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London, 1811. Lord Timothy Talbot, der nächste Earl of Huntington, besitzt fast alles, was ein Gentleman sich wünschen kann: Geld, einen angesehenen Titel und glanzvolle Zukunftsaussichten. Was ihm jedoch noch fehlt, ist die passende Frau an seiner Seite. Ginge es nach seinen Eltern, fiele die Wahl auf die strahlende Ballkönigin der Londoner Saison. Doch wer ist die gleichermaßen schöne wie eigensinnige Rebecca, die ihre Nase lieber in Bücher steckt, anstatt im Ballsaal zu debütieren? Jedenfalls keine standesgemäße Braut für Timothy, auch wenn sie auf den ersten Blick sein Interesse geweckt hat. Der junge Lord befindet sich schon bald in einem Widerstreit zwischen der Stimme seines Herzens und der Stimme der Vernunft. Als sein Vater unerwartet ums Leben kommt, muss Timothy vorzeitig dessen Platz in der Gesellschaft einnehmen. Der Druck auf ihn wächst. Doch wie soll er sein Herz zum Schweigen bringen?
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Seitenzahl: 458
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Für den
„Harten Kern”!
Ihr seid meine größte Inspirationund meine Schreibblockadein Personalunion.
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
VIII.
IX.
X.
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
Personen
Nachwort
Danksagung
London, Oktober 1811
Die hell erleuchteten, hohen Fenster des Ballsaals waren bereits von Weitem sichtbar. Der Kutscher musste die Pferde schon auf der langgezogenen Zufahrt zum Palais zügeln, da die Reihe der Karossen die Allee verstopfte. Es dauerte eine Weile, bis die livrierten Diener die Verschläge geöffnet hatten und ihren Herrschaften beim Aussteigen behilflich waren. Vor allem die Damen mit ihren ausladenden Roben benötigten einige Zeit.
Sie sahen wie aufgezäumte Zirkuspferde aus, fand Timothy und lehnte sich in die Polster seines Landauers zurück. Er war dankbar für die Verzögerung, verschaffte sie ihm doch noch ein paar Augenblicke Ruhe.
Er schloss die Augen und atmete tief ein und wieder aus. Nach all den Monaten auf dem Kontinent fielen ihm die repräsentativen Pflichten noch schwerer. Schon zuvor hatte er sich nichts aus den ewig gleichen Veranstaltungen gemacht, bei denen das einzige Gesprächsthema lautete: Wer mit wem und welche Partie wäre die bessere? Als der nächste Earl of Huntington, der im zweiundzwanzigsten Lebensjahr noch unverheiratet war, blieb ihm nichts anderes übrig, als daran teilzunehmen. Wäre es nach seiner Mutter gegangen, hätte er schon die letzten beiden Seasons dazu genutzt, die richtige zukünftige Countess of Huntington ausfindig zu machen. Wie diese auszusehen hatte, stand ebenfalls bereits fest: jung, attraktiv, aus gutem Hause und willig, ihm schnellstmöglich Kinder zu schenken. Viel mehr brauchte sie nicht mitzubringen. Eine gute Mitgift wäre bei der erforderlichen Abstammung sicher zu erwarten, aber keine unbedingte Notwendigkeit, denn die Familie Talbot verfügte ihrerseits über ein beträchtliches Vermögen sowie über ganze Ländereien.
Timothy gähnte ungeniert. Noch war er allein in seinem Landauer und konnte sich der bereits von außen spürbaren Langweile hemmungslos hingeben.
„Bezauberndes Kleid. Sie sehen in dieser grünen Seide ganz hinreißend aus. Wer ist denn Ihre Schneiderin? Möchten Sie vielleicht tanzen?“ Er konnte die Sätze, die er gleich zigfach aufsagen würde, schon jetzt nicht mehr hören, ehe er sie heute auch nur ein einziges Mal laut ausgesprochen hatte. Was interessierte es ihn, wo die Damen, die er notgedrungen zum Tanz führen würde, ihre Garderobe fertigen ließen?
Viel drängender brannte ihm die Frage auf den Lippen, was sie zuletzt gelesen hatten. Lasen sie überhaupt? Liebesromane womöglich? Oder Klatschblätter der Society? Oder kannten sie vielleicht sogar einen der angesagten Dichter? Diesen Lord Byron zum Beispiel, der mit seinen Werken gerade in aller Munde war. Timothy war George Gordon Noel, dem sechsten Lord Byron, verschiedentlich begegnet. Sie waren nahezu eines Alters.
Er würde es nicht einmal verwerflich finden, wenn eine der Damen Mary Wollstonecraft in ihrem Bücherregal stehen hätte. Manche Männer verteufelten die Frauenbewegung, der sie mit ihrem Werk Verteidigung der Rechte der Frauen Vorschub geleistet hatte. Konnte es aber wirklich schaden, wenn auch Frauen ihren Platz in der Gesellschaft beanspruchten, abseits von Haus und Kinderstube? Wenn sie durch provokante Schriften zum Nachdenken angeregt wurden?
Timothy war in Frankreich gewesen, wo die Frauenbewegung seit der Revolution einen größeren Zulauf verzeichnete als in England. Die Französinnen waren kämpferische, selbstbewusste Frauen. Unter anderem hatte er in Paris festgestellt, dass Gespräche mit einer Dame mehr sein konnten als bloß der oberflächliche Austausch über Garderobe, Bälle und den neuesten Klatsch. Debatten hatte er dort geführt, wie er sie zu Hause allenfalls im Club erlebt hatte. In dem Club, der Frauen grundsätzlich ausschloss. Wo man unter sich blieb.
In Frankreich traf man sich in gemischter Runde im Salon, wo Musik, Literatur und die schönen Künste Gesprächsstoff waren. So etwas wünschte er sich auch für zu Hause. Doch das Gesicht seiner werten Frau Mama wollte er sich lieber nicht ausmalen, wenn er ihr Künstler und Dichter ins Haus geholt hätte, um ungezwungen zu parlieren.
Der Landauer setzte sich wieder in Bewegung. Nur noch wenige Meter trennten Timothy von der Eingangstreppe, vor der zwei livrierte Diener die Verschläge der ankommenden Kutschen öffneten und den Herrschaften beim Aussteigen behilflich waren. Vorbei der Traum vom Künstlersalon. Zeit, zurück in die Realität zu kehren und sich dem Abend im Fokus der heiratswilligen Society der diesjährigen Saison zu widmen.
Der Kutscher hielt die Pferde exakt in der Mitte der Freitreppe an. Timothy wartete nicht, bis ihm die Tür seines Wagens geöffnet wurde, sondern stieß sie selbst auf. Mit raschen Schritten erklomm er die Treppe und begrüßte am oberen Absatz den Hausherren sowie seine Gattin, die ihm die Einladung zukommen hatten lassen. Es handelte sich um Freunde seiner Familie – die ehrenwerte Familie Bolingbroke, Viscount Walter und Viscountess Majorie St. John.
Timothy begrüßte zuerst den Viscount und hauchte dann einen Kuss auf die behandschuhten Finger seiner Gattin.
„Reizend, dass Ihr es einrichten konntet, Lord Talbot“, sagte sie.
„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, versicherte Timothy.
„Ihr kennt wohl noch unsere Töchter Mary-Ann und Lavinia?“ Es handelte sich um eine rhetorische Frage der Viscountess.
Der älteste Sohn, Jeremy St. John, war ein langjähriger Freund von Timothy. Selbstverständlich war er auch dessen Schwestern gelegentlich begegnet. In den letzten Jahren hatten die jungen Männer es jedoch vorgezogen, sich außerhalb ihrer beider Elternhäuser zu treffen, weshalb er den Mädchen länger nicht mehr über den Weg gelaufen war.
Die Viscountess Bolingbroke trat zur Seite und gab den Blick auf ihre Töchter frei. Mary-Ann, die ältere der beiden, mochte wohl bereits gute dreiundzwanzig Lenze zählen, womit sie schon beinahe so etwas wie eine alte Jungfer war. Zwar war sie durchaus hübsch anzusehen, doch in der Gegenwart der einnehmenden Schönheit ihrer jüngeren Schwester Lavinia verblasste ihre Gestalt vollständig.
Timothy kam nicht umhin, festzustellen, dass sich das Mädchen, das er als Kind gekannt hatte, zu einer überaus attraktiven jungen Frau entwickelt hatte. Die Knospe war noch nicht voll erblüht, viel schien jedoch nicht mehr zu fehlen. Es war vermutlich ihre erste Saison. Und er sollte sich arg täuschen, wenn sie nicht gleich beim ersten Anlauf in der Lage sein sollte, eine prächtige Partie zu machen.
Er beugte sich höflich über die dargebotenen Hände.
Mary-Ann wirkte gelangweilt und machte sich nicht einmal die Mühe, es zu verbergen. Ein Umstand, der Timothy sogleich für sie einnahm. Lavinia hingegen blickte ihn aus ihren saphirblauen Augen mit dem dichten dunklen Wimpernkranz neugierig an. Versuchte sie auf den ersten Blick einzuschätzen, inwieweit er für eine gute Partie infrage kam?
Instinktiv ließ ihr forschender Blick ihn zurückweichen.
Bitte nicht, dachte er. Lass nicht sofort die Erste, der ich heute begegne, mich ins Visier nehmen.
Etwa zwei Stunden später stand Timothy in einer Ecke und duckte sich hinter einen großen Topf, der eine Palme beherbergte. Er hatte bereits mehrere Tänze mit verschiedenen Damen hinter sich und mehr als ein Dutzend Ballkleider gelobt. Dabei interessierte ihn wahrlich nichts weniger, als ob sie in rosa, apricot, lindgrün oder lavendelblau gehüllt waren. Die Haare zu kunstvollen Knoten gesteckt, mit Federn und Tiaras gekrönt wie Torten, und von oben bis unten mit Geschmeide behangen. Die kleinen – oder manchmal auch größeren – Brüste appetitlich präsentiert, umgeben von Spitze und Rüschen wie Petit Fours.
Timothy hätte längst die Flucht ergriffen, wäre nicht seine Mutter erschienen, die nun wie ein Zerberus über seine Anwesenheit wachte. Wie alle guten Mütter des Londoner Tons war sie scheinbar mit einem Rundumblick ausgestattet und konnte gleichzeitig Konversation üben als auch ihren Nachwuchs unter Beobachtung halten. Augusta Talbot hatte es dabei nicht leicht, denn neben ihrem Ältesten – dem einzigen Erben – musste sie auch noch ein Auge auf seine beiden jüngeren Schwestern haben. Die Vierte der Talbot-Geschwister, Tabitha, war glücklicherweise erst zwölf und bei ihrem Kindermädchen zu Hause geblieben. Augusta hatte allerdings deutsche Vorfahren und die Akribie, die man den Deutschen nachsagte, trug sie dadurch wie eine zweite Haut.
Ein Diener kreuzte Timothys Weg mit einem zur Hälfte gefüllten Tablett voller Champagnerkelche. Er wagte sich aus seiner Deckung und griff sich gleich zwei davon, wobei er eines in einem Zug leerte und sofort wieder zurückstellte. Dem Durst nachzugeben war ein fataler Fehler, den er augenblicklich bereute.
„Ich sehe dich nicht tanzen!“ Die vorwurfsvolle Miene seiner Mutter schob sich in sein Blickfeld.
„Eine kurze Pause wird mir doch vergönnt sein …“
„Ausruhen kannst du dich, wenn du eine passende Heiratskandidatin gefunden hast.“
Lady Augusta war eine Matrone. Ihre Schneiderin benötigte für die Fertigung ihrer Garderobe mindestens doppelt so viel Stoff wie normalerweise veranschlagt. Da die Countess of Huntington über die nötigen Mittel verfügte, war sie trotzdem eine gern gesehene Kundin. Jetzt stemmte sie ihre Hände, die in langen champagnerfarbenen Handschuhen steckten, in die ausladenden Hüften und musterte ihren Sohn von oben bis unten.
„Du hättest dir einen neuen Anzug fertigen lassen sollen“, setzte sie ihren Tadel fort.
„Ich hatte keine Gelegenheit dazu, du musstest mich ja sofort auf den erstbesten Ball schleppen.“ Timothy reagierte gereizt, weil er sich in die Enge getrieben fühlte. Er wusste sehr wohl, dass er sich damit erst recht den Ärger seiner Mutter zuzog.
„Wann will der werte Herr denn in die Ballsaison einsteigen? Wenn die besten Partien bereits geschlossen sind? Der künftige Earl of Huntington gibt sich nicht mit der Zweitbesten zufrieden, merke dir das!“ Sie nahm ihm das halbvolle Glas aus der Hand und schob ihn in Richtung Tanzfläche.
„Wie wäre es, wenn wir das Ganze beschleunigen und du mir einfach sagst, wer in deinen Augen die Beste wäre und ich mache ihr dann den Antrag?“, knurrte Timothy.
Lady Augusta überhörte den Einwurf geflissentlich.
Die Tanzfläche war gut besucht, zu Beginn der Londoner Saison waren immer alle Heiratskandidaten, männlich wie weiblich, eifrig bemüht. Um die Tanzenden standen diejenigen, die noch nicht zusammengefunden hatten oder gerade eine Runde aussetzten. In zweiter Reihe waren Mütter, Tanten und vereinzelt Väter zu sehen. Die Männer zogen sich üblicherweise während dieser Veranstaltungen beizeiten in den Salon zurück, wo sie bei einem guten Brandy und einer Zigarre der Politik oder dem Kartenspiel frönten. Timothy hätte viel darum gegeben, sich ebenfalls dorthin zurückziehen zu dürfen.
Lady Lavinia hatte ihn erspäht. Sie näherte sich wie zufällig am Arm ihrer Mutter. Timothy kannte die Gepflogenheiten und wusste, dass es niemals Zufälle gab, wenn eine Mutter und eine Heiratskandidatin den Raum durchschritten.
„Lord Talbot, Sie tanzen ja gar nicht.“ Dass sie dieselben Worte wählte wie seine Mutter, machte ihm Lady Marjorie nicht sympathischer. Immerhin ersparte sie ihm den tadelnden Tonfall, es lag eher Plauderton in ihrer Stimme. Für eine Frau ihres Alters war sie immer noch eine Schönheit. Ein reifes Ebenbild ihrer Tochter.
Lavinias schmale Figur war von ihrer Schneiderin geschickt in hellblaue Seide gehüllt worden, die die Farbe ihrer Augen widerspiegelte. Tiara, Ohrgehänge und die filigrane Halskette waren aus Silber und mit eisblauen winzigen Saphiren besetzt.
„Darf ich um den nächsten Tanz bitten?“, fragte Timothy höflich.
Lady Lavinia schenkte ihm ein scheues Lächeln. „Mit Vergnügen. Meine Tanzkarte ist noch nicht voll.“ Sie hielt ihm den Arm mit dem kunstvoll verzierten Kärtchen hin, damit er sich eintragen konnte. Ihre Mutter sah ihnen zufrieden dabei zu. Da just in dem Moment das Musikstück endete, bot Timothy Lavinia den Arm an und führte sie ohne Umschweife zur Tanzfläche. Er hoffte, dass seine Mutter sie ebenso wie Lady Marjorie beobachtete, damit sie ihren Frieden hatte.
Lady Lavinia war eine leichtfüßige Tänzerin. Es war keine unangenehme Verpflichtung sich mit ihr in den Reigen einzureihen. Trotzdem hoffte Timothy, dass es mit ein, zwei Runden getan sein würde. Er konnte die neidvollen Blicke regelrecht in seinem Rücken spüren. Es waren zweierlei Arten von Neid, die er auf sich zog: den der anderen Debütantinnen, die gerne an Lavinias Stelle gewesen wären, und den der jungen heiratswilligen Männer, die auf einen Platz auf Lavinias Tanzkarte hofften und bisher leer ausgegangen waren.
Es bedurfte keines übersteigerten Selbstbewusstseins, um sich ausrechnen zu können, dass er einer der begehrtesten Junggesellen dieser Saison sein würde. Sein Vater war der Earl of Huntington und er der Erstgeborene. Auf die Heiratskandidatin, die er erhören würde, wartete der Titel einer Countess.
Lady Lavinia nahm Timothy für eine ganze Weile in Beschlag. Sie war geschickt darin, ihn – ohne sich dabei aufzudrängen – zu weiteren Tänzen zu bewegen. Schließlich zog sie sich aber zurück, um sich frisch zu machen.
Timothy nutzte die Gelegenheit, um den Ballsaal zu verlassen und einen der Salons aufzusuchen. Er hoffte darauf, einen Bekannten zu treffen, mit dem er ein gepflegtes Gespräch führen könnte. So rasch wollte er nicht wieder zurück auf die Tanzfläche.
Als er die Halle durchmaß, sah er gerade noch rechtzeitig seine Mutter mit zwei anderen Damen die breite Treppe herunterkommen. Oben hatten die Gastgeber den Damen Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, in die sie sich zurückziehen, frischmachen und auch einmal unter sich sein konnten.
Timothy legte keinen Wert darauf, ihr gleich noch einmal in die Arme zu laufen, und duckte sich daher schnell in die Laibung einer Tür zu seiner Linken.
Da die Tür jedoch nur angelehnt war, gab sie nach, als er sich dagegen lehnen wollte. Er wusste zwar nicht, wohin sie führte, doch es schien ihm sicherer, sich im Inneren des dahinterliegenden Raumes zu verstecken, als draußen seiner Mutter zu begegnen. Deshalb schob er sich rasch hindurch. Timothy fand sich tatsächlich in der Bibliothek der Villa Bolingbroke wieder. Im Kamin brannte ein Feuer und ein mehrarmiger Leuchter erhellte zusätzlich die kleine Sitzgruppe vor dem Kamin.
Vom Treiben vor der Tür scheinbar vollkommen unbeeindruckt, saß eine junge Frau mit überschlagenen Beinen auf einer Chaiselongue, ein Buch auf den Knien. Sie hob den Blick, als sie ihn hereinstolpern hörte. Ihre Miene ließ keinen Zweifel daran, dass er ungelegen kam.
„Oh pardon“, presste Timothy hervor.
Die Fremde sah immer noch von ihrer Lektüre auf. „Vor welcher Unbill lauft Ihr denn davon, Mylord?“, fragte sie und ein ziemlich ungebührliches, süffisantes Lächeln zierte ihre Lippen.
Timothy fühlte sich ertappt. Möglichst beiläufig sagte er: „Ich war auf der Suche nach dem Herrensalon. Muss mich wohl verirrt haben.“
„Wie ungeschickt.“ Noch immer hatte er das Gefühl, dass sich die fremde Lady über ihn lustig machte.
„Und Ihr?“, fragte er zurück. „Was hat Euch auf so einem Ball in die Bibliothek verschlagen? Könnt Ihr nicht tanzen oder mögt Ihr es nicht?“
„Was sollte das bringen? Ich bin auf keine Partie aus.“ Sie wirkte gelangweilt, als sie das sagte.
Instinktiv fragte Timothy sich, ob sie tatsächlich immun gegen die Konventionen des Londoner Tons war, oder ob sie ihn nur glauben lassen wollte, sie wäre es.
Er musterte sie verstohlen im flackernden Licht des Kaminfeuers. Sie war schön. Vielleicht nicht auf die Art, wie die Debütantinnen im Ballsaal nebenan mit ihrer aufgeputzten und oft überkandidelten Weise. Eher natürlich schön, ohne viel Aufwand. Sie trug ein Ballkleid aus lindgrünem Satin. Wie sie die Beine übereinandergeschlagen hatte, würde dazu führen, dass der Rock verknitterte. Keine der Ballschönheiten dort draußen hätte Knitterfalten riskiert. Manche setzten sich deshalb sogar den ganzen Abend nicht, auch wenn ihnen wahrscheinlich danach tagelang die Füße schmerzten.
Aus der Hochsteckfrisur der Fremden waren ein paar Strähnen herausgefallen, die sie achtlos hinter das Ohr gestrichen hatte. Der mangelnde Perfektionismus gab ihr etwas Aufreizendes, fand Timothy. Was ihn jedoch am meisten für sie einnahm, war die Tatsache, dass sie sich wieder ihrem Buch zugewandt hatte. Sie nahm keine Notiz mehr von ihm, der da in ihre Muse-Stunde geplatzt war. Fast als habe sie seine Anwesenheit schon wieder vergessen.
Unschlüssig stand er an der Tür. Er sollte einfach hinausgehen und sie in Ruhe ihr Buch lesen lassen. Es war offensichtlich, dass sie kein Interesse an einem Gespräch hatte. Aber wieder hinaus in die Halle zu treten und womöglich seiner Mutter oder irgendeiner anderen eifrigen Kupplerin in die Arme zu laufen, übte keinen sonderlichen Reiz auf ihn aus.
„Wenn Ihr auf keine Partie aus seid, könntet Ihr ja zum reinen Vergnügen tanzen“, schlug er vorsichtig vor.
Sie hob erneut den Blick und sah ihn unter den losen Haarsträhnen an. „Kein Interesse.“
„Ihr tragt ein Ballkleid, seid frisiert wie zu einem Ball und doch …“
„Es findet ja auch ein Ball hier statt. Nicht?“
Von all den aufgetakelten jungen Damen, die er heute getroffen hatte, war es keiner gelungen, ihn nur annähernd so neugierig zu machen wie diese widerspenstige Lady. Timothy wagte sich einige Schritte weiter in den Raum und auf sie zu.
Tatsächlich klappte seine Gesprächspartnerin widerwillig ihr Buch zu, jedoch nicht, ohne den Finger an der Stelle zu lassen, wo sie zu lesen aufgehört hatte. Endlich wandte sie sich ihm ganz zu.
„Seht, Mylord, man erwartet zwar von mir, dass ich mich kleide und frisiere und überhaupt alles tue, was man jungen Damen zu tun empfiehlt, wenn sie auf einen Ball gehen. Aber man kann mich nicht dazu zwingen, mir diesen Zirkus länger als fünf Minuten anzuschauen. Geht einfach wieder hinüber, dort findet Ihr Tanzpartnerinnen und eloquente Gesprächspartnerinnen in rauen Mengen. Ich kenne Euch nicht, aber ich nehme an, Ihr seid so eine Partie, auf die sie aus sind. Ihr werdet sicher fündig werden.“
Ihre Worte waren zynisch, doch ihre Stimme war es nicht. Sie klang immer noch gelangweilt, so als ginge sie das alles nichts an.
Timothy ging noch näher auf den Lesesessel zu. „Warum denkt Ihr, dass Ihr es nicht wert wäret, von einem Mann beachtet zu werden?“
Sie hielt seinem Blick stand. „Das sagte ich doch nicht, oder? Lediglich, dass ich nicht auf der Suche bin.“
„Dann seid Ihr bereits verheiratet? Oder … versprochen?“ Er dachte zwar, dass sie dafür noch zu jung wirkte, aber genau genommen konnte er das nicht beurteilen. Ehen wurden oft schon in sehr jungen Jahren geschlossen.
Ein Lächeln huschte über das blasse Gesicht. Es ließ sie noch jünger und zudem schöner wirken. „Findet Ihr nicht, dass Ihr sehr freche Fragen stellt? Vor allem dafür, dass wir uns noch nicht einmal vorgestellt haben?“, fragte sie zurück.
„Verzeihung. Wo habe ich nur meine Kinderstube gelassen?“ Timothy deutete eine kleine Verbeugung an. „Mein Name ist Timothy Talbot, der älteste Sohn des achten Earl of Huntington.“
„Sieh an, Sohn des Earl. Dann hatte ich also recht damit, als ich sagte, Ihr wäret die Partie, auf die alle aus sind.“ Sie machte keine Anstalten, sich ihrerseits vorzustellen.
Plötzlich fiel Timothy noch etwas anderes auf. Erschrocken sagte er: „Ich fürchte, es schickt sich nicht, dass wir hier plaudern, wenn Ihr keine Anstandsdame bei Euch habt.“
„Sorgt Ihr Euch um meine Reputation oder um die eure?“ Jetzt hatte ihr Mund wieder diesen süffisanten Zug angenommen.
„Um beide.“
Sie wechselte in einer fließenden Bewegung den Überschlag ihrer Beine. Der Satin machte ein raschelndes Geräusch dabei – wie der Wind, wenn er durch Schilf strich. „Der Vorteil davon, wenn man keine gute Partie in Aussicht hat, ist der, dass es auch weniger interessiert, ob man sich angemessen verhält. Für Euch gilt das sicherlich nicht.“
Wieder ging Timothy durch den Kopf, wie schön sie war. Und wie anders im Vergleich zu all den Ballschönheiten drüben im Tanzsaal.
„Darf ich noch einmal fragen, weshalb Ihr Euch keine guten Heiratsaussichten macht? Verheiratet seid Ihr offenbar noch nicht, also vermag ich keinen Grund zu erkennen, weshalb die Gentlemen nebenan nicht begierig sein sollten, Eure Bekanntschaft zu machen.“
Jetzt lachte sie und ihre Lippen entblößten eine Reihe makellos gerader Zähne. „Mein Vater hat keine Ahnenreihe mächtiger Männer, die seinen Titel vor ihm trugen, vorzuweisen. Ganz einfach.“
Timothy stutzte. „Wer ist denn Euer Herr Vater?“
Sie zuckte nachlässig mit den Schultern. „Das weiß ich Euch leider nicht zu sagen, Mylord. Ich kenne ihn selbst nicht.“
Ihre Antwort hätte dazu führen sollen, dass er endgültig Abstand von diesem Gespräch nahm, stattdessen weckte dieses Detail ihrer Biografie erst recht Timothys Neugierde.
„Das ist erstaunlich. Was hat Ihre Mutter Ihnen denn dazu gesagt?“
„Nicht viel. Ich wurde als Kind viel herumgereicht. Seit einigen Jahren darf ich nun gnadenhalber im Hause Bolingbroke leben. Ich bin eine entfernte Cousine. Aber ich habe weder Abstammung noch Geld noch sonstige Besitztümer vorzuweisen, und daher …“
Langsam dämmerte Timothy, dass sein Freund Jeremy etwas in dieser Richtung erwähnt hatte. Er hatte von einem Mädchen gesprochen, das sein Vater ins Haus geholt habe und das nun bei ihnen lebe. Das musste die junge Frau sein, der er gegenüberstand.
„Eigentlich bin ich ein Freund des Hauses Bolingbroke. Es ist eine Schande, dass wir uns noch nie begegnet sind“, sagte er.
„Wem gilt denn Ihre Freundschaft im Speziellen?“ Es klang anzüglich, so wie sie es sagte. Vermutete sie, dass er eine Verbindung mit der Familie des Viscounts anstrebte?
„Dem ältesten Sohn des Hauses, Jeremy“, erwiderte er. „Wir hatten eine Weile denselben Hauslehrer.“
„Verstehe.“ Nun legte sie ihr Buch endgültig beiseite, wobei sie ein besticktes Stoffband als Lesezeichen zwischen die Seiten schob. Dann erhob sie sich.
Sie war groß für eine Frau und sehr schlank. Der lindgrüne Satin umfloss sie wie eine zweite Haut.
„Möchtet Ihr mich nun doch nach nebenan begleiten und an dem Fest teilnehmen?“, fragte Timothy, während er seinen Arm anbot.
„Ihr lasst mir wohl sonst keine Ruhe“, sagte sie, doch das süffisante Lächeln zeigte ihm, dass sie es ihm nicht übelnahm. Sie reichte ihm den Arm und er bettete ihre Hand in seine Armbeuge. Dabei fiel ihm auf, dass sie keine Handschuhe trug.
„Verratet Ihr mir jetzt Euren Namen, nachdem wir uns nun schon eine Weile vertraut gemacht haben?“
„Rebecca.“
Timothy führte Rebecca aus der Bibliothek zu der breiten Flügeltür des Ballsaals, aus der er zuvor gekommen war. Von seiner Mutter und ihren Begleiterinnen fehlte jede Spur. Er war froh darum.
Rebecca trug keine Tanzkarte, doch sie ließ sich von ihm trotzdem zur Mitte des Saals führen. Beim erneuten Einsetzen der Musik drehten sie miteinander ihre Runden.
Obwohl sie betont hatte, dass sie sich nichts aus Tanzen machte, bewegte Rebecca sich leichtfüßig und scheinbar mühelos mit ihm über die Tanzfläche.
Timothys Hand lag mit lockerem Druck auf ihrem Rücken, als sie durch das Spalier der übrigen Paare wirbelten. Durch den weichen Stoff ihres Kleides spürte er die Wärme, die von ihrem Körper ausging. In ihrem blassen Gesicht zeigte sich eine erhitzte Röte. Wieder stellte Timothy fest, wie schön sie war, ohne viel Aufhebens darum zu machen. Wahrscheinlich war sie sich dessen nicht einmal bewusst.
Für die nächste Figur fassten sie sich bei den Händen. Normalerweise vereitelten die ellbogenlangen Handschuhe der Damen auch noch den kleinsten Körperkontakt. Nicht so bei Rebecca, die skandalöserweise keine trug. Ihre langen, schlanken Finger lagen nackt und wie ein zerbrechliches Vögelchen in seiner Hand. Obwohl sie von der schnellen Quadrille außer Atem war, fühlten sich ihre Hände in seinen eher kalt an.
Mit Rebecca zu tanzen, löste bei Timothy ganz ungewohnte Gefühle aus. Er wünschte sich, das Orchester möge für immer weiterspielen. Hoffte er sonst oft auf ein baldiges Ende der Musik, fürchtete er jetzt geradezu, sie könnte im nächsten Moment verstummen und ihm den Vorwand rauben, Rebecca im Arm zu halten.
Führten die Figuren der Quadrille die Paare für kurze Zeit voneinander weg, behielt er Rebecca im Auge, auch wenn er gerade eine andere Tänzerin im Kreis herumwirbelte. Wo war sie? Wer teilte mit ihm das Privileg, ihre Hände zu fassen?
Dann brachte die Schrittfolge sie ihm wieder zurück. Ein scheues Lächeln huschte über ihr Gesicht und Timothy fühlte sich seltsam erleichtert. So sehr er es sich anders gewünscht hatte, fand die Musik schließlich ihr Ende. Mit Bedauern kamen sie zum Stehen.
„Würdet Ihr mir das Vergnügen gewähren und noch einen weiteren Tanz mit mir tanzen?“, fragte er hoffnungsvoll.
Mit einem raschen Blick versicherte Rebecca sich wohl, dass sie kein Aufsehen erregt hatten. Dann zuckte sie die Schultern. „Wenn Ihr möchtet?“
Sie reihten sich erneut in den Reigen der Tanzenden ein.
Timothy vermutete, dass es spätestens beim dritten Tanz auffallen würde, dass er sich nun auf eine Tanzpartnerin festgelegt hatte. Außerdem erwarteten wahrscheinlich noch einige andere Damen seine Aufwartung, doch das interessierte ihn nicht mehr. Seine Mutter hatte ihn zum Tanzen verpflichtet, also durfte er wohl bestimmen, mit wem.
Nach dem dritten Tanz waren sie allerdings beide außer Atem. Zum Teil auch deshalb, weil sie zwischen den Figuren, wenn sie sich zusammen im Kreis drehten, ununterbrochen miteinander geredet hatten. Nicht über das Wetter und die kleinen Nichtigkeiten, die man normalerweise beim Countertanz auszutauschen pflegte – das war das Erstaunliche daran. Rebecca besaß einen klugen Kopf und eine eigene Meinung, wie man sie bei einer jungen Frau nur selten fand.
Timothy bot Rebecca seinen Arm an. Sie ließ sich von ihm von der Tanzfläche und ein wenig aus dem Gedränge herausführen. „Möchtet Ihr vielleicht einen Schluck trinken?“, fragte er.
Sie nickte.
Timothy winkte einen Diener mit Erfrischungen heran und nahm zwei Gläser Limonade von dessen Tablett.
„Können wir kurz an die frische Luft gehen?“, fragte Rebecca, nachdem sie einen großen Schluck genommen hatte. Eine Dame nippte üblicherweise nur an ihrem Glas und würde zudem versuchen, zu verbergen, wie sehr sie nach Atem schöpfen musste, schoss Timothy durch den Kopf. Rebeccas Brust hob und senkte sich jedoch in raschen Atemzügen.
Und ein Gentleman würde ihr nicht in den Ausschnitt starren, schalt Timothy sich selbst und zwang sich sogleich, den Blick abzuwenden.
„Mit Vergnügen“, erwiderte er und fasste Rebecca am Ellbogen. Sie mussten sich durch einen Strom von Tanzwütigen in die entgegengesetzte Richtung drängen. Die Kapelle spielte zum nächsten Reigen auf, die Paare fanden sich in neuer Formation zusammen.
Timothy steuerte die breiten Flügeltüren an, die auf eine Freitreppe hinausführten. Draußen überfiel sie die kühle Nachtluft. Entlang der Balustrade und unten im Kies brannten Fackeln. Sie erhellten die Wege zwischen den penibel gepflegten Beeten bis in den hinteren Teil des Gartens.
Ob heute wohl noch jemand so waghalsig war, seine Ballbekanntschaft bis dorthin zu führen, wo Buschwerk und Rosenbögen die Blicke von der Villa aus abschirmten? Timothy strengte die Augen an, ob er verdächtige Bewegungen wahrnehmen konnte.
Es war ein offenes Geheimnis, dass es immer wieder vorkam, dass sich eine junge Dame von einem allzu kecken Freier auf Abwege locken ließ. Nicht wenige gesellschaftliche Skandale rankten sich darum, wer mutmaßlich mit wem im Dunklen zusammengekommen war. Wurde aus den Gerüchten jedoch unumstößliche Wahrheit, so war der Ruf der jungen Dame dahin. Sie konnte dann nur noch hoffen, dass der Missetäter so viel Anstand besaß und ihr die Ehe antrug, sonst hatte sie in der Heiratslotterie des Tons für immer eine Niete gezogen. Nicht selten kam es daraufhin zu einem heimlichen Treffen im Morgengrauen auf nebelfeuchter Wiese, bei dem zwei Männer – meist Brüder oder Väter – mit Pistolen versuchten, die Ehre des guten Namens im Duell wiederherzustellen.
Timothy schüttelte unwillkürlich den Kopf, um sich solcher Gedanken zu entledigen. Es konnte keinen Zweifel darüber geben, dass er weder Rebecca noch überhaupt eine der Damen einer derartigen Schande aussetzen würde. Seine Eltern hatten ihn zu einem Ehrenmann erzogen, und wie ein solcher würde er sich auch verhalten.
Rebecca lehnte sich an die Balustrade und spähte in die Dunkelheit der Gartenanlage hinunter. In unmittelbarer Nähe zum Haus und gut durch die Fackeln erleuchtet, schritt ein Paar über den Kies. Die sauber gerechten Steinchen knirschten unter ihren Sohlen.
Unvermittelt drehte Rebecca sich zu Timothy herum, sodass dieser erschrocken einen halben Schritt zurückwich.
„Macht Euch das eigentlich Freude?“, fragte sie ohne Zusammenhang.
Timothy suchte in ihrem Gesicht nach einem Anhaltspunkt. „Was denn?“
Sie warf die Arme in einer allumfassenden Geste in die Luft. „Das hier.“
„Wenn Ihr den Ball und die Brautschau da drinnen meint, dann nein. Wenn Ihr allerdings Eure Gesellschaft meint, dann durchaus.“ Er fragte sich augenblicklich, ob er damit zu weit gegangen war, doch die Worte waren schneller aus seinem Mund gekommen, als dass er darüber hatte nachdenken können.
Wieder zeigte sich die Andeutung eines Lächelns auf Rebeccas Lippen, dann wiegelte sie ihn ab. „Ihr müsst mir nicht schmeicheln. Hebt Euch das für eine andere auf.“
Dass sie ihn zurückwies, nagte an Timothy, der eigentlich gewohnt war, dass die Damen schon beim kleinsten Fingerzeig bereitwillig an seiner Angel hingen. Als zukünftiger Earl brauchte es in aller Regel nicht viel Überzeugungskraft. Dass Rebecca scheinbar immun gegen ihn war, machte sie nur umso interessanter.
„Vielleicht sollte jemand aber genau das tun. Euch schmeicheln.“ Er hob die Hand und strich ihr eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte und ihr ins Gesicht hing, hinter das Ohr. Timothy konnte sehen, wie sie mit sich rang. Dass er ihr seine Aufmerksamkeit schenkte, schien sie doch nicht so kalt zu lassen, wie sie vorgab. Gleichwohl wollte sie Distanz wahren. Musste es vielleicht, um sich selbst zu schützen.
Verdammt, dachte Timothy. Warum bist du keine Lady?
Jetzt reckte sie herausfordernd das Kinn und sah ihm wieder direkt in die Augen. Sie musste dazu nicht einmal zu ihm aufblicken. Rebecca war so großgewachsen, dass sie auf Augenhöhe mit ihm war – in mehr als nur körperlicher Hinsicht.
Dieser Frau den Hof zu machen, hätte sich nicht wie eine lästige Pflicht angefühlt, vermutete Timothy mit Bedauern.
„Ich weiß wohl, welche Zerstreuung Männer wie Ihr bei einer Frau sucht, die nicht Eurem Rang entspricht“, sagte sie brüsk. „Haltet mich, nur weil ich keine Lady bin, nicht für so dumm, dass ich mich darauf einlasse.“
Timothy schluckte. So hatte sie sein Verhalten ihr gegenüber also interpretiert? „Ihr täuscht Euch in mir“, versicherte er.
„Das, denke ich, tue ich nicht.“ Sie holte noch einmal tief Luft, als müsse sie ihre Lungen auf die Rückkehr in den Ballsaal vorbereiten, dann fügte sie hinzu: „Ich danke Euch für den Tanz und für Eure Zeit, Mylord.“ Rebecca raffte ihr Kleid und verließ mit raschen Schritten den steinernen Treppenabsatz in Richtung der hohen Fenster, durch die Kerzenschein und Fetzen der Musik nach außen drangen.
Timothy blieb völlig konsterniert an der Balustrade zurück.
Der Tag war noch jung als Timothy Talbot sich in den Sattel seines Hengstes schwang und zum Anwesen der Bolingbrokes ritt. Er trug einen schlichten Morgenanzug und seinen Zylinder. Man würde zwar erwarten, dass er Blumen dabeihatte, wenn er seine Aufwartung machte, doch er kam nicht als Verehrer zu der Villa zurück. Er wollte seinen guten Freund Jeremy treffen.
Vor dem Anwesen standen, wie schon am Tag zuvor, gleich mehrere Kutschen. Die Ladies of Bolingbroke mussten am gestrigen Abend einigen Eindruck gemacht haben.
Timothy konnte das nicht beurteilen. Nachdem er Rebecca in der Bibliothek begegnet war, hatte er nur noch mit ihr getanzt. Wenn er ehrlich war, sah er auch nur ihr Gesicht vor sich, während er durch die Allee ritt. Die Morgensonne warf ein Mosaik aus Schatten und Lichtreflexen durch die Blätter der Bäume auf den staubigen Boden.
Von allen Frauen, die er kennengelernt hatte, war ihm noch keine so interessant erschienen wie Rebecca. Es gab keine einstudierten Phrasen und Höflichkeitsbezeugungen, die Gespräche mit ihr waren ernsthaft und echt. Sie hielt nicht damit hinter dem Berg, was sie dachte, und es kümmerte sie anscheinend kein bisschen, ob sie damit in seiner Gunst stieg oder fiel.
Sie hatten über Bücher gesprochen und über Politik. Es war regelrecht erstaunlich, dass sie sich für das tägliche Geschehen in London und der Welt interessierte und sogar bewandert darin schien. Noch nie hatte Timothy eine englische Frau über Napoleon und seinen Code Civil sprechen hören. Und es war alles andere als töricht, was Rebecca dazu zu sagen gehabt hatte.
„Die Revolution hat viel für die Menschen in Frankreich getan. Napoleon regiert die Franzosen jetzt auf eine neue Weise.“ Er hatte ihre Worte noch im Ohr. „Für die Franzosen ist er ein Glücksfall. Nicht aber für die Französinnen.“ Mit großer Ernsthaftigkeit hatte sie diesen Vorwurf vorgebracht. Und dann noch nachgeschoben: „Männer, die regieren, tun das immer für andere Männer. Sie sehen die weibliche Seite der Welt nicht. Dabei ist die Hälfte der Welt weiblich.“
Er musste lächelnd, als er an die kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen dachte, die sich bildete, wenn sie sich empörte.
Als er vom Pferd stieg, eilte sogleich ein Diener herbei und nahm ihm die Zügel ab. „Guten Morgen, Mylord.“
Timothy nickte ihm zu. Er strich seinen Gehrock glatt und rückte den Zylinder gerade, dann rief er sich wieder ins Gedächtnis, dass er hier war, um seinen alten Freund zu sehen. Nicht, um seine Aufwartung zu machen.
Hätte er den Abend mit der lieblichen, jedoch gänzlich langweiligen Lavinia verbracht, so könnte er ihr jetzt mit Blumen und feiner belgischer Schokolade seine Aufwartung machen. Er würde die anderen Verehrer, die in ihren Kutschen gekommen waren, locker ausstechen können. Er war der Sohn des Earl of Huntington!
Man würde ihm womöglich sogar einige Minuten mit Lady Lavinia allein vergönnen. Alles war möglich, wenn man die beste Partie der Saison war.
Doch dasselbe galt nicht für Rebecca. Sie selbst hatte das glasklar erkannt und ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie wusste, wo ihr Platz war. Allenfalls für eine Affäre kam sie für ihn infrage, und das – auch da war sie schmerzhaft deutlich gewesen – war dann doch deutlich unter ihrer Würde.
Als hätte er solche Absichten gehegt, als er sie auf die Freitreppe hinausbegleitet hatte. Ja, er hatte einen schwachen Augenblick lang in die Dunkelheit gestarrt, und vielleicht war ihm dabei durch den Kopf gegangen, was versteckt in den Büschen im hinteren Teil des Gartens alles möglich war. Aber niemals hätte er ein solches Ansinnen auch nur bloß laut ausgesprochen vor ihr!
Sie hatte nicht vor, seine Mätresse zu werden. Das hatte sie ihn wissen lassen und dann war sie einfach gegangen. Als er ihr in den großen Ballsaal der Villa nachgelaufen war, war sie verschwunden. So sehr er auch suchte, nirgendwo konnte er den raschelnden, lindgrünen Satin ihres Kleides oder ihre schlanke, hochgewachsene Figur entdecken. Sie hätte sich aus der Masse der kleineren und aus Timothys Sicht viel unscheinbareren Frauen leicht hervorheben müssen. Doch sie war wie vom Erdboden verschluckt gewesen.
Auch in der Bibliothek war er noch einmal gewesen, hatte sie jedoch verwaist vorgefunden. Das Buch, bei dessen Lektüre er sie überrascht hatte, war noch unbeachtet auf dem kleinen Tisch beim Kamin gelegen, sonst keine Spur von ihr.
Wie Cinderella, die Schlag Mitternacht den Ball des Prinzen verlassen hatte müssen, damit ihr Zauber nicht aufflog, so war auch Rebecca verschwunden – und er hatte noch nicht einmal ihren Schuh.
Timothy schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Dann betätigte er den Türklopfer.
Der Butler des Hauses öffnete ihm. „Guten Morgen, Sir. Wen darf ich melden?“ In seiner Stimme schwang Gleichgültigkeit mit. Er hatte heute wahrscheinlich bereits mehrfach die Tür geöffnet und jedes Mal einen eifrigen jungen Mann davor angetroffen.
Timothy streckte sich und blähte die Brust. Er war nicht gekommen, um sich in die Schlange der Verehrer von Lady Lavinia und Lady Mary-Ann einzureihen.
„Timothy Talbot für Lord Jeremy St. John, bitte”, sagte er.
Der Butler zuckte für den Bruchteil eines Augenblicks mit der Braue nach oben. Er hatte ihn überrascht.
Timothy verbiss sich ein Grinsen.
„Sehr wohl, Eure Lordschaft. Bitte mir folgen zu wollen.“ Der Butler ließ ihn ein und nahm ihm den Zylinder ab. Dann führte er ihn zur Bibliothek im Erdgeschoss, wo er am Abend zuvor die Bekanntschaft mit Rebecca gemacht hatte.
Jeremy saß in dem Lesesessel am Kamin, doch jetzt war das Feuer aus. Statt dem flackernden Schein erhellte das grelle Sonnenlicht den Raum, das durch die weit geöffneten Fenster fiel. Der Freund hielt auch kein Buch in seinem Schoß, sondern hatte sich eine Zigarre angesteckt.
Noch einmal musste Timothy sich unwirsch schütteln, um die Erinnerungsfetzen in seinem Gedächtnis aufzulösen.
„Timmy, mein Freund. Was führt dich so früh schon hierher? Du willst doch wohl nicht einer meiner Schwestern deine Aufwartung machen?“ Jeremy lachte bei der Vorstellung.
Timothy war schon über die Anrede erbost. Wieso glaubte Jeremy, sich über ihn lustig machen zu können? Selbst wenn er einer seiner Schwestern seine Aufwartung machen wollte, gab ihm das nicht das Recht, sich so über ihn zu erheben.
„Nein, das will ich nicht“, brummte er verstimmt.
„Schade.“ Jeremy schlug einen versöhnlicheren Ton an. Er zog genüsslich an seiner Zigarre.
Jeremy würde, genau wie Timothy, irgendwann das Oberhaupt seiner Familie sein. Kein Earl zwar, aber ein Viscount. Auch Jeremy machte der verheißungsvolle Titel zu einem begehrten Heiratskandidaten, davon war Timothy überzeugt. Neben dem Titel, den er erben würde, war er stattlich und gut gewachsen, hatte tadellose Manieren und eine gute Bildung erhalten. Der Freund schien diese Last jedoch viel lockerer zu nehmen als er.
„Stört dich das nicht?“, platzte Timothy mit seinen Überlegungen heraus.
„Was denn? Willst du eine Zigarre, bevor wir in den Club gehen?“ Er zog eine Zigarrenkiste heran und schob den Deckel zurück.
„Danke, nein. Ich meine dieses ganze Theater, stört es dich nicht?“ Timothy ließ sich dem Freund gegenüber in den zweiten Sessel fallen.
„Wovon redest du, um Himmels willen?“
Timothy vollführte eine vage Geste, die die ganze Bibliothek, oder vielleicht auch das ganze Haus einschließen mochte. „Das alles hier! Die Bälle, die Aufwartungen, der Klatsch und Tratsch, wer mit wem …“
„Ach, das meinst du. Nun ja, es ist doch … wie soll ich sagen? Es ist doch immerhin ein ganz netter Zeitvertreib. Während wir in London sind. Nicht?“
„Zeitvertreib …“, echote Timothy verächtlich. „Es raubt einem den letzten Nerv!“
Jeremy beobachtete seinen Freund genau. „Bist du womöglich schon fündig geworden?“
Jetzt fühlte Timothy sich ertappt. „Unsinn“, beschied er ihn. „Schon die Tortur, überhaupt eine der Ladies kennenzulernen, ist mir zutiefst zuwider.“
„Hat sie dich abgewiesen?“, mutmaßte Jeremy und sah seinen Freund mitleidvoll an. „Wie unerhört. Einem künftigen Earl gibt man doch keinen Korb. Na, wenn das erst ihre Mutter erfährt …“
Timothy lachte gequält. „Nein, mir gibt keine einen Korb, das darfst du glauben. Ich muss mich vielmehr gegen den Ansturm an heiratswütigen Kandidatinnen wehren und erst recht gegen ihre Mütter!“
Die Einzige, die ihn abgewiesen hatte, war Rebecca, und sie war zugleich die Einzige, die ihn auch bloß im Ansatz interessierte, aber das ließ Timothy lieber unter den Tisch fallen. Er konnte nicht erwarten, dass der Freund Verständnis dafür gehabt hätte.
„Mütter sind überhaupt das Schlimmste aller Übel. Sieht man schon an meiner eigenen.“ Jeremy stippte Asche von seiner Zigarrenspitze in den Ascher auf dem Tisch.
„Weshalb?“
„Sie will mich diese Saison auch verheiratet sehen.“
Nun war es an Timothy, ein mitleidiges Gesicht zu ziehen. „Du Ärmster. Und? Bist du bereit?“
„Mein Guter, wie könnte ein Mann unseres Alters bereit sein, sich auf eine Frau festzulegen? Ich bitte dich, es gibt so viele davon! Und alle reizend. Wie soll ich da eine Auswahl treffen?“
Jeremy übertrieb nicht. Timothy wusste, dass sein Freund der Anziehungskraft weiblicher Verführungskünste kaum widerstehen konnte. Allerdings handelte es sich dabei stets um Damen, die seine Mutter wohl kaum als Schwiegertöchter akzeptiert hätte: Tänzerinnen, Opernsängerinnen, Schankmädchen und auch die eine oder andere Dirne.
Nicht, dass Timothy nicht auch gelegentlich in solchen Kreisen verkehrte, aber Jeremy hatte die Eroberung der leichten Damen geradezu zum Kampfsport erhoben.
„Schon wieder ein Fischlein am Haken?“, fragte Timothy milde amüsiert.
„Immer. Meine Angel ruht nie.“ Jeremy grinste. Dann drückte er die Zigarre im Ascher aus und stand auf. „Komm, lass uns in den Club fahren. Ich ertrage es nicht, die Reihe der traurigen Gestalten zu sehen, die hier vorfahren, um Blumen und Geschenke abzugeben.“
„Welche deiner Schwestern ist denn die Glückliche?“, fragte Timothy und erhob sich ebenfalls.
„Na, Lavinia natürlich. Denkst du wirklich, der Andrang gelte der armen Mary-Ann? Ich sage dir, das kommt vom Hochmut. Sie wird noch einmal froh sein müssen, wenn irgendein ältlicher Baron sie nimmt, nachdem seine alte Baroness das Zeitliche gesegnet hat. Und Kitty ist zu klein. Sie hat ihr Debüt noch nicht gemacht, Gott sei’s gedankt. Nein, nein, eine Ballkönigin im Haus reicht!“
„Und was ist mit Rebecca?“, rutschte es Timothy heraus, bevor er sich selbst zügeln konnte.
„Rebecca?“ Jeremy hob die Augenbraue bis fast an den Haaransatz. „Wie kommst du jetzt auf sie? Sie ist unsere Cousine. Sie wohnt zwar hier im Haus, aber sie kann kaum darauf hoffen, eine Partie zu machen. Mutter staffiert sie aus und nimmt sie mit auf die Bälle. Mir ist nicht entgangen, dass du sie gestern zu dem einen oder anderen Tänzchen hast überreden können. Erstaunlich, fürwahr, denn sie tanzt sonst nie. Du musst einigen Eindruck auf sie gemacht haben. Aber ich sage dir, das Mädchen weiß genau, wo sein Platz ist. Sie käme nie auf die Idee, sich Hoffnungen auf einen schmucken Adelsmann zu machen. Oder gar einen Earl wie dich!“
Timothy spürte, wie er rot wurde, und wandte rasch das Gesicht ab. Wie kam Jeremy bloß dazu, so eine Aussage zu treffen?
„Davon war ja auch nie die Rede“, knurrte er.
„Ich sag’s bloß. Also an die könntest du dich ohne schlechtes Gewissen heranwagen. Falls du ein wenig Zerstreuung suchst. Sie ist nicht so dumm, zu glauben, dass daraus etwas Verbindliches folgen müsste.“ Jeremy warf ihm einen vielsagenden Blick zu.
„Jeremy! Ich muss doch sehr bitten. Du vergisst dich. Ich würde deine Cousine ebenso wenig in eine kompromittierende Lage bringen wie eine deiner Schwestern. Glaubst du, ich habe gar keine Kinderstube genossen?“, empörte sich Timothy.
Wieso dachten eigentlich alle, dass er nur das Eine im Sinn hatte, wenn er mit Rebecca tanzte? Sogar sie selbst hatte ihm das unterstellt.
Jeremy öffnete die Tür zur Bibliothek und ließ seinen Gast zuerst hindurchgehen. „Ruhig Blut, ich meine das freundschaftlich. Meinen Segen hättest du. Und sie ist ja wirklich eine Augenweide …“
Damit hatte er fraglos recht. Doch das andere, was er gesagt hatte, brachte Timothy so sehr auf, dass er die Hände in die Hosentaschen stecken musste. Am liebsten hätte er den Freund sofort mit der Faust zur Raison gebracht.
Rebecca mochte vielleicht keine Lady sein, aber zu denken, sie wäre deshalb ein leichtes Spielzeug, war unerhört. Timothy vermutete, dass sie, sollte sie je von Jeremys Ansichten über sie Wind bekommen, ihm höchstselbst die Löffel dafür langziehen würde.
Sie betraten den Club und legten ihre Zylinder ab. Die Luft war rauchgeschwängert, es roch nach herbem Eau de Cologne und Tabak. Am Billardtisch maßen sich zwei Gentlemen in ihrer Treffsicherheit. Es war noch früh am Vormittag, der Club mäßig besucht. Auffällig war, dass Jeremy und Timothy die jüngsten Besucher zu sein schienen.
„Oje, sieh dir das an“, kommentierte Jeremy prompt. „Welch ein Jammer. Die jungen Kerle sind alle ausgeflogen und stehen mit welken Blumen in den schwitzigen Händen an fremden Eingangspforten. Was für ein trauriges Schauspiel.“
„Oder sie schlafen ihren Rausch aus“, mutmaßte Timothy ungerührt.
„Das wäre ihnen zu wünschen. Etwas Besseres kann einem aufrechten Mann nicht passieren, als dass er sich auf einem Ball betrinkt, noch bevor ihn der Pfeil einer Frau zu treffen vermag.“
Timothy schüttelte lachend den Kopf. „Du bist wirklich unverbesserlich. Und ich dachte, ich würde dieses ganze Heiratstheater am meisten verachten. Aber du schlägst mich um Längen, wie ich sehe.“
„Timothy! Jeremy!“ Ein Mann löste sich vom Tresen und kam auf sie zu. Damit unterbrach er ihren Schlagabtausch fürs Erste.
„Adam Fitzherbert!“, rief Timothy erfreut, als er den anderen erkannte. „Ich wusste nicht, dass du in der Stadt bist.“
„Aber alles und jeder ist gerade in der Stadt“, erwiderte der Angesprochene und begrüßte die beiden mit Handschlag.
„Baron Berkley, sieh an.“ Jeremys verkniffenes Gesicht ließ erkennen, dass er sich weniger über die Begegnung freute.
„Wie sieht es aus, meine Herren? Ein früher Drink? Ihr seid wohl heute schon vorstellig geworden, was? Der frühe Vogel und so.“ Adam grinste breit und ignorierte Jeremys ablehnende Haltung geflissentlich.
Timothy kannte Adam fast ebenso lange wie Jeremy und mindestens genauso lang dauerte die Rivalität der beiden schon an. Adam Fitzherbert war ein Lebemann, er hatte wenig Geld von zu Hause, fand aber immer einen Weg, sich welches zu beschaffen. Mit Pferdewetten oder indem er auf Boxkämpfe setzte. Zumindest waren das die bekannteren seiner Methoden. Darüber hinaus mochte es wohl noch andere Einnahmequellen geben, von denen Timothy lieber nichts wissen wollte.
Jeremy verhielt sich seit jeher so, als wäre die Bekanntschaft zu Adam unter seiner Würde, insgeheim vermutete Timothy aber eher, dass er den Gleichaltrigen als Konkurrenz betrachtete. Immerhin hatte auch Adam bei bestimmten Damen einen Stich und die beiden waren sich schon das eine oder andere Mal in die Quere gekommen.
Wenigstens waren sie noch nie in einen ernsthaften Zwist miteinander geraten. Timothy verlangte es nicht danach, einen von beiden mal im Morgengrauen auf eine Wiese begleiten und als sein Adjutant fungieren zu müssen.
„Gerne einen Drink, Adam“, sagte er und folgte ihm zum Tresen. Auf seinen Wink hin, stellte der Barkeeper drei Gläser auf die polierte Oberfläche und schenkte sie großzügig mit Whiskey voll.
Jeder nahm sich ein Glas und prostete sich zu.
Nach dem ersten Schluck sagte Adam: „Also, welche holde Maid haben die Herren im Visier?“
Jeremy sah aus, als hätte er versehentlich in eine Zitrone gebissen, als er von oben herab antwortete: „Was mich betrifft, keine. Ich beabsichtige diese Saison wie die letzten ohne einen Ring am Finger zu überstehen.“
„Und du?“ Adam wandte sich Timothy zu.
„Ich auch.“
„Also keine Hochzeit am Horizont, ich bin erleichtert“, stellte Adam fest.
„Dem entnehme ich, der Herr Baron hat auch nicht vor, in den Hafen der Ehe einzulaufen? Überzeugung oder ein Mangel an Gelegenheit?“, stichelte Jeremy.
„Glücklich, wer vermag, aus der Not eine Tugend zu machen. Cheers.“ Adam ließ sich nicht provozieren.
Sie hoben die Gläser erneut. Dann wanderten sie durch den spartanisch eingerichteten Raum zu einer Sitzgruppe hinüber. Die Wandvertäfelung, der Tresen, der beinahe die ganze Länge des Raumes einnahm, die Sitzmöbel und das Regal zwischen den beiden Sprossenfenstern waren alle aus dem dunklen Holz der Kolonien gefertigt. Die Wände oberhalb der Vertäfelung waren in einem dezenten Türkis gestrichen.
Die Gentlemen, die in diesem elitären Club verkehrten, waren allesamt Peers oder ihre Söhne. Das House of Lords trat somit nicht nur in Westminster zusammen, sondern informell auch hinter den geschlossenen Clubtüren. Man munkelte, dass die wesentlichen politischen Entscheidungen in den Clubs getroffen wurden und nicht im Parlament.
„Eine Partie Whist?“, fragte Adam.
Jeremy winkte ab. „Lass mal, heute nicht.“
Auch Timothy signalisierte Unlust.
Adam sparte sich eine Diskussion darüber und zuckte nur die Schultern. Sein Glas war schon leer. „Ich hole Nachschub.“
Während er zurück an den Tresen ging, sagte Timothy: „Kannst du dich bitte ein wenig beherrschen? Ich finde dein Gebaren unhöflich.“
Jeremy machte ein unschuldiges Gesicht. „Wieso? Ich tue doch gar nichts.“
„Du weißt genau, was ich meine. Du magst ihn nicht und musst das ständig heraushängen lassen, wenn er da ist.“
„Ich verstehe nicht, was du an ihm findest“, verteidigte sich Jeremy. „Er ist ein Parvenü! Kaum ein richtiger Lord, nur ein Baron, und sein Vater ist verarmt, das wissen alle.“
Timothy schnaubte verächtlich. „Du mit deinen Standesdünkeln. Ich weiß wahrlich nicht, woher du die nimmst. Du bist auch nur ein Viscount, wenn du so willst. Im Augenblick noch nicht einmal das, dein Vater ist der Viscount und du beerbst ihn irgendwann. Du tust, als hättest du direkte Verbindung ins Königshaus!“
„Sein Vater wäre mir vollkommen gleichgültig, und ob er eine berstend volle Brieftasche hat oder nicht ebenso, wenn er ein wenig Bescheidenheit an den Tag legen würde. Anstand kann man doch wohl erwarten, oder?“
Adam kehrte zu ihnen zurück. Er wirkte plötzlich fahrig und aus seinem Glas schwappte der Whiskey über, als er sich in den Sessel fallen ließ.
„Dringihr nichsmehr?“ Er lallte beim Sprechen.
Jeremy und Timothy wechselten einen Blick. Er war doch nur einen kurzen Moment am Tresen gewesen?
„Adam, fühlst du dich nicht wohl?“, fragte Timothy alarmiert.
„Bessens. Allesbessens. Habmichnie besserfühlt.“ Er verschüttete den meisten Teil bei dem Versuch, das Glas an den Mund zu führen.
Timothy sah über die Schulter zum Barkeeper hinüber, der gleichgültig Gläser polierte. Nur ein anderer Mann lehnte am Tresen, er stand mit dem Rücken zu ihnen. Timothy erkannte ihn von hinten nicht. Hatte er etwas mit Adams Zustand zu tun?
Er signalisierte Jeremy, bei Adam zu bleiben und erhob sich. Am Tresen winkte er den Barkeeper zu sich heran.
„Was darf ich bringen, Eure Lordschaft?“
„Was hat dieser Gentleman da drüben gerade bekommen?“, fragte Timothy scharf.
Der Barkeeper legte die Stirn in Falten. „Whiskey, Eure Lordschaft. Möchtet Ihr auch einen?“
„Nur Whiskey? Sonst nichts?“
„Nur Whiskey, Mylord. Was ist denn?” Der Bedienstete wurde sichtlich nervös.
Timothy beugte sich so weit über den Tresen, wie er konnte. „Mein Freund dort drüben ist total betrunken!“
Der Barkeeper schielte über Timothys Schulter zu Adam hinüber. „Nun ja, mit Verlaub, vielleicht verträgt er nicht allzu viel … Whiskey, und das am frühen Morgen.“
„Unsinn!“, fuhr Timothy ihn an. „Er kann ein ganzes Fass Whiskey saufen und wäre danach allenfalls angetrunken! Was hat er noch bekommen?“
Der Barkeeper hob abwehrend die Hände. „Nichts! Ich schwöre es. Von mir ganz sicher nichts.“
Timothys Blick wanderte den Tresen entlang und blieb am Rücken des fremden Gentlemans hängen. „Wer ist er denn?“, fragte er.
„Der Gentleman ist der Marquess of Ormonde. Er ist kürzlich von seinen Besitztümern in Irland zurück nach London gekehrt.“
Timothy biss sich auf die Unterlippe. Sie waren einander noch nie begegnet. Es wäre unhöflich gewesen, den Marquess anzusprechen und ihn zu bezichtigen, Adam irgendetwas untergeschoben zu haben. Dafür gab es keine Beweise. Allenfalls das Indiz, dass er als Einziger neben dem Barkeeper in seiner Nähe gewesen war. Aber das konnte auch ein bedauerlicher Zufall sein.
Er beließ es dabei und kehrte an den Tisch zurück. Adam hielt sein leeres Glas umklammert, als handele es sich um die Kronjuwelen der Monarchie. Sein Kopf war zur Seite gefallen. Er schlief und schnarchte dabei.
Jeremy verdrehte die Augen. „Jetzt sieh dir diesen Dummkopf an! Da lässt er sich am Vormittag mit Whiskey volllaufen und jetzt das. Man kann sich mit ihm nicht in der Öffentlichkeit blicken lassen!“
Timothy winkte ab. „Hilf mir lieber, wir müssen ihn hier wegschaffen. Möglichst ohne Aufruhr.“ Er griff Adam von hinten unter die Arme und zerrte ihn hoch. Der schlug kurz die Augen auf, grunzte etwas Unverständliches und sank wieder schwer in Timothys Armen zusammen.
„Hilf mir doch!“, fuhr er Jeremy an.
Der schnaubte entnervt. Dann packte er den Betrunkenen doch noch am Kragen und ehe Timothy intervenieren konnte, schlug er ihm die flache Hand so stark ins Gesicht, dass es laut klatschte.
„Wach auf, du Trunkenbold! Reiß dich zusammen.“
Adam taumelte und schwankte, hielt die Augen aber wieder offen. Timothy stützte ihn. Auch Jeremy legte sich einen Arm von ihm um die Schultern und gemeinsam bugsierten sie ihn zum Ausgang.
Die Herren am Billardtisch ließen die Queues sinken und sahen kopfschüttelnd zu ihnen herüber. Betrunkene, auch schwerstalkoholisierte Besucher, waren im Club durchaus kein ungewöhnlicher Anblick, doch um die Uhrzeit musste selten einer hinausgeschafft werden.
Auf der Straße berappelte Adam sich so weit, dass er sich von seinen Begleitern losreißen konnte.
„Ischkommeschon zrecht … lasssma …“ Er riss den Arm in die Höhe, um eine Droschke aufzuhalten.
Aus einer Seitenstraße kam wie auf Kommando eine schwarze Karosse mit einem gleichfarbigen Pferd vorgespannt. Der ebenfalls in schwarz gekleidete Kutscher sprang vom Bock und öffnete den Verschlag.
„Danke sehr, Gentlemen. Ich kümmere mich um ihn“, sagte er und half Adam beim Einsteigen.
Nur Minuten später schnalzte der Kutscher vom Bock aus mit der Zunge und ließ die Zügel auf den Rücken des Rappens klatschen. Der setzte sich kräftig in Bewegung und die Kutsche holperte über die ausgefahrene Straße davon.
Timothy sah ihr mit gerunzelter Stirn hinterher. „Er hat einen Kutscher und eine Karosse?“
„Was weiß denn ich? Vielleicht ist er zufällig wieder einmal zu etwas Geld gekommen.“ Für Jeremy war das Thema erledigt, er klatschte die flachen Hände gegeneinander, als wollte er sich des Staubs der Gosse entledigen. Dann wandte er sich zur Tür, um wieder hineinzugehen.
Timothy blieb noch einen Augenblick stehen und sah der Kutsche, die bereits aus seinem Sichtfeld verschwunden war, hinterher.
„Da bist du ja, mein Schatz.“ Augusta Talbot war aus dem Salon in die Diele getreten, kaum dass die Tür hinter Timothy ins Schloss gefallen war.
Er unterdrückte ein Seufzen. Wenn seine Mutter ihn Schatz nannte, wusste er, dass gleich etwas folgen würde, das ihm mindestens unangenehm war.
„Mama, guten Morgen“, sagte er und zwang sich zu einem Lächeln. Er küsste seine Mutter auf die Wange.
Sie schnupperte.
„Rieche ich Alkohol?“, fragte sie und ihre Miene verfinsterte sich. „Wo kommst du um diese Uhrzeit schon her, wenn ich fragen darf? Warst du überhaupt im Bett?“ Sie musterte ihn kritisch, konnte aber offenbar an seinem Äußeren keinen Anstoß finden. Wie auch? Nach Adams ungebührlichem Abgang hatte er mit Jeremy noch einen Drink genommen, ein wenig über dieses und jenes parliert und danach war er auf dem direkten Weg nach Hause zurückgekehrt.
Über dem Stadthaus, das seine Familie in London bewohnte, lag noch morgendliche Ruhe. Offenbar hatte sich kein Verehrer für seine Schwestern sehen lassen. Ein Umstand, der seine Mutter sicherlich nicht gerade freundlicher stimmte.
Mit, wie er hoffte, schmeichelnder Tonlage sagte er: „Ich habe eine kleine, morgendliche Runde gedreht, Mama. Und meinen Freund Jeremy getroffen.“
„Jeremy St. John, nehme ich an?”, präzisierte Augusta.
„Ebendiesen, ja.“ Er schickte sich an, zur Treppe zu gehen.
„Moment, nicht so schnell.“ Seine Mutter hielt ihn am Arm zurück. „Ich habe dich gestern mit diesem Mädchen tanzen sehen, das bei Lord und Lady Bolingbroke untergekommen ist. Sie …“
„Ihr Name ist Rebecca“, versetzte Timothy ihr. Er spürte Wut hochsteigen, weil er sich bereits ausrechnen konnte, was sie als nächstes sagen würde. Genau wie Jeremy würde auch seine Mutter ihn darauf hinweisen, dass Rebecca keine standesgemäße Partie für ihn war. Als ob er eine Lektion in Sachen Standesdünkel nötig hätte! Sie alle legten genug davon an den Tag.
„Wie auch immer. Ich habe dich nur einmal mit Lady Lavinia auf dem Tanzparkett gesehen. Sie war eine Augenweide und hat ganz und gar vorzügliche Manieren. Wenn du schon im Hause Bolingbroke ausund eingehen musst, dann würden dein Vater und ich es begrüßen, wenn deine Aufmerksamkeit ihr gelten würde.“
„Vorzügliche Manieren, wunderbar anzuschauen und zum Sterben langweilig“, kommentierte Timothy und wusste genau, dass er seine Mutter damit aufbrachte. Aber es war ihm egal, da sie auch keine Rücksicht auf seine Laune nahm.
Prompt verfinsterte sich Augustas Miene wie der Himmel kurz vor einem Gewitter. „Ich möchte nicht, dass du so über ein ehrbares Mitglied des Tons sprichst. Das ist ungebührlich und zeugt nicht von Reife.“
„Über ein Mädchen hingegen, das nicht zur Gesellschaft gehört, kann jeder sprechen, wie er will?“, knurrte Timothy, machte sich vom Griff seiner Mutter los und stieg die Treppe hinauf.
„Wir sind noch nicht fertig!“, rief Augusta ihm hinterher. „Und ich verbitte mir diesen Ton.“
Timothy reagierte nicht darauf. Er erreichte den Treppenabsatz und schlug den Weg zu seinen Gemächern ein. Er bewohnte, wenn er in London war, eine großzügige Suite im Stadthaus seiner Eltern.
Verstimmt betrat er den Salon, der in kastanienbraun und moosgrün gehalten und mit allerlei Jagdtrophäen geschmückt war. Achtlos ließ er den Gehrock über einen Sessel fallen und zerrte den engen Knoten seiner Krawatte locker. Dann trat er ans Fenster und öffnete es.
Ihm kam es gerade überall zu stickig vor, als raubte ihm nicht nur die unbequeme Mode den Atem. Er blieb stehen und holte ein paarmal tief Luft.
Unten rumpelte ein Pferdefuhrwerk vorbei. Eine Frau mit einem weiten Korb über dem Arm raffte ihre Röcke zusammen und überquerte die Straße. Timothy hob den Blick über die Dächer der Nachbarhäuser, wo er einen Streifen blauen Himmels erkennen konnte. Wie gern wäre er jetzt draußen auf dem Landsitz gewesen. London kam ihm wie ein Vogelkäfig vor, der ihm jede Möglichkeit raubte, seine Flügel auszubreiten.