9,99 €
Zurück auf Bahnsteig 13 Neun Jahre sind vergangen, seit sich der Gügel unter dem Bahnsteig 13 das letzte Mal geöffnet hat, um den Weg zu einer magischen Insel voller fantastischer Wesen freizugeben. Es ist auch höchste Zeit, denn der Nebel, der die zauberhafte Insel vor der Entdeckung schützt, schwindet mehr und mehr. Warum nur? Hexe Lex macht sich auf in die Menschenwelt, um einen Nebelexperten zu finden. Irrtümlich hält sie das Mädchen Lena für diese Expertin und schleppt sie auf die Insel. Dort spitzt sich die Lage mehr und mehr zu. Wird es den Inselbewohnern mithilfe von Lenas ungewöhnlichen Ideen gelingen, ihre Heimat zu retten?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 191
Veröffentlichungsjahr: 2022
Eva Ibbotson
Bahnsteig 13 öffnet sich wieder
Aus dem Englischen von Katja Frixe
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Niemand bemerkte die junge Frau in den hellblauen Stiefeln, die am Wiener Hauptbahnhof den Bahnsteig entlangging.
Was vielleicht daran lag, dass sie leicht zu übersehen war: ein Teenager von durchschnittlicher Größe mit langem schwarzem Bob und verschiedenfarbigen Augen, eins grün, eins braun. Sie hatte es immer gehasst, so menschlich auszusehen, doch sie musste zugeben, dass es manchmal auch ganz nützlich sein konnte.
Lediglich ein Mann, dessen zorniges Gesicht an ein zerknittertes Stück Papier erinnerte, nahm sie wahr. Sie stand ihm im Weg und er rempelte sie an – als gehörte ihm der Bahnsteig ein Stück mehr als ihr.
»Pass auf, wo du hinläufst, Fräulein!«, brüllte er, als sie zusammenstießen.
Lex Gribble setzte ihren Weg unbeirrt fort, dann drehte sie sich jedoch um und sagte: »Nicht Fräulein, sondern Hexe.«
Lina Lasky glaubte an alles, was mit Magie zu tun hatte. Sie glaubte an Zaubersprüche und Hexentränke und bewunderte Leute, die Hasen aus Zylindern zauberten. In ihren Träumen sah sie Nixen und Trolle, die mit Gemüse tanzten. Einmal, als sie tagsüber vor sich hin träumte, stellte sie sich das flauschigste aller mystischen Wesen vor: füllig wie ein kleines Kissen, mit Schnurrhaaren um die Nase und riesigen schwarzen Augen – ein bisschen wie ein Seehund, nur ohne Flossen. Sie begann sofort, die Pompons an ihrem Rucksack so zu drapieren, dass sie aussahen wie in ihrer Vision.
Ihre Freunde glaubten schon lange nicht mehr an Magie. Doch das war genau der Punkt: Magie ist nur real, wenn man daran glaubt. Auch wenn Lina es nicht wusste – die Dinge, die sie sich vorstellte, existierten wirklich. Selbst Trolle, die mit Gemüse tanzten.
»Wenn es magische Kreaturen gibt, müssen sie sich irgendwo verstecken«, sagte Lina eines Tages beim Frühstück zu ihren Eltern. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, über Magie zu diskutieren, als bei einem leckeren Müsli oder einem knusprigen Toast. »Eine Hexe mit verzottelten Haaren oder eine Fee würden hier ja sofort auffallen, also müssen sie sich irgendwo anders aufhalten. An einem Ort, den wir noch nicht kennen.«
Natürlich hörten ihre Eltern kaum zu; das tun Erwachsene selten, wenn man über Magie spricht. Je mehr Falten eine Person hat, desto weniger toleriert sie solche Dinge. Erwachsene wollen Beweise.
»Wir haben eine Überraschung für dich«, sagte der Vater und versuchte, das Thema zu wechseln. »Wir fahren an deinem Geburtstag zu deiner Tante nach Salzburg. Ein ganzes Wochenende, wir alle zusammen!«
Linas Mutter grinste, als sie die Bahntickets über den Tisch schob. »Überraschung! Oh, und ich bin mir relativ sicher, dass ihre Nachbarin eine Hexe ist«, fügte sie hinzu, weil sie hoffte, Lina die Reise schmackhaft machen zu können.
»Wie kannst du so über Mrs Frampton reden?«, spottete der Vater.
»Ist doch eigentlich ein riesiges Kompliment«, sagte Lina. »Ich würde alles dafür geben, einer Hexe zu begegnen. Sie können sich Haare aus den Ohren wachsen lassen und mithilfe ihrer Wimpern das Wetter vorhersagen – zumindest liest man das so in den Geschichten. Vielleicht ist Mrs Frampton eher eine Magierin.«
»Also wirklich, Lina!« Die Mutter lachte. »Da geht deine Fantasie wieder mal mit dir durch.«
Lina hielt inne, ihre Gabel schwebte über dem Teller. Manchmal fragte sie sich, ob vielleicht irgendetwas mit ihr nicht stimmte.
»Los, Lina«, sagte der Vater. »Schnapp dir deinen Seehundrucksack.«
»Er ist ein magisches Wesen«, sagte Lina und umschlang ihren Rucksack mit beiden Armen.
»Natürlich, ein magisches Wesen«, erwiderte ihre Mutter mit einem Lächeln.
Der Vater räumte die Teller beiseite und zog Linas Stuhl zurück. »Komm schon, du magisches Wesen, sonst verpassen wir noch unseren Zug.«
Lina nahm den Rucksack aus dem Kofferraum und warf ihn sich über die Schulter. Sie trug einen dicken Pulli, Jeans und ihre silbernen Lieblingsturnschuhe. Um diese Zeit fand sie den Bahnhof einfach nur schrecklich. »Es riecht nach Kaffee und feuchten Haaren«, sagte sie.
»Deine Mutter hat sich für deinen Geburtstag extra freigenommen, Lina«, flüsterte ihr Vater. »Versuch bitte, ein bisschen mehr Begeisterung zu zeigen.«
Lina schlurfte über den Bahnsteig, als sie genau vor sich ein älteres Mädchen in hellblauen Stiefeln entdeckte. Lina beobachtete, wie es von einem Mann angerempelt wurde. Aber dann passierte etwas höchst Seltsames: Der Mann prallte an ihr ab, als wäre sie nur aus Knochen und Magie. Das Mädchen drehte sich um und sagte irgendetwas zu dem Mann. Etwas, das aussah wie ...
»HEXE!«, brüllte Lina.
Und dann wurde alles schwarz.
Mit einem Fingerschnipsen war es wieder hell.
»Wo sind denn alle?«, rief Lina und starrte auf den leeren Bahnsteig.
Die Hexe schien verwirrt. »Was meinst du damit – wo sind denn alle?«
»Die Leute«, stammelte Lina. »Meine Eltern!«
»Du hast deine Eltern zu einer geheimen königlichen Mission mitgebracht?«, fragte die Hexe mit hochgezogener Augenbraue. »Na gut, ich denke, du bist noch ziemlich jung. Viel jünger, als ich eigentlich erwartet hätte …«
»Sind sie für immer verschwunden?« Lina war plötzlich in großer Sorge.
Die Hexe betrachtete Linas Nase. »Geht es dir nicht gut? Hast du die Rotzfädenkrankheit? Die Gepunktete-Zunge-Grippe? Eine schleimige Entzündung?«
Lina starrte die Hexe völlig fassungslos an, bevor sie schließlich antwortete: »Ich hoffe nicht!«
»Ich habe verlorene Schnürsenkel benutzt«, erklärte die Hexe und hielt silbern glänzende Schnürsenkel hoch. »Ich musste sie nur zusammenknoten – jetzt sind wir für die anderen unsichtbar und die anderen sind unsichtbar für uns. Sie sind alle noch hier, wir können sie nur nicht sehen und sie können uns nicht sehen.«
Lina beobachtete, wie ein Kaffeebecher an ihrem Kopf vorbeisegelte.
»Je weniger die Menschen mitbekommen, desto besser. Es ist risikoloser wenn wir dieses Treffen im Geheimen abhalten – da wirst du mir sicher zustimmen. Der Schnürsenkelzauber wirkt nicht lange. Kleiner Gag, wirklich. Die alte Hexe, die sich gerne mit den mutierten Nixen auf unserer Insel sonnt, hat ihn erfunden. Ich denke, ihre Nixenfreundinnen waren nicht sonderlich begeistert, dass sie so viel Zeit auf die Entwicklung eines magischen Produkts verwendet hat, das sie niemals nutzen können.«
»Oh«, sagte Lina. »Verstehe. Weil Nixen keine Füße haben und deshalb keine Schuhe oder Schnürsenkel brauchen.«
Die Hexe verzog das Gesicht. »Nein. Mutierte Nixen haben Füße – darum sind sie ja mutiert. Sie fanden es doof, weil sie anstelle von Händen Flossen haben und die Schnürsenkel deshalb nicht binden können. Wie auch immer, mach dir keine Gedanken über das vorübergehende Verschwinden der Umwelt. Mein Freund Hans Riese bringt stärkeres Zeug für die große Reise, dann wirst du vollständig unsichtbar sein.« Sie beäugte Linas Rucksack. »Ben wird sich sehr freuen, dich kennenzulernen. Als ich dir den Brief geschickt habe, sah es gar nicht gut aus – aber inzwischen ist es noch schlimmer geworden.«
Lina starrte die Hexe an. »Ben? Brief?« Aber die Hexe hörte ihr überhaupt nicht zu.
»Wir müssen los. Magdelena nimmt uns mit. Ich habe ihr zwar gesagt, dass wir laufen können, aber sie hat darauf bestanden. Ich bin mir sicher, dass ihr hier in Wien ein gewisser Ruf vorauseilt.«
Lina nickte langsam, obwohl sie keine Ahnung hatte, über wen die Hexe da sprach. »Ja – ich habe gehört, dass Magdelena eine sehr … lustige Frau ist.«
»Lustig!« Die Hexe lachte. »Ha, du bist echt zum Brüllen komisch. Sie ist herrisch und manchmal furchterregend und sie ist ganz bestimmt keine Frau. Jetzt festhalten, bitte. Es wird holprig.« Sie bot Lina ihren Arm an.
Irritiert hielt sich Lina daran fest und erwartete fast, dass der Boden unter ihnen explodierte und irgendeine wundersame Trollfrau hervorsprang. Doch das war nicht der Fall.
Eine winzige Geisterkutsche – nicht größer als eine Katze und gezogen von zwei alten Geistertauben – quietschte langsam den Bahnsteig entlang, bis sie schließlich mit einem Knirschen vor ihnen zum Stehen kam.
»Ich mache doch nur Spaß«, sagte die Hexe und tätschelte Linas Rücken. »Du musst dich nicht festhalten. Magdelena ist winzig.«
Eine Geisterratte mit einer klobigen Perlenkette streckte ihren Kopf aus der Kutschentür.
»Hallo, Lex! Immer noch keine Haare, die dir aus den Ohren wachsen, oder Warzen, wie ich sehe.«
Die Hexe zuckte mit den Schultern. »Ich gebe die Hoffnung nicht auf!« Sie ergriff die Pfote der Geisterratte und streichelte sie mit dem Daumen. Ihr hellblauer Nagellack passte perfekt zu den Stiefeln. »Es ist schön, dich zu sehen, Magdelena. Schon wieder viel zu lange her.«
Ungläubig taumelte Lina rückwärts und stolperte über einen Koffer.
»Oh, das ist meiner«, sagte Lex, packte ihn und warf ihn in die Kutsche. Er schrumpfte auf die richtige Größe und passte genau hinein.
Lina schnappte sich vollkommen fassungslos einen umherschwebenden Kaffeebecher und kippte den Inhalt hinunter. Sie wusste, dass Erwachsene Kaffee tranken, um wach zu werden – vielleicht würde sie gleich aus diesem seltsamen Traum erwachen. Vom Kaffee wurde ihr allerdings ein bisschen schlecht.
Lex beugte sich vor und starrte in die Kutsche. »Massig Platz für uns!«
»Das ist Rattengröße«, jaulte Lina. »Da ist überhaupt kein Platz für uns.«
Magdelena betrachtete Lina abschätzig. »Bist du sicher, Lex, dass sie die Richtige ist?«
Lex drehte Lina herum und zeigte Magdelena den Rucksack. »Klar! Das hier ist ein flauschiger Nebling!«
»Ein was?«, flüsterte Lina.
»Raffiniert«, sagte Magdelena mit sarkastischem Unterton. »Die Menschen werden keinerlei Verdacht schöpfen.«
»Auf der Insel sagt man, dass sie scheu ist und sich gern versteckt. Wir waren nicht mal sicher, ob sie überhaupt kommen würde«, murmelte Lex in Magdelenas Richtung. »Und dann noch dieses gewagte Outfit! Obwohl es heißt, dass sie kunstvolle Hüte mag und keine Rucksäcke. Gerüchte sind nur selten korrekt.«
»Na gut, jetzt oder nie. Der Schnürsenkelzauber lässt nach«, sagte Magdelena und deutete auf einen Schnurrbart, der hinter ihnen erschien. »Wenn ihr zur Insel reisen wollt, müssen wir jetzt los.«
Lina riss die Augen auf. »Insel? Dort versteckt ihr euch? Du bist eine Hexe und lebst auf einer geheimen Insel!«
»Sie ist nur die berühmteste Hexe«, spottete Magdelena. »Sie hat unseren Prinzen gerettet, mein liebes Kind!«
Lina sah Lex ungläubig an.
Lex scharrte verlegen mit ihren blauen Stiefeln – diese Aufmerksamkeit schien ihr nicht ganz recht zu sein.
»Jeder kennt Lex Gribble!«, fuhr Magdelena fort. »Sie ist eine ganz große Nummer. Du kannst dich glücklich schätzen, dass du ihr begegnet bist. Jeder möchte Lex treffen.«
»Du hast doch meinen Brief bekommen, oder etwa nicht?«, erkundigte sich Lex. Sie hatte sich vor Magdelena gestellt, damit die endlich aufhörte zu quasseln.
»Ich habe mit ›Lex Gribble‹ unterschrieben und dir mitgeteilt, dass wir uns hier treffen.«
In dem Moment, als ihre Eltern langsam wieder sichtbar wurden, musste Lina Lasky eine Entscheidung treffen.
»Ahhhhhhhhhh!«, schrie Lina, als sie durch die Straßen Wiens preschten – in einer Geisterkutsche, die von einer totgesagten Ratte gelenkt wurde.
»Und Mariella Crockit hat heute Morgen alle Toiletten im Hotel blockiert, weil sie versucht hat, ihre Nixenfreundin reinzuschmuggeln«, berichtete Magdelena unbekümmert. »Ich sagte: Mariella Crockit, vielleicht würde ich eine Frischwassernixe in meinem Hotel akzeptieren, aber doch keine aus der Kloake! – Ich denke, in den letzten neun Jahren haben sie vergessen, was für eine Einrichtung mein Hotel ist!«
Lex kaute auf der Unterlippe herum und nickte abwesend. Lina sah ihr an, dass sie nichts von Magdelenas Getue hielt.
»Und du glaubst nicht, was Netty Pruddles Mutter gestern Abend angestellt hat.«
Lina beobachtete, dass Lex plötzlich ganz aufmerksam wurde. »Netty Pruddles Mutter?«
Magdelena stieß einen langen Seufzer aus. »Ja, sie hat sich auf den Weg zum Wellnessbereich gemacht! Ich sagte: ›Mrs Pruddle, da es sich bei Ihnen um eine der warzenreichsten Hexen handelt, die wir je in unserer Gemeinschaft hatten, möchte ich Sie freundlich bitten, sich keine Rückenmassagen von Menschen verpassen zu lassen. Sie könnten Verdacht schöpfen!‹ – Um ehrlich zu sein, Lex, bei all dem, was auf der Insel los ist, war es dieses Jahr ziemlich anstrengend.«
»Ich dachte, Mrs Pruddle war sehr hilfreich in Sachen Harpyienbekämpfung?«, sagte Lex und beugte sich nach vorne, als die Kutsche an riesigen menschlichen Schuhen vorbeiraste, die über den Gehweg stampften. Jeder Schritt hallte in Linas Ohren und ließ die Kutsche kurz abheben.
»Mrs Pruddle musste ihre Aktivitäten etwas zurückschrauben. Ihre Tochter wurde nämlich auserwählt, sich um einen Posten zu bewerben – als Kammerzofe der neuen Harpyien…«, Lex hielt inne und kicherte, »…königin. Sie hatten Sorge, dass es Nettys Chancen mindern könnte, wenn ihre Mutter abgehauen wäre. Deshalb gibt sie vor, auf Wellnessurlaub hier zu sein. Ich wünschte, sie hätte sich ein anderes Hotel dafür ausgesucht.«
Lex stieß durch das Dach der Kutsche hindurch ihre Faust in die Luft. Sobald irgendetwas außerhalb der Geisterkutsche war, hatte es wieder die normale Größe. Jeder, der in diesem Augenblick die Philharmonikerstraße entlangging, hätte also eine herrenlose Faust sehen können, die triumphierend durch die Luft schwebte. Zum Glück tat das niemand, sonst wäre diese Geschichte vorbei gewesen, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
»Netty ist meine Hexenfreundin«, erklärte Lex aufgeregt. »Und sie hat es geschafft! Sie wurde angenommen! Sie ist auf unserer Seite. Indem sie sich als Kammerzofe ausgibt, wird sie in das Harpyienversteck eindringen. Sie ist unser großes Auge im Inneren!«
Lina wollte gerade etwas erwidern, als Magdelena hart auf die Bremse trat und sie aus der Kutsche direkt ins Foyer des Hotel Sacher beförderte. Lina blickte hoch und sah, dass sich der Portier näherte. Schnell befreite sie sich aus dem Gewirr mit Lex und sprang auf.
»Verhalte dich ganz natürlich«, flüsterte Lex ihr zu. Also tat Lina so, als würde sie die Decke inspizieren.
»Ah«, sagte der Portier mit missbilligendem Blick. »Willkommen zurück, Miss Gribble.«
Lina sah Magdelena und ihre Kutsche den Korridor entlangpreschen und durch eine Wand verschwinden. Dem Portier war die Geisterratte nicht aufgefallen; Lina glaubte, dass er sonst sicher geschrien hätte.
Um sie herum waren lauter Leute in den feinsten Klamotten. Lina stand aufrecht da und versuchte, so erwachsen wie möglich zu wirken.
»Sightseeing beendet?«, fragte er. »Soll ich die Taschen in Ihr Zimmer tragen?« Er beäugte zunächst Lex’ Koffer und dann mit einem unterdrückten Grinsen Linas flauschigen Rucksack. Der passte natürlich nicht zu diesem prachtvollen Grandhotel, aber sie hatte ihn selbst gemacht – im Gegensatz zu all den anderen Menschen mit Taschen hier.
Lex schielte auf die Uhr über den Aufzügen und runzelte die Stirn. »Wir sind zu früh, aber wir wollen nicht oben herumlungern – viel zu riskant.«
»Wie bitte?«, sagte der Mann.
Lex erstarrte, als ihr klar wurde, dass sie laut gedacht hatte. »Wir essen noch ein Stück Torte im Café, bevor wir hochgehen.«
Sie schoben sich etwas unbeholfen an dem Mann vorbei.
»Wir können uns nicht in der Nähe vom Gügel aufhalten«, erklärte Lex, als sie Richtung Hotelcafé gingen, vorbei an gut gewässerten Pflanzen und gut gewässerten Menschen.
»Gügel?«, murmelte Lina.
»Ja, der Gügel!«, sagte Lex. »Alle gehen davon aus, dass sich der einzige Gügel Österreichs in den Bergen befindet, aber es gibt noch den einen besonderen, genau hier im Hotel. Er wurde meist von wichtigen Leuten unserer magischen Insel benutzt – der Königsfamilie, Trollen mit preisgekrönten Frisuren, solche Leute. Österreich ist das einzige Land in der Welt mit zwei Gügeln; alle anderen haben nur einen.«
»Und ihr nutzt die Gügel, um zu eurer Insel zu kommen?«, fragte Lina aufgeregt.
Lex blieb wie angewurzelt stehen. »Selbstverständlich! Wofür sollte man sonst einen Gügel benutzen? Und ja, wir nennen unsere Insel einfach ›die Insel‹.«
»Also ist ein Gügel ein Portal zu einer anderen Welt – zu einer magischen Welt, die ›die Insel‹ genannt wird.«
»So sieht es aus«, sagte Lex. »Wollen wir jetzt ein bisschen Milch trinken und Sachertorte essen, bevor wir die Welt retten?«
Lina schluckte. »Wie bitte?«
Lex grinste. »Ich habe einen Prinzen gerettet und jetzt – wo ich dich gefunden habe – wirst du unsere Insel retten.«
Sie nahm Linas panischen Gesichtsausdruck wahr. »Keine Sorge! Nach der Torte.«
Während sie sich einen Platz im luxuriösen Café suchten und ihnen riesige Gläser mit Milch serviert wurden, versuchte Lina herauszufinden, für wen Lex sie hielt.
Sie saßen sich schweigend gegenüber, starrten einander an.
»Schicke Stiefel«, sagte Lina schließlich.
Lex riss ihren Mund weit auf. »Manke, mie massen mu meinen Mähnen.«
Lina entdeckte einen hellblauen Zahn im Mund ihres Gegenübers. »Dein Backenzahn ist blau«, rief sie. »Ist das so ein Hexending? Sonst siehst du ja nicht gerade wie eine Hexe aus.«
»Und du siehst nicht gerade aus wie die älteste und einzige Neblingexpertin der Welt.«
»Neblingexpertin?« Lina nutzte die Gelegenheit. »Also, eigentlich … ich glaube, du hast die falsche –«
Aber Lex unterbrach sie. »Lange Zeit wünschte ich mir Beulen und Warzen, die in lustigen Mustern auf meinem Gesicht angeordnet sind, und lange Ohrhaare, die ich hätte flechten können wie meine älteren Schwestern. Das war alles, was ich wollte. Dann wurde ich älter und mir wurde klar, dass ich niemals die perfekte Hexe sein würde, aber was soll’s. All die Zeit, die ich damit verbracht hatte, mir ein anderes Äußeres zu wünschen, verwendete ich irgendwann darauf, lustige Sachen zu tun – zum Beispiel Steinmonsterklettern, mit meiner Freundin Gurkie zu tanzen und leckere Snacks zu essen.« Sie holte ein Notizbuch hervor und strich »Torte in Wien« von der Liste.
Lex’ leckere Snackliste für die perfekte Hexe:
• Schoko-Käse-Brocken aus Hans’ Käseladen
• Gurkies Möhrenkuchen
• Cors verzaubertes Trifle
• Fish and Chips mit Ernie
• Tee und Toast in London
• Torte in Wien
Der Kellner kam und stellte ganz vorsichtig – mit der Präzision eines Chirurgen von Weltrang – die Torte auf den Tisch. Lex ließ sich vornüberfallen und tauchte ihr Gesicht darin ein.
Lina bemühte sich, nicht zu lachen, als der Kellner ein Keuchen unterdrückte und davonging. Er zog ein Gesicht wie jemand, der gerade in einen Abwasserkanal getunkt worden war.
»So essen wir auf der Insel«, flüsterte Lex, als sie wieder nach Luft schnappte.
Lina wusste nicht, ob sie Lex glauben sollte oder nicht.
»War ein Witz«, sagte Lex schnaubend. »Ich hatte einfach Lust, mein Gesicht in eine Torte zu tauchen. Und ich empfehle jedem, das gelegentlich zu tun. Es hat eine entspannende Wirkung.«
»Aber nicht in der Öffentlichkeit«, sagte Lina, der die starrenden Menschen unangenehm waren.
»Je mehr Öffentlichkeit, desto besser«, entgegnete Lex mit einem krümeligen Zwinkern. »Ich meine – warum sollte man sein Gesicht in eine Torte tauchen, wenn keine Zuschauer dabei sind?«
Lina schob sich ein Stück Sachertorte in den Mund – ein leckerer schokoladiger Kuchen mit Aprikosenmarmelade – und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Ein großes Klavier stand unbeaufsichtigt in der Ecke, während die Gäste sich ihre Kuchen und Torten schmecken ließen und fröhlich lachten. Sie überlegte, ob ihre Eltern sich wohl Sorgen machten und ob sie nicht vielleicht einen schrecklichen Fehler begangen hatte. Die Hexe schien sie für eine Art Superheldin zu halten, die ihre Insel retten würde. Vielleicht war es aber auch nur einer von Lex’ Witzen gewesen. Ja – vielleicht hatte sie das überhaupt nicht so gemeint. Lina stopfte sich den Rest des Tortenstücks in den Mund und schluckte ihre Sorgen damit hinunter.
»Ich habe ganz vergessen, dich nach deinem Namen zu fragen!«, rief Lex. »Oder bevorzugst du Neblingexpertin? Das würde ich natürlich verstehen, schließlich wäre das viel offizieller.«
»Lina reicht vollkommen«, sagte Lina.
»Und du kannst Lex zu mir sagen. So nennen mich alle außer Ben. Er neigt dazu, mich Gribbs zu rufen.«
Wieder peinliches Schweigen.
»Lina, lebst du gerne in der Anderen Welt?«, fragte Lex.
»Ich mag Wien«, antwortete Lina, was stimmte. »Die Stadt ist wunderschön und voller Musik. Man sagt, in Wien wird jeder mit dem Opernvirus infiziert.« Sie nahm einen großen Schluck Milch.
»Ich habe eine Tante in London«, sagte Lex und spielte mit ihrer Serviette. »Sie ist die Einzige in unserer Familie, die in der Anderen Welt lebt. Sie ist meine Lieblingsverwandte und kann andere ganz hervorragend kahlköpfig werden lassen.«
Lex’ Koffer schob sich vorwärts.
»Was ist da drin?«, fragte Lina nervös und umklammerte die Armlehnen ihres Stuhls.
»Ray«, flüsterte Lex und beugte sich dabei so weit vor, dass ihre Haare in der Milch hingen. Sie blickte sich verstohlen um und öffnete langsam den Koffer. »Ben und ich haben ihn nach jemandem benannt, den wir vor vielen Jahren mal kannten. Ray ist eigentlich Bens Tier, aber mir gefällt der Gedanke, dass wir ihn uns teilen.«
Sie zog ein fluffiges weißes Bündel mit untertellergroßen Augen hervor. Es zitterte.
Lina starrte das kleine Ding ungläubig an. Es sah genau aus wie ihr magisches Wesen am Rucksack, nur kleiner und viel lebendiger.
»Darf ich Ray mal halten?«, fragte sie aufgeregt.
Lex zwinkerte und reichte ihn Lina heimlich unterm Tisch hindurch. Lina spürte sein weiches Fell zwischen ihren Fingern. Ray fühlte sich seidig und zittrig an wie ein Hase, aber sein Bauch war rundlich und fest wie bei einem Vogel.
»Und jetzt der Plan«, sagte Lex.
Lina legte die Tischdecke um die Kreatur, damit sie es schön gemütlich hatte. Der Kleine schien sehr glücklich auf ihrem Schoß zu sein und lugte hervor, um die anderen Cafébesucher zu beobachten.
»Hans bringt Farnsamen, damit wir unentdeckt durch den Gügel reisen können«, erklärte Lex. »Bei all der Aufregung hier brauche ich dir wahrscheinlich nicht sagen, dass deine Reise zur Insel ein Geheimnis bleiben muss.«
»Ähm, wofür brauchst du mich eigentlich genau?«
»Wir wollen natürlich dein Expertenwissen nutzen«, sagte Lex und tätschelte ihren Koffer.
»Und mein Expertenwissen bezieht sich aufs … Taschen machen?«, überlegte Lina laut.
Aus Lex’ Nasenlöchern schoss Milch, während sie sich mit einem Lachanfall in ihrem Stuhl zurückfallen ließ. »Oh, du bist so witzig! Und bescheiden.«
In diesem Moment glitt eine Frau in einem Ballkleid in den Raum und setzte sich unter viel Applaus ans Klavier.
»Bitte nicht«, sagte Lex, nahm Ray von Linas Schoß und versuchte, ihn zurück in den Koffer zu schieben. Aber er schien nicht zu wollen.
Die Pianistin schlug einzelne Töne an, bevor sie ein Stück zu spielen begann, das Lina als Mozarts Klavierkonzert Nr. 21 ausmachte. Es war eines ihrer Lieblingsstücke.
Lex schloss den Koffer schnell wieder, aber es war zu spät – Nebel drang durch die Nähte und waberte über Lex’ Hände, bis sie und der Großteil des Tisches in eine Wolke gehüllt waren.
»Das kommt durch die Musik«, erklärte Lex panisch. »Auf der Insel hat er keinen Nebel produziert, egal, wie viel Musik wir gemacht haben. Es ist auch viel mehr Nebel als sonst – er muss einen ziemlichen Nachholbedarf haben!«
»Wir sollten jetzt besser gehen«, wisperte Lina eindringlich.
Lex nickte, schnappte sich die Tortenreste vom Teller und stopfte sie in ihre Taschen.
»Ist das Rauch?«, schrie eine Frau vom Nachbartisch. »Rauchen ist hier drinnen verboten.«
»Liebe Dame – ich habe meine Pfeife angezündet, ohne darüber nachzudenken«, sagte Lex mit tiefer Stimme.
»Sie hat gar keine Pfeife«, rief ein Mann. »Sie hat einen qualmenden Koffer!«
Die Leute fingen an zu kreischen.
Lex rannte zur Tür. Lina folgte ihr, stolperte um die Tische herum und konnte kaum Schritt halten. Der Nebel wurde dichter. Die Musik wurde lauter.
»Oh nein«, hörte Lina Lex stöhnen, als ein riesiges Fellding aus dem Koffer platzte und im Foyer zu dem Lied wippte.
»Hab ich dir in meinem Brief nicht geschrieben, dass den Neblingen merkwürdige Dinge widerfahren?«, sagte Lex und deutete auf einen übergroßen Ray. »Ich habe ihn noch nie so gesehen. Er ist ja total riesig!«
»Dieses Wesen ist also ein Nebling«, flüsterte Lina und starrte die Kreatur ehrfürchtig an.
»Ein Bär!«, brüllte jemand.
»Ein Fellmonster«, schrie jemand anders.
»Keine Panik«, sagte Lex und versuchte, Ray zum Aufzug zu schieben. »Wir müssen ihn nach oben kriegen, unentdeckt.«