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Wenn sie dir sagen würden, dass du jetzt noch einen Monat zu leben hast. Was würdest du tun? Einfach so weitermachen wie bisher? Gaby ist schwer krebskrank und die Ärzte geben ihr wenig Hoffnung. Eine neuartige Chemotherapie soll ihre letzte Chance sein, doch Gaby ist erschöpft. Sie folgt der Einladung ihrer Freundin Susanne, sich bei ihr an der Mosel zu erholen. Dort beginnt für Gaby eine Reise, die sie erst zu den schönsten Weinanbaugebieten Europas führt und am Ende zu sich selbst.
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Seitenzahl: 445
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* *
Im Gedenken an meine Großeltern,
Liesl und Otto Prenitzer,
und meine Mutter,
Angela Brunner.
* *
Prolog
Mosel-Riesling
München
Cochem
Grüner Veltliner aus der Wachau
Passau
Linz
Krems
Wien
Toskanischer Chianti
An die Adria
Florenz
San Gimignano – Siena
Pisa
Champagner in Paris
Mailand – Turin – Paris
Paris
Zweiter Tag in Paris
Versailles
Französischer Bordeaux
Paris – Chenonceau – Sauternes
Château Blanchefort
Bordeaux
Biarritz
Grappa im Tessin
Locarno
Epilog
Die Weinrebe hat ihren Ursprung wahrscheinlich im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris im heutigen Irak. Bereits 5000 v. Chr. ist die Kultur der Rebe durch Menschenhand belegt. Von dort breitete sich der Weinbau aus und kam etwa 1700 v. Chr. über Kreta nach Griechenland. Griechische Siedler brachten das Wissen um die Weinherstellung in den gallischen Hafen Massalia (Marseille).
„Und wie lange hab ich noch?“ Gabriele Henninger sah den Professor mit müden Augen an.
Der Mediziner nahm die Lesebrille ab und erwiderte ihren Blick.
Sie war nun schon so lange in seiner Obhut, dass sein Gesicht ihr vertrauter vorkam als ihr eigenes. Sie erkannte sich ohnehin selbst beinahe nicht mehr, wenn sie in den Spiegel sah: ihre Wangen eingefallen, die Augen in tiefen, dunkel umrandeten Höhlen, das Haar durch die Chemo ausgefallen. Die kräftezehrenden Therapien und Behandlungen hatten ihre Spuren hinterlassen. Und dennoch schienen die ganzen Strapazen vergebens gewesen zu sein.
Jedenfalls sagte der Arzt gerade: „Das, meine liebe Frau Henninger, kann Ihnen niemand mit Gewissheit sagen.“
Sie hatte diese Antwort erwartet und doch traf sie sie.
„Aber haben denn die vielen Chemos gar nichts bewirkt?“, fragte sie matt. In ihrem Kopf pochte nur ein Gedanke: Alles umsonst.
Die ganzen Tage im Krankenhaus, die vielen Infusionen, die Übelkeit, das Erbrechen, bis sich der Magen nur noch von der Galle zusammenkrampfte. Das Warten, das Hoffen.
Alles umsonst.
„Doch, der Tumor hat sich nicht mehr vergrößert, wir konnten sein Wachstum bremsen“, widersprach der Arzt. Für einen kurzen Augenblick flackerte Gabys Hoffnung noch einmal auf. Doch nur, um sich bei seinen nächsten Worten in umso bitterere Enttäuschung zu verwandeln. „Aber das Lungenkarzinom ist nicht mehr unsere einzige Sorge. Wir haben bereits Metastasen gefunden. Es tut mir so leid …“
„Metastasen“, echote Gaby tonlos.
Wenn es nach der Diagnose Krebs noch etwas gab, wovor sie sich gefürchtet hatte, dann war es dieses Wort. Aus dem Mund des Arztes, dem sie ihr Leben anvertraut hatte, klang es wie ein Todesurteil für sie.
„Ja, ich hatte wirklich gehofft, dass wir durch die engmaschige Therapie aus Chemo und Bestrahlungen, die wir bei Ihnen angewandt haben, den Tumor rechtzeitig eindämmen würden, bevor er streut. Leider ist uns das nicht gelungen.“ Auf dem Gesicht des Mediziners spiegelte sich Anteilnahme.
Gabys Kopf fühlte sich seltsam leer an. Statt der bodenlosen Verzweiflung, die sie erwartet hätte, kam sie sich gerade wie betäubt vor. Die weiteren Worte des Arztes nahm sie nur noch wie durch eine dicke Watteschicht wahr. Satzfetzen drangen an ihr Ohr, die Phrasen wie „sehr aggressiv“, „schlechte Heilungschancen“ und „neuartige Behandlungsmethoden“ enthielten.
Nach einem mehrminütigen Monolog unterbrach der Arzt seinen Redefluss und betrachtete seine Patientin aufmerksam. „Frau Henninger? Hören Sie mich?“
Gaby zwang sich, den Arzt anzusehen. Sie versuchte ein Lächeln. Aber am besorgten Ausdruck auf seinem Gesicht erkannte sie, dass es ihr misslang.
„Ich verstehe, dass diese Nachricht erst einmal ein Schock für Sie ist. Aber wir müssen rasch entscheiden, wie wir weiter vorgehen wollen“, sagte er.
Und plötzlich war da doch ein Gefühl in Gaby. Es war Wut.
Eine Wut, die vielleicht schon länger unterschwellig in ihr gegärt hatte und nun ein Ventil suchte. Die Wut auf den Krebs, auf diesen Körper, der ihr jetzt plötzlich den Dienst verweigerte, auf diese neue Baustelle in ihrem Leben, gerade, als sie dachte, die Zeiten würden endlich leichter werden. Es sah ihr eigentlich gar nicht ähnlich, negativen Gefühlen so viel Raum zu geben. Sie war sonst sehr beherrscht, doch jetzt brach es aus ihr heraus, bevor sie sich selbst kontrollieren konnte.
„Was heißt hier wir? Es ist doch wohl meine persönliche Entscheidung, es ist ja auch mein Leben, um das es hier geht, oder nicht? Oder kommen Sie mit, wenn ich sterbe?“ Gaby war bewusst, dass sie sarkastisch wurde und ungerecht, aber es war ihr egal.
Der Mediziner versuchte es mit Sachlichkeit: „Natürlich steht es Ihnen frei, eine zweite Meinung einzuholen. Sie dürfen jedoch versichert sein, dass wir intern im Team bereits alle Möglichkeiten durchgespielt haben und …“
„Das ist ja prima!“, fiel Gaby ihm ins Wort. „Kam da auch die Variante vor, bei der ich am Ende tot bin?“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie versuchte sie hinunterzuschlucken, doch das gelang ihr nicht. Verstohlen wischte sie mit dem Handrücken über ihr Gesicht. Der Arzt reichte ihr ein Papiertaschentuch.
Er ließ ihr einen Augenblick Zeit, sich wieder zu fassen, bevor er fortfuhr: „Das Sterben, das können wir nicht aufhalten, nicht mit Chemos oder Strahlentherapie und auch nicht mit einer Operation. Leider. Aber wir können dafür sorgen, dass es noch nicht sofort passiert. Ich möchte Ihnen mögliche Wege aufzeigen, die Ihr Leben verlängern können!“
Gaby schnäuzte sich und nickte ergeben.
„Wir möchten eine neue Chemotherapie versuchen. Sie wird noch nicht lange für Lungenkarzinome verwendet und es ist auch nicht sicher, ob sie bei ihrem konkreten Fall den gewünschten Erfolg bringen wird, aber es wurden damit sehr gute Ergebnisse bei der Bekämpfung von Lymphdrüsentumoren erzielt. Wir könnten damit vielleicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Der Haken daran ist allerdings, dass diese Chemo sehr hoch dosiert werden muss und – das will ich gar nicht verschweigen – die Nebenwirkungen entsprechend schwerwiegend ausfallen können. Wir haben aber auch gute Medikamente, die wir parallel dazu und prophylaktisch geben können, um diese unerwünschten Effekte abzuschwächen.“
„Das heißt konkret?“, fragte Gaby müde. „Wie viele Sitzungen sollen das jetzt wieder sein?“
„Acht Sitzungen Chemotherapie begleitet von noch einmal acht Terminen Strahlentherapie, fürs Erste.“
Gaby glaubte, sich verhört zu haben. „Zweimal acht Sitzungen?“, wiederholte sie ungläubig.
Sie hatte jetzt gerade fünf Chemos hinter sich und mehr als dreißig Bestrahlungen, und sie fühlte sich ausgelaugt, müde und krank. Viel kränker als vor der Therapie, die sie eigentlich hätte gesundmachen sollen. Und jetzt noch einmal von vorne?
„Ich schaffe das nicht mehr“, erklärte sie ehrlich.
„Wir können leider vor der nächsten Gabe keine lange Pause machen, weil der letzte Befund nahelegt, dass wir es mit einem sehr rasch wachsenden Tumor zu tun haben. Jeder Tag, den wir warten, gibt dem Tumor Zeit, sich weiter auszubreiten.“
„Also sofort wieder weiter? Wann wollen Sie die nächste Chemo ansetzen?“
„Ich würde vorschlagen, dass wir Ihnen jetzt zwei Tage ein spezielles Aufbaupräparat geben und dann die nächste Chemotherapie starten.“
Gaby schluckte. Zwei Tage.
Sie befand sich jetzt seit drei Jahren praktisch ununterbrochen in ärztlicher Behandlung. Es fühlte sich an wie ein Hamsterrad, das sich drehte und drehte und sie einfach mitriss, ob sie es wollte oder nicht. Sie hatte versucht, Schritt zu halten, sie lief und lief und lief, ohne jemals irgendwo anzukommen. Ihr waren alle Entscheidungen abgenommen worden. Die Ärzte entschieden, welche Therapien sie brauchte, das Pflegepersonal entschied, welche Medikamente sie wann zusätzlich brauchte, um mit den Nebenwirkungen zurechtzukommen, der Diätplan gab vor, was sie essen konnte und sollte. Es war gar nicht ihr Kampf. Sie ließ es einfach geschehen. Therapie, Behandlung, Untersuchung, Therapie. Es passierte einfach ohne ihr Zutun.
In ihr reifte ein Entschluss. Es war ein flüchtiger Gedanke, doch plötzlich war Gaby klar, dass es das war, was sie wollte. Sie brauchte Zeit. Zeit für sich. Zeit, um sich darüber klarzuwerden, was wirklich wichtig war.
Entschieden erklärte sie: „Ich möchte nach Hause.“
Der Arzt sah sie verständnislos an. „Frau Henninger, ich glaube, Sie unterschätzen die Dringlichkeit der Lage …“
„Nein“, widersprach sie. „Ich möchte nach Hause.“
„Ich kann Sie jetzt nicht guten Gewissens entlassen. Wenn Sie gehen wollen, tun Sie das auf Ihre eigene Verantwortung.“
Es sollte wohl abschreckend klingen, doch genau das war es, was Gaby so schmerzlich vermisste: etwas auf ihre eigene Verantwortung zu tun. Es fühlte sich richtig an.
„Ja, das mache ich. Wo muss ich unterschreiben? Ich möchte sofort gehen.“ Schnell, bevor sie der Mut verließ. Gaby war plötzlich ganz aufgeregt.
Der Arzt schüttelte nur den Kopf. „Wie Sie möchten. Ich mache Ihnen die Papiere fertig. Aber bitte, fahren Sie jetzt nicht allein nach Hause. Lassen Sie sich abholen, ja?“
Gaby nickte.
Als sie aufstand, wollte sie entschlossen wirken, doch bereits die wenigen Meter vom Schreibtisch des Arztes zur Tür fielen ihr schwer. Der Mediziner bot ihr den Arm an, um sie hinauszuführen. Doch Gaby lehnte ab. Sie wollte ihm keinen Anlass bieten, noch einmal von der Notwendigkeit weiterer Behandlungen anzufangen. Ihre Entscheidung stand fest.
* *
„Mama, bitte, nimm doch Vernunft an!“, flehte David. „Du kannst doch deine Behandlungen jetzt nicht einfach abbrechen! Du musst doch …“
„Was muss ich?“, unterbrach sie ihn sanft. „Sterben muss ich. Das wohl. Und so, wie es aussieht, schon recht bald. Aber David, ich kann nicht mehr. Ich kämpfe schon so lange gegen diesen vermaledeiten Krebs. Ich brauche eine Pause. Wenn ich jetzt sofort wieder in die nächste Behandlung gehe, dann wird mich das ganz sicher umbringen!“ Sie fühlte sich unendlich müde.
David lenkte ein. „Ich verstehe dich. Ich weiß, was du durchmachst. Aber wenn du jetzt aufgibst, dann war das alles doch erst recht umsonst!“
Gaby seufzte. „Du redest, als ob ich einen Marathon kurz vor der Ziellinie abbrechen wollte. Wer sagt mir denn, wie viele Behandlungen noch kommen? Acht? Oder zwölf? Wer weiß denn, wie es weitergeht? Ob die nächste, oder die übernächste, oder vielleicht überhaupt keine Chemo anschlagen wird?“
Gaby wusste, dass ihr Sohn es nur gut mit ihr meinte, aber dieser kleine Disput mit ihm strengte sie bereits so sehr an, dass sie für einen Moment die Augen schließen musste.
Dann hatte sie sich wieder im Griff und fuhr mit festerer Stimme fort: „Ich brauche eine Auszeit. Ich muss erst einmal für mich selbst sortieren, wie es jetzt weitergehen soll. Die Heilungsaussichten sind ohnehin schlecht. Wer weiß, ob diese ganzen Strapazen überhaupt noch Sinn haben? Jedenfalls möchte ich nicht, dass das Letzte, was ich in meinem Leben sehe, Krankenhausflure und Betten mit elektrischer Höhenverstellung sind. Bitte versteh das, David.“
Sie konnte nicht ausmachen, ob er es wirklich verstand oder ob er sie nur nicht weiter anstrengen wollte, doch David nickte. „Dann komm, Mama.“ Er nahm ihre alte Tasche, warf sie sich lässig über die Schulter und hielt ihr den Arm hin, damit sie sich unterhaken konnte.
Aufstehen, am Arm ihres Sohnes einen Fuß vor den anderen setzen und so Schritt für Schritt das Krankenhauszimmer hinter sich lassen, war anstrengender, als sie gedacht hatte. Sie war froh, dass sie Davids Arm hatte, um sich festzuhalten. Dass sie aus dem Krankenhaus raus wollte, dringend einen Tapetenwechsel brauchte, hatte in ihren Ohren eben noch so logisch und sinnvoll geklungen. Jetzt kam es ihr plötzlich wie eine leichtfertige, dumme Idee vor. Auf dem Weg zum Auto musste Gaby zwischendurch Halt machen und sich auf eine Wartebank niedersetzen. Zweifel nagten an ihr. Wohin wollte sie denn? Sie war ja gar nicht in der Lage, allein zu bleiben.
David schienen ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen, denn er fragte: „Glaubst du, du kommst allein zu Hause klar?“
Gaby lächelte und machte ein, wie sie hoffte, zuversichtliches Gesicht. „Das wird schon. Ist nur heute schon wieder alles etwas viel gewesen. Ich leg mich jetzt dann gleich hin. Ich will nur in meine eigenen vier Wände. Mein eigenes Bett.“
David führte Gaby vor das Hauptportal der Uniklinik in der Ziemsenstraße und ließ sie dort unter dem Dach warten. „Ich hol das Auto.“
Es nieselte. Der Himmel war verhangen, die Sonne zeigte sich nicht. Der Frühling ließ auf sich warten, darüber konnten auch die vereinzelten Krokusse gegenüber dem Haupteingang nicht hinwegtäuschen. Fröstelnd zog Gaby ihre Jacke enger um ihre schmalen Schultern. Vor ein paar Wochen hatte die Jacke noch gepasst, jetzt schlackerte sie, wie alle ihre Kleider, an ihrem ausgezehrten Körper.
Davids BMW hielt vor den Stufen. Er ließ ihn mit laufendem Motor stehen und half seiner Mutter, auf der Beifahrerseite einzusteigen. „Ich hätte einen Regenschirm mitnehmen sollen“, sagte er entschuldigend.
„Lass nur …“, murmelte Gaby.
Die Fahrt durch die Stadt kam ihr unendlich weit vor. Die Hektik der Stadt, die vor dem Wagenfenster vorbeihuschte, verursachte ihr Übelkeit. Menschen, überall Menschen, Fahrräder, Autos, Ampeln …
* *
Die ersten beiden Tage blieb Gaby im Bett. Sie brachte nicht einmal genügend Energie auf, um sich anzuziehen. David hatte für sie eingekauft und ihr die Vorräte in den Kühlschrank geräumt. Doch sich an den Herd zu stellen und zu kochen, war ihr zu viel. Sie knabberte Brot und Käse, dazwischen einen Joghurt, das war alles, was sie hinunterbrachte. In ihrem Mund schmeckte sowieso alles gleich fad. Die Lebensmittel hatten ihren Geschmack und sie ihren Appetit verloren. Ihr Magen rebellierte gegen diese kleinen Mahlzeiten.
David richtete es sich jeden Tag ein, morgens und abends bei seiner Mutter vorbeizukommen. Er arbeitete am anderen Ende der Stadt. Die Fahrt von der Internet-Start-up-Firma, bei der er als Programmierer beschäftigt war, zu ihr und dann zurück nach Hause kostete ihn jedes Mal mindestens eine Stunde, das wusste sie, doch er nahm den Umweg ohne zu klagen auf sich. Im Krankenhaus hatte er sie nicht täglich besucht, dort hatte er sie wohl besser versorgt gewusst. Gaby freute sich über die Aufmerksamkeit und bemühte sich, jedes Mal frischer und gesünder zu wirken, damit David sich keine Sorgen zu machen brauchte. Natürlich wusste sie, dass er sich trotzdem sorgte.
„Wann gehst du wieder ins Krankenhaus?“, fragte er nach einer Woche zum ersten Mal.
Gaby hatte sich angezogen, geduscht und saß in einem frischen Hausanzug vor ihm. Sie hatte sich eine Perücke aufgesetzt und sogar einen Hauch Make-up ins Gesicht gezaubert. Sie lebte von einem Moment zum nächsten. Von einem guten Augenblick zum anderen: vom Stuhl im Esszimmer, den Flur hinunter bis zum Badezimmer, ohne zwischendurch an die Wand gelehnt stehen bleiben zu müssen, eine zerdrückte Banane und ein paar Löffel Joghurt, ohne sofort wieder erbrechen zu müssen, den Fernsehkrimi zu Ende sehen, ohne vorher vor Erschöpfung eingeschlafen zu sein …
„Ich weiß es noch nicht“, gab sie ehrlich zu. Den Gedanken an das Krankenhaus und die bevorstehenden weiteren Behandlungen hatte Gaby zu verdrängen versucht.
„Bitte, Mama, zögere es nicht zu lange hinaus“, bat er.
Gaby bemühte sich um ein Lächeln. „Ich habe nicht vor, kampflos abzutreten. Wirklich nicht.“
David verabschiedete sich bald von seiner Mutter. Gaby begleitete ihn zur Tür. Er küsste sie auf die Wange. Gaby bemerkte, dass auch er abgespannt und erschöpft aussah.
Nachdem er gegangen war, kehrte sie zurück in ihr Wohnzimmer und sank auf das Sofa. Ihr Blick schweifte durch den Raum, der ihr so vertraut war. Die Fenster hätten geputzt werden müssen. Normalerweise erledigte sie das in den ersten schönen Tagen des Jahres, damit der Schmutz und der Mief des Winters vertrieben wurden. Das Alpenveilchen auf dem Wohnzimmerfensterbrett hatte einen neuen Topf und Erde nötig. Oder wenigstens Wasser. Es war nicht Gabys Art, solche Dinge zu vernachlässigen. Sie war immer stolz darauf gewesen, dass sie ihren Haushalt im Griff hatte, auch als Alleinerziehende und Arbeitende. Jetzt hatte sie das Gefühl, dass um sie herum alles irgendwie verkam. Ihr Haus war ein Symbol für ihr Leben, das aus den Fugen geraten war.
Obwohl sie schon wieder fühlte, wie die Müdigkeit von ihr Besitz ergriff, zwang sie sich noch einmal aufzustehen. Langsam ging sie hinüber in die angrenzende Küche und füllte die kleine Gießkanne mit Wasser. Sie goss nicht nur das Alpenveilchen, sondern schritt nach und nach alle Fenster in der Wohnung ab. Zurück im Wohnzimmer fühlte sie sich, als hätte sie einen Marathon hinter sich. Aber es war ein kleiner Schritt zurück ins Leben. Das Gefühl war unbeschreiblich.
* *
Das Telefon klingelte. Die tägliche Scharade, die sie zu Davids Besuchen spielte, und das Blumengießen hatten sie so viel Kraft gekostet, dass sie einfach sitzen blieb und den Anrufbeantworter annehmen ließ.
„Gaby, wo bist du? Ich mache mir ja schon die allergrößten Sorgen. David hat mir erzählt, dass du zu Hause bist. Bist du unterwegs? Wie geht's dir?“ Die aufgeregte Stimme ihrer Freundin Susanne, die mit ihrem AB sprach, drang an Gabys Ohr. Susanne und Gaby kannten sich seit Kindertagen. Leider war Susanne einem verlockenden Jobangebot nach Cochem gefolgt und lebte seitdem an der schönen Mosel. Gaby hatte es nur selten geschafft, sie dort zu besuchen. Glücklicherweise war aber Susanne öfter nach München gekommen und hatte dafür gesorgt, dass ihre Freundschaft durch die Distanz nicht abriss.
Gaby kämpfte sich auf die Beine und nahm den Anruf doch entgegen. „Hallo, Susa“, sagte sie. „Ich bin zu Hause. Hab’s nur nicht so schnell ans Telefon geschafft.“ Sie ließ sich, das Telefon am Ohr, wieder auf das Sofa sinken.
Susanne fuhr aufgeregt fort: „Hast du dich wirklich selbst entlassen? Auf eigene Gefahr? Sag, Gaby, haben die Ärzte dich nicht gehen lassen wollen?“
„Nein“, nutzte Gaby eine Atempause Susannes, um ihr zu antworten. Sie war schon immer eine Quasselstrippe gewesen. Vielleicht war sie deshalb so erfolgreich in ihrem Beruf als Anlageberaterin für Firmen. „Nein“, wiederholte Gaby. „Sie wollten gleich weitermachen mit der nächsten Behandlung.“
„Du klingst müde“, stellte Susanne fest. „Du hattest eine Pause nötig.“ Schon immer hatte Susanne beinahe besser als Gaby selbst gewusst, was diese bewegte und brauchte.
„Ich bin ständig müde. Aber wenn ich im Bett liege, dann kann ich nicht schlafen“, räumte Gaby ein.
„Isst du wenigstens was?“, fragte Susanne und legte damit zielsicher den Finger in die nächste Wunde. Manchmal war ihr Spürsinn fast ein bisschen unheimlich.
„Ich bemühe mich“, log Gaby.
„Und wie soll's jetzt weitergehen? Willst du wirklich sofort wieder in diese Tretmühle zurück?“
Gaby seufzte. Zumindest überfiel Susanne sie nicht wie David mit Vorwürfen und der Anschuldigung, sie würde ihre letzte Chance vertun. Da fiel es ihr leichter, ihre eigenen Ängste in Worte zu kleiden. „Ich weiß es nicht. Manchmal denke ich, ich müsste sofort wieder hin und weitermachen. Einfach immer weiter. Aber dann denke ich, es bringt doch sowieso nichts. Die letzten Behandlungen haben ja auch nicht geholfen. Der Tumor in der Lunge ist zwar eingedämmt, also, er ist zumindest nicht mehr gewachsen, aber kleiner geworden ist er auch nicht. Dazu kommen jetzt neue Herde in der Lymphe und am Rücken. Die nächste Chemo wird noch aggressiver als die letzten und sie wollen mindestens acht davon ansetzen.“ Die ganze aufgestaute Verzweiflung brach aus Gaby heraus.
Einen Moment war sogar Susanne sprachlos, was ihr selten passierte.
„Das klingt nicht gut“, sagte sie schließlich.
„Nein …“ Gaby kämpfte schon wieder mit den Tränen. Sie weinte viel dieser Tage.
„Ach scheiße, Gaby“, stieß Susanne hervor. „Ich würde so gerne runterkommen zu euch und dir unter die Arme greifen. Du brauchst dringend ein paar gute Gespräche! Das kann doch nicht gesund sein, im Krankenhaus zu liegen und an die Decke zu starren und mit den Gedanken die ganze Zeit nur um das eine Problem zu kreisen. Es wundert mich, dass du nicht völlig verrückt geworden bist in der ganzen Zeit. Und du brauchst eine gute Köchin, die dich wieder aufpäppelt.“
Unwillkürlich musste Gaby unter ihren Tränen grinsen. Susanne war eine begnadete Köchin und die beiden Freundinnen hatten unzählige Male gemeinsam gekocht. Susanne war eine exzessive Genießerin, sie konnte genauso hingebungsvoll essen, wie sie die Speisen zubereitete. Schon lange, bevor das in Mode gekommen war, hatte sie auf eine ausgewogene, hochwertige Küche Wert gelegt. Mit Zutaten aus der ganzen weiten Welt hatte sie schon experimentiert. Ja, die Kochkunst der Freundin wäre sicher in der Lage, ihr wieder auf die Beine zu helfen.
„Deine Hühnerbrühe ist legendär“, erinnerte Gaby sich.
„Die hat schon so manche Grippe kuriert“, ergänzte Susanne und ließ ihr glockenhelles Lachen hören. Auch Susannes unerschütterlicher Humor würde ihr sicher helfen, dachte Gaby.
„Und manchen Liebeskummer“, fügte Susanne noch hinzu.
Sowohl Gaby als auch Susanne hatten eine schmerzhafte Scheidung hinter sich, diese geteilte Erfahrung verband die beiden Frauen zusätzlich. Bei Gaby war dieses Ereignis bereits mehr als dreißig Jahre her, Susannes Trennung lag weniger lange zurück. Doch ihre unbeugsame Lebenslust hatte Susanne sich davon nicht nehmen lassen.
„Ich weiß, was wir machen“, sagte Susanne unvermittelt.
„Du kochst mir deine unvergleichbare Hühnerbrühe, packst sie ein und schickst sie mir her?“, scherzte Gaby. Schon die Unterhaltung mit der Freundin half ihr ein wenig, auf andere Gedanken zu kommen.
„Nein, viel besser. Du kommst selber her und ich koch sie dir hier! Das wird super!“ Susanne war von ihrer eigenen Idee total begeistert. „Du warst so lange nicht mehr hier! Und die schöne Landschaft, die Hühnerbrühe und natürlich der Moselwein werden dich ratzfatz wieder auf die Beine bringen. Schneller als diese Ärzte mit ihren Foltermethoden!“
Der Gedanke zauberte für einen winzigen Augenblick ein Lächeln auf Gabys Lippen. Dann schaltete sich ihr Verstand wieder ein. Eine Reise an die Mosel war viel zu weit und zu anstrengend für sie in ihrem Zustand. Ganz davon abgesehen, was die Ärzte dazu sagen würden. Oder David.
„Das wäre wirklich wunderbar. Ich würde liebend gern mit dir durch die Weinberge wandern und in einem kleinen Weingut einkehren. Aber du weißt, dass das nicht geht. Ich kann ja hier in meinen eigenen vier Wänden kaum lang genug aufbleiben, um den Haushalt gebacken zu kriegen. Und wenn es nach meinen Ärzten oder meinem Sohn ginge, wäre ich eher heute als morgen wieder in der Klinik.“
Susanne ließ ihre Argumente nicht gelten. „Papperlapapp. Du brauchst etwas Abstand und endlich mal eine Weile keinen Weißkittel mehr, der dir vorschreibt, was du zu tun und zu lassen hast. Und glaub mir, der Haushalt ist nicht das Wichtigste, was außerhalb des Krankenhauses auf dich wartet! Wann hast du das letzte Mal einfach aus voller Kehle gelacht? Hattest du mal Spaß in deinem Krankenhaus da? Wann hast du zuletzt etwas mit richtig Appetit gegessen? Etwas, das mit Liebe zubereitet wurde und nicht mit einer Nährwerttabelle?“
Gaby musste sich eingestehen, dass an Susannes Argumenten durchaus etwas dran war. „Ins Krankenhaus geht man ja auch nicht, um Spaß zu haben“, warf sie trotzdem ein.
„Wieso eigentlich nicht?“, entgegnete Susanne fröhlich. „Kennst du Eckhart von Hirschhausen? Den Komiker-Arzt? Der schwört auch darauf, dass nichts so heilsam ist wie Humor und ein herzhaftes Lachen.“
„Da mag er ja durchaus recht haben. Gegen Krebs hilft eine Chemo aber nachweislich besser als ein Clown.“
„Dafür bist du jetzt nicht unbedingt der Beweis, meine Liebe. Bisher hat die Chemo bei dir mehr kaputtgemacht als geheilt. Du kommst mir heute kränker vor als vor den ganzen Behandlungen.“
Gaby konnte sich nicht dagegen erwehren, dass sie Susannes Argumentation anziehender fand als die des Arztes. Sie wusste gleichwohl, was der Arzt dazu zu sagen gehabt hätte. Und auch ihr Sohn David. An den durfte sie gar nicht denken, er würde die Wände hochgehen, wenn sie ihm eröffnete, dass sie anstatt wieder ins Krankenhaus zu gehen, zu Susanne nach Cochem fahren wollte. Nein, es war der blanke Irrsinn! Aber sie würde sich an der Vorstellung laben.
„Wann kommst du?“, fragte Susanne in Gabys Überlegungen hinein. „Am besten, du nimmst den Zug. Das ist für dich am entspanntesten. Oder du bittest David, dass er dich herfährt. Das könnte er eigentlich tun! Immerhin ist er dann erst einmal von der Sorge um seine kranke Mutter entbunden.“
Bei Susanne klang immer alles so einfach. Gaby seufzte. „Das wird jetzt zur fixen Idee bei dir, oder?“
„Warum denn nicht? Sag mir einen Grund, der dagegenspricht. Wir machen es uns hier eine Weile schön, du kannst bleiben, solange du willst. Und wenn du dich wieder stark genug fühlst, dann kannst du deine Therapie immer noch aufnehmen.“
„Du schaffst mich“, jammerte Gaby halbherzig.
„Wenn ich dich schaffe, dann schaff ich den Krebs doch mit links“, gab Susanne zu bedenken. „Weißt du, du kannst nicht ewig nur für andere leben. Du hast noch nie etwas von deinem Leben gehabt. Erst hast du für deinen Exmann gelebt, dann für deinen Sohn und immer nur geschuftet und gerackert, damit es für euch beide halbwegs umging. Kümmere dich endlich einmal um dich, bevor es zu spät ist! Tu etwas nur deshalb, weil es dir guttut. Wenn du heute abtrittst, was sagst du dann rückblickend über dein Leben? War es das wert?“
Gaby erschrak darüber, wie ihre Freundin ihr Leben sah. „So negativ würde ich das nicht ausdrücken“, widersprach sie. So hart ging sie mit sich selbst nicht ins Gericht, obwohl Susanne im Kern durchaus nicht Unrecht hatte.
„Wie denn dann? Wenn du heute noch auf einer Wolke sitzen würdest, woran würdest du gern zurückdenken?“
Gaby überlegte einen Moment. „Ich habe ein gutes Leben, einen großartigen Sohn, der sein Leben wunderbar meistert und …“
„Du, Gaby“, unterbrach Susanne. „Ich habe nach dir gefragt, nicht nach David. Dass du die beste Mutter bist, die er sich wünschen konnte, und er nur deshalb so ein fabelhafter Kerl wurde, weil er dich zur Mutter und zum Vater gleichzeitig hatte, das steht außer Frage. Aber wo bleibst du?“
„Ich habe doch auch alles, was ich brauche“, sagte Gaby verunsichert.
„Und was wäre das konkret? Was brauchst du? Was tut dir gut?“, bohrte Susanne nach.
Gaby überlegte.
Susanne gab ihr noch ein paar Hilfestellungen: „Wenn du jetzt mal den Krebs außen vor lässt und alles, was dir diese Quacksalber geraten haben. Und vergiss auch mal David für einen Moment; dein Sohn ist erwachsen, der kommt auch mal ohne seine Mutter klar. Wenn du nur in dich hineinhorchst: Was würde dir jetzt helfen?“
Resigniert gestand Gaby ein: „Du hast ja recht. Wie so oft hast du recht. Natürlich wäre eine Reise zu dir jetzt das, was mir guttun würde. Nicht nur wegen der Hühnerbrühe.“
„Siehst du!“, triumphierte Susanne. „Also, worauf wartest du noch?“
Als Gaby auflegte, hatten sie die Eckdaten der Reise an die Mosel bereits fix gemacht. Sie hatte zwar keine Ahnung, wie sie das David beibringen sollte, doch tief in ihrem Herzen wusste Gaby, dass es richtig war zu fahren.
Der Weiße Riesling ist die in Deutschland am weitesten verbreitete Rebsorte. Sie wird vor allem im Rheingau und an der Mosel an steilen Hängen kultiviert. Für die kühleren, nördlicheren Weinregionen eignet sie sich besonders gut.
Gaby sorgte sich hauptsächlich darum, wie David auf ihre Reisepläne reagieren würde. Sie hatte das Gespräch so lange vor sich hergeschoben. Als die Abfahrt schließlich schon so nah vor der Tür stand, dass sie keine Wahl mehr hatte, als ihm von ihren Plänen zu erzählen, platzte sie doch endlich damit heraus.
„Ich weiß, was du jetzt denkst“, beendete sie ihr Geständnis. „Ich erwarte nicht, dass du meinen Schritt verstehst, aber vielleicht kannst du wenigstens akzeptieren, dass ich jetzt erst einmal wieder zu Kräften kommen und einfach mal etwas für mich tun möchte.“ Sie bediente sich derselben Argumente, die Susanne ihr gegenüber gebracht hatte.
Doch David widersprach ihr gar nicht. „Wenn du denkst, dass dir das hilft, Mama, dann musst du das so machen“, erwiderte er. „Aber bitte versprich mir, dass du nach dem Besuch bei Tante Susa das tun wirst, was dir die Ärzte raten.“
Gaby fand, dass das ein fairer Kompromiss war. „Ja, David, das werde ich. Versprochen.“
Dann half David ihr, ein paar Sachen für die Fahrt zu packen. Es musste alles in eine kleine Tasche passen, denn sie würde umsteigen müssen.
* *
Gaby hatte Davids Angebot, sie mit dem Auto zu fahren, abgelehnt. Sie fühlte sich der Aufgabe, die Reise mit dem Zug anzutreten, inzwischen gewachsen und irgendwie hatte sie das Gefühl, sie müsse diesen Schritt alleine gehen.
Sie hatte ihre Sachen schließlich in einen kleinen Trolley gepackt, den sie hinter sich herziehen und auf den sie sich notfalls auch kurz setzen konnte. In ihrer Handtasche befand sich eine halbe Apotheke. So bestieg sie ein Taxi zum Hauptbahnhof.
„Wo soll's denn hingehen?“, begann der junge Taxifahrer eine Konversation.
„An die Mosel“, berichtete Gaby wahrheitsgemäß.
„So weit? Hoffentlich fahren Ihre Züge pünktlich. Müssen Sie oft umsteigen?“ Das Zutrauen des Taxlers in die Zuverlässigkeit der Deutschen Bahn war offensichtlich nicht sehr groß.
„Zweimal“, erklärte Gaby und warf sicherheitshalber einen Blick auf ihre Unterlagen. „Einmal in Mannheim und dann in Koblenz.“
Der junge Mann mit dem fusseligen Bart suchte über den Rückspiegel den Blickkontakt mit ihr. „Da haben Sie wirklich ganz schön was vor. Wie lange fahren Sie denn da?“
„Fünf Stunden achtunddreißig. Heute Abend um halb sechs bin ich dort.“ Gaby freute sich auf die Zugfahrt. Sie war lange nicht mehr unterwegs gewesen. Die damit verbundene Anstrengung jedoch machte ihr ein wenig Sorgen.
Offenbar sah der junge Mann ihr die Anspannung an, denn er sagte beruhigend: „Muss ja nicht so schlimm werden. Die meisten Züge sind pünktlich, man merkt sich halt immer die, die's nicht waren.“
Er bog vor dem Seiteneingang des Bahnhofs ab und reihte sich in der Taxiwarteschlange ein. „Wir sind da“, erklärte er fröhlich.
Der Taxameter zeigte zwölf Euro fünfzig. Gaby gab dem netten jungen Mann fünfzehn Euro. „Stimmt so.“
Eifrig kam der Fahrer um sein Auto herum und half ihr beim Aussteigen, dann öffnete er die Kofferraumklappe und gab ihr das Rollköfferchen. „Gute Fahrt! Und viel Spaß an der Mosel“, wünschte er zum Abschied.
Gaby griff sich ihren Koffer und steuerte die Bahnhofshalle an. Der ICE nach Mannheim ging vom Gleis 13. Gaby hatte sich fest vorgenommen, das nicht als schlechtes Omen aufzufassen. Sie war mit großzügigem Vorlauf zum Bahnhof gekommen, sodass sie sich jetzt noch mit Reiseproviant und einer Illustrierten eindecken konnte.
In der Bahnhofsbuchhandlung studierte sie aufmerksam die riesige Auswahl an Taschenbüchern und Zeitschriften. Statt der gesuchten Illustrierten blieb sie an einem Buch hängen. Eine romantische Komödie mit einem fröhlichen, bunten Schmetterling auf dem Cover. Es ging um eine Frau, die nach jahrelanger Ehe überraschend herausfand, dass ihr Mann sie betrog. Die Autorin Ildikó von Kürthy war ihr vor Jahren schon einmal untergekommen und sie glaubte, das Buch damals sehr genossen zu haben, obwohl ihr heute der Titel nicht mehr einfallen wollte. Gaby nahm das Buch kurzerhand mit. Es klang genau nach der lockeren Unterhaltungslektüre, die sie auf der Fahrt gebrauchen konnte. Zur Sicherheit, falls das Buch doch nicht hielt, was es versprach, packte sie noch eine bunte Gazette obendrauf. Für die Adelshäuser Europas hatte sie sich zwar noch nie ernsthaft interessiert, aber sie dachte, dass das Schicksal der Reichen und Schönen sie davon ablenken würde, über ihre Krankheit nachzudenken.
Draußen auf dem Vorplatz vor den Gleisen holte sie sich noch einen Kaffee im Becher zum Mitnehmen und eine Flasche Wasser für später, dann suchte sie sich den richtigen Bahnsteig.
Ihr Zug war bereits angekündigt, aber das Gleis war noch leer, also nahm sie ihre Sachen und spazierte ein Stück den Bahnsteig hinunter, wo mehrere Sitzbänke die Wartenden zum Verweilen einluden. Glücklicherweise fand sie einen freien Platz. Die Fahrt mit dem Taxi, das kurze Einkaufen und der Gang zum Bahngleis hatten sie doch wieder sehr angestrengt. Gaby verfluchte ihren kranken Körper, der es ihr nicht einmal mehr möglich machte, einfachste Verrichtungen zu tätigen, ohne sofort kurzatmig, schwindlig und müde zu werden.
Während sie auf ihren Zug wartete, kramte sie ihr Handy heraus und schrieb David eine SMS, um ihn wissen zu lassen, dass sie gut losgekommen war. Ihr Sohn hatte ihr noch eingebläut, dass sie sich ja regelmäßig bei ihm melden und auch entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit das Handy eingeschaltet lassen sollte. Es rührte sie, dass er sich so um sie sorgte. Jahrzehntelang war es anders herum gewesen. Da war sie es gewesen, die ihn ermahnte, anzurufen, sobald er angekommen war. Sie hatte ihn zum Bus gebracht, der ihn ins Landschulheim oder ins Ferienlager fuhr. Sie war es gewesen, die hinterher winkte und heimlich ein Tränchen verdrückte, weil sie dann eine ganze Woche allein in der Wohnung sein würde. Sie hatte ihn abgeholt und sein Lieblingsessen vorbereitet, damit er immer gern nach Hause zurückkam. Dreißig Jahre lang war sie ihm Mutter und Vater in Personalunion gewesen.
Jetzt hatten sie irgendwie unbemerkt die Rollen getauscht. Seit sie diesen vermaledeiten Krebs hatte, war sie zum Kind und er zum Elternteil geworden. Jetzt kümmerte David sich darum, dass seine Mutter genügend zu essen bekam. Er sorgte sich, ob sie genug schlief, ob sie es auch warm hatte und dass ihr unterwegs nichts passierte. Sie war nicht mehr seine größte Stütze, sondern plötzlich seine größte Sorge.
Gaby seufzte und steckte ihr altes Handy wieder in die Tasche. Vielleicht würde ihr der Aufenthalt bei Susanne helfen, wieder zurück in ihre alte Rolle zu finden. Jedenfalls hoffte sie das sehr.
Quietschend fuhr der ICE in den Kopfbahnhof ein. Seine Bremsen quietschten, als er ruckartig vor den Wartenden zum Stehen kam. Die Lautsprecher knackten und eine freundlichunbeteiligte Stimme verkündete: „Am Gleis 13, willkommen in München. Sie haben Anschluss an den ICE nach Hamburg Altona auf Gleis 22, über Würzburg, Erfurt, Berlin, und an den Railjet nach Budapest auf Gleis 12. Wir wünschen eine angenehme Weiterfahrt und allen, die in München bleiben, einen angenehmen Aufenthalt.“
Die Stimme wiederholte die Ansage noch auf Englisch, während Gaby ihre Sachen zusammenraffte, um sich einen Platz in der zweiten Klasse zu sichern. Erster Klasse zu fahren, hatte sie nicht über sich gebracht, obwohl David ihr dazu geraten hatte. Sie fand einen Sitzplatz am Fenster und hievte ihr Köfferchen mühsam ins Gepäckfach. Als sie sich setzte, atmete sie erleichtert aus. Geschafft. Für die nächsten drei Stunden musste sie einfach nur dasitzen.
Mit einem Ruck setzte sich der ICE in Bewegung. Er ruckelte und zuckelte aus der überdachten Bahnhofshalle hinaus und schlängelte sich dann durch das Gewirr an Gleisen und Weichen.
Gaby beobachtete durch das Fenster, wie ihre Heimatstadt draußen vorbeizog. Der Ausblick von den Schienen war nicht so schick und trendig, wie die bayerische Landeshauptstadt sich gerne darstellte. Von hier aus sah man eher die Kehrseite, die schmutzige Großstadt, graffitiverschmierte Lagerhallen und baufällige Betonblöcke. Das Wetter zeigte sich heute auch nicht gnädig. Der verhangene Himmel hatte schon so etwas vermuten lassen, und als sie aus dem Innenstadtbereich hinausglitten, klatschten die ersten Regentropfen gegen die Wagonscheibe.
Gaby zog das Buch aus der Tasche, das sie am Bahnhof gekauft hatte, und begann darin zu lesen. Obwohl die Geschichte sie schnell in ihren Bann zog, überkam sie eine bleierne Müdigkeit, die sie seit den Chemos nachts schmerzlich vermisste, und so steckte sie das Buch wieder weg und schloss die Augen.
* *
In Mannheim musste sie umsteigen. Zehn Minuten hatte sie dafür Zeit, musste aber nur vom Gleis 3 zum Gleis 2 wechseln. Obwohl der Weg nicht weit war und sie ihren Anschlusszug locker erreichte, ging ihr Atem stoßweise, als sie im EuroCity Richtung Hamburg Altona Platz nahm. Nicht ganz zwei Stunden würde die Fahrt bis Koblenz dauern. Langsam begann sie die Reise anzustrengen, und das, obwohl sie doch gar nicht viel mehr tun musste, als zu sitzen und zu warten. In Koblenz würde sie nur sechs Minuten zum Umsteigen haben und in dieser Zeit musste sie vom Gleis 3 zum Gleis 9 wechseln. Die Regionalbahn nach Trier würde sie dann nach Cochem bringen, wo Susanne sie am Bahnhof abholen wollte.
Inzwischen regnete es in Strömen. Die Wassertropfen wurden vom Wind gegen die Scheibe gepeitscht. Draußen sah man nur wenige Menschen, eingepackt in dicke Jacken und die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Bunte Regenschirme tanzten als bunte Tupfen durch die Landschaft.
Als der Zug wieder Fahrt aufnahm, ließen das gleichmäßige Rattern der Räder und die vorbeiziehende Landschaft Gaby wieder einnicken.
Auch in Koblenz gelang es ihr, den Zug zu erreichen, und sie sank schwer atmend in die Polster ihres Sitzplatzes. Zwischendurch waren die Abteile recht voll gewesen, doch jetzt waren nur ein paar vereinzelte Pendler unterwegs. Die letzte Etappe ihrer Reise brach an. Gaby freute sich darauf, Susanne wiederzusehen, und sie sehnte das Ende ihrer Fahrt herbei. Es war doch anstrengender, als sie gedacht hatte.
Die Bahnlinie folgte ab Koblenz dem Lauf der Mosel. Gaby ließ ihr Buch in der Tasche und sah hinaus auf den Fluss und die Weinberge. Trotz Nieselregens war die Schönheit der Landschaft unverkennbar. Sie war lange nicht mehr hier gewesen, doch wie schon die Male zuvor konnte Gaby Susanne verstehen, dass sie auch nach der Scheidung hatte hierbleiben wollen.
* *
Eine halbe Stunde später erreichte der Zug den Bahnhof von Cochem. Der Regen hatte aufgehört und zwischen den Wolken blitzte tatsächlich kurz die Sonne hervor. Gaby nahm das als gutes Omen und schleppte sich hinaus auf den Bahnhofsvorplatz. Hoffentlich war Susanne schon da. Sie stellte ihren Koffer ab und schirmte die Augen gegen die plötzliche Helligkeit ab. Von Susanne fehlte jede Spur. Gaby hatte das Gefühl, dass sie jeden Moment umkippen würde. Schon das Umsteigen in Koblenz hatte ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht. Erschöpft sank sie auf ihr Köfferchen.
„Halloooohoooo!“ Susannes allzeit fröhliche Stimme drang an Gabys erleichtertes Ohr. Schon war sie neben Gaby, hüllte sie ein in eine Wolke aus Parfüm und Herzlichkeit und küsste sie überschwänglich auf beide Wangen. „Lass dich anschauen!“
Gaby bemühte sich, ein entspanntes Gesicht zu machen. Doch Susanne konnte sie damit nicht täuschen.
„Grundgütiger, Gaby!“ Susannes Gesicht verfinsterte sich. „Du siehst ja grauenvoll aus!“
Gaby zog einen Schmollmund. „Na prima, du hast wirklich ein Talent, einen aufzubauen.“
Schon ließ Susanne wieder ihr unwiderstehliches Kichern hören. „Entschuldige, meine Liebe. Ich bin ein Trampel. Du bist ja hier, damit wir dich wieder aufpäppeln.“
„Könnten wir vielleicht gleich damit anfangen? Bei dir zu Hause?“, bat Gaby.
Ohne einen weiteren Kommentar hob Susanne das Köfferchen hoch und griff mit der anderen Hand unter Gabys Arm. So führte sie sie die Treppe hinunter in Richtung Parkplatz, wo sie Gaby und Gepäck in ihrem Saab verstaute. Kurz darauf lenkte sie ihren Wagen durch die Straßen des Moselstädtchens.
Susanne bewohnte ein kleines Häuschen am Stadtrand von Cochem mit Blick direkt in die Weinberge. Das geschwungene Walmdach saß auf dem kleinen Fachwerkbau wie eine übergroße Zwergenmütze. Susanne hatte es nach ihrer gescheiterten Ehe für sich gekauft und liebevoll renoviert. Weil sie vieles selbst machte, war die Renovierung eigentlich nie so wirklich abgeschlossen, aber das Unfertige verlieh dem Häuschen seinen ganz eigenen Charme.
Der völlig verwilderte Garten schien geradewegs einem Märchen entsprungen zu sein, man wartete förmlich darauf, dass sich der alte Brunnen als Eingang zu Frau Holles Reich entpuppte, oder hinter der dichten Wildrosenhecke das Schloss von Dornröschen hervorblitzte. Die moderne Praxis, Vorgärten mit Schotter aufzufüllen und zwei akkurat geschnittene Koniferen hinein-zupflanzen, war Susanne zuwider. Solche Hausherren hätten beim Anblick von Susannes Garten vermutlich Schnappatmung bekommen. Auf Gaby wirkte das wohlsortierte Chaos hingegen sofort entspannend. Hier musste man nicht funktionieren oder perfekt sein. Bei Susanne durfte sie einfach sie selbst sein. Krank, kaputt und ausgelaugt – aber sie selbst.
Hinter der Hecke begann direkt der Weinberg, ein altes verrostetes Gartentor führte hinaus auf einen steinigen Weg. Der Himmel zeigte sich frühlingshaft blau, sodass Gaby und Susanne sich erst einmal auf der kleinen Veranda niederließen.
„Brauchst du eine Decke? Nicht, dass du dich noch erkältest. Dein Immunsystem ist wahrscheinlich auch nicht ganz auf dem Damm, oder?“, fragte Susanne fürsorglich.
Gaby winkte ab. Sie hatte sich in einen bunten Hängesessel gekuschelt, der von einem alten Deckenbalken baumelte. Im Rosenbeet direkt vor der Terrasse, wo die alten englischen Rosenzüchtungen gegen die Konkurrenz von allerlei wilden Kräutern ankämpften, lag zusammengerollt Susannes dicker Kater in der Sonne. Sein weißes Fell hob sich deutlich von der braun-grünen Umgebung ab. Gaby konnte sich kein friedlicheres Plätzchen auf der Welt vorstellen.
Susanne klapperte in der Wohnküche herum. Durch die Fransen des zerlumpten Fliegengitters, das in Streifen von der Terrassentür herunterhing, aber seiner eigentlichen Bestimmung schon lange nicht mehr nachkam, rief sie: „Magst du Tee? Ich hoffe, du hast Hunger. Ich hab Erdbeerkuchen gebacken. Sind noch spanische Erdbeeren, aber ich hab sie aus dem Bioladen unten an der Kreuzung. Man weiß ja sonst immer nicht, wo das Zeug herkommt. Ich habe heuer wieder selber welche gezogen, aber das dauert noch, bis die Früchte tragen. Willst du Sahne dazu?“
Susannes zusammenhangloses Geplapper lullte Gaby ein, der blumige Duft von Früchtetee stieg ihr in die Nase. Sie hätte gerade, so, wie sie da saß, einschlafen können. Zum ersten Mal seit Langem war es nicht diese unerträglich lähmende Müdigkeit, die sie überfiel, sondern eine angenehme, schwere Schläfrigkeit. Sie gähnte herzhaft und sah ihr Gähnen im flauschigen Gesicht des Katers gespiegelt, der sich gerade genüsslich nach allen Seiten streckte, nur um sich dann zweimal um seine eigene Achse zu drehen und in seiner neuen Position erneut wegzuschlummern.
„Du hast so recht, Kleiner“, murmelte Gaby und fast wäre sie noch vor dem angekündigten Kuchen eingeschlafen.
Die ersten Tage bei Susanne vergingen für Gaby in angenehmer Trägheit. Sie hatte keine Termine, nichts, das erledigt werden musste. Susanne erwartete keinerlei Mithilfe von ihrem Gast. Da sie keinen Urlaub hatte, ging Susanne morgens wie gewohnt zur Arbeit und überließ Gaby solange ihr Haus. Susanne vergaß nie, Gaby das Frühstück bereitzustellen; wenn sie aufstand, war Susanne längst unterwegs, doch auf dem großen, alten Eichentisch in der Wohnküche standen eine saubere Tasse, ein Teller und Besteck bereit. Der Kaffee wartete schon in der Thermoskanne und frische Brötchen oder Brot vom Bäcker am Eck hatte Susanne auch schon geholt. So blieb Gaby nicht wirklich viel zu tun. Um sich ein wenig erkenntlich zu zeigen, räumte Gaby die Küche auf, wenn noch das Geschirr vom Abendessen herumstand, spülte das Frühstücksgeschirr und räumte es wieder in die zusammengewürfelten Küchenschränke. Ein richtiges Konzept schien Susanne beim Einräumen ihrer Schränke ohnehin nicht zu haben, also stellte Gaby Tassen, Teller und Töpfe einfach da hin, wo sie Platz fand.
Danach saß Gaby auf dem Sofa oder, wenn das Wetter es zuließ, auch gern auf der Terrasse. Das Buch vom Bahnhof hatte sie bereits ausgelesen, aber in Susannes Häuschen gab es so viele Bücher, die unsortiert in den Regalen standen und lagen oder sich einfach in einer Ecke auftürmten, dass sie schnell Ersatz gefunden hatte. Gesellschaft leistete Gaby, wenn Susanne außer Haus war, der dicke Kater. Sein Name war Leo und ihm war es offenbar ganz egal, wer ihn streichelte und ihm auf sein Miauen hin die Tür öffnete. Er war ein guter Gesellschafter. Wenn Gaby sich einsam fühlte, war er da und schnurrte die Melancholie fort, aber er stellte keine Forderungen an sie. Beschäftigte Gaby sich mit etwas anderem, genügte Leo sich auch allein.
Wenn Susanne nachmittags nach Hause kam, hatte sie gleich den Einkauf fürs Abendessen dabei und kochte. Gaby half ihr dabei: Sie schnippelte Gemüse an dem großen Eichentisch oder deckte den Tisch für sie beide. Danach saßen sie noch lange zusammen, plauderten über die alten Zeiten, blätterten in Fotoalben oder sahen sich gemeinsam einen Film an. Susanne besaß keinen Fernseher, aber einen Laptop; mithilfe eines Beamers warf sie das Bild einfach an die weiße Wohnzimmerwand. Wie Gaby liebte Susanne alte schwarz-weiß Filme. In bunte Wolldecken gehüllt, eine Kanne Tee auf einem Stövchen auf dem Tisch und selbstgebackene Kekse dazu, saßen die Freundinnen dann jede in einer Ecke des großen Sofas und folgten den flimmernden Bildern von Casablanca und La Strada. Obwohl sie die Filme schon unzählige Male gesehen hatte, verdrückte Gaby ein paar Tränchen und fand es befreiend, das tragische Schicksal anderer zu beweinen anstatt das eigene.
* *
Das Wetter war tatsächlich mit jedem Tag, den sie hier war, besser geworden. Und genauso, wie sich das Wetter gebessert hatte, fand auch Gaby langsam zu ihren alten Lebensgeistern zurück. In Susannes kleinem Garten, rund um ihr Hexenhäuschen herum, blühten die Narzissen, Tulpen und Forsythien. Die Vögel kehrten von ihren Winterquartieren zurück und sangen in den Hecken und Bäumen Balzlieder. Nach dem kalten Winter und der langen Zeit, die sie nur Krankenhausräume gesehen hatte, tat Gaby der Aufenthalt in der Natur wirklich gut. Zu Hause in München hätte sie vom Frühling nicht viel mitbekommen, wahrscheinlich hätte sie die Tage doch nur in ihrer Wohnung verbracht, wo sie kaum den blauen Himmel sehen konnte. Bei Susanne war das ganz anders, hier schien ihr die Frühlingssonne direkt ins Gesicht. Sie hörte, wenn sie mit geschlossenen Augen und bis zum Hals in eine Decke gewickelt im Hängestuhl saß, die fleißigen Bienchen und Insekten brummen, die sich hungrig über die ersten Blüten des Jahres hermachten. Weil Susannes Häuschen so weit außerhalb lag, noch dazu in einer Straße, die hinter dem Haus in einen Feldweg mündete, gab es hier so gut wie keinen Straßenlärm. Fuhr doch einmal ein Auto vorbei, so riss das Motorengeräusch Gaby regelrecht aus ihrer Ruhe. Hin und wieder kam das vor, denn die Winzer, denen die Weinberge hinter Susannes Häuschen gehörten, waren in zu dieser Jahreszeit ebenso emsig wie die Bienen. So vergingen die Tage.
Nach drei Tagen kam Susanne mit einem Vorschlag auf Gaby zu: „Komm, wir machen nur einen kleinen Spaziergang. Es gibt unterwegs Bänke, da können wir Pause machen, wenn es dir zu viel wird. Bitte gib dir einen Ruck, das Wetter ist so schön!“
Gaby fiel es schwer, Susannes Betteln zu widerstehen. Doch andererseits scheute sie etwas die Anstrengung eines Spaziergangs durch das bergige Umland.
Susanne ließ nicht locker: „Wie willst du wieder zu Kräften kommen, wenn du den ganzen Tag nur herumsitzt? Beweg dich ein bisschen. Die frische Luft tut dir gut. Und ich bin ja dabei. Wenn es gar nicht mehr geht, dann setzt du dich auf eine Bank und ich hole das Auto. So weit laufen wir ja eh nicht.“
Gaby wollte schon einwerfen, dass sie die frische Luft doch auch auf der Terrasse hatte, doch sie wusste, dass Susanne nicht aufhören würde, sie zu drängen, also gab sie schließlich nach. Sie verließen das Grundstück durch die kleine schmiedeeiserne Pforte hinter dem Haus und standen gleich mitten im Weinberg. Sie folgten den schmalen Wegen zwischen den Reihen der Rebstöcke, bis sie zu einer Flurstraße kamen. Von dort erklommen sie eine kleine Anhöhe, allenfalls ein Hügel und für die steilen Hänge des Moseltals kaum der Rede wert, doch für Gaby schon eine kleine Herausforderung. Der Ausblick machte die Anstrengung allerdings wieder wett. Vor ihnen lag die Mosel, die sich durch die zerklüfteten Felsen schlängelte, man konnte die Reichsburg Cochem und die kleine Stadt zu beiden Seiten des Flusses sehen.
„Herrlich“, staunte Gaby. „Du hast hier wirklich einen ganz wundervollen Flecken Erde.“
Susanne zuckte die Achseln. „Ich habe mir Cochem genau genommen nicht ausgesucht. Das hat sich so ergeben. Und irgendwie bin ich dann hier hängen geblieben. Aber du hast recht, man kann es schlechter treffen.“ Susanne grinste.
„München kann auch schön sein“, beteuerte Gaby sofort. „Aber eigentlich komme ich gar nicht dazu, es zu genießen.“
„Das glaube ich. Wann warst du denn das letzte Mal im Englischen Garten? Oder im Theater?“, fragte Susanne, die an München ihre eigenen Erinnerungen aus ihrer gemeinsamen Kindheit hatte.
Gaby seufzte. „Keine Ahnung. Ewig nicht. Die Dinge, die man vor der Nase hat, weiß man irgendwie nicht zu schätzen.“
Die beiden setzten sich auf eine Bank und ließen sich den Frühlingswind um die Nase wehen.
„Ich wette, ein Tourist sieht an einem Wochenende hier mehr, als ich das ganze Jahr über. Ist doch normal, dass man im Alltag nicht ständig Zeit hat, im Viereck zu springen vor Glück darüber, wo man lebt“, stellte Susanne klar.
Eine Weile hingen sie beide ihren Gedanken nach. Ihre jahrzehntelange Freundschaft hielt auch deshalb schon so lange, weil sie nicht unbedingt vieler Worte bedurfte.
Irgendwann sagte Gaby in die Stille hinein: „Ich glaube, man weiß überhaupt kein Glück zu schätzen, bis man es verliert.“
„Gilt auch für die Gesundheit, was?“, entgegnete Susanne leichthin.
Gaby nickte.
Das Thema Krankheit, Krebs und Tod hatten sie die letzten Tage in einer Art wortloser Übereinkunft großräumig umschifft.
„Am Ende ist doch vielleicht gar nicht so viel passiert“, überlegte Susanne. „Du weißt, dass dein Leben endlich ist. Dass du wahrscheinlich irgendwann sterben wirst. Und dass es möglicherweise dieser Krebs sein wird, der das Ganze für dich beendet. Aber wusstest du das meiste davon nicht auch vorher schon?“
Gaby überlegte kurz. „Von der Seite habe ich es, glaub ich, noch gar nicht betrachtet.“
„Nein, im Ernst. Der Arzt sagt dir: Du hast noch soundso lang zu leben. Aber weiß er das denn? Es ist eine Schätzung, ein statistischer Wert. Durchschnittlich hat jemand, der so krank ist wie du, noch diese Lebenserwartung. Aus der Sicht des Arztes ist das einfach eine Zahl. Aber was ist mit dir? Vielleicht bist du ja gar nicht wie der Durchschnitt. Der Arzt sagt: Du hast noch ein halbes Jahr. Nur mal so als Beispiel. Und du gehst nach Hause und bist richtig geknickt und fertig mit der Welt und vor lauter Panik rennst du vor den Bus. Aus. Vorbei. Bäm. Was ist dann mit der Statistik?“
Gaby konnte nicht anders, als zu lachen. Das herzhafte Lachen fühlte sich gut an und sie gackerte und gluckste. Am Ende musste sie nach Luft schnappen. Susanne sah sie amüsiert von der Seite an.
„Tschuldigung. Ich weiß, ich lasse sträflich den Ernst vermissen“, japste Gaby schließlich.
„Nein“, unterbrach Susanne sie sofort. „Nein, genau das ist es doch, was ich meine! Wir messen dem allem viel zu viel Bedeutung bei. Da kommt irgend so ein dahergelaufener Typ und meint, er müsste sich über dein Leben auslassen. Und nur, weil er einen Arztkittel anhat, geben wir dem unheimlich viel Gewicht. Dabei hat er doch überhaupt keine Ahnung von deinem Leben.“
Gaby hatte sich wieder beruhigt. „Das mag ja für den Arzt stimmen. Vielleicht sollte man die Ärzte allesamt nicht so wichtig nehmen. Aber was ist mit dem Krebs? Egal, ob ich den Ärzten glaube oder nicht – der Krebs ist da. Und er frisst mich langsam, aber sicher von innen auf.“
„Dann lass ihn nicht“, murmelte Susanne.
Die beiden saßen da und starrten hinunter zur Mosel, die noch genauso fröhlich zwischen den Weinbergen dahinfloss wie zuvor. Doch irgendwie war ihnen der Blick für die Schönheit der Landschaft abhanden gekommen.
„Was ich sagen will, ist“, begann Susanne schließlich noch einmal. „Du weißt es eben nicht. Ja, es kann morgen alles vorbei sein. Ich hatte eine Arbeitskollegin, die stand auch mitten im Leben, verheiratet, Kinder und so weiter. Und dann hat sie eines Abends auf dem Nachhauseweg so ein besoffenes Arschloch einfach von der Straße gefegt. Der Kerl war nicht mal verletzt. Aber sie war tot. Verstehst du? Einfach so. Von heute auf morgen. Was weiß so ein Arzt schon?“
„Ich verstehe, was du sagen willst“, räumte Gaby ein. „Du meinst, man sollte jeden Tag so leben, als wär's morgen vielleicht vorbei.“
Susanne straffte sich und sah Gaby eindringlich an. „Ja. Sollte man. Und jetzt mal ehrlich: Wie viel hast du denn bisher von deinem Leben gehabt? Du lebst seit zwanzig Jahren eigentlich nur für David. Das ist ja auch sehr lobenswert, aber David ist inzwischen erwachsen. Jetzt hätte eigentlich deine Zeit kommen sollen. Vielleicht kannst du nicht beeinflussen, wie lange du noch zu leben hast, aber du kannst beeinflussen, wie du diese Zeit lebst. Wenn dir womöglich nicht mehr viel bleibt, willst du diese letzte Zeit dann im Krankenhaus verbringen? Angeschlossen an Apparate und Infusionen und unfähig, weiter als vom Bett bis zum Klo zu gehen? Soll alles, was du vom Fenster aus siehst, die kleine Grünfläche vorm Sendlinger Tor sein?“
„Was rätst du mir? Was soll ich deiner Meinung nach anderes tun?“, fragte Gaby resigniert. „Die Ärzte denken nun mal, dass mich nur eine weitere Chemo retten kann. Soll ich einfach sagen, ich will das nicht mehr? Auch wenn es mir vielleicht helfen könnte?“
„Kommt drauf an“, erwiderte Susanne. „Wie ich das sehe, hast du die Wahl: Quantität oder Qualität. Beides bekommst du wohl nicht mehr. Ich verrate dir etwas. Ich habe eine Patientenverfügung beim Notar hinterlegt. Da ich keine direkten Angehörigen mehr habe, wollte ich mich für den Fall der Fälle absichern. Wenn ich so krank bin, dass ich die Wahl habe, zu sterben oder mich von der Maschinerie unserer Schulmedizin aufarbeiten zu lassen und dann zu sterben, dann wähle ich den einfacheren Weg. Dann sollen sie mir etwas gegen die Schmerzen geben und dann würde ich alles versilbern, was ich noch besitze und eine Weltreise machen.“
„Du hast leicht reden“, wandte Gaby ein. „Du hast ja keine Kinder. Niemanden, für den du weiterleben musst.“
„Natürlich will man seine Mutter nicht verlieren, aber es ist der natürliche Lauf der Dinge, dass die Eltern vor den Kindern gehen müssen. Wirklich tragisch ist es doch andersrum! Wenn Eltern ihre Kinder zu Grabe tragen müssen. Als Kind muss man irgendwann der Tatsache ins Auge sehen, dass die Eltern nicht ewig leben werden. Auch David muss das.“
„Natürlich, davon rede ich ja auch nicht. Natürlich will ich nicht länger leben als David, Gott bewahre! Aber er ist doch so jung. Er hat keine Frau, nicht einmal eine Freundin, soweit ich weiß, aber er wird vielleicht irgendwann eine finden und dann gründet er mit ihr eine Familie. Ich möchte meine Enkelkinder noch kennenlernen. Ich will sie im Arm halten und ihnen Schlaflieder singen. Ich will mit ihnen in den Tierpark gehen und ins Deutsche Museum. Und man hat ja auch selber noch Dinge, auf die man sich im Alter freut. Ich möchte meine Rente noch erleben. Endlich Zeit haben für die Dinge, die im Berufsalltag immer zu kurz kommen …“
„Du, zum Beispiel“, unterbrach Susanne sie. „Und damit sind wir wieder am Anfang. Der richtige Zeitpunkt ist jetzt. Krebs hin oder her, du solltest damit anfangen, etwas Gutes für dich zu tun. Nur für dich. Weil du es willst und weil es dir guttut, aus keinem anderen Grund.“