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Der Bahnwärter Thiel ist noch tief mit seiner verstorbenen ersten Frau verbunden, lässt sich aber trotzdem auf eine neue Beziehung ein, was zur Katastrophe führt ... In dieser 1887 entstandenen novellistischen Studie stellt Hauptmann die Gefühlswelt eines einfachen Arbeiters dar.
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Seitenzahl: 52
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Gerhart Hauptmann
Bahnwärter Thiel
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Inhaltsverzeichnis
Titel
1
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3
Impressum neobooks
Allsonntäglich saß der Bahnwärter Thiel in der Kirche zu Neu-Zittau,
ausgenommen die Tage, an denen er Dienst hatte oder krank war und zu
Bette lag. Im Verlaufe von zehn Jahren war er zweimal krank gewesen;
das eine Mal infolge eines vom Tender einer Maschine während des
Vorbeifahrens herabgefallenen Stückes Kohle, welches ihn getroffen
und mit zerschmettertem Bein in den Bahngraben geschleudert hatte;
das andere Mal einer Weinflasche wegen, die aus dem vorüberrasenden
Schnellzuge mitten auf seine Brust geflogen war. Außer diesen beiden
Unglücksfällen hatte nichts vermocht, ihn, sobald er frei war, von der
Kirche fernzuhalten.
Die ersten fünf Jahre hatte er den Weg von Schön-Schornstein, einer
Kolonie an der Spree, herüber nach Neu-Zittau allein machen müssen.
Eines schönen Tages war er dann in Begleitung eines schmächtigen und
kränklich aussehenden Frauenzimmers erschienen, die, wie die Leute
meinten, zu seiner herkulischen Gestalt wenig gepaßt hatte. Und wiederum
eines schönen Sonntag Nachmittags reichte er dieser selben Person am
Altare der Kirche feierlich die Hand zum Bunde fürs Leben. Zwei Jahre
nun saß das junge, zarte Weib ihm zur Seite in der Kirchenbank; zwei
Jahre blickte ihr hohlwangiges, feines Gesicht neben seinem vom Wetter
gebräunten in das uralte Gesangbuch --; und plötzlich saß der Bahnwärter
wieder allein wie zuvor.
An einem der vorangegangenen Wochentage hatte die Sterbeglocke geläutet:
das war das Ganze.
An dem Wärter hatte man, wie die Leute versicherten, kaum eine
Veränderung wahrgenommen. Die Knöpfe seiner sauberen Sonntagsuniform
waren so blank geputzt als je zuvor, seine roten Haare so wohl geölt und
militärisch gescheitelt wie immer, nur daß er den breiten, behaarten
Nacken ein wenig gesenkt trug und noch eifriger der Predigt lauschte
oder sang, als er es früher getan hatte. Es war die allgemeine Ansicht,
daß ihm der Tod seiner Frau nicht sehr nahe gegangen sei; und diese
Ansicht erhielt eine Bekräftigung, als sich Thiel nach Verlauf eines
Jahres zum zweiten Male, und zwar mit einem dicken und starken
Frauenzimmer, einer Kuhmagd aus Alte-Grund, verheiratete.
Auch der Pastor gestattete sich, als Thiel die Trauung anmelden kam,
einige Bedenken zu äußern:
»Ihr wollt also schon wieder heiraten?«
»Mit der Toten kann ich nicht wirtschaften, Herr Prediger!«
»Nun ja wohl -- aber ich meine -- Ihr eilt ein wenig.«
»Der Junge geht mir drauf, Herr Prediger.«
Thiels Frau war im Wochenbett gestorben, und der Junge, welchen sie zur
Welt gebracht, lebte und hatte den Namen Tobias erhalten.
»Ach so, der Junge,« sagte der Geistliche und machte eine Bewegung, die
deutlich zeigte, daß er sich des Kleinen erst jetzt erinnere. »Das ist
etwas andres -- wo habt Ihr ihn denn untergebracht, während Ihr im
Dienst seid?«
Thiel erzählte nun, wie er Tobias einer alten Frau übergeben, die ihn
einmal beinahe habe verbrennen lassen, während er ein anderes Mal von
ihrem Schoß auf die Erde gekugelt sei, ohne glücklicherweise mehr als
eine große Beule davonzutragen. Das könne nicht so weiter gehen, meinte
er, zudem da der Junge, schwächlich wie er sei, eine ganz besondere
Pflege benötige. Deswegen und ferner weil er der Verstorbenen in die
Hand gelobt, für die Wohlfahrt des Jungen zu jeder Zeit ausgiebig Sorge
zu tragen, habe er sich zu dem Schritte entschlossen. --
Gegen das neue Paar, welches nun allsonntäglich zur Kirche kam, hatten
die Leute äußerlich durchaus nichts einzuwenden. Die frühere Kuhmagd
schien für den Wärter wie geschaffen. Sie war kaum einen halben Kopf
kleiner wie er und übertraf ihn an Gliederfülle. Auch war ihr Gesicht
ganz so grob geschnitten wie das seine, nur daß ihm im Gegensatz zu dem
des Wärters die Seele abging.
Wenn Thiel den Wunsch gehegt hatte, in seiner zweiten Frau eine
unverwüstliche Arbeiterin, eine musterhafte Wirtschafterin zu haben, so
war dieser Wunsch in überraschender Weise in Erfüllung gegangen. Drei
Dinge jedoch hatte er, ohne es zu wissen, mit seiner Frau in Kauf
genommen: eine harte, herrschsüchtige Gemütsart, Zanksucht und brutale
Leidenschaftlichkeit. Nach Verlauf eines halben Jahres war es
ortsbekannt, wer in dem Häuschen des Wärters das Regiment führte. Man
bedauerte den Wärter.
Es sei ein Glück für »das Mensch«, daß sie ein so gutes Schaf wie den
Thiel zum Manne bekommen habe, äußerten die aufgebrachten Ehemänner; es
gäbe welche, bei denen sie greulich anlaufen würde. So ein »Tier« müsse
doch kirre zu machen sein, meinten sie, und wenn es nicht anders ginge,
denn mit Schlägen. Durchgewalkt müsse sie werden, aber dann gleich so,
daß es zöge.
Sie durchzuwalken aber war Thiel trotz seiner sehnigen Arme nicht der
Mann. Das, worüber sich die Leute ereiferten, schien ihm wenig
Kopfzerbrechen zu machen. Die endlosen Predigten seiner Frau ließ er
gewöhnlich wortlos über sich ergehen, und wenn er einmal antwortete, so
stand das schleppende Zeitmaß, sowie der leise, kühle Ton seiner Rede in
seltsamstem Gegensatz zu dem kreischenden Gekeif seiner Frau. Die
Außenwelt schien ihm wenig anhaben zu können: es war, als trüge er etwas
in sich, wodurch er alles Böse, was sie ihm antat, reichlich mit Gutem
aufgewogen erhielt.
Trotz seines unverwüstlichen Phlegmas hatte er doch Augenblicke, in
denen er nicht mit sich spaßen ließ. Es war dies immer anläßlich
solcher Dinge, die Tobiäschen betrafen. Sein kindgutes, nachgiebiges
Wesen gewann dann einen Anstrich von Festigkeit, dem selbst ein so
unzähmbares Gemüt wie das Lenes nicht entgegenzutreten wagte.
Die Augenblicke indes, darin er diese Seite seines Wesens herauskehrte,
wurden mit der Zeit immer seltener und verloren sich zuletzt ganz. Ein
gewisser leidender Widerstand, den er der Herrschsucht Lenens während
des ersten Jahres entgegengesetzt, verlor sich ebenfalls im zweiten. Er
ging nicht mehr mit der früheren Gleichgültigkeit zum Dienst, nachdem er
einen Auftritt mit ihr gehabt, wenn er sie nicht vorher besänftigt
hatte. Er ließ sich am Ende nicht selten herab, sie zu bitten, doch
wieder gut zu sein. -- Nicht wie sonst mehr war ihm sein einsamer Posten
inmitten des märkischen Kiefernforstes sein liebster Aufenthalt. Die
stillen, hingebenden Gedanken an sein verstorbenes Weib wurden von denen
an die Lebende durchkreuzt. Nicht widerwillig, wie die erste Zeit, trat
er den Heimweg an, sondern mit leidenschaftlicher Hast, nachdem er
vorher oft Stunden und Minuten bis zur Zeit der Ablösung gezählt hatte.
Er, der mit seinem ersten Weibe durch eine mehr vergeistigte Liebe
verbunden gewesen war, geriet durch die Macht roher Triebe in die Gewalt