die Kontrolle über seine Maschine und schoss auf ein kleines Waldstück zu. Die Maschine kam ins Schleudern und schlitterte zwischen zwei Bäume. Der Fahrer prallte gegen eine Tanne. Er war auf der Stelle tot.

KAPITEL 1

JAHRE SPÄTER …

Aus dem Geäst erhoben sich feine Dunstschwaden des frühen Morgens. Der Tag war noch jung, und er war frisch. Überraschend frisch, nachdem das Thermometer gestern noch die Zwanzig-Grad-Marke überschritten hatte.

Commissario Vito Carlucci von der Polizia Criminale aus Florenz zog den Kragen seiner Jacke höher. Ihn fröstelte.

Er war nicht gerade begeistert, sich noch vor dem Frühstück durch das feuchte Gebüsch eines dichten Waldes zu kämpfen. Vom Spurensicherungskommando war mit blau-weißem Trassierband entlang der steilen Böschung ein schmaler Pfad gekennzeichnet worden. Seine Domenichelli-Lederschuhe waren bereits ruiniert und seine Hosenbeine nass.

Verdammt. Warum musste die Leiche des Mannes im Unterholz am Ende einer abschüssigen Böschung liegen. Erschlagen, so hatte es ihm die Dienststelle am Telefon mitgeteilt.

Gino Conte von der Spurensicherung war der erste der Tatortgruppe, der ihm auf seinem Weg hinab zur Leiche begegnete, als Nächstes stieß er auf zwei Kollegen der Carabinieri. Die beiden wussten nur, dass niemand den schmalen Waldweg passieren durfte, weshalb sie Vito zuerst auch nicht zum Tatort durchlassen wollten.

Conte war fast einen Kopf größer als der Commissario, maß an die zwei Meter und quälte sich mit seinen zweihundertfünfzig Pfund sichtlich den Pfad hinauf. Er steckte in einem weißen Papieranzug und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der hohen Stirn, als er vor Vito stehen blieb, um erst einmal durchzuatmen. Er mochte wohl nicht mehr der sportlichste Polizist der Questura sein, doch auf seinem Gebiet war er ein ausgesprochener Spezialist. Seit über zwanzig Jahren leitete er die Polizia Scientifica der Abteilung in Florenz, und insgeheim war Vito froh, dass man ihm Conte zugeteilt hatte und nicht wieder einen der jüngeren und unerfahrenen Kollegen.

Conte nickte ihm zu, wischte sich noch einmal mit dem Taschentuch über die Stirn und steckte es in die Hosentasche. Mit ausgestreckter Hand wies er hinauf zum Waldweg, der entlang der Böschung verlief.

»Da oben hat es begonnen«, erklärte Conte keuchend. »Dort muss er auf seinen Mörder getroffen sein.«

Vito wandte sich um und schaute zu der gezeigten Stelle. »Heißt das, ich muss den ganzen Weg wieder nach oben?«

»Niemand hat gesagt, dass du hier herunterkommen sollst.«

Vito seufzte und stieg hinter dem schwer atmenden Conte den Pfad hinauf. Im Verlauf des schmalen Waldwegs war eine weitere Stelle mit Trassierband markiert.

»Hier hat alles angefangen«, wiederholte Conte und blieb stehen. »Hier kam es wohl zu einem Streit zwischen dem Opfer und dem Täter.«

»Einem Täter?«

»Wir haben Schuhspuren von zwei Personen gefunden«, erklärte Conte. »Eine konnten wir dem Toten zuordnen, die andere muss vom Täter stammen, wobei auch eine Täterin in Frage käme, wenn du es genau wissen willst. Grobstolliges Profil, möglicherweise Gummistiefel, Größe vierzig bis zweiundvierzig, das haben auch viele Frauen.«

Vito nickte und fuhr sich nachdenklich mit dem Zeigefinger über sein unrasiertes Kinn.

»Zuerst schlug der Täter mit einem Ast zu, und dann, als das Opfer stürzte, bearbeitete er oder sie ihn mit der vanghetta. Wir haben drei tiefe Wunden festgestellt, und die vanghetta steckte noch in seinem Hals, als wir ihn fanden. Das Opfer muss sich wieder erhoben haben und ist die Böschung hinuntergestolpert. Er hat viel Blut verloren und ist weiter unten endgültig zusammengebrochen. So wie es aussieht, starb er wegen des massiven Blutverlusts.«

Vito runzelte die Stirn. »Eine vanghetta, was ist das?«

»Eine handliche, scharfkantige Hacke, mit der man die Erde auflockert, um an die Trüffel heranzukommen. Der Tote war offenbar auf Trüffelsuche.«

»Wissen wir auch schon, wer der Tote ist?«

Conte nickte. »Er hatte Papiere bei sich. Du wirst es nicht glauben, es ist Stefano Simonetti. Die vanghetta gehörte ihm selbst, sein Name ist auf den Stiel graviert.«

»Simonetti, der Stadtrat?«

Conte schüttelte den Kopf. »Simonetti, der Chef des Tartufo, das Nobelrestaurant an der Piazza San Giovanni. Du kennst ihn sicherlich. Er hat mehrere Michelinsterne und ist berühmt für seine Gnocchi alla Romana con Tartufo bianco.«

Vito fasste sich an die Stirn. »Ja, das Restaurant kenne ich, da habe ich auch schon ein paarmal gegessen, aber warum war er hier auf diesem schwierigen Gelände unterwegs?«

»Simonetti ist ein ausgezeichneter tartufaio. Er besitzt ein paar preisgekrönte Suchhunde und ganz in der Nähe ein Chalet. Außerdem hat er dieses Waldstück gepachtet. Hier soll es qualitativ hochwertige und üppige Vorkommen des Tuber aestivum geben, und Simonetti ist der Einzige, der rund um Bucciano eine Lizenz hat.«

»Tuber … was?«

»Schwarzer Sommertrüffel.«

Vito runzelte die Stirn und schaute sich um. »Wie hat man ihn in dieser Einsamkeit überhaupt gefunden?«

»Hat dich Fraccinelli nicht informiert?«

»Ich weiß überhaupt nicht, wo der steckt. Ich bin direkt von zu Hause hergefahren, und um zehn muss ich im Büro sein, da kommt die Neue aus Rom.«

»Na dann«, seufzte der Spurensicherungsbeamte. »Ein junges Pärchen hat ihn gefunden. Sind hier durch den Wald gejoggt und hörten den Hund bellen und …«

»Welchen Hund?«

»Simonettis Hund, ein ausgewachsener Lagotto Romagnolo, ein Rüde, er hatte ihn bei sich. Das Pärchen ist dem Lärm gefolgt und fand den Toten. Allerdings ließ der Hund niemand an sein Herrchen heran. Die Kollegen brauchten eine ganze Weile, bis sie ihn eingefangen und ins Auto verfrachtet hatten.«

Vito lächelte. »Ein Lagotto ist weiß Gott kein Riese …«

Conte winkte ab. »Mag sein, aber nicht ungefährlich, wenn er etwas zu verteidigen hat. Niemand lässt sich gern beißen.«

»Wo sind der Hund und das Pärchen jetzt?«

»Der Hund ist bei den Carabinieri. Und das Pärchen hat Fraccinelli mitgenommen. Er ist am westlichen Ende des Waldes und vernimmt die beiden.«

Vito schaute sich auf dem Weg um, der wenige Meter entfernt hinter einer Kurve verschwand. Auf der Seite, an der die Böschung relativ steil abfiel, stand eine kleine gelbe Tafel mit einer schwarzen Eins drauf, direkt dahinter waren die Tafeln mit den Nummern zwei und drei. Etwas weiter hinten bemerkte Vito mehrere Nummerntafeln. An einer Stelle, kaum mehr als drei Schritte abseits des Weges, waren die Blätter, die den Boden bedeckten, aufgewühlt. Hier musste das Opfer gestürzt sein, ehe es sich wieder aufgerafft hatte und die Böschung hinuntergestolpert war.

»Den Ast haben wir bereits eingetütet«, sagte Conte, der Vitos Blick gefolgt war.

»Kann man sagen, wann das hier passiert ist?«

Conte zuckte mit den Schultern. »Der Rechtsmediziner ist schon weg, aber er meint, der Tod ist vor etwa zwei bis dreieinhalb Stunden eingetreten.«

Vito schaute auf das Ziffernblatt seiner Tissot. Es war kurz vor halb neun.

»Zwischen fünf und halb sieben, also«, murmelte er.

»Ja, so in etwa«, bestätigte Conte. »Er ist früh aufgebrochen, da ist der Boden besonders feucht und der Hund kann am besten riechen.«

»Da war es aber noch dunkel. Habt ihr eine Taschenlampe gefunden?«

Conte lächelte und wies den Abhang hinab. »Taschenlampe, ein kleiner Spaten und eine Umhängetasche, alles über die Böschung verteilt, und natürlich der Pickel, der steckt aber noch in seinem Hals.«

Vito nickte. »Wie lange braucht ihr hier noch?«

»Wir haben gerade erst angefangen.«

»Alles klar, ich nehme an, die Angehörigen wissen noch nicht Bescheid?«

»Da musst du Fraccinelli fragen, er sitzt im Bus der Carabinieri.« Conte wies den Weg hinab. »Einfach der Nase nach.«

Vito seufzte und zog sein Handy aus der Tasche, um im Büro anzurufen. Bis zehn würde er es wohl kaum zur Begrüßung der Neuen in die Dienststelle schaffen.

Er genoss den kurzen Fußmarsch und sog die Gerüche des Waldes in sich auf. Kastanienbäume wechselten sich mit hohen Tannen ab, und hin und wieder säumte eine massive Steineiche seinen Weg, der zum Ende hin immer breiter wurde und leicht anstieg.

Fraccinelli stand am anderen Ende des Waldwegs und vernahm die Zeugen, die den Toten und seinen Hund gefunden hatten. Er hoffte darauf, dass das Pärchen etwas gesehen hatte, das ihnen weiterhelfen würde. Simonetti war kein unbeschriebenes Blatt, und die Nachricht vom Mord an dieser schillernden Persönlichkeit würde sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Er besaß mitten in der Stadt, an der Piazza San Giovanni im Schatten der großen Kathedrale, ein über die Region hinaus bekanntes Restaurant, das mit drei der begehrten Michelinsterne ausgezeichnet worden war.

Auf dem Weg zu seinem langjährigen Assistenten zückte Vito sein Handy und rief bei der Dienststelle an. Nach einer Weile erreichte er Maria Totti, die Sekretärin, und bat sie, alles über den Toten herauszufinden, das herauszufinden war. Vor allem interessierte ihn, wo er Simonettis Frau antreffen konnte. Bestimmt würde sich der Tod des Restaurantbesitzers und Chefkochs nicht lange geheim halten lassen. Simonettis Ehefrau sollte nicht durch irgendwen oder gar aus den sozialen Medien erfahren, dass ihr Gatte in den Hügeln von San Miniato erschlagen worden war.

Er erreichte das Ende des Waldwegs, und die sanft abfallenden Hügel der Region taten sich vor ihm auf. Der würzige Duft des Waldes wurde abgelöst durch das Aroma von Salbei, Lavendel und Rosmarin. Eine ausgedehnte Wiese lag vor ihm, und die unzähligen Mohnblumen wiegten sich im lauen Wind. Er verharrte und genoss die Aussicht auf das alte Gehöft Borgo Bucciano, aus dem inzwischen ein kleines, aber feines Hotel mit einem guten Restaurant geworden war, in dem er vor ein paar Monaten mehrmals mit Chiara gegessen hatte. Chiara war inzwischen Geschichte. Vermutlich hatte es vor allem an seinem Job gelegen, mit einem Polizisten, noch dazu mit einem Kriminalbeamten des Morddezernats zusammenzuleben, gestaltete sich nicht einfach.

Er atmete tief ein und schob die Gedanken beiseite, es galt, einen Mord aufzuklären. Er blickte sich um. Der schwarze Bus der Carabinieri aus San Miniato stand in hundert Meter Entfernung im Schatten einiger Zypressen auf einem breiten, geschotterten Waldparkplatz. Der Dienstwagen, mit dem Fraccinelli zum Tatort kam, ein dunkelroter Alfa, den normalerweise er fuhr, parkte unmittelbar hinter dem schwarzen Ducato der Carabinieri. Fraccinelli und die beiden uniformierten Beamten standen in einer Gruppe zusammen und schienen sich köstlich zu amüsieren. Lautes Lachen drang zu Vito herüber. Er ging auf die Gruppe zu, die ihn noch nicht bemerkt hatte.

»… weswegen es den Orgasmus gibt?«, fragte Fraccinelli die beiden uniformierten Beamten, die locker am Bus lehnten und ihre Schirmmütze in den Händen hielten. Sie schüttelten beide den Kopf.

»Ist doch klar, damit auch wir merken, wann Schluss ist!« Während die beiden Uniformierten sich kurz anblickten und den Kopf schüttelten, lachte Fraccinelli lauthals los.

»Na, versteht ihr nicht, wann Schluss ist, der Orgasmus, das ist der Witz.«

Vito trat hinter dem Bus hervor, und Fraccinellis Lachen fror ein. Er richtete sich auf und salutierte.

»Guten Morgen, Commissario«, sagte er. Die beiden Carabinieri erschraken, setzten ihre Mützen auf und salutierten ebenfalls.

Vito winkte ab. »Schon gut, unterhält er euch wieder mit seinen platten Witzen?«

Die Carabinieri nickten.

Fraccinelli war wie immer unpassend gekleidet. Er trug eine braune Hose, ein rot-blau kariertes Hemd, schwarze Schuhe und dazu weiße Hosenträger. Seine abgewetzte schwarze Lederjacke hatte er an den Außenspiegel des Ducatos gehängt.

»Hast du die Zeugen schon vernommen?«, fragte Vito.

Fraccinelli nickte. »Ein junges Paar aus Bologna«, erklärte er. »Studenten. Die machen hier Urlaub und haben sich in der Nähe auf einem Bauernhof eingemietet. Sie waren joggen. Das machen sie jeden Morgen kurz vor Sonnenaufgang. Diesmal sind sie hier durch den Wald gelaufen und haben auf einmal einen Hund bellen und winseln gehört. Sie sind dem Lärm gefolgt und haben den Toten gefunden. Zuerst dachten sie, der Mann wäre gestolpert und verletzt, denn der Hund ließ sie nicht an Simonetti heran. Erst als das Mädchen den Hund ablenkte, sah ihr Freund, dass Simonettis Augen geöffnet waren und ein Pickel in seinem Hals steckte. Dann haben sie die Notrufnummer gewählt.«

»Haben sie sonst noch was gesehen?«

Fraccinelli schüttelte den Kopf.

»Und gehört?«

»Nein, nichts«, erklärte Vitos Assistent. »Ich habe sie für morgen um zehn Uhr in die Questura bestellt. Wegen der Vergleichsspuren und so.«

Der Commissario überlegte einen Moment lang. Seine Hoffnung auf eine schnelle Aufklärung des Falles erfüllte sich nicht. Er seufzte und griff nach seinem Handy.

»Gut, dann wollen wir mal nach seiner Ehefrau schauen, ich habe Maria …«

»Die wohnt gar nicht weit von hier entfernt«, mischte sich einer der Uniformierten ein. »Die Simonettis haben ein Chalet in der Nähe des Parco Santa Barbara an der Straße nach San Lorenzo. Dort wohnt sie schon seit ein paar Monaten.«

»Sie?«, fragte Vito.

Der Carabinieri nickte. »Ja, sie, alleine. Die Stadt war ihr wohl zu laut und zu hektisch. Sie malt Bilder, ganz gute sogar. Die Landschaft, die Hügel, die Bauwerke. Im letzten Monat hatte sie eine Ausstellung in der Stadthalle in San Miniato.«

»Gut, Kollege, woher weißt du das?«

»Meine Frau malt auch, und ich wohne in Palagio, dort kauft sie manchmal ein, daher kenne ich sie ein wenig.«

»Heißt das, ihre Ehe war nicht ganz so rosig?«

Der uniformierte Kollege zuckte mit den Schultern. »Darüber weiß ich nichts«, erklärte er und wies auf ein Wäldchen am Fuße des benachbarten Hügels. »Da war Simonetti auch manchmal, aber nicht so oft. Das hier ist sein Wald, er hat die Lizenz zur Trüffelsuche und ausgezeichnete Suchhunde.«

Fraccinelli räusperte sich und schüttelte den Kopf. »Da sucht er hier nach modrigen Pilzen und wäre selbst beinahe vermodert«, bemerkte er mit süffisantem Lächeln.

Vito warf ihm einen bösen Blick zu. »Geh schon mal zum Wagen, wir fahren zum Chalet. Seine Frau soll von uns erfahren, was hier passiert ist. In welche Richtung müssen wir?«

Der Carabinieri wies nach Westen. »Den Weg entlang, dann am Borgo Bucciano vorbei und immer weiter, bis zur Abzweigung nach San Lorenzo. Das Chalet liegt rechts der Straße an einem Hügel.«

»Ist es weit?«

»Drei Kilometer, mehr nicht.«

Vito nickte und ging an Fraccinelli vorbei auf den Wagen zu. Kurz blieb er stehen und hob die rechte Hand. Fraccinelli verstand den Wink und warf ihm den Autoschlüssel zu. Sie stiegen ein und ließen die beiden uniformierten Kollegen am Waldrand zurück. Nachdem sie das erwähnte Gehöft passiert hatten, bog Vito wie beschrieben auf die Landstraße in Richtung San Lorenzo ab.

»Hast du auch etwas herausgefunden?«, fragte Vito kurz angebunden. »Oder wieder mal nur den Pausenclown gespielt?«

Fraccinelli lächelte, zückte sein Handy und hielt es Vito unter die Nase. Auf dem Display war ein Hund zu sehen, ein rostbrauner Lagotto Romagnolo, der sich wie wild gebärdete und mit einer Schlinge von einem uniformierten Polizisten eingefangen wurde.

»Das ist Gonzo, Simonettis preisgekrönter Suchhund, und so wie es aussieht, bislang unser einziger Zeuge.«

Vito schüttelte den Kopf. »Du kannst es einfach nicht lassen.«

KAPITEL 2

Laura Gabbiano trat genervt durch den Rundbogen aus dem Innenhof der Questura di Firenze auf die Via Fausto Dionisi und eilte zu ihrem Auto. So hatte sie sich ihren ersten Arbeitstag hier nicht vorgestellt. Nicht nur, dass Kommandant Matteo Russo, Primo Dirigente der Kriminalpolizei, der einzige Mensch, den sie in der Questura kannte, aufgrund unaufschiebbarer Termine außer Haus weilte. Auch Direttore Generale Dottore Banchi würde nicht vor Mittag eintreffen. Und selbst ihr direkter Vorgesetzter, bei dem sie sich um zehn Uhr melden sollte, Commissario Vito Carlucci, war noch nicht da. Er hatte sich von einer gelangweilt wirkenden Sekretärin mit rot manikürten Fingernägeln und dem Lächeln einer Katze, die sich träge in der Sonne räkelt, entschuldigen lassen. Erst nachdem Laura sich als neue Kollegin von Carlucci vorstellte, blitzte in ihren Augen so etwas wie Neugierde auf.

Der Grund, warum ihr Vorgesetzter nicht wie vereinbart auf sie wartete, ihr ein Büro oder zumindest einen Schreibtisch zuwies und sie mit den örtlichen Gepflogenheiten und Gegebenheiten vertraut machte, war so simpel wie beunruhigend: Man hatte ihn zu einem Tatort gerufen, und die Ermittlungen hatten schon vor weit über zwei Stunden begonnen.

Laura stieg in ihren Fiat 500 Abarth und verfluchte die Tatsache, dass sie quasi am ersten Tag zu spät und noch dazu total unpassend gekleidet an einem Tatort auftauchen würde. Die Sekretärin – »Nennen Sie mich Maria, cara, wir werden bestimmt gute Freundinnen werden, nicht wahr?« – hatte ihr die Adresse gegeben: Bucciano, eine kleine Ortschaft in den Hügeln von San Miniato.

Laura gab die Information in ihr Navi ein und fuhr zügig los. Sie war erst vor einer Woche aus Rom nach San Jacopo Al Girone gezogen, in ein kleines Häuschen mit fantastischem Blick auf den Arno – gerade nah genug an Florenz, um bequem zur Questura pendeln zu können, aber weit genug entfernt, um eine gewisse Distanz zu wahren.

Sie kreuzte zügig die Straßenbahnschienen und fuhr um die beeindruckende Fortezza da Basso herum. Nur eine der zahlreichen Hinterlassenschaften der Medici in dieser geschichtsträchtigen Stadt. Nach der hohen Festungsmauer passierte sie die Gleise, die zum Santa Maria Novella führten, dem Kopfbahnhof von Florenz, in unmittelbarer Nähe der namensgebenden gotischen Kirche und Klosteranlage. Hier herrschte reges Treiben, und sie musste höllisch aufpassen, keinen der selbstmörderischen Rollerfahrer zu touchieren, die aus allen Richtungen angeschossen kamen, oder einen der Touristen zu überfahren, die mit ihren Rollkoffern aus dem Bahnhof auf die Straßen strömten.

Nachdem sie endlich den Arno über die Ponte alla Vittoria überqueren konnte, ging es einfacher. Erleichtert nahm Laura mit ihrem Fiat Tempo auf. Es dauerte dennoch eine Weile, bis sie die lebhafte Stadt hinter sich gelassen hatte und die Autostrada erreichte, die sie am schnellsten zum Tatort brachte.

Der Commissario würde noch dort sein. Jeder gute Ermittler blieb vor Ort, bis alle Spuren gesichert und die Zeugen einer ersten groben Befragung unterzogen waren. Sie wusste, wie wichtig diese ersten Stunden und Eindrücke sein konnten und fluchte leise in sich hinein, weil sie diese verpasst hatte.

Als sie nach dreißig Minuten auf der Autobahn San Miniato erreichte, konnte sie schon von Weitem die Rocca Federico sehen, den riesigen rötlichen Turm, der majestätisch über der Stadt thronte. Bedauernd lenkte sie ihren kleinen Flitzer vom Turm und der historischen Stadt weg. Ein andermal würde sie sich den Ort in Ruhe anschauen.

Ihr Navi verriet ihr, dass sie nur noch zwölf Kilometer auf einer kurvigen Strecke vor sich hatte. Sie fuhr Richtung Süden und genoss kurz den Ausblick über die sanft ansteigenden Hügel, unterbrochen von pittoresken Weingütern mit kleinen Chalets, winzigen Ortschaften und majestätischen Bäumen.

Inzwischen war der trübe Morgen einem schönen Vormittag gewichen, die Sonne stand hoch am Himmel und hatte alle Nebelfelder mit einer sommerlichen Wärme vertrieben. Die hohen Zypressen, die die Straßen säumten und immer wieder den Blick über die Felder unterbrachen, die grünen Hügel, die in bewaldete Berghänge übergingen – Laura war angenehm überrascht, wie gut es ihr hier gefiel.

Sie hatte das Fenster heruntergelassen, der Wind, der nun nicht mehr schneidend kühl wie am Morgen war, sondern angenehm warm, zerzauste ihre dunklen Haare. Es war richtig gewesen, Rom den Rücken zu kehren und Matteos Angebot, in Florenz zu arbeiten, anzunehmen.

Unwillkürlich fragte sie sich, wie Vito Carlucci wohl tickte. Sie hatte ein paar Erkundigungen über ihren neuen Kollegen eingeholt und wäre enttäuscht von ihm gewesen, wenn er sich nicht auch etwas näher über sie informiert hätte. Er war geschieden, hatte einen ausgezeichneten Ruf als Ermittler und schien sich von den sozialen Netzwerken fernzuhalten. Sonst hatte sie nichts herausgefunden.

Fast hätte sie über ihren Überlegungen die Abfahrt verpasst. Bucciano lag noch ein paar Kilometer vor ihr, und nur einem an der Straße stehenden Wagen der Carabinieri mit blinkendem Blaulicht war es zu verdanken, dass sie nicht vorbeifuhr.

Sie bremste scharf ab. Der Streifenwagen stand an einem kleinen Feldweg, der zu einem Waldstück führte. Als sie auf ihn einbiegen wollte, stellte sich ihrem Fiat ein junger Mann in dunkelblauer Uniform mit weißem Bauch- und Brustgurt und Schirmmütze in den Weg. Er sah nervös aus und bedeutete ihr, auf die Hauptstraße zurückzufahren.

Laura seufzte und ließ die Scheibe herunter, der junge Carabinieri trat mit durchgedrücktem Rücken an ihr Fahrzeug und musterte sie streng.

»Scusi, Signora, hier ist abgesperrt. Sie müssen auf der Hauptstraße bleiben.« Er versuchte die Tatsache, dass er noch grün hinter den Ohren und nur zur Absicherung der Zufahrtsstraße eingesetzt war, mit übertriebenem Eifer wettzumachen.

»Ich bin Commissaria Laura Gabbiano. Und ich möchte zu Commissario Carlucci. Er leitet die Ermittlungen.«

Sie konnte sehen, wie der junge Mann angespannt überlegte und sie und ihr Fahrzeug musterte. Laura seufzte ein weiteres Mal, sie war heute nicht auf einen Tatort, sondern auf eine formelle Begrüßung in der Questura eingestellt gewesen. Sie wusste selbst, dass sie aussah wie eine Anwältin auf dem Weg zum Gericht, die sich mit ihren Stöckelschuhen in die falsche Szenerie verirrt hatte. Sie atmete durch, griff dann gereizt in ihre Handtasche auf dem Beifahrersitz und holte ihren Ausweis hervor.

Einen Moment später rumpelte ihr Fiat über den ausgefahrenen Feldweg in Richtung Wald. Sie konnte noch einen kurzen Blick auf die Weinberge und Olivenhaine werfen, bevor die ersten Bäume die Aussicht verstellten.

Das Blätterdach des Kastanienwäldchens schluckte die Sonne, schlagartig wurde es kühler. Am Rand des Weges standen mehrere Fahrzeuge, ein Jeep, der einem Förster gehören musste, zwei weitere Fahrzeuge der Carabinieri, ein Leichenwagen mit offen stehenden Türen, dessen Laderaum noch leer war, ein anthrazitfarbener Audi A6 und ein altersschwacher Alfa Romeo mit Rostflecken und unzähligen Beulen.

Die Commissaria hielt hinter dem Jeep an und stieg aus. Sofort sackte sie mit den Absätzen der Pumps in den weichen Boden ein. Auch der Hosenanzug und die Bluse waren overdressed für einen Waldtatort, aber das konnte sie jetzt nicht mehr ändern. Ihre Waffe, eine Beretta 92F 9mm, ließ sie im abgeschlossenen Handschuhfach. Sie würde sich unter dem leichten Blazer deutlich abzeichnen, hier unnötig sein und fehl am Platz wirken.

An der blau-weißen Absperrung standen Carabinieri, die verstohlene Blicke auf sie und ihren weißen Stadtflitzer warfen. »Auf in den Kampf«, murmelte sie, bevor sie auf die Absperrung zu ging.

»Scusi?« Einer der beiden Carabinieri, die den schmalen Waldweg bewachten, musterte sie argwöhnisch.

»Commissaria Laura Gabbiano. Ich möchte zu meinem Kollegen, Commissario Carlucci.«

Ihr Blick wanderte zu den kleinen gelben Markierungen, die am Abhang aufgestellt waren. Ohne die Antwort der Carabinieri abzuwarten, trat sie über das Absperrband und ging vorsichtig den kleinen, morastigen Waldweg entlang. Als sie an der ersten Markierung ankam, betrachtete sie das, was mit Trassierband abgegrenzt worden war, genauer. Es waren mit Gips ausgegossene Fußspuren, sie zählte mindestens sechs der Vertiefungen.

»Wer sind Sie und was machen Sie an meinem Tatort?« Die Stimme hinter ihr klang tief und grollend.

Laura fuhr herum. Sie musste sich einige Strähnen ihrer schulterlangen Haare aus dem Gesicht streichen, um ihr Gegenüber ansehen zu können. Die Gestalt – fast so breit wie hoch und dreißig Zentimeter größer als sie – blickte mit dunklen Augen auf sie herab. In dem weißen Einwegoverall wirkte der Mann wie ein riesiges, bedrohliches Michelin-Männchen.

Laura versuchte, sich nicht durch die pure Größe und die laute Stimme verunsichern zu lassen. Sie straffte die Schultern, suchte einen stabilen Stand auf dem unebenen Boden und sah dem Mann fest in die Augen.

»Ich bin Commissaria Laura Gabbiano. Ich suche Vito Carlucci. Ich bin seine neue Partnerin und hier, um ihn zu unterstützen.«

Die Miene des Riesen hellte sich auf, und ein Lächeln breitete sich über dem Gesicht aus.

»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Commissaria Gabbiano. Mein Name ist Gino Conte. Ich bin der Leiter der Spurensicherung und gerade dabei, das Schlamassel hier zu dokumentieren. Unten sind wir fast fertig, die Leiche wird gleich abtransportiert. Es hat alles länger gedauert, als mir lieb war. Das Gelände ist uneben und ziemlich morastig, und das Opfer ist den ganzen Hang hinuntergestolpert, bevor es liegen blieb. Der Bestatter ist auch erst vor einigen Minuten angekommen. Er wird den Toten gleich mitnehmen.«

Er musterte sie neugierig, sein Blick blieb an ihren Pumps hängen, die jetzt schon mehr als nur ein wenig lädiert waren.

»Es ist mein erster Tag. Ich war für den Innendiensteinsatz gerüstet.«

Contes Lächeln wurde zu einem verständnisvollen Grinsen. »Dann willkommen in der Truppe, Signora Gabbiano.«

Offenbar brachte ihr die Tatsache, dass sie ihre Schuhe ruinierte, um zu ermitteln, ein wenig Respekt ein. Sein Lächeln wirkte ansteckend, und sie streckte ihm die Hand entgegen. »Nennen Sie mich bitte Laura.«

»Dann nennen Sie mich Gino.« Er schüttelte ihre Hand mit einer Sanftheit, die sie ihm gar nicht zugetraut hätte.

»Der Commissario hat die Zeugen, die den Toten gefunden haben, schon befragt. Der arme Kerl wurde mit einer vanghetta ermordet, das war eine ziemliche Sauerei. Da muss jemand verdammt sauer auf ihn gewesen sein, eine vanghetta ist nicht besonders spitz und als Mordinstrument auch eher unüblich.« Bei diesen Worten deutete er auf die trockenen Gipsabdrücke, die vor ihnen im schlammigen Waldboden lagen. »Ich bin hier fast fertig. Der Commissario ist mit Assistente Fraccinelli zur Frau von Stefano Simonetti gefahren. Die Simonettis haben hier in der Nähe ein Chalet. Der Commissario informiert gerade die Witwe über den Tod ihres Mannes.«

»Stefano Simonetti? Doch nicht der Stefano Simonetti, dem das Tartufo gehört?« Laura blickte erstaunt zu Gino auf, der ernst nickte.

»Doch, genau der. Du kennst ihn?«

»Nein, ich habe ihn in einer Sondersendung letzten Dezember über das Kochen mit Trüffeln gesehen und hatte vor, sein Restaurant mal auszuprobieren.«

Sie schaute den Hügel hinunter und konnte zwischen den dicken Kastanienstämmen sehen, dass am Fuß des Abhangs ein offener, leerer Blechsarg stand.

»Kann ich mir die Leiche ansehen, bevor sie abtransportiert wird?«

»Ja, aber es ist kein schöner Anblick. Es war auch kein schöner Tod, den der arme Simonetti gestorben ist. Und der Hund, den er dabeihatte, hat das Blut noch verteilt. Er lag auf seinem Herrchen und hat versucht, ihn zu schützen. Es war ziemlich schwierig, das Tier von ihm runterzubekommen.«

Laura überlegte, während sie Gino Conte den Abhang hinunter folgte, bemüht, nicht zu stürzen. Sie verfluchte ihre unpassenden Schuhe wie auch die Tatsache, dass Carlucci schon bei der Witwe war. Sobald sie sich die Leiche angeschaut hatte, würde sie sich schnellstmöglich auf den Weg zu Signora Simonetti machen.

Gino Conte hielt ihr die Hand hin, um sie den letzten, sehr steilen Abschnitt zu stützen. Kurz überlegte sie, die Hilfe abzulehnen, aber das wäre albern gewesen.

»Gino, könntest du den Assistente anrufen und ihn bitten, die Adresse von Simonettis Frau durchzugeben? Dann würde ich hinfahren, sobald wir hier fertig sind.«

Er nickte, half ihr die letzten Meter die Böschung hinunter und ließ sie dann los, um sein Handy aus der Tasche zu ziehen. Der Bestatter, ein kleiner Mann mit hagerem Gesicht, stechend grauen Augen und einer Halbglatze, nickte ihr reserviert zu und breitete dann weiter den Leichensack neben dem Toten aus.

»Warten Sie einen Moment.« Laura trat näher. Sie hatte schon einige Tote gesehen, Unfallopfer, eine Frau, die von ihrem Mann fast totgeschlagen worden war, einen schwer verletzten Mafiosi nach einer Messerstecherei – aber Simonetti sah wirklich besonders schlimm aus.

»Der Täter hat den Mann zuerst mit einem Ast, danach mit der vanghetta bearbeitet.« Contes ruhige Stimme hinter ihr drang zu ihr durch, während sie die Leiche musterte und die Verletzungen am Gesicht und Hals begutachtete. Sie schluckte. Wer auch immer den Starkoch ermordet hatte, diese Tat war mit Wut und Zorn ausgeführt worden, der Mörder hatte die Beherrschung komplett verloren.

Was die Tat noch grotesker wirken ließ, waren die blutigen Pfotenabdrücke auf der beigefarbenen Weste des Opfers.

KAPITEL 3

Simonettis Chalet lag so, wie es der Kollege aus San Miniato beschrieben hatte, versteckt hinter Zypressen mitten an einem sanft abfallenden Hügel, geschützt von einer Mauer aus Natursteinen. Ein hoher Zaun umgab das gesamte Areal, zu dem ein schmaler Weg führte. Vor dem offen stehenden schmiedeeisernen Tor stand ein schwarzer Mercedes-Geländewagen der G-Klasse mit einem Kennzeichen aus Florenz.

Fraccinelli deutete auf den Wagen. »Der muss Simonetti gehören.«

»Woher weißt du das?«, fragte Vito.

Sein Kollege tippte gegen sein Smartphone. »Ich sag nur soziale Netzwerke. Bei Facebook gibt es ein Foto auf seiner Seite. Er steht neben diesem Wagen und präsentiert dabei stolz die Ausbeute einer frühmorgendlichen Trüffeljagd.«

Fraccinelli rief das Bild auf seinem Handy auf und wollte es Vito zeigen. Doch dieser schaute nachdenklich zum Wagen. »Ich frage mich, weshalb er hier draußen steht und nicht auf dem Grundstück.« Dann gab er Gas, fuhr durch das Tor auf das Areal und parkte hinter einem gelben Porsche.

»Und das ist wohl das Auto seiner Frau«, sagte Fraccinelli.

»Halte dich bitte zurück«, entgegnete Vito, als sie aus dem Wagen stiegen. »Ich werde erst einmal alleine mit ihr reden, bevor du wieder einen deiner dummen Sprüche klopfst. Du bleibst hier.«

Das Chalet war aus Natursteinen gemauert und mit reichlich Holzapplikationen und einer Glasfront versehen, die von einer Seite bis zur anderen reichte. Es war riesig und glich eher einem Wohnhaus als einer einfachen Bleibe für ein Wochenende. Ein schmaler, von Büschen gesäumter Weg führte zu einer massiven Eichentür.

Vito lief hinauf, während Fraccinelli am Wagen zurückblieb. Neben dem Hauseingang hing eine Glocke. Noch bevor er daran zog, wurde die Tür geöffnet. Eine Frau im Morgenmantel mit hochgesteckten schwarzen Haaren und einem fragenden Gesichtsausdruck stand vor ihm. Sie war einige Jahre jünger als der getötete Chefkoch.

»Signora Isabella Simonetti?«, fragte Vito.

Die Frau nickte.

»Ich bin Commissario Carlucci von der Kriminalpolizei Florenz, ich muss mit Ihnen sprechen.« Er zeigte seinen Dienstausweis. »Können wir uns drinnen unterhalten?«

Die Frau trat zur Seite und ließ ihn ins Haus. Sie führte ihn durch einen kleinen Flur in das Wohnzimmer und bot ihm einen Platz auf einer weißen Ledercouch an. »Ist etwas passiert?«, fragte sie, als sie sich ihm gegenüber in einen Sessel setzte.

»Es tut mir leid, ich muss Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann verstorben ist«, sagte er.

Die Frau presste die Lippen zusammen und schaute schweigend aus dem Fenster. Vito beobachtete ihre Reaktion und schwieg ebenfalls. Erst nach einer Weile wandte sie sich wieder ihm zu. »Was ist passiert?«, fragte sie, ihre Stimme klang brüchig, doch Tränen sah er nicht in ihren Augen.

»So wie es aussieht, wurde er ermordet.«

Erneut beobachtete er ihre Reaktion, doch ihre Miene war wie versteinert.

»Er wurde heute Morgen von ein paar Joggern nicht weit von hier im Wald gefunden.«

Vito wartete einen Moment. Noch immer keine Regung bei ihr. »Frau Simonetti, sehen Sie sich in der Lage, mir ein paar Fragen zu beantworten?«

Sie nickte kaum merklich.

»Können Sie mir sagen, wann er heute früh zur Trüffelsuche aufgebrochen ist?«

»Ermordet«, wiederholte die Frau jetzt. Ihr Blick war entrückt und ging in die Leere.

»Offenbar wurde er mit seiner eigenen vanghetta getötet«, fuhr Vito fort. »War er denn alleine, als er heute losging?«

Seine Worte holten die Frau in die Gegenwart zurück. Sie blinzelte kurz, ehe sie sich mit der Hand über die Augen fuhr.

»Entschuldigen Sie, Signora Simonetti. Ich muss Ihnen leider diese Fragen stellen. Nur so können wir herausfinden, wer hinter dem Mord an Ihrem Gatten steckt.«

»Wollen Sie einen Espresso?«, fragte sie, erhob sich und ging zur Tür.

Vito hatte schon viele Todesnachrichten an Angehörige und Ehefrauen überbracht. Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Manche brachen zusammen, lösten sich in Tränen auf, und andere saßen einfach nur stumm da und fügten sich schweigend in ihr Schicksal. Einige aber erfassten überhaupt nicht, wovon er sprach. Doch diese Frau, die an der Tür stand, schien ihre Gefühle zu unterdrücken, sofern sie überhaupt welche hatte.

»Entschuldigen Sie, Signora, es wäre wirklich wichtig …«

Sie blieb stehen und wandte sich um. »Ich weiß es nicht. Ich habe ihn heute noch nicht gesehen.«

»Das heißt, er war gar nicht hier und hat hier auch nicht übernachtet?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist … wie soll ich sagen … es ist schwierig …«

»Steht sein Wagen deshalb draußen vor dem Tor?«

Sie ging zurück zum Sessel und setzte sich. »Hören Sie, Commissario«, sagte sie, und Vito meinte, ein Seufzen zu hören. »Mein Mann und ich waren in einer schwierigen Phase, und wir hielten es für besser, eine Zeit lang etwas Abstand voneinander zu haben.«

»Sie wohnen schon lange ohne ihn hier in dem Haus?«

Sie nickte. »Wissen Sie, es ist nicht einfach, mit einem Mann zusammen zu sein, der nicht viel mehr als seine Arbeit und seine Hunde kennt. Vielleicht ist es eben der Lauf der Dinge. Aber in seinem Leben gab es immer weniger Platz für mich. In der Stadt fühlte ich mich immer mehr eingeengt, es nahm mir die Luft zum Atmen. Ich wollte nicht nur ein Ding sein, das er besitzt, mit dem er sich beschäftigt, wenn es gerade passt. Stefano hat sich verändert, mehr und mehr, und mir blieb nichts anderes, als neben ihm zu stehen und ihm dabei zuzusehen, wie er mir immer fremder wurde. Verstehen Sie das, Commissario?«

Vito nickte. »Das heißt, Sie haben sich getrennt?«

»Auf Zeit, ich hielt es für besser, wenn wir uns erst einmal aus dem Weg gehen«, erklärte sie. »Manchmal muss man etwas verlieren, bevor man merkt, dass es einem fehlt. Insgeheim habe ich natürlich immer noch gehofft, dass er eines Tages vor der Tür steht und alles wieder so wird, wie es früher war.«

Vito erhob sich und schaute sich im Zimmer um. »Wie war es denn früher?«

Isabella Simonetti lächelte. »Er war zärtlich, und er trug mich auf Händen.« Sie folgte dem Commissario mit ihrem Blick. »Damals hatten wir ein Restaurant an der Piazza Mentana, es war klein, nicht mehr als vierzig Sitzplätze. Stefano kochte, und ich machte den Service. Wir waren glücklich und zufrieden. Doch dann kam der erste Stern, und plötzlich wurde alles anders. Wissen Sie, es war für ihn wie eine Sucht. Er wollte immer mehr, immer höher hinaus. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn wir ein Kind bekommen hätten, nur leider war uns das nie vergönnt.«

Vito blieb vor ein paar Gemälden stehen, die dort an der Wand hingen. Bildnisse, die toskanische Landschaften zeigten, sehr gut gelungen, wie Vito fand. Am rechten unteren Bildrand war in schwarzer Farbe der Name Isa zu lesen.

»Haben Sie diese Bilder gemalt?«

»Malen ist meine Leidenschaft, ich verbringe oft Stunden draußen in der Natur, nur mit meiner Staffelei, den Farben und meinen Pinseln.«

Der Commissario ging zu der Kommode, auf der neben drei Bildern von Hunden ein großer Pokal nebst einigen Plaketten stand.

»Auf den Fotos sind die Hunde meines Mannes«, erklärte Isabella Simonetti, deren Blick Vito durch das Zimmer folgte. »Der schwarze, links, das ist Picco. Leider ist er vor einem Jahr gestorben. In der Mitte, die mit den weißen Pfoten, das ist Ambra, und rechts, der braune, das ist Gonzo. Ambra hat schon mehrfach Preise gewonnen. Sie ist eine echte Expertin, wenn es um das Finden von Trüffeln geht. Gonzo ist ein klein wenig verspielter, aber auch ein hervorragender Suchhund, um den Stefano viele beneiden.«

Vito nickte anerkennend. »Sie kennen sich wohl gut mit den Hunden aus.«

»Zwangsläufig, wenn sie mehr und mehr zur Konkurrenz werden.«

»Wie meinen Sie das?«

Sie winkte ab. »Lassen wir das Thema. Wie geht das jetzt weiter, ich meine, mit meinem Mann und so?«

Vito wandte sich zu ihr um. »Das kommt auf die Ermittlungen an.«

Sie nickte.

»Ihr Mann war heute Morgen mit Gonzo im Wald unterwegs. So wie es aussieht, ist er recht früh aufgebrochen. Wo waren Sie, sagen wir, zwischen fünf und sieben Uhr?«

Sie wies nach oben. »Ich war hier, ich habe geschlafen.«

»Alleine?«

»Was denken Sie!«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen. Zum ersten Mal zeigte sie so etwas wie eine ehrliche Regung.

»Sie haben nichts gehört?«

Isabella Simonetti schüttelte den Kopf. »Ich habe tief und fest geschlafen.«

Vito nahm erneut Platz und kratzte sich am Kinn. »Ich frage mich, weshalb Ihr Ehemann seinen Wagen hier geparkt hat und nicht bis zum Wald gefahren ist?«

Sie wies mit dem Zeigefinger aus dem Fenster. »Das macht er immer so. Hinter dem Haus gibt es einen Pfad, der direkt zum Wald führt. Man braucht gerade mal zwanzig Minuten zu Fuß. Und am Morgen, wenn der Boden noch feuchter ist, sind die Düfte noch stärker. Vermutlich ist er den Pfad entlanggegangen, so wie er es immer tut. Es wundert mich nur, dass er heute kam. Normalerweise ist das Restaurant dienstags geschlossen, falls er keine Sonderveranstaltung geplant hat.«

»Wer wusste alles, dass er hier in den Hügeln zur Trüffelsuche geht?«