Ballonglühen - Peter Wark - E-Book

Ballonglühen E-Book

Peter Wark

4,4

Beschreibung

Ein umstrittenes Strassenbauprojekt quer durch die unberührte Alblandschaft erhitzt die Gemüter. Inmitten aller Diskussionen kommt es zu einem tragischen Unglück. Beim Absturz eines Heißluftballons gibt es zwei Opfer: Der Bauunternehmer, der die umstrittene Trasse baut und - ausgerechnet - der Referent im Landratsamt, der die Trasse zu genehmigen hat. Zufall? Als Unfallursache gehen die Ermittler von einem technischen Defekt am Ballon aus. Jörg Malthaner, in Albstadt lebender Journalist, der für die Landeszeitung in Stuttgart aus seiner schwäbischen Idylle berichtet, kommt dies seltsam vor, und er vertieft sich in den Fall. Die Ereignisse überschlagen sich: eine Geiselnahme in einer Albstädter Realschule, ein mysteriöser Leichenfund und nebenbei eine ganz private Beziehungskrise.

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Peter Wark

Ballonglühen

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2003 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Isabell Michelberger

Vorwort

Um allen Spekulationen vorzubeugen: Die vorliegende Geschichte ist ein Roman und damit rein fiktiv. Die Handlung ist frei erfunden. Handelnde Figuren ebenso. Das gilt für Täter, Opfer und die Personen in der Grauzone dazwischen. Insbesondere sämtliche Amts- und Funktionsträger sowie die in diesem Buch geschilderten Ballonsportler sind ausschließlich ein Fantasieprodukt und orientieren sich nicht an lebenden oder bereits verstorbenen Personen. Keine der Albstädter Ballonfahrergruppen diente als Vorbild für diesen Kriminalroman. Das geht schon daraus hervor, dass die real existierenden Ballonsportgruppen nicht als Verein organisiert sind.

Die Form des Romans ermöglicht es, ein Straßenbauprojekt zu schildern, das es so in der Realität nicht gibt, nie gegeben hat und hoffentlich nie geben wird. Allerdings wird sich der eine oder andere mit den Gegebenheiten vertraute Leser daran erinnern, dass entsprechende Pläne vor vielen Jahren mehrfach angedacht wurden. Es sollte in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben, dass es in der Stadt tatsächlich ein Tunnelbauprojekt gibt, das gegen erbitterten Widerstand von Teilen der Bevölkerung realisiert wird.

Mein Dank gilt allen Personen, die mich bei den Recherchen zu diesem Roman unterstützt haben. Besonderer Dank geht an Iris und Reiner G. sowie Dr. Reiner M. und Werner S. (war ein netter Abend!), die mir viele Fragen zum Ballonsport beantwortet haben. Dank auch an den Freund mit viel kommunalem Insiderwissen, der ungenannt bleiben möchte (»Wenn mein Name auftaucht, rede ich nie mehr mit dir!«).

Erstes Kapitel

1

Es war eine echt schlimme Geschichte.

Eine verdammte Tragödie.

Theo Reiher, der Pressesprecher der Polizei, hatte nicht übertrieben, als er ihn vor zwanzig Minuten angerufen hatte. Das wurde dem Journalisten Jörg Malthaner klar, als er schon im Näherkommen das Aufgebot an Polizisten, Sanitätern, Helfern und Gaffern sah. Malthaner hatte sich in seinem betagten Saab an einen blau lackierten, uralten Mannschaftstransportwagen des Technischen Hilfswerks gehängt. Das Mercedes-Ungetüm aus einer anderen automobilen Epoche steuerte Ruß speiend und enervierend langsam das gleiche Ziel an wie Jörg Malthaner.

Ein Geschehnis von außergewöhnlicher Dimension hatte sich abgespielt.

Ein Heißluftballon war abgestürzt. Brennend. Beide Insassen tot. Das war es, was ihm Theo Reiher am Telefon sagen konnte. Mehr war noch nicht bekannt. Der Polizeisprecher hatte das Wort von der Katastrophe benutzt.

Beißender Gestank, der nicht alleine vom Diesel des Lastwagens herrührte, drang trotz geschlossener Autoscheiben in Malthaners Nase. Der THW-Laster wurde von zwei Uniformierten, die sich erstaunlich ähnlich sahen, an der Polizeiabsperrung energisch durchgewunken. Ganz im Gegensatz zu Malthaners Saab. Die Aufgabe der beiden Polizisten bestand wohl darin, darauf zu achten, dass nicht noch mehr Unbefugte auf dieses Wiesengelände neben der Kreisstraße im Albstädter Stadtteil Tailfingen gelangten, als sich ohnehin schon dort versammelt hatten. Woher sie an diesem Werktag morgens um halb elf alle kamen, war Malthaner schleierhaft.

Einer der beiden Vertreter der Staatsgewalt blickte unsicher auf das Presseschild, das Malthaner ihm aus dem Auto heraus unter die Nase hielt. So etwas hatte er in seinem vermutlich schon ewig währenden Polizistenleben noch nicht allzu oft gesehen. Das Stuttgarter Kennzeichen an Malthaners alter Limousine schien die Zweifel des Polizisten zu bestärken. Auch Malthaners Erklärung, dass er für die Landeszeitung in Stuttgart arbeite, konnte daran erst Mal nichts ändern. Was hatte ein Stuttgarter Pressefritze hier auf der Schwäbischen Alb zu suchen? Der Polizeibeamte wusste nicht so recht, wie er sich zu verhalten hatte. Der siamesische Zwillingsbruder des Beamten vermittelte den Eindruck, als ginge ihn alles nichts an. Als Malthaner versicherte, dass Theo Reiher ihn benachrichtigt hatte, durfte er schließlich passieren. Reiher musste sich irgendwo auf dem Gelände herumtreiben. Der Pressesprecher, der seiner baldigen Pensionierung mit großer Freude entgegensah, wie er bei jeder Gelegenheit betonte, genoss im Zuständigkeitsbereich der Polizeidirektion allgemein aufrichtige Wertschätzung.

Malthaner steuerte den Wagen noch zwanzig, dreißig Meter im Schritttempo weiter; vorbei an Altglas- und Papiercontainern, die man hier – ein ganzes Stück weit weg von der nächsten Wohnbebauung – aufgestellt hatte. Allzu lange würde es nicht mehr dauern, bis sich die Wohnhäuser an die Container herangearbeitet hatten, denn das neue Baugebiet linker Hand füllte sich zusehends mit Rohbauten. Immer wieder wunderte sich Malthaner darüber, wie so viele junge Leute sich das Bauen leisten konnten. Arbeitslosigkeit war spätestens seit Anfang der Neunzigerjahre ein großes Problem für die Region. Die Industrie hier oben auf der Alb schwächelte schon lange. Immer mehr produzierende Betriebe machten dicht und es kam einfach kaum etwas nach. Trotzdem mussten die Städte und Gemeinden ständig neue Wohnbaugebiete ausweisen. Vielleicht lag das Häuslebauen den Schwaben doch in den Genen, wie außerhalb Baden-Württembergs sowieso vermutet wurde.

Es war außergewöhnlich heiß für die frühe Stunde des Tages. Stickige Luft umgab Malthaner, aber wegen des Brandgeruchs wollte er weiterhin weder Scheiben noch Schiebedach öffnen. Der abstoßende Brandgestank drang auch so schon durch alle Ritzen.

In der Ferne sah Malthaner die Großbaustelle, die die Bewohner Albstadts in Befürworter und Gegner trennte. Unversöhnlich, wie es schien.

Ein gewaltiges Straßenbauprojekt sollte hier gegen den erklärten Willen eines großen Teils der Bevölkerung entstehen. Eine Straßenverbindung zwischen zwei Stadtteilen, deren Sinn sich kaum jemandem erschließen konnte. Malthaner gehörte erklärtermaßen zu den Gegnern des Projekts.

In direkter Nachbarschaft zu der Baustelle war das Ballonunglück passiert. Überall standen, gingen und rannten irgendwelche Leute herum. Frauen und Männer mit gequältem Gesichtsausdruck in allen Sorten von Uniformen: Polizei, DRK, Feuerwehr, THW. Ein paar Typen in den uniformähnlichen Overalls eines der Albstädter Ballonsportvereine waren ebenfalls dabei. Wild gestikulierend und Entschlossenheit demonstrierend die einen; stumpf, müde, entsetzt dreinblickend andere.

In dem Durcheinander konnte Malthaner den Kollegen Volker Vogt ausmachen. Der junge Redakteur vom Albblatt, der lokalen Tageszeitung, interviewte einen bleichen Mittfünfziger in DRK-Kluft, unter dessen Achseln sich pizzagroße Schweißflecken gebildet hatten.

Ein halbes Dutzend Polizeiautos, zwei Krankenwagen, der Kombi des Notarztes, eine Hand voll Pkws und mehrere Jeeps standen kreuz und quer auf dem Gelände herum. Jörg Malthaner ließ sein Auto neben einem silberfarbenen Mercedes-Geländewagen ausrollen, auf dessen Tür das Logo einer Ballonfahrergruppe prangte.

Er schwang sich aus dem Saab, nachdem er den kleinen Notizblock aus dem Handschuhfach genommen hatte. Es stank geradezu widerlich nach Verbranntem. Menschenfleisch?, fragte er sich. Wie roch verbranntes Menschenfleisch? Unmerklich schüttelte er sich. Hitze umfing ihn. Was für ein Brutofen schon am Vormittag. Bis zur Mittagsstunde würde das Thermometer auf über 30 Grad klettern. Dass sich die Luft auf solche Temperaturen erhitzte, kam auf der Schwäbischen Alb selbst im schönsten aller Hochsommer nicht gerade häufig vor.

Malthaner seufzte und steckte das Notizheft in die linke Gesäßtasche seiner leichten Baumwollhose. In seinem Inneren tobte der übliche Kampf. Er wollte eigentlich nichts von Toten, von Unfällen, von schrecklichen Schicksalen wissen. Aber er wollte auch ran an die Geschichte, ran an die Sensation, an das schreckliche Geschehen, das sich hier ereignet hatte. Ran an das Thema, das den Leuten in und um Albstadt für die nächsten Tage Gesprächsstoff liefern würde. Ein Ereignis, das das Leben zweier Männer ausgelöscht hatte, wie Theo Reiher vorhin am Telefon berichtete.

Den Pressesprecher konnte Malthaner in dem ganzen wilden Durcheinander nirgends entdecken. Der Journalist versuchte, sich innerlich vor dem zu wappnen, was er gleich zu Gesicht bekommen würde. Versuchte, sich dieser Tragödie mit professioneller Distanz zu nähern.

Nein, ganz egal, was dort drüben passiert war: Jörg Malthaner würde deshalb in der kommenden Nacht nicht schlecht schlafen, davon war er überzeugt. Wenn sich die schlimmen Ereignisse anderswo im Lande ereigneten, war ihm das allerdings lieber, denn Albstadt war seine Heimatstadt, und hier war seit über einem Jahr auch wieder sein Lebensmittelpunkt. Persönliche Betroffenheit ließ sich da kaum vermeiden. Die Wohnung in Stuttgart hielt Malthaner nur noch pro forma. Es kam seit Monaten nur noch selten vor, dass er dort übernachtete. Mit seinem Hauptauftraggeber, der Landeszeitung, bei der er lange fest als Redakteur angestellt gewesen war, hatte der freie Journalist ein überaus angenehmes Arrangement getroffen. Das ermöglichte es ihm, die meisten seiner Tage auf der Alb zu verbringen und hier die eine oder andere interessante Geschichte für die Zeitung zu recherchieren. Ein-, zweimal die Woche fuhr er nach Stuttgart in die Redaktion.

Er straffte seinen Körper. Es war Teil seines Jobs, den Lesern der Landeszeitung über Dramen, Tragödien und Katastrophen zu berichten. Sie lechzten danach, fast alle, ob sie es nun zugaben oder nicht. Viel mehr noch lechzten die leitenden Redakteure nach diesen Geschichten. Lass sie glauben, das verbrannte Fleisch selbst zu riechen, das Blut fließen zu sehen: Das war die Erfolgsformel, um ungekürzt ins Blatt zu kommen. Auch bei einer seriösen Zeitung.

Malthaners Blick schwenkte über die Szenerie. Das hier, so kam es ihm vor, war sein ureigenes Territorium. Heimatboden. Hier hatte er als Kind gespielt, vor 30 und mehr Jahren. Und an dieser Stelle kam er immer wieder auf seinen Mountainbiketouren vorbei. Mit Brigitte, seiner Lebensgefährtin, ging er oft hier auf den Höhen spazieren. Der Platz war beliebt bei den Ballonsportgruppen. Mehrere von ihnen starteten mit ihren Heißluftballons regelmäßig von diesem Wiesengelände aus. Wie oft hatte er hier zugeschaut, wenn sie die Ballons startbereit gemacht hatten und dann abgehoben waren. Immer wieder war das ein beeindruckendes Spektakel.

Im vergangenen Herbst hatte Jörg Malthaner für die Landeszeitung eine ganzseitige Reportage über das Ballonfahren auf der Alb geschrieben. Während der Recherchen durfte er mehrfach in verschiedenen Ballons mitfahren. Ein Erlebnis, jedes Mal. Er hatte einige Leute aus der Ballonfahrerszene ganz gut kennen gelernt. Ein überaus nettes Völkchen im Allgemeinen. Ausnahmen bestätigten die Regel.

Volker Vogt, der Lokalredakteur, winkte mit einer laschen Handbewegung herüber. Er wirkte angespannt. Seinen üblichen lausbübischen Charme hatte er an diesem Tag offensichtlich zu Hause gelassen. Mit einer knappen Geste grüßte Malthaner zurück. Ein Audi-Kombi rollte knapp an Vogt vorbei und hätte ihm fast die Zehen abrasiert. Der junge Reporter schien es gar nicht zu realisieren. Am Steuer des Kombis machte Malthaner Klaus Konz aus, den Leiter der Albstädter Kriminalaußenstelle. Der Audi rollte unter einen der Bäume, die ein geschottertes Viereck abgrenzten, das einen Parkplatz darstellen sollte. Zwischen dem groben Kies kämpfte hier und da ein Büschel Gras einen aussichtslosen Kampf. Der Parkplatz wurde gerne von Spaziergängern genutzt, die hier vor allem an Wochenenden in großer Zahl unterwegs waren. Alle zwei Jahre fand auf diesem Gelände eine Gewerbeausstellung statt, und hin und wieder ließen sich kleine Zirkusunternehmen für ein paar Tage auf diesem Parkplatz nieder, nicht immer nur zur Freude der Stadtverwaltung und der Bewohner dieses Ortsteils.

Malthaner kämpfte sich zum Zentrum des Geschehens vor, dem abgestürzten Ballon, der auf einem angrenzenden Wiesengelände lag; beziehungsweise zu dem, was von diesem Stolz der Lüfte übrig geblieben war.

2

Das Schlimmste waren die beiden Tücher.

Im Abstand von etwa fünf Metern lagen die Leinentücher über die toten Körper der beiden Balloninsassen ausgebreitet. Der Notarzt war nicht zu sehen. Er hatte sich wohl schon mit ihnen beschäftigt. Sie brauchten ihn nicht mehr.

Etwas verkrampfte sich in dem Reporter. Ein halbes Dutzend Polizisten in Zivil verstärkte all die Uniformierten. Die Zivilbullen fummelten an den Einzelteilen des Ballons herum.

Malthaner zog sein Notizbuch aus der Gesäßtasche und zwang sich, emotionslos zu bleiben. Er beobachtete, prägte sich die Szenerie ein, machte ein paar Notizen. Die Ballonhülle lag schlaff auf dem Boden; zusammengefallen, luftleer, aber noch immer von beeindruckender Größe. Sie war nicht gänzlich verbrannt, aber fast überall angesengt. Der einstmals bunte Aufdruck auf der Hülle war mehr zu erahnen als tatsächlich zu sehen. Trotzdem erkannte Malthaner das Emblem eines Albstädter Bauunternehmens, das den Ballon gesponsert hatte.

Diesen Ballon hatte er oft in der Luft über Albstadt gesehen. Der freie Mitarbeiter der Landeszeitung erinnerte sich an das, was er bei seinen Recherchen zu der Ballon-Reportage gelernt hatte: Ballonhüllen müssen hitzebeständig und reißfest sein. Die Temperatur in der Ballonhülle übersteigt während einer Fahrt oftmals 100 Grad Celsius. Die meisten Hüllen bestehen aus Polyamid und haben eine auf etwa 500 Betriebsstunden begrenzte Haltbarkeit. Spätestens nach 100 Fahrtstunden mussten sie technisch überprüft werden.

All diese Fakten lagen in seinem Gedächtnis gespeichert und er musste sie nur abrufen. Ja, er hatte seine Hausaufgaben gemacht!

Der Passagierkorb des Ballons lag etwa 15 Meter weiter auf dem freien Feld und schien nicht einmal allzu sehr beschädigt zu sein. Das irritierte Malthaner ein wenig. Er heftete den Blick auf den Korb. Sah aus wie Omas Wäschekorb in groß. Aus Weidengeflecht gefertigt und am oberen Rand rundum mit dickem Leder gepolstert. Unten war die Holzbodenplatte herausgebrochen. Mitsamt den Schleifleisten. Drei Männer machten sich am Korb zu schaffen. Die beiden spiralenförmigen Doppelbrenner, deren Aufgabe es noch vor wenigen Stunden gewesen war, nach dem Zug am Hauptgasventil hohe Flammen in die Hülle zu spucken, befanden sich irgendwo dazwischen auf der großen Wiese und dem angrenzenden Acker. Wie auf dem Schlachtfeld, kam Malthaner ein abgedroschenes Bild in den Sinn, das er nie in einem Artikel verwenden würde.

Verstreut lag allerhand weiteres Ausrüstungsmaterial herum: Das Sprechfunkgerät, Umlenkzüge, Rollen, Haken, Befestigungen, Lastbänder. Aus der Nähe konnte er es nicht sehen, denn die Polizei hatte mit weiß-rotem Absperrband eine Bannmeile um den abgestürzten Ballon gezogen, vor der sich die Schaulustigen drängten. Rentner meist, von ihnen gab es hier viele, denen diese Gegend wunderbare Spaziermöglichkeiten ohne große körperliche Belastung bot. Aber auch vom Baugebiet nebenan waren Arbeiter gekommen, die sich am allgemeinen Palaver beteiligten und allerlei wilde Theorien über die Absturzursache aufstellten. Ihr Verhalten wirkte nicht gerade besonders pietätvoll angesichts des Ereignisses, das sich zugetragen hatte. Vermutlich waren auch die Arbeiter vom Straßenbau da. Jetzt erst registrierte Malthaner, dass der Werbeaufdruck auf dem abgestürzten Ballon das Logo der Baufirma darstellte, die das gewaltige Bauprojekt federführend betrieb.

Wenn Malthaner den Hals reckte und auf die große Baustelle dort drüben, 200 oder 300 Meter entfernt, starrte, dann konnte er keine Bewegung ausmachen. Das Unglück hatte die Baustelle lahm gelegt. Alle Räder stehen still, wenn das Schicksal es will.

Er wendete den Blick ab. Als er sich umdrehte, sah er Theo Reiher direkt in die Augen. Malthaner hatte nicht mitbekommen, dass sich der Pressesprecher der Polizei ihm genähert hatte.

»Guten Morgen«, begrüßte Malthaner ihn. Sie schüttelten sich die Hände.

»Ich weiß nicht, was an diesem Morgen gut sein soll«, knurrte Reiher zurück, der wie immer in Zivil gekleidet war. Er trug eine Jeans, dazu ein kurzärmeliges blaues Hemd und eine dunkelblaue Krawatte. Er schwitzte, wie alle der Umstehenden. Reiher war über sechzig, wirkte aber immer noch drahtig. Er war wirklich fit. Der Polizeisprecher war als guter Läufer bekannt und trainierte regelmäßig. Bei allen Breitensportlaufveranstaltungen in der Region nahm er teil und trug sich in seiner Altersklasse meist weit vorne in die Siegerliste ein. Er hatte in etwa die Größe Malthaners. Lebhafte blaue Augen musterten den Journalisten, dem es vorkam, als hätte sich Reihers Haaransatz seit ihrem letzten Zusammentreffen ein gutes Stück zurückgezogen. »Wir machen um elf eine improvisierte Pressekonferenz«, informierte Reiher. »Drüben beim Wagen der Einsatzleitung.« Er wies mit der rechten Hand auf einen Mercedes Vito in Polizeilackierung und mit abgedunkelten Scheiben.

»Was ist genau passiert?«, fragte Malthaner.

»Sie werden es gleich bei der Pressekonferenz erfahren. Üben Sie sich noch eine Viertelstunde in Geduld«, antwortete Reiher und verzog sein ausdrucksstarkes Gesicht leicht. »Auch wenn das nicht Ihre Stärke ist. Ich will die Fakten schließlich nicht zehnmal erzählen.«

»Wenn Sie sie mir einmal erzählen, reicht mir das. Vorerst.«

Reiher schüttelte den Kopf und versuchte sich belustigt an einem belehrenden Blick. »In 15 Minuten.«

Damit machte er auf dem Absatz kehrt und ging auf einen grauhaarigen Polizisten mit zusammengekniffenen Lippen zu, der Autorität ausstrahlte. Die beiden sprachen kurz miteinander. Der Grauhaarige nickte zweimal fast unmerklich, dann trabte er weg.

Ein Pressefotograf mit Drei-Tage-Bart fiel Malthaner auf. Der Mann war ihm als freier Mitarbeiter von dpa bekannt, der für diese Nachrichtenagentur die Region Neckar-Alb betreute. So weit Malthaner wusste, lebte er irgendwo in der Reutlinger Gegend. So gesehen hatte er es verdammt schnell an den Ort des Geschehens geschafft. Vielleicht hatte Reiher ihn aber auch schon längst vor Malthaner informiert. Dann konnte es ja auch nicht mehr lange dauern, bis die Fritzen vom Radio da waren. Gut möglich, dass auch noch das Fernsehen kam. Unglücke verkaufen sich eben besonders gut. Seit dieser seltsame private Fernsehsender die Gegend unsicher machte, mussten auch die Leute vom SWR ihre Beamtenärsche etwas zügiger in Bewegung setzen als früher.

Unbewusst kratzte sich Malthaner an den Bartstoppeln. Kriminalhauptkommissar Klaus Konz, der Kripochef aus Albstadt, unterhielt sich vor der Absperrung mit einem älteren Paar und machte eifrig Notizen. Der Mann, ein kantiger Mensch mit beginnender Glatze, Typ kerngesunder Frührentner, war der Aktivere des befragten Duos. Wild fuchtelte er mit seinem Zeigefinger in der Luft herum. Musste wohl so was wie ein Augenzeuge sein. Bestimmt hatte er eine akkurat nach Süden ausgerichtete Gartenzwergfamilie in seinem Vorgarten stehen. Einen Zwinger mit Schäferhund dazu.

Konz war genervt, wie selbst aus der Entfernung deutlich zu sehen war. Wahrscheinlich schwätzte ihm der ältere Mann, vor dessen Augen sich vor einer Stunde die Sensation seines Lebens ereignet hatte, ein Loch in den Bauch.

Malthaner trottete zum Wagen der Einsatzleitung. Vielleicht ließen sich ja ein paar Informationen aufschnappen, bevor Reiher oder wer auch immer die offizielle Erklärung an das Pressevolk gab. Noch war er nicht ganz bei dem Vito angekommen, als ein gelber Van des SWR vorfuhr. Ein komplettes Kamerateam quälte sich aus dem Fernsehmobil. Sie mussten vermutlich aus Tübingen gekommen sein. Hut ab! Dafür waren sie verdammt schnell hier in Albstadt. Sie machten sich ohne erkennbare Eile ans Werk. Der Reporter erklärte dem Kameramann nach einem kurzen Blick in die Runde, welche Bilder er haben wollte. Dann erkundigte er sich beim erstbesten Uniformierten, wer hier das Sagen hat. Wieder einmal fragte sich Malthaner, warum fast alle Fernsehleute so sehr von ihrer eigenen Wichtigkeit überzeugt waren. Und wieder einmal fiel ihm keine befriedigende Antwort ein. Lässig lehnte er sich gegen den Van der Einsatzleitung.

»Der Herr Malthaner von der Landeszeitung!« Die Stimme, die leutselig aus dem Mercedes-Kleinbus dröhnte, kannte Malthaner. Und damit war es vorbei mit seiner Lässigkeit.

Ein massiger Schädel schob sich aus der offenen Seitentür, der nicht weniger massige Körper hinterher. Der Leitende Polizeidirektor. Ein Mensch, der ganz bestimmt keine Journalisten in seinem Freundeskreis hatte. Falls er überhaupt Freunde hatte. Betont freundlich strahlte er Malthaner an, der es selbst nur zu einem schiefen Grinsen brachte.

»Na, wie geht’s?«, fragte der Polizeichef jovialer als zu ihm passte. Die Pranke des Leitenden Polizeidirektors kam wie ein Geschoss auf Jörg Malthaner zu, der sich leicht überrumpelt fühlte. Das war wohl die Aufforderung, die Hand des Oberbullen zu schütteln. Malthaner tat ihm den Gefallen. »Ganz gut«, antwortete er knapp auf die Frage, die gewiss allem, nur nicht ehrlicher Anteilnahme entsprungen war.

Während Pressesprecher Theo Reiher – ein Mann, der von Berufs wegen zwischen allen Stühlen saß – stets sein Möglichstes tat, um die Journalisten in ihrer Arbeit zu unterstützen, so war der Leitende Polizeidirektor die Fleisch gewordene Presseverhinderungsinstitution. Sein aufgesetzt freundlicher Ton war so echt wie die Zähne der meisten Hollywoodstars. Ein Berufsleben ohne die Schmarotzer von den Medien musste seiner Vorstellung vom Paradies vermutlich nahe kommen. Er trug einen grauen Anzug und eine Krawatte. Bei diesen Temperaturen eine mutige Entscheidung. Auf seiner Stirn hatten sich Schweißtropfen gesammelt. Es war genug Fläche für viel Schweiß vorhanden. Wenn der Polizeidirektor sich vor Ort aufhielt, dann bedeutete das, dass der Absturz des Ballons höchste Priorität genoss. Jetzt musste sich Malthaner nicht mehr fragen, wer die improvisierte Pressekonferenz leiten würde. Nicht Theo Reiher, so viel war sicher.

Jeder Versuch, sich aus den Fängen des Polizeidirektors zu stehlen, war zum Scheitern verurteilt.

»Böse Sache, das hier«, dröhnte er und vollführte mit der rechten Hand eine allumfassende Bewegung. »Na ja, Sie werden es ja gleich erfahren. In drei Minuten beginnen wir mit der Pressekonferenz.« Auf militärische Pünktlichkeit bedacht, der Mann. Ein guter deutscher Beamter. Männlich klopfte er Malthaner auf die Schulter und stapfte auf Kriminalhauptkommissar Klaus Konz zu, der inzwischen sein Gespräch mit dem aufgeblasenen Augenzeugen beendet hatte. Der Leiter der Kriminalaußenstelle Albstadt war Untergebener des Polizeidirektors. So wie Malthaner den Leitenden Polizeidirektor einschätzte, erwartete er von seinen Mitarbeitern, dass sie sich seiner Stellung stets bewusst waren. Die beiden sprachen miteinander. Das heißt, der Chef sprach und Konz nickte. Konz winkte Theo Reiher heran, der ein paar Meter abseits stand und etwas in ein Diktiergerät sprach. Reiher eilte sofort zu Konz und dem Leitenden Polizeidirektor. Jetzt besprachen sie sich zu dritt.

Volker Vogt, der junge Kollege vom Albblatt, kam herangeschlurft. Er sah angegriffen aus. »Mann, was für ’ne große Scheiße«, sagte er. Ohne von Malthaner unterbrochen zu werden, erklärte er, dass sein Bruder Mitglied der Ballonfahrergruppe sei und dass er schon mit dem Schlimmsten gerechnet habe. Gott sei Dank sei sein Bruder aber an diesem Tag beruflich auswärts, wie dessen Frau ihm am Telefon versichert habe.

»Weißt du schon Näheres?«, fragte Malthaner. Vogt hatte ihm vor kurzem das Du auf eine Art und Weise angeboten, bei der Malthaner nicht ablehnen konnte. Aber das war schon in Ordnung.

»Nicht viel. Die beiden Leichen da drüben gehören zu den Alb-Ballonern, ebenso wie der Ballon selbst. War ein Unfall, wie er eigentlich nicht vorkommen dürfte. Es hat anscheinend eine Art Explosion gegeben.«

Die Alb-Balloner waren eine der Gruppen, über die Jörg Malthaner in seiner Reportage berichtet hatte und bei der er mehrfach zu Gast gewesen war. So konnte es also gut möglich sein, dass er die beiden Opfer persönlich kannte. Malthaner musste trocken schlucken.

Vogt redete weiter. »Zum Glück waren keine Passagiere an Bord, sondern nur die beiden Club-Mitglieder.« Müde schaute Volker Vogt seinen Kollegen von der Landeszeitung an.

»Nur zu zweit an Bord?« Irritation bei Jörg Malthaner. Er wusste, dass normalerweise mindestens drei, wenn nicht gar vier Mann zur Besatzung gehörten. Volker Vogt beantwortete die Frage mit einem Nicken.

»Ursache bekannt?«, schob Malthaner die nächste Frage nach.

»Mir konnte oder wollte noch niemand etwas sagen.«

Der Mann vom örtlichen SWR-Hörfunkstudio tauchte auf und nickte Vogt und Malthaner zu. Man kannte sich, lief sich immer mal wieder beim einen oder anderen Ereignis über den Weg. Der dpa-Fotograf gesellte sich zu ihnen und schüttelte allen die Hand. »Endlich mal was los hier oben in dieser Einöde«, sagte er gut gelaunt.

Wie Malthaner angenommen hatte, war auch das Privatradio vor Ort. Eine sehr junge und sehr blonde Reporterin mit Aufnahmegerät stiefelte zum Van, gefolgt von dem Leitenden Polizeidirektor, Kriminalhauptkommissar Konz und Pressesprecher Reiher. Die Vertreter der Staatsgewalt postierten sich vor dem Wagen der Einsatzleitung und bildeten gemeinsam mit den Journalisten einen Halbkreis.

»So, Leute, dann wollen wir mal.« Reiher schien den jovialen Ton seines Chefs übernommen zu haben. Der Reporter des Fernsehteams stieß zu ihnen hinzu. »Wie Sie alle inzwischen wissen, ist heute früh dieses schreckliche Unglück passiert ...«

Dem Leitenden ging es zu langsam. Er schnitt seinem Pressesprecher einfach das Wort ab und übernahm selbst das Kommando. Hielt das wohl für einen Ausdruck von Führungsstärke. Reiher schaute pikiert zu Boden. »Die Alarmierung über 110 erfolgte um 9.45 Uhr per Handy durch einen Spaziergänger«, klärte der Polizeichef laut und deutlich auf. Der Frührentner-Typ wahrscheinlich. »Er gab an, dass ein Heißluftballon aus einer Höhe von etwa fünf oder sechs Metern Höhe abgestürzt sei, nachdem er in Brand geraten war. Die erste Streife war zwölf Minuten später am Unfallort. Zeitgleich mit dem Notarztwagen. Als das erste Einsatzfahrzeug der Feuerwehr eintraf, war der Brand bereits erloschen.«

»Weiß man schon etwas über die Identität der Opfer?«, warf Vogt ein. Er hatte sich die Information ja schon aus einer anderen Quelle besorgt und wollte wahrscheinlich nur eine Bestätigung.

Triumphierend schaute der Leitende Polizeidirektor in die Runde. »Ja, natürlich. Es handelt sich um zwei männliche Personen, 49 und 55 Jahre alt, beide wohnhaft in Albstadt. Sie sind beide Mitglied der Ballonsportgruppe Alb-Ballonfahrer. Mehr möchte ich aus Rücksicht auf die Angehörigen noch nicht bekannt geben. Nach dem ersten Augenschein zu urteilen, sind die beiden Männer nicht durch das Feuer, sondern durch den Aufprall des Ballons auf den Boden umgekommen.«

»Alb-Balloner«, verbesserte Theo Reiher seinen Chef, »nicht Alb-Ballonfahrer.« Malthaner blinzelte Reiher zu, der so tat, als würde er es nicht bemerken.

»Gut, gut. Ja. Also sie gehören dieser Ballonsportgruppe an.«

»Können Sie etwas Genaueres über die Absturzursache sagen?«, fragte Jörg Malthaner.

»Wir müssen zunächst einmal von einem technischen Defekt ausgehen«, dröhnte der Polizeidirektor, der inzwischen noch heftiger schwitzte als vorhin. »Näheres wissen wir noch nicht. Aber das festzustellen, wird kein Problem sein. Wenn wir die Absturzursache geklärt haben, wird der Kollege Reiher Sie natürlich umgehend informieren.« Gönnerhaft blickte er seinen Pressesprecher an. »Nach dem Augenzeugenbericht war der Ballon noch in der Startphase. Das heißt, er hatte kurz zuvor vom Boden abgehoben. Etwa eine oder zwei Minuten, bevor er abgestürzt ist, schätzen die Augenzeugen.«

Malthaner nickte in Richtung des Quadratschädels, mit dem Konz vorhin gesprochen hatte und der noch immer fasziniert auf die Absturzstelle starrte und ein paar andere Schaulustige gestenreich über den Unfallhergang aufklärte. »Ist das der Augenzeuge?«

Alle folgten Malthaners Blick. »Ja. Er und seine Frau«, sagte der Leitende Polizeidirektor und schien zerknirscht. Befürchtete sicher, dass sich die Pressemeute gleich auf das Paar stürzen würde. Was durchaus im Bereich des Möglichen lag.

»Ist der Absturz zweifelsfrei ein Unfall?« Es war die Frau vom Radio, die diese Frage stellte. Sie schaute wohl zu viele Krimis im Fernsehen an.

»Was denn sonst?« Der Polizeidirektor schien ehrlich verblüfft zu sein.

»Ich meine ja nur, weil sich Ihre Kollegen von der Kriminalpolizei auch für den Absturz interessieren«, sagte die Reporterin kein bisschen eingeschüchtert und zeigte mit dem Finger auf Klaus Konz, den Kripo-Mann.

»Routine. Bei einem solchen Unfall sind wir immer bei den ersten Ermittlungen vor Ort dabei«, antwortete Konz so schnell, dass der Polizeidirektor keine Chance hatte, vor ihm den Mund aufzumachen.

Der ignorierte den Einwurf. »So, das ist alles, was wir Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt an Fakten nennen können. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit«, dröhnte der Polizeichef, schaute einmal zufrieden in jedes Gesicht und verzog sich in das Innere des Vans. Konz folgte ihm. Ende der Pressekonferenz.

Reiher hatte noch eine kleine Information, die sein Boss anscheinend nicht für sonderlich erwähnenswert gehalten hatte. »Die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung schickt jemanden, der zu den Ermittlungen hinzugezogen wird.«

Den interessierten Blick der Radiotante deutete er richtig. Bevor die Blondine einhaken konnte, schob er nach: »Das ist Routine bei jeder Art von Luftfahrtunfällen. Kein Grund für irgendwelche Spekulationen.«

Die beiden Augenzeugen zu befragen, konnten sich die Journalisten abschminken, wie Malthaner registrierte. Der Kollege von Konz verfrachtete das Ehepaar in den zivilen Audi. Der kantige Frührentner ersoff fast in Selbstgefälligkeit. Gockelhaft stieg er ein und genoss die Aufmerksamkeit der Umstehenden. Das war ein außerordentlich bedeutender Tag in seinem Leben. Davon würde er noch lange zehren.

Malthaner hatte eine weitere Frage an Theo Reiher. »Können Sie sich an einen vergleichbaren Unfall erinnern?«

»Nein«, antwortete der Polizeisprecher knapp. »Ich kann sogar mit Sicherheit sagen, dass wir in diesem Landkreis noch nie ein spektakuläres Unglück mit einem Ballon hatten.«

Kein Wunder. Ballons gehörten zu den sichersten Fortbewegungsmitteln überhaupt, wie Malthaner bei der Arbeit an seiner Reportage gelernt hatte. Unachtsam über die Straße zu laufen barg ein deutlich höheres Sicherheitsrisiko als eine Ballonfahrt.

»Noch eine Frage.« Erneut bohrte Malthaner nach. »Ist es nicht ungewöhnlich, dass zwei Mitglieder einer Ballonsportgruppe ohne Passagiere in die Luft gehen? Schließlich kostet jeder Start eine schöne Summe Geld.« Auch das hatte er seinerzeit bei den Recherchen erfahren. Unter vorgehaltener Hand sozusagen. Es wird versucht, die Ballons so gut wie möglich auszulasten. Eine Fahrt war für einen Passagier längst nicht mehr unter 150 oder 200 Euro zu haben, aber die saftigen Preise hatten durchaus ihre Berechtigung. Leerfahrten waren bei den Besitzern der Ballons und den Sponsoren aus gutem Grund nicht gerne gesehen.

»Eine gute Frage«, schmierte ihm Reiher Honig ums Maul. »Dieselbe Frage haben sich unsere Leute natürlich auch gestellt. Aber es scheint durchaus regelmäßig vorzukommen, dass die Clubmitglieder ohne Fahrgäste aufsteigen. Schließlich sind das durch die Bank Enthusiasten, die ihren Sport lieben. Dass nur zwei Personen in einem Ballon dieser Größe mitfahren, gilt aus Gewichtsgründen wohl als ungewöhnlich, aber keineswegs als unmöglich. So haben uns das die anderen Ballonfahrer erklärt.« In Reihers Augen stahl sich ein Strahlen. »Wenn ich so einen Ballon hätte, würde ich auch gerne mal ohne plappernde Passagiere durch die Lüfte schweben.«

Da hatte er natürlich Recht, dachte Malthaner. »Das wäre doch was für Ihren Ruhestand.«

Reiher ignorierte die Bemerkung. »Keine Fragen mehr?« Der Polizeisprecher blinzelte in die Sonne. Nachdem sich niemand rührte, schüttelte er jedem der Umstehenden einmal kräftig die Hand und folgte seinem Chef und dem Leiter der Kriminalaußenstelle in den Wagen der Einsatzleitung.

»Tja, länger als unbedingt notwendig muss man ja nicht bleiben«, meinte Vogt und verabschiedete sich knapp von den Journalistenkollegen.

Auch Malthaner machte sich auf die Socken. Er war fast schon bei seinem Saab, als ihm Thomas Sailer über den Weg lief, ein netter Kerl, der sich selbst als ballonverrückt bezeichnete. Sailer war Mitglied der Alb-Balloner, mit denen er fast jede freie Minute verbrachte. Selbst besaß er keine Ballonfahrer-Lizenz. Zu teuer, hatte er Malthaner seinerzeit mit einem Ausdruck des Bedauerns erklärt. Sailer kannte sich aber hervorragend mit allem aus, was mit der Ballonfahrerei zu tun hatte. Sie hatten sich bei den Vorbereitungen zu Malthaners Reportage kennen und schätzen gelernt und hatten sich seither immer mal wieder auf ein Bier getroffen. Es sah so aus, als sei Thomas mächtig durch den Wind. Seine blonden Haare klebten an der Stirn und er wirkte, als stünde er unter Schock. »Hallo«, begrüßte er Malthaner leise und drückte ihm kraftlos die Hand.

»Grüß’ dich, Thomas.«

»Tragische Geschichte. Ich kann es noch gar nicht fassen«, kleidete Thomas seine Gefühle in Worte und strich sich in einer verlegenen Geste über den blonden Schnurrbart. Aus seinem olivfarbenen Ballonfahrer-Overall, der etwas von einer Bundeswehr-Uniform an sich hatte, fischte er eine Schachtel Marlboro und steckte sich mit leicht zitternden Fingern eine Zigarette an.

»Kennst du die beiden Opfer?«

»Natürlich. Ist ja mein Verein. Es sind Dieter Messbeck und Stefan Landarius.«

»Messbeck, der Bauunternehmer?«

»Bauunternehmer und stellvertretender Vorsitzender sowie wichtigster Sponsor der Balloner.«

Malthaner sah das Gesicht Messbecks vor sich. Jeder hier kannte den Bauunternehmer. Ein durchtrainierter Mittfünfziger, der über Geld, Ansehen und Einfluss verfügte. Hatte die typische Karriere gemacht. Firma vom Vater übernommen und ausgebaut. Nach allem, was man so hörte, lebte er abwechselnd auf der Alb und auf Fuerteventura, wo er angeblich ein großes Anwesen besaß. Messbeck war in der CDU und in der Kirchengemeinde aktiv. Und eine ganze Anzahl Albstädter Vereine durften sich über seine Mitgliedschaft und seine regelmäßige Spenden freuen.

Damit war es jetzt wohl vorbei.

In letzter Zeit hatte sich Messbeck jedoch bei vielen Albstädtern unbeliebt gemacht. Sein Bauunternehmen war federführend bei dem heftig umstrittenen Straßenbauprojekt, dessen Fortschritte wenige hundert Meter von der Absturzstelle entfernt beobachtet werden konnten. Allerdings hatte sich nie jemand getraut, Messbeck öffentlich an den Karren zu fahren. Dafür verfügte er über viel zu viel Einfluss. Niemand in der Provinz konnte Interesse daran haben, sich jemanden wie ihn zum Feind zu machen. Denn es war von vornherein klar, wer als Sieger aus einer wie auch immer gearteten Auseinandersetzung hervorgehen würde.

Jetzt war Messbeck also tot. Ums Leben gekommen direkt neben dem größten Bauprojekt, das seine Firma jemals angegangen war. Ironie des Schicksals.

Der Name des zweiten Opfers sagte Malthaner nichts. »Wer ist Stefan Landarius?«

»Stefan ist schon seit ewigen Zeiten bei uns im Verein, länger als ich selbst, und ich bin auch schon über zehn Jahre dabei. Stefan arbeitet beim Landratsamt. Hat mit Bausachen und so zu tun.« Thomas Sailer atmete tief ein. »Das da drüben ...«, er deutete auf die Wiese hinüber, »war Dieter Messbecks Ballon.«

Zwar spürte Malthaner, dass Thomas tief betroffen war, nutzte aber doch die Gelegenheit, weitere Informationen zu sammeln. »Kannst du dir den Absturz erklären?«

»Eigentlich nicht, denn das Ballonfahren ist unter normalen Umständen sehr sicher. Wir vom Verein haben natürlich vorhin schon über die Ursache spekuliert. Aber niemand hat eine stichhaltige Vermutung. Die Wetterverhältnisse sind nahezu perfekt.« Wieder strich er sich über den blonden Schnurrbart, in dem sich eine erste Spur von Grau zeigte. »Gut, drei Stunden früher wären sie für eine Ballonfahrt noch besser gewesen. Wenn ein heißer Tag zu erwarten ist, fährt man meist schon in den frühen Morgenstunden. Heute Vormittag haben wir sechs Knoten Luftgeschwindigkeit, das ist für einen so heißen Sommertag noch ziemlich gut. Natürlich hat Dieter vor dem Start Auskunft bei den Meteorologen eingeholt. Das ist Pflicht. Man startet nie, ohne sich beim Wetterdienst über die Wetterlage zu informieren, auch wenn jeder Pilot den Himmel lesen kann.«

Den Himmel lesen – diese Formulierung hatte Malthaner in seiner Reportage verwendet, wie ihm sofort in den Sinn kam.

Tief inhalierte Thomas Sailer aus seiner Zigarette. »Der Ballon hat ja wohl Feuer gefangen. Das kann ich mir nicht so richtig erklären. So etwas darf eigentlich nicht vorkommen. Aber die Überreste sprechen eine deutliche Sprache, dass es in der Tat so gewesen sein muss. Die einzige theoretische Absturzursache, die mir einfällt, ist die, dass das Gas aus irgendeinem Grund explodiert sein könnte. Wenn ein Gasschlauch porös ist, dann kann Gas austreten und es kann zur Verpuffung kommen. Theoretisch, wie gesagt. Aber das hätte ich bis heute Morgen für ganz und gar ausgeschlossen gehalten. Mir ist auch nicht bekannt, dass es in Deutschland jemals einen solchen Fall gegeben hat.« Sailer legte die Stirn in Falten, sprach dann mit Bedacht weiter. »In Frankreich ist letztes Jahr ein Unfall passiert, bei dem ein Ballon Feuer gefangen hat. Aber der ist durch plötzliche Scherwinde in eine Hochspannungsleitung getrieben worden. Gab fünf Tote damals.«

»Ich erinnere mich vage.« Mit dem Fuß kickte Malthaner ein paar Kieselsteinchen weg und dachte an die Brandspuren, die er vorhin an der Ballonhülle gesehen hatte.

»Man kann es immer noch nicht glauben, dass dieses Unglück vorhin tatsächlich geschehen ist.« Sailer fehlten die Worte. Erneut zog er an seiner Zigarette, als wolle er sie gleich komplett verschlucken. Dann sprach er weiter, mehr zu sich selbst. »Alles, was wir jetzt über die Absturzursache sagen, ist graue Theorie und Spekulation. Normalerweise sind die Brenner und die Flaschen heutzutage absolut sicher. In dem Ballon da drüben war ein etwas älterer Brenner, aber es hat bei uns noch nie Probleme gegeben.«

Immer deutlicher erinnerte sich Jörg Malthaner an seine Reportage. »Vier Flaschen und zwei Brennersysteme?«, fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte.

»Klar. Vier Flaschen mit reinem Propan. Je 18 Kilo pro Flasche. Die beiden Brenner werden unabhängig voneinander gespeist mit jeweils eigenen Schlauchführungen. Alles für die Sicherheit.«