Bahnwärter Thiel - Gerhart Hauptmann - E-Book + Hörbuch

Bahnwärter Thiel E-Book und Hörbuch

Gerhart Hauptmann

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Beschreibung

Der Bahnwärter Thiel ist noch tief mit seiner verstorbenen ersten Frau verbunden, lässt sich aber trotzdem auf eine neue Beziehung ein, was zur Katastrophe führt ... In dieser 1887 entstandenen novellistischen Studie stellt Hauptmann die Gefühlswelt eines einfachen Arbeiters dar.

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Seitenzahl: 52

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Zeit:1 Std. 22 min

Sprecher:Johannes Steck
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Gerhart Hauptmann

Bahnwärter Thiel

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1

2

3

Impressum neobooks

1

Allsonntäglich saß der Bahnwärter Thiel in der Kirche zu Neu-Zittau,

ausgenommen die Tage, an denen er Dienst hatte oder krank war und zu

Bette lag. Im Verlaufe von zehn Jahren war er zweimal krank gewesen;

das eine Mal infolge eines vom Tender einer Maschine während des

Vorbeifahrens herabgefallenen Stückes Kohle, welches ihn getroffen

und mit zerschmettertem Bein in den Bahngraben geschleudert hatte;

das andere Mal einer Weinflasche wegen, die aus dem vorüberrasenden

Schnellzuge mitten auf seine Brust geflogen war. Außer diesen beiden

Unglücksfällen hatte nichts vermocht, ihn, sobald er frei war, von der

Kirche fernzuhalten.

Die ersten fünf Jahre hatte er den Weg von Schön-Schornstein, einer

Kolonie an der Spree, herüber nach Neu-Zittau allein machen müssen.

Eines schönen Tages war er dann in Begleitung eines schmächtigen und

kränklich aussehenden Frauenzimmers erschienen, die, wie die Leute

meinten, zu seiner herkulischen Gestalt wenig gepaßt hatte. Und wiederum

eines schönen Sonntag Nachmittags reichte er dieser selben Person am

Altare der Kirche feierlich die Hand zum Bunde fürs Leben. Zwei Jahre

nun saß das junge, zarte Weib ihm zur Seite in der Kirchenbank; zwei

Jahre blickte ihr hohlwangiges, feines Gesicht neben seinem vom Wetter

gebräunten in das uralte Gesangbuch --; und plötzlich saß der Bahnwärter

wieder allein wie zuvor.

An einem der vorangegangenen Wochentage hatte die Sterbeglocke geläutet:

das war das Ganze.

An dem Wärter hatte man, wie die Leute versicherten, kaum eine

Veränderung wahrgenommen. Die Knöpfe seiner sauberen Sonntagsuniform

waren so blank geputzt als je zuvor, seine roten Haare so wohl geölt und

militärisch gescheitelt wie immer, nur daß er den breiten, behaarten

Nacken ein wenig gesenkt trug und noch eifriger der Predigt lauschte

oder sang, als er es früher getan hatte. Es war die allgemeine Ansicht,

daß ihm der Tod seiner Frau nicht sehr nahe gegangen sei; und diese

Ansicht erhielt eine Bekräftigung, als sich Thiel nach Verlauf eines

Jahres zum zweiten Male, und zwar mit einem dicken und starken

Frauenzimmer, einer Kuhmagd aus Alte-Grund, verheiratete.

Auch der Pastor gestattete sich, als Thiel die Trauung anmelden kam,

einige Bedenken zu äußern:

»Ihr wollt also schon wieder heiraten?«

»Mit der Toten kann ich nicht wirtschaften, Herr Prediger!«

»Nun ja wohl -- aber ich meine -- Ihr eilt ein wenig.«

»Der Junge geht mir drauf, Herr Prediger.«

Thiels Frau war im Wochenbett gestorben, und der Junge, welchen sie zur

Welt gebracht, lebte und hatte den Namen Tobias erhalten.

»Ach so, der Junge,« sagte der Geistliche und machte eine Bewegung, die

deutlich zeigte, daß er sich des Kleinen erst jetzt erinnere. »Das ist

etwas andres -- wo habt Ihr ihn denn untergebracht, während Ihr im

Dienst seid?«

Thiel erzählte nun, wie er Tobias einer alten Frau übergeben, die ihn

einmal beinahe habe verbrennen lassen, während er ein anderes Mal von

ihrem Schoß auf die Erde gekugelt sei, ohne glücklicherweise mehr als

eine große Beule davonzutragen. Das könne nicht so weiter gehen, meinte

er, zudem da der Junge, schwächlich wie er sei, eine ganz besondere

Pflege benötige. Deswegen und ferner weil er der Verstorbenen in die

Hand gelobt, für die Wohlfahrt des Jungen zu jeder Zeit ausgiebig Sorge

zu tragen, habe er sich zu dem Schritte entschlossen. --

Gegen das neue Paar, welches nun allsonntäglich zur Kirche kam, hatten

die Leute äußerlich durchaus nichts einzuwenden. Die frühere Kuhmagd

schien für den Wärter wie geschaffen. Sie war kaum einen halben Kopf

kleiner wie er und übertraf ihn an Gliederfülle. Auch war ihr Gesicht

ganz so grob geschnitten wie das seine, nur daß ihm im Gegensatz zu dem

des Wärters die Seele abging.

Wenn Thiel den Wunsch gehegt hatte, in seiner zweiten Frau eine

unverwüstliche Arbeiterin, eine musterhafte Wirtschafterin zu haben, so

war dieser Wunsch in überraschender Weise in Erfüllung gegangen. Drei

Dinge jedoch hatte er, ohne es zu wissen, mit seiner Frau in Kauf

genommen: eine harte, herrschsüchtige Gemütsart, Zanksucht und brutale

Leidenschaftlichkeit. Nach Verlauf eines halben Jahres war es

ortsbekannt, wer in dem Häuschen des Wärters das Regiment führte. Man

bedauerte den Wärter.

Es sei ein Glück für »das Mensch«, daß sie ein so gutes Schaf wie den

Thiel zum Manne bekommen habe, äußerten die aufgebrachten Ehemänner; es

gäbe welche, bei denen sie greulich anlaufen würde. So ein »Tier« müsse

doch kirre zu machen sein, meinten sie, und wenn es nicht anders ginge,

denn mit Schlägen. Durchgewalkt müsse sie werden, aber dann gleich so,

daß es zöge.

Sie durchzuwalken aber war Thiel trotz seiner sehnigen Arme nicht der

Mann. Das, worüber sich die Leute ereiferten, schien ihm wenig

Kopfzerbrechen zu machen. Die endlosen Predigten seiner Frau ließ er

gewöhnlich wortlos über sich ergehen, und wenn er einmal antwortete, so

stand das schleppende Zeitmaß, sowie der leise, kühle Ton seiner Rede in

seltsamstem Gegensatz zu dem kreischenden Gekeif seiner Frau. Die

Außenwelt schien ihm wenig anhaben zu können: es war, als trüge er etwas

in sich, wodurch er alles Böse, was sie ihm antat, reichlich mit Gutem

aufgewogen erhielt.

Trotz seines unverwüstlichen Phlegmas hatte er doch Augenblicke, in

denen er nicht mit sich spaßen ließ. Es war dies immer anläßlich

solcher Dinge, die Tobiäschen betrafen. Sein kindgutes, nachgiebiges

Wesen gewann dann einen Anstrich von Festigkeit, dem selbst ein so

unzähmbares Gemüt wie das Lenes nicht entgegenzutreten wagte.

Die Augenblicke indes, darin er diese Seite seines Wesens herauskehrte,

wurden mit der Zeit immer seltener und verloren sich zuletzt ganz. Ein

gewisser leidender Widerstand, den er der Herrschsucht Lenens während

des ersten Jahres entgegengesetzt, verlor sich ebenfalls im zweiten. Er

ging nicht mehr mit der früheren Gleichgültigkeit zum Dienst, nachdem er

einen Auftritt mit ihr gehabt, wenn er sie nicht vorher besänftigt

hatte. Er ließ sich am Ende nicht selten herab, sie zu bitten, doch

wieder gut zu sein. -- Nicht wie sonst mehr war ihm sein einsamer Posten

inmitten des märkischen Kiefernforstes sein liebster Aufenthalt. Die

stillen, hingebenden Gedanken an sein verstorbenes Weib wurden von denen

an die Lebende durchkreuzt. Nicht widerwillig, wie die erste Zeit, trat

er den Heimweg an, sondern mit leidenschaftlicher Hast, nachdem er

vorher oft Stunden und Minuten bis zur Zeit der Ablösung gezählt hatte.

Er, der mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe

verbunden gewesen war, geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt