Der Narr in Christo Emanuel Quint - Gerhart Hauptmann - E-Book

Der Narr in Christo Emanuel Quint E-Book

Gerhart Hauptmann

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Beschreibung

Gerhart Johann Robert Hauptmann (geboren 15. November 1862 in Ober Salzbrunn (Szczawno-Zdrój) in Schlesien; gestorben 6. Juni 1946 in Agnetendorf (Agnieszków) in Schlesien) war ein deutscher Dramatiker und Schriftsteller. Er gilt als der bedeutendste deutsche Vertreter des Naturalismus, hat aber auch andere Stilrichtungen in sein Schaffen integriert. 1912 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

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Der Narr in Christo Emanuel Quint

Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebentes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelSiebenundzwanzigstes KapitelAchtundzwanzigstes KapitelNeunundzwanzigstes KapitelDreißigstes KapitelImpressum

Erstes Kapitel

An einem Sonntagmorgen im Monat Mai erhob sich Emanuel Quint von seiner Lagerstätte auf dem Boden des kleinen Hüttchens, das der Vater mit sehr geringem Recht sein eigen nannte. Er wusch sich mit klarem Gebirgswasser, draußen am Steintrog, indem er die hohlen Hände unter den kristallenen Strahl hielt, der aus einer hölzernen, vermorschten und bemoosten Rinne floß. Er hatte die Nacht kaum ein wenig geschlafen und schritt nun, ohne die Seinen zu wecken oder etwas zu sich zu nehmen, in der Richtung gegen Reichenbach. Ein altes Weib, das auf einem Feldweg ihm entgegenkam, blieb stehen, als sie von fern seiner ansichtig wurde. Denn Emanuel ging mit seinem langen, wiegenden Schritt und in einer sonderbar würdigen Haltung, die mit seinen unbekleideten Füßen, seinem unbedeckten Kopf sowie mit der Armseligkeit seiner Bekleidung überhaupt im Widerspruch stand.

Bis gegen die elfte Stunde hielt Emanuel sich fern von den Menschen in den Feldern auf. Alsdann überschritt er die kleine Holzbrücke, die über den Bach führte, und ging geradezu bis zum Marktplatz des kleinen Fleckens, der sehr belebt war, weil die protestantische Kirche sich eben leerte. Der arme Mensch stieg nun auf einen Stein, wobei er sich mit der Linken an einem Laternenpfahl festhielt, und nachdem er sich so und durch Zeichen der Menge bemerklich gemacht hatte und alles erstaunt, belustigt oder neugierig herzukam oder wenigstens von fern herübersah, begann er mit lauter Stimme zu sagen: »Ihr Männer, lieben Brüder, ihr Frauen, liebe Schwestern! Tut Buße! Denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.«

Diese Worte, denen viele andere nachfolgten, ließen sogleich erkennen, daß man es mit einem Narren oder Halbnarren zu tun hatte, von einer so eigentümlichen Art, wie sie in dieser weitgedehnten Talgegend seit langem nicht vorgekommen war. Die guten Leute verwunderten sich. Aber als der einfältige und zerlumpte Mensch nicht aufhörte zu reden und seine Stimme mehr und mehr über den ganzen Marktplatz erschallen ließ, da entsetzten sich viele über den unerhörten Frevel des Landstreichers, der gleichsam das Heiligste in den Schmutz der Gasse zog, liefen aufs Amt und zeigten es an.

Als der Amtsvorsteher, mitsamt dem Gendarmen, auf dem Markt erschien, herrschte dort unglaubliche Aufregung: die Hausknechte standen vor den Gasthäusern, die Kutscher der Droschken schrien einander mit lauter Stimme zu und wiesen mit den Stöcken ihrer Peitschen auf einen Knäuel Menschen, den Quint, predigend, überragte und der mit jeder Sekunde zunahm. Die Jungens gaben einander Zeichen durch laute Signalpfiffe, und wüstes Gebrüll und Gelächter übertönte zuweilen auf lange die Stimme des seltsamen Predigers, der noch immer eifrig und eindringlich sprach.

Er hatte soeben den Propheten Jesaia genannt und gegen Reiche und Herrscher gedonnert, »die die Sache der Armen beugen und Gewalt üben im Recht der Elenden«. Er hatte gedroht, Gott werde die Rute der Herrscher zerbrechen, und dann zuletzt rührend und flehentlich alle Welt immer wieder zur Buße gemahnt. Da faßte die unentrinnbare Faust des sechs Fuß hohen Gendarmen Krautvetter ihn hinten am Kragen fest und riß ihn, unter Gejohl und Gelächter der Zuhörer, von seinem erhabenen Standorte herab.

Quer über den Markt ward nun Emanuel von Krautvetter, unter dem Hohngejauchze der Menge, abgeführt.

Der Amtsvorsteher, ein durchgefallener Jurist und Mann von Adel, hatte einen protestantischen Pfarrer der Nachbarschaft bei sich zu Tisch. Und als er ihm, während sie sich zum Essen niederließen, den skandalösen Vorfall mitteilte, äußerte jener Pfarrer den Wunsch, den Verrückten zu sehen. Der Geistliche war ein Mann von gesundem Schrot und Korn, herkulisch gebaut und mit einem Luthergesicht, dessen lutherisches Wesen nur durch den pechschwarzen, geölten Scheitel und durch listige schwarze Augen beeinträchtigt wurde. Er liebte die außerkirchlichen Schwärmer nicht. »Was bringen die Sekten?« sagte er immer: »Spaltung, Verführung, Ärgernis!«

Emanuel hatte kaum eine Stunde im Polizeigewahrsam verbracht, als er herausgeholt und dem Pfarrer vorgestellt wurde. Außer Quint, dem Gendarm, dem Pfarrer und Amtsvorsteher war niemand in der Amtsstube. Emanuel stand da mit herabhängenden Armen und einem unbeweglichen Ausdruck seines blutlosen Gesichtes, der weder herausfordernd noch verschüchtert war. Durch das dünne, rötliche Bartgekräusel um Oberlippe und Kinn sah man die feine Linie seines Mundes, gegen die Winkel herabgezogen, und die, bei Quints Jugend, in auffälliger Weise ausgeprägten Falten von den Nasenflügeln seitlich zum Munde herab. Die Augenlider des jungen Menschen waren entzündet, und die etwas hervortretenden Augen, obgleich groß aufgetan, schienen im Augenblick nichts von dem zu bemerken, was um ihn war. Über die ganze, mit Sommersprossen bedeckte Gesichtshaut, von der klaren Stirn bis zum Kinn herab, gingen die inneren Bewegungen des Gemütes, wie unsichtbare Winde über einen ruhigen, den gelblichen Abendhimmel widerspiegelnden See.

»Wie heißt du?« fragte der Pfarrer. Quint sah zu dem Pfarrer hin und sagte, mit einer hohen, klangvollen Stimme, seinen Namen.

»Was ist dein Beruf, mein Sohn?«

Quint schwieg einen Augenblick. Alsdann begann er, Satz um Satz ruhig hervorbringend, durch kleine Pausen der Überlegung getrennt:

»Ich bin ein Werkzeug. Es ist mein Beruf, die Menschen zur Buße zu leiten! – Ich bin ein Arbeiter im Weinberge Gottes! – Ich bin ein Diener am Wort! – Ich bin ein Prediger in der Wüste! – Ein Bekenner des Evangeliums Jesu Christi, unseres Heilands und Herrn, der gen Himmel ist aufgefahren und welcher dereinst wird wiederkehren, wie uns verheißen ist.«

»Gut«, sagte der Pfarrer – sein Name war Schimmelmann –, »dein Glaube ehrt dich, mein Sohn. Aber es ist dir bekannt, daß in der Bibel steht: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen. Was hast du denn sonst für einen Beruf? Ich meine, welches Handwerk betreibst du denn?«

Der Wachtmeister Krautvetter räusperte sich, rückte den Säbel ein wenig, so daß es klirrte, und sagte, als Emanuel schwieg, er habe in Erfahrung gebracht, daß Quint in seinem Dorfe als Nichtstuer gelte und seiner armen, fleißigen Mutter zur Last liege. Im übrigen habe er sich schon früher durch ähnliche Streiche wie den von heute bemerklich gemacht. Nur daß in den Dörfern die Leute an ihn gewöhnt seien und über seine Torheiten sich nicht mehr wunderten.

Jetzt erhob sich der Pfarrer in seiner ganzen Länge und Breite vom Stuhl, auf dem er gesessen hatte, sah Emanuel scharf an und sagte mit Ernst und Gewicht: »Bete und arbeite, heißt es, mein lieber Sohn. Gott hat die Menschen in Stände geteilt. Er hat einem jeden Stand seine Last und einem jeden Stand sein Gutes gegeben. Er hat einen jeden Menschen nach seinem Stand und seinem Bildungsgrad in ein Amt gesetzt. Das meinige ist, ein berufener Diener Gottes zu sein. Nun, als ein berufener Diener Gottes sage ich dir, daß du verführt und auf Irrwegen bist. Ich sage es dir als berufener Diener Gottes. Verstehst du mich? Als einer sage ich das, der in die Pläne und Absichten Gottes durch Amt und Beruf einen tieferen Einblick hat als du. Soll ich vielleicht deinen Hobel führen, mein Sohn, und wolltest du etwa an meiner Statt auf die Kanzel treten? Nun sage mir doch: was hieße denn das? Das hieße Gottes Ordnung mit Füßen treten. – Da haben wir's, lieber Baron« – und hiermit kehrte er sich an den Amtsvorsteher –, »man kann sich gar nicht bestimmt und energisch genug dagegen auflehnen, daß Laien in ungesunder Geschäftigkeit den Dienern am Worte vorgreifen und eigenmächtigerweise das Volk beunruhigen. Der Laie ist unverantwortlich. Herrnhut in Ehren! Aber ob der Schade, der von dort ausgeht, den Segen nicht überwiegt, bleibe dahingestellt. Man darf nicht Keime in die Volksseele tragen, die ohne das treue Auge des Gärtners wucherisch auswachsen müssen. Wie leicht saugt so ein Wuchertrieb alle edleren Säfte aus der Seele, um schließlich oben in eine Giftblume auszulaufen. Denken Sie an die gefährlichen Schwärmer zu Luthers Zeit! Denken Sie an Thomas Münzer! Denken Sie an die Wiedertäufer! Und wie viele verirrte Schafe, die reißende Wölfe wurden, gab es in allen Ländern, auch während der jüngst verflossenen Zeit. Denken Sie an den Zündstoff, der heut, überall aufgehäuft, gleichsam nur auf den Funken wartet, um mit einer furchtbaren, ganz entsetzlichen Explosion in die Luft zu gehen. Da heißt es, nicht mit dem Feuer spielen. Um Gottes und Christi willen nicht! Ein Pflänzchen gibt es, der zartesten eins, der edelsten eins, das es geben kann, und dies Pflänzchen vor allem sollen wir gießen und nähren in der Volksseele: Gehorsam gegen die Obrigkeit. Und darum lies in der Bibel, mein Sohn, tue das, wenn deine ernste Arbeit dir eine halbe Stunde am Abend übrigläßt! Tue das, wenn du des Sonntags aus der Kirche kommst, tue es, falls du nicht vorziehst, hinaus in Gottes freie Natur zu gehen, aber vergiß nicht, immer und immer wieder die Stelle zu lesen, wo da geschrieben steht: Jedermann soll Untertan sein der Obrigkeit. In geistlichen Dingen bin ich deine Obrigkeit, in weltlichen Dingen ist es der Herr Baron, der neben mir steht, ichalso, als deine geistliche Obrigkeit, ich sage dir: Bleibe in den dir von Gott gezogenen Grenzen, und zwar bescheidentlich! Das Predigen ist nicht deines Amtes. Das verlangt einen klaren, gebildeten Kopf. Einen klaren, gebildeten Kopf hast du nicht. Den kannst du nicht haben. Den hat man in deinem niedrigen Stande nicht! – Du scheinst mir im Grunde kein böser Mensch zu sein, deshalb rate ich dir aus ehrlichem, gutem Herzen, verblende dich nicht. Überspanne die unentwickelten Kräfte deines schwachen Verstandes nicht. Bohre und verbeiße dich nicht in die Schrift, eine Sünde, deren du mir verdächtig scheinst. Es ist besser, wenn du sie eine Zeitlang beiseitelegst, als daß der Teufel Gelegenheit findet, dich wohl gar durch das lautere, liebe Gotteswort selbst zu verführen und ins Verderben zu ziehn.«

Nachdem er diese Worte alle mit der sicheren Technik des Kanzelredners gesprochen hatte, schien er einige Augenblicke auf Antwort zu warten. Aber der Zurechtgewiesene, der, ohne einen Gemütsanteil zu verraten, zugehört hatte, bewahrte ein sinnendes Stillschweigen. Darauf sagte der Amtsvorsteher mit einem übelgelaunten Gesicht zum Pastor: »Was tu' ich mit ihm?« Worauf der Geistliche durch einen Seufzer seiner Ungehaltenheit erst nochmals kopfschüttelnd Ausdruck verlieh, alsdann den Baron beim Ärmel faßte und ihn in ein anderes Zimmer zog. Hier legte er seinem Freunde mit wenig Worten dar, wie er der Ansicht sei, man dürfe einen Vorfall wie diesen nicht weiter aufbauschen, und beide Männer einigten sich, Emanuel nur mit einem strengen Verweis zu entlassen. Es sprach vieles in ihnen zugunsten des einfältigen Menschen, der ja doch höchstens des Guten zuviel tun wollte.

Demnach verfügten sie sich wiederum in die Amtsstube, und der Baron, an Stelle des Pastors tretend, brachte nun eine andere Tonart zur Anwendung, mit einer jener scharfen und schneidigen Abkanzelungen, um derentwillen er bei der Behörde in Ansehen stand. Er sagte: »Wehe dir!« – Und: »Ich warne dich!« – Er sagte: »Steck deine Nase in den Leimtopf, wenn du Tischler bist, und stiehl nicht dem lieben Gott seine Tage ab!« Er sagte: »Wenn dieser Unfug noch einmal vorkommt – das ist Kinderei, das ist Lästerung! –, dann wird man dich ohne Gnade ins Loch stecken. Jetzt marsch! Verstanden! Verkrümle dich!«

Als Emanuel Quint auf die Straße trat, hatten sich dort Müßige aufgestellt, die ihn mit Gejohle empfingen. Ihm ward dabei wohl zumute. Durch sein ganzes Wesen verbreitete sich ein stolzes Gefühl der Genugtuung darüber, daß er nun ernstlich gewürdigt wäre, für das Evangelium Jesu Christi zu leiden. Denn Quint, wie alle Narren, nahm seine Torheit für Weisheit und seine Schwachheit für Kraft. Mit leuchtenden Augen, die von Tränen des tiefsten Glückes feucht waren, ging er mitten durch die rohe Menge dahin und bemerkte nicht, daß zwei Männer, die unter den Leuten verborgen gestanden hatten, sich loslösten und ihm nachfolgten. Diese beiden, ein Brüderpaar namens Scharf, noch jung und ehrsame Leinweber, hatten der Predigt auf dem Markt beigewohnt. Aber während alles in ihrer Umgebung lachte und Possen trieb, hatte der ganze Vorgang auf sie einen tief bewegenden Eindruck gemacht. Man nannte die beiden in ihrem Dorfe die Betbrüder. Und auch sie, ähnlich wie Quint, weil sie mit ihrem alten Vater ein Sonderlingsleben führten und in ihrer verfallenen Hütte öfters laut sangen und beteten, galten nicht für ganz richtig im Kopfe. Emanuel Quint schritt seines Weges, ohne sich umzublicken. Sobald er aus dem Städtchen heraus über die Bahngleise auf die Landstraße gelangt war, traten die Brüder Scharf ihn an. Sie fragten ihn, ob er nicht derjenige sei, der vor einigen Stunden auf dem Markt von der Buße gepredigt habe und von dem Nahen des himmlischen Reiches. Emanuel bejahte das alles, und nachdem alle drei eine Zeitlang stumm durch die öde Tallandschaft gewandert waren, fing der ältere von den Brüdern, Martin Scharf, an, allerhand ängstliche Fragen zu tun und mit sichtlicher Bangigkeit, indem er zuweilen die grauen, drohenden Wolken des Himmels betrachtete, danach zu forschen, was man tun müsse, um, vor den Schrecken des Letzten Tages geschützt, der künftigen ewigen Wonnen sicher zu sein.

Anton Scharf, der zur Linken neben dem Narren ging und ebenso blaß und rothaarig wie sein Bruder war, streifte, wie dieser, Quint gespannt mit Blicken. Der seltsam gravitätische Mensch, der den meisten ein Lachen abnötigte, hatte vom Augenblick seiner Predigt an auf die ihm in geistiger Armut und Not verwandten Brüder eine ernstliche Macht ausgeübt und, ohne davon zu wissen, beide mit Banden der Liebe an sich gefesselt.

Als er nun zwischen den fremden Männern dahinschritt, vom Gefühl seiner göttlichen Sendung berauscht und ob seiner Erstlingstat triumphierend, hörte er ihre Worte und Fragen gleichwie im Traum. Ihm war nicht anders, als müsse es nur so sein, daß, wenn er nach Gottes Gebot den Hamen auswürfe, sich Fische fingen. Aber ohne sich zu verwundern, empfand er darüber doch Glück. So sagte er denn, mit dem Klange der Liebe in der Stimme, zu den beiden nach Gottes Worte hungrigen Seelen gewendet: »Wachet!«

An einem bestimmten Punkte des Weges, schon zwischen Bergen, in die sie aufstiegen, brachte nach einigem Zögern und Stottern Martin Scharf eine Bitte vor. In der rauhen und rohen Mundart der Gegend und sich, wie alle im Volke, des Du zur Anrede bedienend, legte er Emanuel nahe, er möge doch mit ihnen gehen und ihren alten Vater womöglich gesund machen, der das Fieber habe und bettlägerig sei. Emanuel sagte, das stehe bei Gott. Aber an dem Kreuzwege, obgleich in seiner Antwort etwas gelegen hatte, was einer Abweisung glich, folgte er doch den Brüdern auf vieles bittliches Drängen hin und weil ein sonderbares Zutrauen aus ihren Blicken und Bitten sich auf ihn übertrug und seine nun einmal vom Schwarmgeiste in Besitz genommene Seele fast widerwillig zum Rausche des Wunders zog.

Während sie sich zwischen Granitblöcken auf einem holprigen Wege dem Wohnort der Brüder näherten, betete Emanuel innerlich. Nach seiner ersten Prüfung sah er sich plötzlich vor eine zweite, größere hingestellt. Er war dem Rufe des Heilands gefolgt. Er hatte öffentlich Zeugnis abgelegt für die Wahrheit des Evangelii, jetzt aber sollte er den Beweis dafür antreten, daß er der vollen Nachfolge Jesu durch Gott gewürdigt sei, indem er Kranke gesund und Tote lebendig mache.

Man kann nicht sagen, der törichte Mensch habe solches zu tun sich aus Hochmut vermessen. Er war voll Demut. Auch seinen stillen Gebeten, die mit Inbrunst durch seine Seele gingen und darin er den Heiland bat, ihn ganz zu heiligen, fügte er immer die Worte: »Nicht wie ich will, sondern wie du willst!« an. Und deshalb, ohne Bewußtsein davon, daß er Sünde tat, von starker Erwartung innerlich bebend, wandelte er der Stätte zu, die es ihm klar enthüllen sollte, wie hoch er bereits in die Gnade Gottes gedrungen, wie nahe er schon seinem Herrn und Meister sei. In seiner Verblendung dachte er auch der Worte des Pastors nicht, geschweige daß er des Amtsvorstehers und seiner Warnungen sich erinnert hätte. Er hatte am Bibelbuch lesen gelernt. Die unrechte Art, mit der er sich in die heiligen Schriften vertieft hatte, wochen-, monate-, jahrelang, hatte ihn gegen die äußeren Übel der Erde leider ganz abgestumpft, weshalb ihm nicht leicht mit einer Waffe zu drohen war, die aus der irdischen Rüstkammer stammte.

Der alte Scharf, ins Stroh seiner ärmlichen Bettstatt gekrümmt, stöhnte, als seine Söhne hereintraten. Mühsam die kleinen, tränenden, rotgeränderten Augen aufmachend, bewegte der Greis den zahnlosen Mund, und ohne, wie es schien, zu erfassen, wer zu ihm kam, griff er mit den vertrockneten und erstarrten Händen irr in die Luft, aufs neue wimmernd, röchelnd und stöhnend.

Der Jüngere, Anton Scharf, trat nun zu dem Vater heran, und nachdem er eine lange Weile in ihn hineingeredet hatte, was mit außergewöhnlich erregter Stimme geschah, schienen die Schmerzen des alten Mannes sich zu verdoppeln, und bange, hilfeflehende Laute entrangen sich seiner Brust, die rasselnd und krampfhaft auf- und abwogte. Auch Emanuel trat nun hinzu. Aber ihn hatte der alte Scharf kaum ins Auge gefaßt, als er mit gurgelnden Lauten des Schreckens und Grausens auf- und zurückfuhr und, wie versteinert den Narren anblickend, ein »Hilf, Herr Jesus Christus!« hervorstieß. Er schien den leibhaftigen Satan zu sehen. Und soviel auch immer die Brüder sich mühten, den Alten von seiner Angst zu befreien: er schob sich nur immer zitternd zurück, bis endlich die Angst in Entsetzen umschlug, das Entsetzen in Wut und er, erst gleichsam eine Erscheinung wegwischend, am Ende verzweifelt nach Emanuel schlug.

Aber dieser, die langen, brandroten Wimpern über die Augen gesenkt, blickte nur in sich hinein. Er hob seine lange, blasse, nicht unschöne Hand ein wenig empor, und wie der Alte nach seinem Ausbruch wider Erwarten schwieg und starr der Bewegung seiner Rechten zu folgen schien, legte er diese ihm weich und leise auf die mit Runzeln und Falten bedeckte Stirn: darunter entschlief der Alte sogleich.

Vor dieser Wirkung – an sich nicht wunderbarer als irgendeine in dieser Welt – verstummten die Brüder Scharf vor Schreck. Sie, die doch selber, von einem jähen Aberglauben gepackt, den fremden Burschen ans Bett des Vaters genötigt hatten, waren in ihrer Einfalt nun ganz entsetzt, als das vermeintliche Wunder sich wirklich vollzogen hatte. Der Alte schlief, wie es schien, einen ruhigen Schlaf. In tiefer Betäubung ruhte der schon seit Wochen schlaflose Mann, der seine Tage mit Stöhnen und Jammern, seine Nächte mit Schreien und Wimmern hingebracht hatte, und atmete gleichmäßig aus und ein. Je mehr sich die Brüder dieser erstaunlichen Wendung bewußt wurden, die mit dem Vater zugleich sie selbst von einer höllischen Folter losband, um so heftiger wurde in ihnen der Drang, überreizt wie sie waren durch Arbeit und Nachtwachen, dem Bringer der Hilfe die Hände zu küssen, der ihnen nun ganz ein göttlicher Bote schien.

Auch Quint, durch das vermeintliche Wunder, und zwar noch mehr als die beiden Brüder, bewegt, konnte, wie sie, nur mühsam des Aufruhrs Herr werden, den es in seinem Innern erregt hatte; aber während es laut in ihm schrie, weil seine Beseligung bis zum physischen Schmerze ging, und während er um sich und in sich das Brausen des Heiligen Geistes zu hören glaubte, stand er doch aufrecht und stumm am Bett des Kranken still, nur daß er, den Kopf ein wenig nach rückwärts geneigt, die Augen nach oben gegen die Decke, wie gegen den Himmel, gerichtet hatte, wobei eine große Träne ihm langsam die Wange herunterrann.

An diesem Abend ließen die Brüder Quint nicht von sich gehen. Da sie am Tage vorher ihre Webe zum Kaufmann gebracht hatten, so war ein wenig gebrannter Roggen und Brot im Hause, ein Feuer konnte im Herd entzündet und Quint bewirtet werden. Nach einer Weile, indessen der Alte immer ruhig geschlafen hatte und nachdem Martin Scharf soeben das dürftige Mahl, Kartoffeln, Brot und eine Brühe aus Korn, auf den Tisch gestellt hatte, nahmen alle drei zugleich die übliche Stellung von Betenden ein, und Martin sprach das »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast«. Alsdann aber, miteinander essend und trinkend, hatten sie alle drei ein klares Gefühl davon, daß nun der Heiland wirklich zugegen wäre. Und dadurch begreiflicherweise bis auf den innersten Grund ihres Wesens entzückt, saßen sie miteinander in ihrer Dürftigkeit am wackligen, gleichsam schwarz verkohlten Tisch, bei Brot und Salz, wovon jedes Körnchen sauer erarbeitet war, von einem festlichen Licht umstrahlt, geborgen wie an dem Tische des Herrn.

Erwachsene Kinder und Unmündige, von Jugend auf an die Balken des Webstuhls gefesselt, dessen Pedale sie ununterbrochen treten mußten, wie einer das Wasser tritt, wenn er darin nicht ertrinken will, war ihnen die Erde ein wirkliches Jammertal: als solches hätten sie es gekannt, auch wenn man es ihnen in Schulen und Kirchen nicht fortgesetzt so bezeichnet hätte. Und deshalb, aus Pein und Not heraus, ergriffen sie auch die frohe Botschaft des Evangelii mit jener Kraft, die dem Ertrinkenden eigen ist, und klammerten sich an ihren Retter.

Der Weber in seinem Stübchen für sich, nur an den Umgang mit vertrauten Menschen, meist Gliedern der eigenen Familie, gewöhnt und darum empfindlich und leicht verletzt bei Berührung mit Fremden – ein Stubenhocker, durch sein Gewerbe zum Träumer gemacht, in dem der Hunger, die Sorge, die Not zum Dichter wird und, nicht zu vergessen, die Sehnsucht nach allem, was draußen ist: nach Sonne, nach Luft, nach Himmelsblau –, der Weber, in sich zurückgedrängt und gleichsam in eine zweite Welt, entschädigt sich in der Welt der Träume für seine irdische Trübsal und Not: und wenn er, an ein nach innen gekehrtes Dasein gewöhnt, zum Buche gleichwie zum Hausbrunnen hingedrängt, aus ihm den Durst des Geistes zu stillen gewohnt ist und die Bibel das einzige Buch des Webers ist, so kann es nicht fehlen, daß seine Seele die biblische Welt mehr als die wirkliche Welt erfüllt.

Emanuel Quint erschien diesen beiden Männern nun deshalb als geradezu aus dem Bibelbuch hervorgestiegen. Schon auf dem Markte zu Reichenbach, obwohl als Christen gewarnt vor falschen Propheten, gerieten sie doch sogleich in Emanuels Bann. Kein Narr in der Welt, der nicht Narren macht! Leichtgläubig und in dem steten Gefühl, ihre Not sei zu mächtig, um sich nicht bald zu enden, warteten sie mit ungeduldigeren Herzen auf Erfüllung der Verheißungen des Himmels, als sie auf Brot warteten, ihren irdischen Hunger zu stillen. In ihrer Einfalt hatten sie, ach wie oft, vermeint, das schreckliche Ende der Welt sei nahe und alles stünde unmittelbar vor dem Untergang. Sie waren zu ihren Konventikeln gelaufen, sommers und winters, stundenweit, und hatten dabei, den letzten Blick auf die ärmliche Hütte werfend, aus der sie gingen, für sich gemeint, es könnte vielleicht zum letzten Abschied sein. Denn jedesmal, sobald sie mit anderen Sektierern ihrer Art betend, singend und Bibel lesend vereinigt waren, hatten sie das Gefühl, dem Rätsel der letzten Stunde ganz nahe zu sein. Da schien es ihnen, als lägen vielleicht nur Minuten zwischen jetzt und dem letzten Augenblick. Und oftmals, während des stillen Gebetes, wenn draußen die Nacht und innen im Zimmer der kleinen Gemeinde die Stille des Grabes herrschte, wurden die Brüder jählings blaß, und während sie einer den anderen entsetzt und beglückt zugleich ins Auge faßten, hatten sie draußen die ersten Posaunenstöße des Jüngsten Gerichtes dröhnen gehört.

Nachdem sie gegessen hatten und in der seltsamen Erregung, worin alle drei sich befanden, nur wenig gesprochen worden war, erhob sich der jüngere Scharf, um die Reste des Mahles abzutragen, wobei ihm der ältere Bruder behilflich war: dann wurde von diesem die Heilige Schrift – sie hatte auf einem Balken der Decke gelegen – herbeigeholt, und während er sie vor Emanuel, auf dem gesäuberten Tische, aufschlug, sah er den neuen Apostel bittend an.

Dieser hatte die Hand nicht sobald auf das teure Buch gelegt, als es den Brüdern vorkam, wie wenn seine Augen überirdisch zu leuchten begännen und als verbreite sich, von dem göttlichen Talisman aus, ein himmlisches Feuer durch seinen Leib, aber es zeigte sich nur, daß der verstiegene Mensch eine größere Sicherheit wiedergewann und, trotz aller Schwärmerei, in dem Augenblick fest auf den Füßen stand, wo er den Urgrund göttlicher Weisheit wieder berührte, darin, wie er meinte, sein Irrtum, den er für Wahrheit hielt, begründet lag.

Er hub nun zu lesen, das heißt, nur immer flüchtig die Schrift betrachtend, mit leiser, innig-heimlicher Stimme zu sprechen an: »Selig seid ihr, dieweil das Reich Gottes euer ist. Ja, ich komme zu euch, ihr Armen! Euer, ihr Armen, ist das Reich. Selig, die ihr hier hungert, ihr werdet satt. Selig, die ihr hier weinet, euch wird man trösten, ihr lacht dereinst. Der Geist des Herrn ist bei mir«, fuhr er dann fort. »Er hat mich gesandt, wie er viele gesandt hat. Ich bin hier. Ich verkünde das Evangelium. Ich komme, zerstoßene Herzen zu heilen. Die Gefangenen sollen ledig werden, die Zerschlagenen heil, die Blinden gesund.« Und weiter sagte er: »Seht mich an« – und dabei schien der Jammer verborgenen, schweren Leides auf seine verhärmten, plötzlich verfallenen Züge getreten zu sein –, »ihr werdet am Ende zu mir sagen: Arzt, hilf dir selbst! Wenn ihr mich kennt, wie euer Vater mich kannte, was er durch seinen Ausruf bewiesen hat, so wißt ihr, daß ich ein von den Menschen Verstoßener bin. Ich war verachtet von Jugend auf. Ich war mit Schwären behaftet als Kind. Ich habe längere Zeit auf dem Stroh des Krankenlagers gelegen, als euch, da ich lebe, möglich scheint. Aber die Schmach hat mich nicht erniedrigt, und die Krankheit hat meine Seele lebendig gelassen. Fand ich doch auch, daß geschrieben steht: Selig seid ihr, so euch die Menschen hassen und absondern, euch schelten und euren Namen verwerfen. Sie nennen mich einen Narren. Mögen sie's tun. Sie haben sich auch von dem Heiland gewendet und haben ihm alle Namen gegeben. Sehet, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt. Hatte er doch auch weder Gestalt noch Schöne, sie aber hielten ihn für den, der von Gott geschlagen und gemartert würde. Wenn ihr nun heut wolltet zu mir sagen: Arzt, hilf dir selbst, so sage ich euch, daß ich das Kleid der Schmach und der Krankheit dieser Welt nicht eher will ausziehen als bei Gott. Auf dieser Welt hier ist Leiden Glück. Ich segne den Vater für jede Qual, die er mir geschenkt, für jede Marter, die er mir bescheret hat. Christi Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid. Ich will das Kleid der irdischen Drangsal nicht von den Schultern lassen, bevor der letzte von meinen armen Menschenbrüdern es abgelegt. Denn wisset ihr auch, wer der letzte, der ärmste und elendeste unter den Menschen ist? Der Kränkste, der um Gesundheit fleht? Unter den Durstenden der Verschmachtende? Der, den der Hunger am meisten plagt? Der unterm Mangel am bittersten leidet? Ja? Wißt ihr auch wirklich, wer das ist? Er! Jesus Christus von Nazareth.«

Emanuel war mit seiner Rede bis hierher gekommen, als einige übermütige Bauernburschen, die, an der Hütte vorübergehend, im Innern das Licht und die Schwärmer darum bemerkt haben mochten, ihre betrunknen Gesichter an eines der kleinen Fensterchen drückten und so, die Nasen und Mäuler zu schlimmen Grimassen breitgequetscht, wüstes Gebrüll und Drohungen ausstießen. Erblassend sahen die Brüder sich an. Anton aber, dem plötzlich das Blut zu Kopf stieg, noch eben von Andacht ganz übermannt, sprang auf, vom Zorn heftig gepackt, bereit, die Störenfriede zu züchtigen.

Mit einer gelassenen Milde, vielleicht nicht ganz ohne Wohlgefallen, betrachtete Quint den seine Wut nur mühsam beherrschenden Mann. »Selig sind die Sanftmütigen«, sagte er zwar, streckte ihm aber zugleich die Rechte entgegen, und als er die Hand des Erregten in seiner spürte, drückte er sie und sagte dabei: »Wohl dir, daß dir Mannheit und Mut von Gott gegeben sind. Brauche sie. Diene dem Evangelium. Die Diener am Wort sollen Männer sein. Aber brauche deine Kraft zur Demut, deinen Mut zur Duldung, und deinen Eifer verwandle in Liebe zu Gott. Dann wirst du ein Fels wie Petrus sein.«

Zweites Kapitel

Das innere Feuer, das Emanuel zu seiner ersten Zeugnisablegung getrieben hatte und das er für das Feuer des Heiligen Geistes nahm, brannte fort, auch nachdem er die Brüder Scharf verlassen hatte. Er zweifelte nicht daran, daß der Heiland in ihm war, durch ihn mit der Kraft des Wunders gewirkt und seinen Apostelberuf auf diese Weise bestätigt hatte.

Er war von den Brüdern weg in die Wälder gegangen, wie jemand, der seine Seligkeiten verbergen muß. Während der Morgen graute, der Himmel sich immer heller färbte, die Vögel immer lauter zu singen anhuben, zog es ihn immer tiefer und höher in Wälder und Berge hinein. Denn dieser irdische Frühlingsmorgen, dem alles entgegensah und dessen innere Wollust, vor ihm herwebend, alle Kreaturen bereits erfüllte, hatte für ihn einen himmlischen Sinn. Der innere Antrieb, der diesen Schwarmgeist mit seinem in Liebe überfließenden Herzen aufwärtstrieb, war nicht nur darauf gerichtet, so bald wie möglich die Schöpferin dieser irdischen Wonnen, die Sonne, zu sehen, sondern er fühlte Gott selber in ihrem Lichte heraufkommen und wollte in seiner Glorie stehen, und sei es auch nur, um darin zu schmelzen.

Emanuel atmete Morgenluft. Aber es schien ihm der Morgen jenes ewigen Tages zu sein, aus dem die Finsternis immerdar verbannt ist und wo wir, nach den Verheißungen der Bibel, im Angesichte und Frieden Gottes, von allen Übeln erlöst, wandeln werden, teilhaftig der ewigen Seligkeit. Und deshalb steigerte sich seine Wonne zu Trunkenheit. Die Wogen der inneren Schauer gingen so hoch, daß er, fast gegen seinen Willen, vor Freude zu schreien begann, zu singen und Gott mit lauten Jubelrufen zu loben, nur um in dem ganz unfaßlichen Übermaße der Wonnen nicht zu vergehn.

So war er bis auf den Gipfel der Hohen Eule gelangt, der höchsten Erhebung in jener Gegend, und wer den armen Handwerksgesellen beobachtet hätte, wie er, die Hände gen Himmel werfend, abwechselnd murmelnd und rufend umherlief oder starr aus heißen, verweinten Augen gen Osten sah, das Tagesgestirn voll krankhafter Spannung erwartend, der hätte in ihm einen Irren gesehn.

Und wie nun die Sonne mit dunkel purpurnem Lichte, goldfeurig warm, in weiter Glorie spielend, ins Irdische brach und die Räume gleichsam mit einem urgewaltigen Gottesgetümmel erfüllte – dieweil es von Becken, Pauken, Posaunen und Harfen vor den Ohren des armen Apostels toste und klang –, so konnte Emanuel sich nur noch einen Augenblick lang hoch aufrichten, einen Augenblick fest in die brünstige Lohe sehn, um dann, von einem brennenden Schmerz im innersten Herzen gleichsam versehrt, in die Knie zu sinken – einem Schmerz, der ebenso süß als brennend war – und stammelnd für alle um Gnade zu flehn.

Als Quint aus einem schweren, totenähnlichen Schlaf wieder erwachte, war der Mittag herangekommen. Ob er geträumt und was er in diesem Schlafe geträumt hatte, wußte er nicht, aber er war erfrischt und empfand eine tiefe Beseligung. Nachdem er dann Gesicht und Hände an einem nahen Waldbach gewaschen und überdies sich durch einen Trunk erquickt hatte, stieg er, scheinbar ziellos, zu Tal hinab und gelangte nach einiger Zeit an die erste, dicht am Waldrand stehende Hütte, an deren Tür er Almosen heischend anklopfte. Es wurde ihm Brot herausgereicht.

Nun wanderte der Narr, die Ansiedlungen der Menschen vermeidend, über versteckte und verlassene Fußsteige in die Ebene hinab und weiter auf dieser Ebene hin, bald auf Rainen zwischen Feldern, auch wohl in der Furche eines blühenden Kartoffelackers oder an den Rändern kleiner Flüsse, deren Lauf Weiden- und Erlenbüsche verrieten. Es war bereits dunkel, als er ein Dörfchen von Ackerbauern erreicht hatte, das in einer Bodenfalte gelagert war, über die es mit Giebeln und Schornsteinen und der Spitze eines verwitterten Heidenturmes und auch mit dem dunklen Gewölk seiner Eichen-, Rüstern- und Lindenbäume hinausblickte. Man kannte den Narren hier nicht, und außerdem machte die Dunkelheit, daß er, ohne aufzufallen, gemeinsam mit einigen alten Männern und Weibern, das Schulhaus erreichen konnte, wo er bereits, in einem der Schulzimmer, eine kleine Gemeinde, auf ihren Prediger wartend, versammelt fand.

Kaum hatte sich Quint auf ein leeres Plätzchen der letzten Schulbank gesetzt, als die Tür wieder geöffnet wurde und ein weibisch aussehender junger Mann, der Lehrer des Ortes, einen anderen hereinführte, der breit, mit niedriger Stirn und kurzem Nacken, durchaus keineswegs wie ein Bote des Friedens geartet schien.

Nachdem dieser Mann das kleine Katheder der Stube betreten und in einer zwischen zwei brennenden Kerzen aufgeschlagenen Bibel, wie um die düstere Glut seiner Augen darin zu verbergen, forschend geblättert hatte, musterte er die Schar der Versammelten, hauptsächlich ältere Weiber und Tagelöhner, mit einem drohenden und durchdringenden Blick.

Es war ein Blick, der den armen Emanuel Quint erzittern machte. Er kam sich auf einmal mit Schuld beladen und wie ein des Todes würdiger Sünder vor. Noch während bereits die ersten Worte des Predigers den dunstigen Raum durchdröhnten, wie das beginnende Grollen eines großen Gewitters, fand im Innern des Narren ein verzweifeltes Ringen statt. Es fehlte nicht viel, er wäre aufgesprungen und, wie von höllischen Geistern gepeitscht, davongerannt; denn es fiel ihm auf einmal mit Zentnerlasten aufs Herz, was er in diesen letzten Wochen getan und sich angemaßt hatte. Wie unter einem alles durchleuchtenden, jähen Blitz erkannte er seine geheimsten Gedanken und ihre noch geheimere Eitelkeit; dazu hörte er nun die furchtbaren Worte: »Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Darum, welcher Baum nicht gute Frucht bringet, der wird abgehauen und ins Feuer geworfen.«

Der arme rothaarige, bleiche Mensch riß die Augen weit auf, und von einer namenlosen Bestürzung betroffen, ließ er den Mund mit dem falben Bärtchen weit offenstehen. In Gedanken schlug er an seine Brust, beugte sich zehnmal so tief zur Erde, daß seine schweißbedeckte Stirne den Boden berührte, und war bereit, jeder furchtbaren Strafe und Züchtigung Gottes voll tiefer Zerknirschung sich auszuliefern.

Bruder Nathanael predigte nicht wie die Schriftgelehrten. Wie der Täufer Johannes gleichsam Donner, Blitz und feurige Ruten geredet hatte, so ging auch von ihm eine strafgewaltige Stimme aus, die jeden Hörer erbeben machte. Aber er setzte nicht nur die Mission des ersten Johannes, des Täufers, fort, sondern er hatte auch die schrecklichen und verwirrenden Bilder des andern Johannes in sich gesogen, jene gräßlichen und entsetzlichen Phantasien, die in dem Buche der Offenbarung beschlossen sind.

Nachdem er die Blindheit und Verruchtheit der Welt gegeißelt hatte – die Kaufleute, welche Fürsten seien, die Könige und Gewaltigen, die nur darauf ausgingen, immer neue Werkzeuge zu ersinnen für Krieg und Mord! –, rief er aus: »Ich bin die Stimme eines Predigers in der Wüste. Aber ich sage euch: ich und schon mancher versiegelte Christ außer mir, wir haben zuweilen des Nachts schon eine andere Stimme unter den Sternen rufen gehört: Sie ist gefallen! sie ist gefallen, die große Babel!

Wehe! wehe! wehe!« schrie er, die Lider unter den buschigen Wimpern über die Augen gezogen, wie um die Gesichte nicht sehen zu müssen, die ihm solche Rufe der Angst, der Warnung und Qual entpreßt hatten. »Ich sehe die Engel des Euphrat losgebunden! Ich sehe sie mit den Schwertern der Rache auf die Weltteile niederbrausen! Sie fahren nieder und schlagen Amerika und ertränken das Dritteil aller Bewohner im Blut! Sie fahren hernieder und schlagen die große Asia und morden den dritten Teil alles Lebendigen! Sie fahren nieder und schlagen Europa, Australien, Afrika und würgen und schlachten und zertreten mit glühenden Füßen die Feinde des, der da war, ist und sein wird. Die Sonne verfinstert sich; die Sterne fallen vom Himmel auf die von Mordbrand schauerlich lohende Erde. Das Meer ist Blut. Die Fische und alle Kreaturen im Meer sind erstickt im Blut. Und nun bäumt sich das Meer und speit und speit und speit seine Toten aus. Alle die Opfer speit es nun wieder aus, die es vom Anfang der Zeiten an bis auf diese Stunde des Letzten Gerichtes verschlungen hatte ...« Und auf diese Art fuhr er geraume Weile das Ende der großen Babel zu schildern fort. Schweflige Flammen durchzuckten das Schulzimmer. Die armen, in sich zusammengekrochenen Leutchen hörten mit schlotternden Kinnladen zu. Ihre mageren, knochigen Runzelgesichter hingen mit gierigen Augen festgesaugt am Munde des Sprechenden. Gleichwie in Wollust und kaltem Entsetzen waren die Münder weit aufgetan. Qualvolles Seufzen und Röcheln ward laut. Sie vernahmen von Kronen und wieder Kronen, womit die sieben Tiere geschmückt waren. Sie rochen den Dampf und Gestank des fressenden Feuers, das aus ihren abgründischen Rachen ging. Unter ihnen erbebte die Erde bei immer erneutem Mord und Posaunenschall. Da war kein Ende; da war nirgend ein Heil; da war für den Sünder nirgend ein Schlupfwinkel.

Und Berge von Leichen häuften sich unter Pest, Brand, Schwert und Stachel. Raben, Geier und Wölfe starben vom Aas. Man fühlte den qualmenden, giftigen Dunst der Verwesung. Aber mitten in aller weit über Menschenbegriffe sintflutartig steigenden Greuel hörte auf einmal Emanuel Quint in seiner Seele etwas, ähnlich einem hellen, silbernen Glöckchen, leise anschlagen, dann etwas erklingen, gleich einem rätselhaft wunderbaren Schalmeienlaut, dem alsogleich sein ganzes Wesen mit einem entzückten Schauer antwortete.

Nun hatte das wilde, buschige Haupt mit den angeschwollenen Stirnadern, das zwischen den Lichtern tobte, keine Gewalt mehr über ihn. Allein auch der Prediger schien sich nunmehr darauf zu besinnen, daß nun der Acker der Seelen genugsam bereitet war, um den Samen des Reiches ihm anzuvertrauen. Das Schwefelfeuer der Läuterung hatte wohl nun, wie er annahm, die Zungen genugsam nach einem Tropfen lebendigen Wassers durstig gemacht, nach jenem erquickenden Element, dessen tiefer Brunnen ihm offenstand. Und so ging er denn in seinem Vortrage auf den sicheren Frieden der Auserwählten über, denen die Stätte ewiger Freude, das Heilige Zion, bereitet sei.

Er sprach vom Senfkorn des Glaubens, das zu einem weltbeschattenden Baum emporwachsen werde. – Emanuel horchte von neuem auf! – Er sprach von dem rosenfarbenen Blute des Lammes, durch das der Gläubige rein von jedem Flecken der Sünde gewaschen sei. So schneeig und weiß, daß kein Makel an ihm zu erfinden wäre. Er baute an Stelle der alten Babel das neue glückselige Zion auf und rief verzückt: »Selig ist der und heilig, welcher teil an der ersten Auferstehung hat! Wer überwindet, der wird alles ererben!« – Und er bauete nach und nach, wie ein himmlischer Baumeister, vor den bebenden Seelen die Heilige Stadt aus Jaspis auf. Er zeigte ihnen die Tore und Gründe. Er maß die Fläche Jerusalems mit einem goldenen Rohre aus. Er machte die Häuser aus Gold, die Gründe aus Jaspis, Saphir, Chalzedon und Smaragd. Er nannte Sardonyx, Sardis, Chrysolith, Topas, Hyazinth und häufte die Worte, die, seiner Gemeinde unverständlich, ihr doch einen Rausch von Glanz und Verzückung brachten. Er schloß mit einem Gebet um Bußfertigkeit und um einen felsenfesten Glauben, damit die Gemeinde zu denen gehöre, die tausend Jahre unter dem Szepter des Lammes, das die einzige Leuchte des irdischen Zion sei, in unaussprechlichen Wonnen hinzubringen berufen wäre.

Im Hausflur, nachdem die Menge der kleinen Leute sich verlaufen hatte, trat Emanuel Quint den Predigtbruder mit den leise gesprochenen Worten an: »Was soll ich tun, daß ich selig werde?« Der Angesprochene aber umfaßte mit weichem Griff seiner harten Hand die herunterhängende Rechte des Fragenden und zog ihn über eine knarrende Holzstiege mit sich hinauf in das kleine Gastzimmer, das ihm die Lehrersleute eingeräumt hatten. Es schien, daß der redliche Gottesmann an der Erscheinung Emanuels mehr Gefallen fand als jüngst der installierte Vertreter des Christentums; denn der Lehrer und seine Frau warteten unten lange vergeblich vor dem sauber gedeckten Abendtisch, während die Stimmen der beiden Männer immer lebhafter durch die getünchte Decke herunterdrangen.

Als Bruder Nathanael endlich zum Abendessen erschien, war, man fühlte es seinem Wesen an, etwas Unerwartetes in sein Leben getreten. Seine Reden schienen zerstreut, und er aß ohne Aufmerksamkeit. Nach Schluß der Mahlzeit ließ er seinen schweren Körper in die Ecke des mit einer gehäkelten Decke überzogenen Sofas niederfallen und stocherte sich, noch immer versonnen, in den Zähnen herum; denn seine Manieren waren gewöhnlich.

Von Gott, dem Reiche Gottes und seinen Freuden zu reden, konnte der Lehrer nicht müde werden. Der bärtige, etwas weibische Mann mit dem weichen Jünger-Johannes-Kopf war geradezu unersättlich darin. Seine üppige junge Frau, die ein orientalisches, sinnlich-schlaffes Wesen hatte, verzog den Mund, da er, mit dem Bibelbuch in der Hand, nicht ohne Ungeduld ihr bereits wiederum Zeichen machte, sie möge im Abräumen des Tisches und im Hunger nach Gottes Wort ungeduldiger sein.

»Ich habe da eben einen Menschen oben in meinem Zimmer gehabt«, sagte Bruder Nathanael plötzlich, »dessen Wesen und Wort mir noch immer vor meiner Seele steht. Ich kannte ihn nicht; doch er kannte mich. Er hatte von mir vielfach reden gehört – ich weiß nicht, von wem –, in frommen Flugblättern hat er manches von mir gelesen – ich weiß nicht, in welchen. Er ist bibelfest, und es war mir bei seinem ersten Anblick kaum möglich zu denken, daß er überhaupt lesen könne. Er hält mir seinen Namen verborgen. Ich weiß nicht, warum! Vielleicht ist er bereits wegen irgendwelcher Vergehen bestraft! Womöglich hat er bereits im Zuchthaus gesessen. Nun, es wird Freude sein vor neunundneunzig Gerechten über einen Sünder, der Buße tut! – Ich muß aber wiederum sagen, daß in seinem Wesen ein eigentümlicher Atem von Einfalt und Unschuld ist. Es ist in diesem Menschen ein schlichter, überzeugender Glaube. Es kam mir bei seinem Anblick das Wort in Erinnerung, ich weiß kaum, wodurch: Fürwahr, er trug unsere Krankheit und nahm auf sich unsere Schmerzen; wir aber hielten ihn für den, der von Gott geschlagen und gemartert würde. In der Tat, er scheint krank. Die roten Flecken auf seinen Wangen deuten wohl auf die Auszehrung. Allein so groß kann bei seinem Alter sein Martyrium doch kaum gewesen sein, daß es ihm ein so tiefes, durchdringendes Auge für die Leiden und Schmerzen der Erde gegeben hätte. Es ist erstaunlich, mit welcher behutsamen, wissenden Hand er alles berührt! Ich verstehe es nicht. Ich begreife es nicht.

Es ist eine Liebe und eine Barmherzigkeit in diesem Menschen, dessen abgezehrter Körper an vielen Stellen durch die Risse seiner ärmlichen Kleider schimmert, die mich in einem gewissen Sinne entwaffnet und rührt. Es spricht aus ihm ein so allgütiger Geist der Barmherzigkeit, daß ich mit meiner Liebe mir vorkomme wie ein toter und grausamer Mann. Er wandte sich gegen eine Stelle der Offenbarung, die ich in meiner Predigt gebraucht hatte, wo die große Babel, wie es heißt, gequält werden wird vor den heiligen Engeln und vor dem Lamm mit Feuer und Schwert. Er sagte, dies sei der Geist des Lammes nicht. Er sprach das wie einer, der es weiß, und ich, der ich mich mit dem Worte Gottes geharnischt wähne, wußte ihm nichts darauf zu erwidern. Er erklärte, das wäre unseliger Mißverstand, und zwar aus der Blindheit des Hasses geboren, den, auch nur in den Jüngern, ganz zu zerstören der ewigen Liebe des Heilandes selbst nicht gelungen sei.«

Der Lehrer erschrak. Es war ihm ein unerhörter Gedanke, die unantastbaren Worte der Schrift, ja nur den kleinsten von ihren Buchstaben, in ihrer göttlichen Wahrheit bezweifelt zu sehen. Er hielt auch mit seinem Entsetzen deshalb nicht zurück.

»Der Heiland, der Heiland und wieder der Heiland«, antwortete ihm der Bruder darauf. »Es ist nichts dawider zu sagen, lieber Genosse im Herrn, wenn du bei jemand den unzweideutigen Eindruck hast, er bette sich ganz an die Brust des Lammes. Jesus, Jesus und wieder Jesus. Etwas anderes kennt dieser junge Gläubige nicht. Und dieser Jesus hat auch gesagt: Der Buchstabe tötet; der Geist macht lebendig. Vor diesem Jesus ziehen wir her. Auf welche Weise er kommen wird, wer kann es wissen? Ob er heut oder morgen kommen wird oder erst nach zwölftausend Jahren, wer kann es aussprechen? Ich habe dem herzensreinen und herzensguten Menschen meine beiden Hände übereinander segnend aufs Haupt gelegt und habe der Worte des Heilandes gedacht, der gesprochen hat: Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, ebendas habt ihr mir getan.«

Dann fuhr der Apostel des Tausendjährigen Reiches unter tieferem Sinnen fort: »Was geht aus diesen Worten hervor? Zu welcher nimmer rastenden Vorsicht müssen sie jeden Gläubigen auffordern? Wer sagt mir denn, wenn ich jemand hart anlasse, ob es nicht Jesus selber gewesen ist? Wer sagt mir denn, ob nicht vielleicht er, der Heiland selber, in diesem Menschen gewesen ist? Steht es nicht ganz in seiner Macht, aufs neue den Weg der irdischen Niedrigkeit und des irdischen Elendes anzutreten? Steht es nicht täglich und stündlich in seiner Macht? Lieber Bruder in Christo, ich weiß, was ich sage: dieser junge Mensch kann der Heiland in eigener Person gewesen sein! Ja, in einem gewissen Sinne ist er es ganz bestimmt gewesen.« – So sprachen sie über den armen Emanuel Quint bis lange nach Mitternacht.

Am folgenden Morgen, als das Licht der herannahenden Sonne nur erst bleich und kalt den Raum über der weiten Fruchtebene erfüllte, ohne daß der Quell solcher Helligkeit sichtbar geworden wäre, hatte der Bruder Nathanael Schwarz einen Gang über Feld zu tun. Auf die Dorfstraße getreten, begegnete ihm der achtzehnjährige sogenannte Schreiber eines gewissen Gutes, dessen Besitzer gläubige Christen waren. Bei diesen Leuten, deren Neffe und gleichsam angenommenes Kind der Schreibereleve oder -lehrling war, hatte der Wanderprediger schon oft Asyl und einen gastlich gedeckten Tisch gefunden.

Kaum daß er des jungen und zarten Menschen ansichtig wurde, der in dem magischen Licht der Frühe, an den Toren der Bauerngüter und den Gattern der kleinen Kossätenhöfe vorüber, einsam herangeschlendert kam, so dachte er alsogleich daran, wie seine Gastfreunde, um das Seelenheil des halberwachsenen Burschen besorgt, ihn um Rat und Hilfe seinetwegen ersucht hatten. Er ging also auf den blassen und schönen Jüngling zu, der sogleich die Mütze vom Kopfe zog, und begrüßte ihn freundlich, bei sich selber den scheinbaren Zufall dieser Begegnung als eine Schickung des Himmels segnend.

Wie sich herausstellte, hatten beide den gleichen Weg, und so schritten sie nebeneinander hin, in einem mäßigen Fußgängertritt, und waren bald aus dem Dorfe hinaus in eine vergraste, breite Kirschenallee gelangt, unter ein langgestrecktes, durchsichtiges Gewölbe aus Blüten, in das von allen Seiten vieltausendstimmiger, rastloser Jubel von Lerchen drang.

»Wie kommt es«, fragte der Bruder den jungen Mann, »daß Sie in dieser frühen Stunde schon auf den Beinen sind, Herr Kurt?« Und Kurt, der den Familiennamen Simon trug, antwortete ihm mit scheuem Erröten. – »Sie sind gestern in meiner Predigt gewesen?« – »Jawohl!« Und wirklich hatten die drohenden Bilder des Jüngsten Gerichts und des Weltuntergangs den Gutsschreiber bis ins Mark beunruhigt und ihm den Frieden des Schlafs geraubt.

Der Bruder versuchte nun auf mancherlei Arten und Weisen in das Vertrauen dieser verschlossenen Jünglingsseele sich einzuschleichen, deren seltsames Wesen seinen Gastfreunden Kummer machte. Soviel er sich aber auch mühte, der Junge zog sich nur immer mehr in sich selbst zurück.

»Ihre Tante hat Ihnen vor einigen Tagen ein Testament geschenkt?«

»Ja.«

»Und Sie haben darin gelesen?«

»Ich habe darin gelesen. Ja.«

»Haben Sie nie daran gedacht, sich mit all Ihren heimlichen Nöten und Schmerzen dem anzuvertrauen, der all unsere Schmerzen und Nöte kennt und der aus Liebe zu uns, damit wir von allen Sünden entbunden und selig würden, sein Blut am Kreuze vergossen hat?«

Kurt Simon schwieg. In Wirklichkeit hatte er dies in heimlichen Stunden oft und mit Inbrunst getan, ohne daß sich die Wirrnis seines Innern durch seine Gebete in Klarheit gelöst hatte.

Der Bruder, weil er den Mangel an Glauben als die hauptsächliche Wurzel alles Übels im Wesen des jungen Menschen ansah und nicht erwog, ob es vielleicht ein zu starker Glaube war, verbunden mit einem allzu zarten Gewissen, was den Jüngling zu seinem eigenen Wesen und Werden in Widerspruch setzte, versuchte nunmehr, als getreuer Gärtner, das Saatkorn des Glaubens einzupflanzen. Allein die empfindsame Seele des seltsamen Jüngers lehnte den Ausgleich mit der Gottheit durch die derbe Vermittlung Bruder Nathanaels ab und fand sich durch seine Ratschläge mehr beleidigt als angezogen.

Die Beispiele von Gebetserhörungen, die sein Begleiter ihm vortrug, die kleinlichen Verbriefungen kleinlicher Wunder erschienen ihm lächerlich: wie jener um zwanzig Mark, dieser um Gewährung eines neuen Rockfutters oder um Ähnliches gebeten hatte. Dagegen waren im Bereich seiner Phantasie leicht brennbare Stoffe in großen Mengen vorhanden, die es leicht hatten, einen aushöhlenden und vernichtenden Brand in ihm aufzuzünden. Es war ein Glück, daß der Bruder, erfüllt von seiner Begegnung mit dem milden Emanuel, erneut durch die Frische des Spätfrühlingsmorgens, die schwarzen Fackeln des Abgrundes nicht wieder schwang.

Am Ende der Kirschenallee angelangt, wurden die Wanderer von den ersten warmen Strahlen der Sonne berührt. Um nun das erhabne Gestirn über die weite Fläche des Erdreichs auftauchen zu sehen, erklommen sie eine gelinde Böschung. Da bemerkten sie unweit eines mächtig getürmten Strohschobers, der teilweise abgerissen war und im grellsten Lichte stand, einen Menschen knien und, gleichsam zu einem somnambulen Zustand verzückt, wie blind an ihnen vorbei in die Sonne starren.

Sie standen still und bewegten sich nicht.

Wenn auch von ferne her die Dampfpfeifen einiger Fabriken ihre Arbeiter riefen und Stange und Draht einer nahen telegraphischen Leitung im Tumulte der Lerchen leises Summen vernehmen ließ, so konnte man doch, den knienden Mann in der Sonne betrachtend, nicht glauben, in den Zeiten des Dampfs und der Elektrizität zu sein. Er hatte kein Obergewand. Ein lehmfarbenes Beinkleid, um die Hüfte mit einem Riemen gegürtet, war alles, was er am Leibe trug. Die Hände hielt er auf seinen Knien gefaltet, den bleichen Kopf in verzehrender Andacht zurückgelehnt. Wie Flammen umfloß seine Stirne, Schläfen, Wangen und Schultern das rote Haar, als wären es heilige Flammen, die ein Opfer verbrennen, das sich selbst darbringt. Die Lippen des Beters waren bleich. Das nackte, perlmutterartige Fleisch erschien zart und durchsichtig, wie ohne Körperschwere und gleichsam durchschlagen von Licht. »Habe ich doch«, sprach, sich ermannend, ganz unwillkürlich Bruder Nathanael, »von diesem Menschen die ganze Nacht durch geträumt, und ist es mir doch, als wenn ich ihn schon im Traum heute nacht in dieser betenden Stellung mit meinen geistigen Augen erschaut hätte.«

Kaum eine Spanne hoch schien die Sonne über den Horizont emporgerückt, als Emanuel Quint – er war der Beter – aus seiner wunderlichen und kranken Ekstase erwachte. Zwinkernd und wie im Dunkeln tastend sah er sich um. Er hatte im Stroh des Schobers genächtigt, weil er am Abend vorher die wenigen Pfennige des Quartiergeldes, die Bruder Nathanael ihm hatte reichen wollen, wie alles Geld zurückwies, das man ihm bot. Vergeblich hatte er dann im Krug der Ortschaft angeklopft und um Obdach gebeten: eine närrische Tat, die zusammen mit seiner Marotte, kein Geld anzunehmen, eine ganz besondere Narrheit des Narren war.

Eine Weile ruhte das Auge Emanuel Quints versonnen auf Bruder Nathanael; dann verriet ein schwaches und gütiges Lächeln, das über sein Antlitz ging: er hatte den Eiferer wiedererkannt.

Der junge Landwirt, der mit dem Ausdruck fragenden Staunens bald seinen Begleiter angesehen, bald die Bewegungen des sich nun von den Stoppeln des Brachfelds erhebenden Quint verfolgt hatte, sah, wie dieser ein grobes Hemde ergriff, das in der Nähe lag, und es mit komischer Mühe, wobei sein Kopf darin verschwand, über Arme und Schultern zog. Dann reichten er und der Bruder einander die Hand.

Ohne viel Worte zu machen, schloß sich der sichtlich ermattete, zuweilen fröstelnde Mensch dem Bruder und seinem Begleiter an. Schweigend, selbdritt, schritten sie nebeneinander.

Der junge Landwirt konnte bemerken, daß in der Stimme des Bruders Nathanael, als er endlich zu reden begann, eine tiefe Bewegung zitterte, und auch er war seit dem Erscheinen des Fremden, besonders seit dem ersten Laut seiner ruhigen, klangvollen Stimme seltsam erregt.

»Ich habe über das, was wir gestern abend miteinander gesprochen haben, noch lange nachgedacht«, sagte der Bruder. »Ich habe auch wenig Schlaf gehabt, und in den halbwachen Zuständen dieses Schlafs haben Sie mir zuweilen vor Augen gestanden. Ich möchte gern wissen, lieber Mitbruder, wer Sie sind!«

»Ich bin ein Mensch«, gab der Narr zur Antwort.

Mit dieser Antwort, die mehr gehaucht als gesprochen wurde, schien dem Bruder wenig gedient zu sein. »Warum bist du zu mir gekommen«, sagte er plötzlich, »wenn ich deines Vertrauens nicht würdig bin?«

Emanuel schwieg einen Augenblick; dann blieb er stehen, mitten im Feld, im Morgenwind und im Vogelgesang, sah den Bruder mit einem leisen Vorwurf der Liebe an und beugte sich dann zum Kuß über seine Hände.

»Ich könnte dir sagen, wer ich bin«, erklärte er, als sie weitergegangen waren. »Was liegt daran? Was ist ein Name, und nun gar, was kann der meinige sein, den keiner jemals anders genannt hat als mit Verachtung? Warum soll ich ihn nennen? Wenn ich ihn anfasse und aus dem Schmutze aufhebe, der ihn bedeckt, so erhebe ich das oberste Glied einer Kette von Leid, Gram und Erniedrigung, und also müßte ich auch diese Kette mit erheben. Das will ich nicht! Denn ich will nicht klagen! Ich will keinem Menschen die Beichte des eigenen Kummers ausschütten. Dies darf ich nur dem gegenüber tun, der in mir ist.«

In einer leicht dialektischen Färbung hatte er diese Worte gesagt. »Wer ist denn in dir?« fragte Nathanael.

»Gott gebe, daß er, der in uns wohnen will, in mir ist.«

Wie eine Klammer legte es sich um den Kopf des jungen Eleven der Landwirtschaft, indem er, ein wenig hinter den beiden herschreitend, den langsam schwingenden Gang der nackten, bestaubten und wunden Füße des Menschen in Lumpen und den schweren Schritt des Bruders wandern und wandern sah. Eine unsichtbare und dennoch undurchdringliche Wand schien ihn mehr und mehr von der Wirklichkeit seiner Tage auszuschließen. Die Erde war ihm verwandelt und wunderlich. Als gäbe es keine Zeit, so kam es ihm vor, oder als wäre die Gegenwart die Vergangenheit und Längstvergangenes gegenwärtig. Als seien tausend Jahre ein Tag.

Der Kampf der Wirklichkeit, die ihn umgab und die er heute und gestern gelebt hatte, mit einer phantastischen Vorstellung, steigerte sich bis zur Qual in ihm. In der Tasche das kleine Evangelienbuch mit der Hand umschließend, das ihm die um sein Seelenheil besorgte Pflegemutter geschenkt hatte, kam es ihm vor, als wanderten zwei Gestalten aus diesem Buche vor ihm her. Ja, als wäre er selbst nur eine Gestalt aus der heiligen Darstellung, die ihn nun schon seit Wochen beschäftigte. Aber er sagte zu sich, er sei krank und wolle sich diesem vermeintlichen Wahne nicht hingeben. Sein Vater und seine Mutter fielen ihm ein, die unbefangene Naturen waren, und er dachte bei sich, daß es ihnen gelingen würde, die phantastische Wolke, die ihn trug und in die er gesperrt war, aufzulösen. Er selber sah keine Möglichkeit, es zu tun. Er war bald vom Zittern der Freude bewegt, bald von Angst. Bald wollte er seinen Eltern, den ahnungslosen, über die fernen Hügel hin zurufen: »Sehet, der Heiland schreitet vor mir! Sehet den Sohn, den ihr zeugtet und welcher euch mehr als die anderen Sorgen und Schmerzen bereitet hat: er schreitet jetzt in des Heilandes Fußstapfen!« Bald wollte er schreien: »Errettet euch vor den Schrecken des Untergangs!«

Vielleicht war Jesus Christus, der eingeborene Sohn des allmächtigen Gottes, wirklich wiederum auferstanden! Weshalb sangen die Lerchen eigentlich heut so laut? Weshalb rasten sie förmlich in den Lüften? Wußte der Bruder Nathanael eigentlich, oder nicht, wer neben ihm ging? Er sprach, und man konnte es nicht heraushören.

Nathanael hatte den Namen einer gewissen Dorothea Trudel genannt, einer Schweizerin, die in der Nachfolge Jesu so weit gegangen war wie Paulus und Silas, Kranke gesund zu machen. Von dieser Frau, so sagte der Bruder, gehe ein großer Segen aus; derer, die da gesund geworden wären durch sie an Leib und Seele, seien unzählige. In Mennedorf am Züricher See habe sie eine Anstalt errichtet, wo allerlei Sieche und vom Teufel Besessene Aufnahme und Behandlung fänden. Ihr Glaube sei groß, behauptete er; er müsse groß sein, denn ihr Gebet sei von einer gewaltigen Kraft. Zwar habe sie noch keine Toten aus dem Grabe erstehen machen, aber durch Handauflegen und Beten habe sie manchen vor dem jähen Sturz in Tod und Verdammnis bewahrt. Der Bruder hatte selber viele Blinde gesehen, die später sehend geworden waren, rasende Veitstänzer, die ein bescheidenes, geistliches Wesen durch Dorothea wiedergewonnen hatten, und anderes mehr.

Der Bruder Nathanael Schwarz befand sich selbst auf dem Wege zu einem Kranken. Er meinte, man müsse vorsichtig sein und stets auf der Hut vor den ränkesüchtigen Kindern der Welt. Auch Dorothea Trudel wäre des öfteren mit den Ärzten, mit ihrer teuflischen Wissenschaft und mit den weltlichen Obrigkeiten zusammengestoßen. Jede Verfolgung habe sie aber nur froher und heiterer im Herrn gemacht; es sei Pflicht jedes Christen, Verfolgungen zu erleiden nach dem Vorgang des Heilands und seiner Apostel, und so habe auch er sich frei von Furcht und bereit gemacht.

Und er fing an aufs neue in Eifer zu geraten wider den Fluch der Weltlichkeit, aber der bleiche Begleiter blieb ernst und friedfertig. Er sagte: »Ich kann nicht eifern, ich kann nicht hassen!« – Und er forschte den Bruder Nathanael ohne Hast, doch mit einem merklich niedergehaltenen, brennenden Anteil aus, ob der auf dem rechten Wege wäre, der Werke zu tun wie Paulus und Silas in Hoffnung sei, und ob man – hier überflog verräterische Röte des Narren Gesicht – im Glauben so fest zu werden wünschen dürfe, im Namen Jesu ein Erwecker der Toten zu sein.

»Was kann ich dich lehren? Lehre du mich!« sagte Bruder Nathanael mit jäher Ergriffenheit. Und sie setzten sich nieder in gelbe Maiblumen, vor sich ein junges Feld von bläulichen Halmen, am Wegrain, unter einen alten, einsam stehenden Eichenbaum.

Emanuel Quint war sichtlich durch die Worte des Bruders tief bewegt. Leise Schauer und Zuckungen gingen wiederum über sein Gesicht. Mit einer fast schmerzlichen Spannung verfolgte der junge Kurt Simon diese Vorgänge. Einen Augenblick ging es durch seine Seele, ob wohl dies eigentümlich berückende Spiel der beiden ein abgekartetes und zum Zwecke seiner Bekehrung oder Erweckung erfundenes sein könne. Aber sogleich verwies er diesen Gedanken weit hinweg.

Schließlich, um von dem Eindruck des Wunderbaren nicht länger befangen zu sein, gestand er sich, daß der Bruder und jener ärmliche Mensch in Lumpen nur Dinge geredet hatten, wie sie in einem gewissen Kreise von »Stillen im Lande« alltäglich sind. Es kam hinzu, daß jetzt der Bruder eine gewaltige schwarze Ledertasche öffnete, die er, über dem fadenscheinigen Düffelüberrock, an einem breiten Riemen stets mit sich trug, und ihr eine Flasche Wein, einen halben Laib Brot und ein Näpfchen mit Butter entnahm und neben sich stellte. Die Sonne, die, jetzt schon höher gestiegen, die Fächer und braunen Innenflächen der Tasche beschien, entdeckte dem jungen Landwirt außerdem sauber geordnete Schichten frommer Traktätchen, wie sie der Bruder verkaufte oder an Kinder umsonst vergab: dadurch entstand in ihm eine gewisse Ernüchterung zugleich mit einem rein irdischen Wohlbehagen.

Es schien auch, als nähme die rings entfaltete Schönheit der Frühlingserde nun ihr Recht an den drei so äußerst verschiedenen Wanderern, indem sie ihre Seelen durchdrang und an sich sog. Zurückgelehnt in das saftige Gras, ruhte versonnen der rote Emanuel, und man wußte nicht, ob das wachsende Entzücken seiner Mienen mehr durch ein inneres oder mehr durch das äußere Gesicht veranlaßt wurde. Gestützt auf den linken Arm, hielt er seine rechte, edelgeformte, wenn auch mit Sommersprossen besäte Hand wie eine Röhre gekrümmt, und der Landwirt sah, wie bald eine Wespe, bald eine Biene sorglos vertraulich durch diese Röhre kroch. Indessen hatte Bruder Nathanael sich zu einem in Steinwurfsweite entfernten Quell begeben und hatte die Flasche hineingelegt. Man konnte den weißgrauen, buschigen Kopf, der mehr einem alten, verwetterten Kriegsmann aus Luthers Zeit als einem Diener am Wort und Verkünder des Friedensreiches ähnlich war, von Zeit zu Zeit über Weiden- und Rüsterngebüsche auftauchen sehen. Unweit von den Zurückgebliebenen lag der breite, in Regen, Schnee, Hagel und Sturm erprobte erdfarbene Schlapphut des Abwesenden, darunter sein Stab und nahe dabei die Tasche, an einen der machtvoll gekrümmten Wurzelarme der Eiche gelehnt.

Mit keinem Worte hatte der junge Kurt Simon, seit der Fremde erschienen war, sich hervorgewagt. Jetzt hörte er sich auf einmal sagen, daß es ein herrlicher Morgen sei. Der Narr sah ihn an. »Ja«, gab er zur Antwort, »der Morgen ist schön; aber der Tag, dem kein Abend folgt, wird noch schöner sein!« Der Eleve errötete. »Was wir hier sehen«, fuhr der Sprechende fort mit der leisen Bewegung inneren Jubels in der Stimme, »ist nur so viel, als wir jetzt zu ertragen imstande sind. Es ist nur der tausendfältig verminderte Abglanz dessen, was einstmals sein wird. Es ist von diesem Abglanz, muß man sagen, wieder nicht mehr als der Bericht eines Boten! Ein Wort, ja ein Laut kaum aus diesem Bericht.« – Wie wird's sein, wie wird's sein, wenn ich zieh' in Salem ein! jubilierte Kurt Simon inwendig.

Die Nähe des Narren verführte den jungen Menschen zu einem Gefühl überschwenglicher Hoffnung und zu einer Geborgenheit darin. Er beschloß bei sich, in einem gegebenen Augenblick den ganzen Inhalt seiner verschlossenen Seele mit ihrer Selbstqual und Sündenangst vor diesem Menschen auszuschütten. Es fehlte nicht viel, so hätte er ein Notizbüchlein hervorgeholt, das Verse von seiner Hand enthielt, und diese Emanuel vorgelesen. Es weinte in diesem Gedicht von Selbstanklage, von Abkehr und Überwindung der Welt, die dem heißen, in Liebe überwallenden Herzen nur Kälte und Gleichgültigkeit entgegenbrachte. Es schwoll darin von schmerzhaft entzückter Sehnsucht nach reineren Sphären auf:

wo liebend alles sich umschlingt und nur ein einziger hoher Wille mit Donnerton das All durchdringt.

Und seine Verwandten hatten davon nur den befremdenden Eindruck unnützer, überspannter Redensarten gehabt.

Quint streichelte plötzlich seine Hand, als habe er etwas von dem, was Kurt Simon bewegte, erraten: »Mein Joch ist sanft; meine Last ist leicht! Und es ist und bleibt eine frohe Botschaft«, sagte er dann mit dem Klange froher Zuversicht und Fröhlichkeit, ohne daß seine Stimme die melodiöse Ruhe verlor oder heftig und laut wurde.

Der Bruder, als er zurückkam, kniete ins Gras – ein Beispiel, dem Quint und Kurt Simon nachfolgten –, faltete seine Hände und betete: »Komm, Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast!« – Hierauf brach er das Brot, und während sie aßen, wurde erörtert, wie das Sakrament des Abendmahls den Sinn einer täglichen Handlung habe, nicht nur zu einer Erinnerung. Sogar das kleine Gebet besage dies schon. Jede Mahlzeit sei ein tierisches Mahl, wo Jesus, der Herr, nicht zugegen wäre. Sofern er aber zugegen sei, werde es eine heilige Handlung, man genieße dann Himmelsbrot und Himmelswein.

Und so genossen sie wirklich himmlisches Brot und himmlischen Wein in jener Verklärung, darin schon Quint und die Brüder Scharf miteinander gegessen hatten, nur daß diese Verklärung im Lichte des Frühlings unter dem ehrfürchtigen Flüstern und im Schatten des weitverbreiteten Eichenwipfels diesmal eine noch hochgestimmtere war als bei tiefer Nacht in dem Hüttchen der Brüder.

Wer will entscheiden, ob diese drei mit ihren Gedanken und Taten Unrecht begingen und schwere Sündenschuld auf sich luden, indem sie die Kirche gemieden hatten, deren Glocken soeben in der Ferne zu läuten begannen, und dadurch, daß sie etwas vom Regiment der Kirche Verbotenes aus kindlicher Liebe zu Jesu und ganz einfältiger Gläubigkeit unternommen hatten? Jedenfalls bemächtigte sich der drei eine reine und gleichsam bebende Fröhlichkeit, die sie weit über alles Gemeine erhob, ja fast zu weit von dem nüchternen Grunde der Erde entrückte.

Das Wort des Herrn: »Wenn zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, so bin ich mitten unter ihnen« vereinte sie; denn sie zweifelten nicht an diesem Wort, und es kam ihnen auch der Gedanke nicht, es wäre irgend dahin zu deuten, als müßte der Heiland, um zu seinen verirrten Schäflein zu kommen, durchaus erst den Weg über eine Kanzel, eine Abendmahlszeremonie und durch den Mund eines Bischofs, Pastors oder besonders geprüften Gottesgelahrten gehn.

Sie waren einig, und dieses Gefühl der Einigkeit war zugleich ein Gefühl verbindender Wärme. Die Liebe in ihren Herzen war befreit, die Liebe zu einem unsichtbar Gegenwärtigen, darin sie sich trafen und genugtaten. Das Märchen des Frühlings, das sie von allen Seiten umgab, mit leuchtenden Farben, Insektengesumm und Blumenduft, vermischte sich mit dem Zauber der heiligen Legende von Jesus, dem Sohn der Jungfrau und Gottes Sohn, und das Liebesgeheimnis seiner Geburt und irdischen Pilgerschaft, seines Leidens, Sterbens und Auferstehens, seiner heiligen Ferne und Gegenwart erzeugte in diesen dreien ein mystisches Glück.

»Über ein kleines, so werdet ihr mich nicht sehen; und aber über ein kleines, so werdet ihr mich sehen.« Fast zweitausend Jahre nach Christi Geburt klangen die Worte nicht anders in diesen Menschen wider, als habe sie Jesus zu ihnen gesagt und als wären sie nicht aus alten Schriften genommen worden.

Sie redeten von der Wiedergeburt, und bei dieser Gelegenheit gab sich der Bruder Nathanael Schwarz als Anhänger einer verstreuten Sekte zu erkennen und bewies aus der Schrift, daß die Taufe von Kindern mehr eine kirchliche Greuel als eine Handlung im Sinne des Heilands sei. Nur der erwachsene Mensch, behauptete er, könne, nach ernsthafter Prüfung seiner selbst, auf dem Wege der Buße und Läuterung aus klarem, freiem Entschlüsse des Sakramentes teilhaftig werden. Er entwickelte, ganz nach der Lehre der Wiedertäufer, seine Ansicht mit großer Eindringlichkeit und gab zu verstehen, daß niemand die Pforte zum schrecklichen Heidentum hinter sich fest genug verschlossen habe, der ohne die wahre Taufe geblieben sei.

Nachdem sie gegessen und auch getrunken hatten, erhoben sie sich und überließen es einer Schar von Finken und Ammern, die Brosamen aufzupicken. Der Bericht, die Taufe betreffend, hatte Quint und auch den jungen Kurt Simon in eigentümlicher Weise neu bewegt. Der Landwirt blieb in Gedanken versunken, indessen der Narr im langsamen Weiterschreiten vor dem Taufgesinnten eine Art zögernder Beichte begann. Er bat Nathanael, schonungslos mit ihm ins Gericht zu gehen und ihm, nachdem er werde seine eigenmächtigen Taten und eitlen Beweggründe – oder wenigstens einige unter ihnen – erfahren haben, frei zu bekennen, ob er Vergebung erlangen könne und welchen Weg der Buße er gehen müsse, um seiner Taufe würdig zu sein.

»Ich habe mich unterfangen«, fuhr Quint fort, »als ein Sünder Sündern zu predigen. Weil ich verachtet bin, habe ich ganz besonders das Wort der Schrift ergriffen, wo der Heiland sagt, wer Glauben habe, werde dieselben Wunder tun als er und größere. Um meine Feinde dadurch in Demut niederzubeugen, wollte ich Zeichen und Wunder tun. Seit ich denken kann, habe ich mich an diesen Gedanken geklammert. Jahrelang ging ich, in mich verschlossen, umher und träumte davon, ein wundergewaltiger König und Gott zu sein. Ich habe mich selber als Götzen verehrt und angebetet. Mein Sinn stand durchaus nicht darauf, die Lahmen gehend, die Blinden sehend, die Schmerzgequälten von Schmerzen freizumachen, vielmehr ich wollte nicht nur von mir, sondern von hoch und niedrig rings um mich her bestaunt und vergöttert sein.«