Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nachdem der Mountainbike-Guide Miguel eine Tour mit mehreren Touristen auf La Palma geführt hat, verschwindet er spurlos. Sein Freund und Kollege Martin Ebel nimmt dies zunächst nicht ernst. Er glaubt, Miguel wird schon wieder auftauchen - eine fatale Fehleinschätzung. Zusammen mit seinem Chef Siggi findet Ebel Miguels Leiche in den Bergen der kleinen Kanareninsel. Hatte Miquel tatsächlich einen Fahrradunfall? Ebel kann das nicht glauben. Und plötzlich kommen eigenartige Dinge ans Licht, die eine mörderische Dynamik entwickeln.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 278
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Peter Wark
Absturz
Kanaren-Krimi
Mörderisches Paradies Mit dem Leben von Aussteiger und Mountainbike-Guide Martin Ebel geht es bergab – obwohl er auf La Palma lebt, der Insel, die für viele deutsche Aussteiger das Paradies zu sein scheint. Doch die Trennung von seiner Freundin Carmen und zunehmende Depressionen werden mehr und mehr zu einer Belastung für den ehemaligen Anwalt. Als dann auch noch sein Freund und Kollege Miquel spurlos verschwindet, nimmt Ebel dies zunächst nicht ernst. Doch am nächsten Tag finden Ebel und sein Chef Siggi Miquels Leiche in den Bergen La Palmas. Ein Fahrradunfall, wie alle vermuten? Unmöglich, glaubt Ebel, schließlich war Miquel früher einmal Radprofi. Ebels Zweifel manifestieren sich, als eigenartige Dinge aus Miquels Leben ans Tageslicht kommen. Kann man sich derart in einem Menschen täuschen? Ebel und seine Clique aus deutschen Aussteigern und einheimischen Freunden wollen das nicht glauben. Welche Rolle spielen dubiose Grundstücksgeschäfte? Geht beim gewaltigen Tunnelbauprojekt etwas nicht mit rechten Dingen zu? Und was hat es mit einem bis dahin auf der Insel nicht gekannten Vandalismus auf sich?
Peter Wark war viele Jahre als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen tätig und arbeitet inzwischen in der Unternehmenskommunikation. Seiner südwürttembergischen Heimat ist er immer verbunden geblieben – seit einiger Zeit lebt er auch wieder dort. Peter Wark hat bereits mehrere Kriminalromane und zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht. Seine Bücher spielen auf der Schwäbischen Alb, den Kanaren, in München, aber auch in Australien. Die La Palma-Krimis sind von seiner Liebe zu der Insel und seiner Leidenschaft für das Mountainbiken inspiriert.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Versandet (2018)
Albtraum (2012)
Epizentrum (2006)
Ballonglühen (2003)
Machenschaften (2002)
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © mezzotint / shutterstock
ISBN 978-3-8392-5870-5
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
La Palma ist nicht nur für die Romanfigur Martin Ebel die schönste aller Kanareninseln, sondern auch für seinen geistigen Vater. Vollkommen zu Recht führt die drittkleinste Insel des kanarischen Archipels die Beinamen Isla Verde (grüne Insel) und Isla Bonita (hübsche Insel).
Handlung und Personen in diesem Kriminalroman sind frei erfunden. Wie schon im Vorgängerroman »Versandet« habe ich mir erlaubt, bei den Namen einige Anleihen in der Realität zu machen. Den betreffenden Personen danke ich für ihr Einverständnis.
Die Freiheit des Autors erlaubt es, ein Bauprojekt und gewisse Vorkommnisse zu schildern, die es in Wirklichkeit auf dieser schönen Insel nie gegeben hat und hoffentlich nie geben wird.
Der Autor
»Miguel ist verschwunden.«
Die Stimme war weit weg.
Ging mich nichts an.
Seit zwei Stunden arbeitete ich mich unter Zuhilfenahme einheimischer Destillerieprodukte an eine solide Vollnarkose heran. Als ich am frühen Abend das »Castillo«, die Bodega meines Freundes Pepe, betreten hatte, war ich zielsicher auf die hinterste Ecke des Lokals zugesteuert, wo ich an einem kleinen Tisch Platz nahm. Mir war nicht nach Konversation, und das hatte ich auch Pepe gesagt, der mir einen mitleidigen Blick zugeworfen, meinen seltenen Wunsch aber respektiert hatte. Ich wollte meine Ruhe. Wollte mir ein paar Stunden meiner eigenen Zukunft borgen.
Pepe war einer der besten Freunde, die ich in meinem selbst gewählten Exil auf der Kanareninsel La Palma hatte. Schon bald nach meiner Ankunft hatte ich ihn kennengelernt. Pepe, der stets gut gelaunte Gastronom und zugleich Herausgeber und Chefredakteur der Wochenzeitung »Correo del Valle«. Pepe, der von der Insel stammte und eine Zeit lang in New York und in Deutschland gelebt hatte. Pepe, dessen Bodega in Los Llanos für mich schnell so etwas wie meine zweite Heimat hier auf der Insel geworden war.
Pepe hatte die drei Flaschen unterschiedlicher Größe und unterschiedlichen Inhaltes vor mir aufgebaut, um die ich ihn gebeten hatte, zwei Gläser dazu gestellt und war wieder hinter seinen Tresen entschwunden, von wo er ab und zu betont unauffällig herüber schielte. Er schien sich ernsthafte Sorgen um mich zu machen.
Konnte ich ihm nicht verübeln. Ging mir nämlich auch so.
Viel Betrieb herrschte an diesem lauen kanarischen Spätabend im »Castillo« nicht, was mir nur recht sein sollte. Für den Rest der Nacht wollte ich mir eine Auszeit gönnen und mit Schnaps, Wein und dem Groll gegen mich selbst alleine bleiben. Eine ausgewachsene Depression hatte mich am Haken, und ich wollte ihr den Spaß nicht verderben. Bis zur Hüfte war ich bereits in Selbstmitleid versunken, der Rest würde schon noch folgen. Auf den Effekt, in die bessere Welt hinüber zu dämmern, würde ich in dieser Nacht wohl vergebens warten. Also schenkte ich nach – zum wievielten Mal eigentlich?
Ich kippte das scharfe Zeugs aus dem kleinen Glas hinunter, spülte dann mit einem Schluck Rotwein aus dem großen Glas nach. Wahrscheinlich hätte mir auch Flugbenzin geschmeckt.
Es hatte Zeiten gegeben, in denen ich weniger schluckte. Allerdings auch welche, in denen ich noch enger an der Flasche hing. Die waren endgültig vorbei – hatte ich einmal gedacht. Da konnte ich mir längst nicht mehr so sicher sein. Immerhin waren die Nächte selten geworden, in denen ich breit wie ein überfahrener Otter endete. Das hier würde eine solche Nacht werden.
Normalerweise brachten hochprozentige Abende wenigstens einen großen Vorteil mit sich: Ich fühlte mich den drängenden Fragen nach meiner näheren Zukunft vorübergehend enthoben.
»Miguel ist weg. Hörst du, Martin? Wie vom Erdboden verschluckt!«
Wieder diese Stimme von irgendwo. Drängend. Aber nicht drängend genug, dass ich mich dafür interessiert hätte.
Der Rote schimmerte schwer und verlockend im Glas, das ich unbewusst in der Hand drehte. Die Gedanken an Carmen wollten sich nicht vertreiben lassen. Sie bohrten sich unangenehm ins Hirn. Es war nicht das erste Mal, dass Carmen ausgezogen war. Bisher war sie immer wieder zurückgekommen, wenn sie mich lang genug in meinen Verlustängsten hatte garen lassen. Diesmal sah es anders aus. Sie hatte nicht nur die Koffer gepackt, sondern auch die Umzugskartons. Es schien ihr verdammt ernst zu sein. Wie hätte ich es ihr auch verübeln können?
Als Besitzerin einer florierenden Boutique und Tochter eines erfolgreichen Bauunternehmers zählte sie zu den wenigen wirklich vermögenden Menschen auf La Palma. Die Beziehung zu ihr war ein angenehmes Arrangement, aber eben doch auch viel mehr. Dass ich sie vielleicht wirklich liebte, merkte ich jetzt, wo sie weg und es möglicherweise ein wenig zu spät für diese Einsicht war. Eines meiner Probleme bestand darin, dass ich Frauen genauso gerne mochte, wie die meisten Männer das taten. Vielleicht sogar ein bisschen mehr. Vor ihrem Auszug hatte Carmen mehrfach angedeutet, dass ihre Toleranz meinen gelegentlichen amourösen Abenteuern gegenüber ihre Grenzen erreicht hätte. Carmen besaß zwei Wohnungen in Los Llanos, dem Zentrum auf der Westseite La Palmas. Die direkt über ihrer Boutique in der Avenida Venezuela war in den besseren Zeiten unserer Beziehung unser gemeinsames Nest gewesen. Dank ihrer Gnade hatte ich noch immer ein Dach überm Kopf, nämlich genau diese Wohnung, die ich seit Wochen nicht mehr mit ihr, sondern nur noch mit ein paar Möbeln, Carmens Umzugskartons und einer beeindruckenden Flaschenbatterie teilte.
Es war ihre Wohnung, sie konnte mich jeden Tag auf die Straße setzen, wenn sie nur wollte. Und es gab Anzeichen dafür, dass sie wollte! Wie immer man es betrachtete, unsere Beziehung schien in ihrem Spätherbst angekommen zu sein. Carmen hatte mittlerweile ihre bisher leer stehende Wohnung in einem in den Berg gebauten, futuristisch gestylten Haus bezogen, das etwas außerhalb des Stadtzentrums lag, und ich konnte mich der Erkenntnis nicht mehr entziehen, dass ich auch mit fast 40 noch immer ein ausgemachter Idiot war.
Auf eine Einladung und Besichtigung von Carmens neuer Wohnung durfte ich kaum hoffen, so wie die Dinge lagen. Zwischen uns herrschte Funkstille. Was möglicherweise immer noch besser war als die Streitereien der jüngeren Vergangenheit. Wie die Flut unten am Meer war Carmens Zorn vor einigen Wochen über mich gekommen. Die Frau verfügt über viel spanisches Temperament. Eindrücklich und sehr bildhaft hatte sie mir deutlich gemacht, wie sehr wir uns auseinandergelebt hatten.
Sie hatte mich einfach satt.
Da ging es ihr wie mir. Wie sollte ich ihr einen Vorwurf machen? Auch ich hatte mich meistens satt.
Was hatte ich denn schon erreicht in meinem 38-jährigen Leben? Ich, Martin Ebel, war einmal Rechtsanwalt. Das war ich geworden, weil die Dinge sich eben so ergeben hatten. Das Jurastudium schien mir als jungem Mann sehr verlockend, was an meinen etwas klischeebehafteten Vorstellungen vom weiblichen Teil der Jurastudenten ebenso lag wie an der Aussicht auf viel vorlesungsfreie Zeit und die Möglichkeit, hier und da ein Urlaubssemester einzulegen. So in etwa hatte ich die Sache mit dem Studium der Rechtswissenschaften dann auch gehandhabt.
Das alles war furchtbar lange her. Auf eine mir nicht mehr so recht begreifbare Weise hatte ich es tatsächlich geschafft, einen vorzeigbaren Abschluss zustande zu bringen. So war ich eines Tages eben Rechtsanwalt. Jungspund in der Kanzlei Weißböck, Weißböck & Partner in Stuttgart. Eine Auseinandersetzung mit meinem damaligen Vorgesetzten Weißböck junior zog allerdings ein frühes und so nicht geplantes Karriereende nach sich, kaum nachdem selbige begonnen hatte. Das einzig Gute daran war, dass die Auseinandersetzung für Weißböck den Jüngeren einen Krankenhausaufenthalt nach sich zog. Noch immer empfand ich grimmige Befriedigung bei der Erinnerung an diese Episode.
Ansonsten befriedigte mich seit geraumer Zeit nicht allzu viel. Und das lag nicht nur an Carmens Auszug.
Mir Schwierigkeiten einzuhandeln, gehörte zu meinen großen Talenten. Mein Leben befand sich in einer seltsamen Schieflage. Nach bürgerlichen Maßstäben galt ich als Versager. Wohlmeinende Leute in meiner alten Heimat Deutschland nannten mich einen Aussteiger. Ich lebte seit Jahren auf den Kanaren in den Tag hinein und ließ es mir gut gehen, bisher mehr oder weniger ausgehalten von meiner vermögenden Freundin. Diese Zeiten schienen vorbei zu sein, so wie die Zeichen zu deuten waren. Endgültig vorbei.
Immerhin hatte ich so etwas wie einen Teilzeitjob. Ich führte für meinen Freund Siggi Kundschaft über die Insel. Wanderer und Mountainbiker, die jede wertvolle Minute ihres zwei- oder dreiwöchigen Urlaubs nutzen wollten.
Die Typen, mit denen ich seinerzeit studiert hatte, nannten sich längst alle Doktor Soundso, praktizierten in eigenen Kanzleien und beschäftigten sich mit ähnlich einträglichem Scheiß. Nicht, dass ich noch Kontakt zu jemandem von ihnen hatte. Schon lange nicht mehr. Nach Ansicht meiner ehemaligen Kommilitonen gehörte ich bestimmt zu einer aussterbenden Art. So, wie ich mich dunkel an sie erinnerte, hätten sie mich wahrscheinlich wie einen Aussätzigen behandelt, wie jemanden, der an Cholera oder anderen Unappetitlichkeiten litt. Auf Karriere und Geld zu pfeifen, war in Anwaltskreisen nicht die gängige Lebenseinstellung.
»Miguel ist weg. Und Rosita weiß auch nicht, wo er steckt.«
Miguel. Rosita. Na und?
Etwas riss an mir.
Ich hob meinen wässrigen Blick vom Rotweinglas und glotzte den Menschen an, der an meinem T-Shirt zupfte. Siggi! Er saß neben mir am Tisch, keine Ahnung, wie lange schon.
»Komm zu dir, du Wrack!« Er schleuderte mir die Worte entgegen, schien ehrlich aufgebracht zu sein. Mein Kopf beschrieb eine leichte Kreisbewegung, wie ich verwundert registrierte.
»Was trinken?«, lallte ich.
Siggi schien nicht durstig zu sein.
»Nein, verdammt! Hörst du: Miguel ist spurlos verschwunden!«
Miguel. Ach so.
Die Sache ging mich wohl doch etwas an. Sagte ein kleines Männchen in meinem verklebten Kopf.
Ich führte das Glas zum Mund und trank. Miguel war ein Kollege von mir. Er war gebürtiger Palmero und verdiente sein Geld, indem er vorwiegend deutschen und englischen Touristen die schönsten Mountainbiketouren von La Palma zeigte. Er war wie ich Bikeführer und Angestellter von Siggi. Siggi selbst stammte aus Mainz, lebte aber schon lange auf der Insel und betrieb gemeinsam mit seiner Frau Claudia erfolgreich die Mountainbike- und Wanderstation von Los Llanos. Damit war Siggi Miguels Chef und auch meiner. Denn auch ich war seit einiger Zeit bei ihm angestellt. Als allen in meinem Freundeskreis inklusive mir selbst klar geworden war, dass aus mir in diesem Leben vermutlich nichts Vernünftiges mehr werden würde, hatte Siggi mir eine Festanstellung als Bike- und Wanderführer angeboten. »Wegen der Krankenversicherung«, hatte er gemeint. Musste es ja wissen, der Herr Arbeitgeber.
Ich hatte nach einigem Hin und Her schließlich Ja gesagt. Fühlte mich dazu verpflichtet. Ein bisschen was zu verdienen, ist immerhin besser, als nichts zu verdienen. Schon seit zwei Jahren hatte ich aushilfsweise Touren für Siggi und Claudia geführt und oft durchaus Spaß dabei empfunden. Längst nicht alle Touristen, die in immer größerer Zahl über unsere schöne Insel herfallen, sind unangenehm. Zwar sind darunter nicht wenige Zeitgenossen mit dem Sympathiewert von Zahnschmerzen, aber die meisten unserer Gäste sind wirklich in Ordnung.
Miguel war also verschwunden. Spurlos. Das belustigte mich mehr, als es mich beunruhigt hätte. Eigentlich war es mir aber egal. Mir wäre es auch egal gewesen, wenn in diesem Moment die ultimative Welle aus dem Meer gestiegen wäre und mich, Siggi, das »Castillo«, Los Llanos und ganz La Palma verschlungen hätte.
Hauptsache, der Wein ging nicht aus.
Ruhiger Hand füllte ich den traurigen Rest aus der Rotweinflasche in mein Glas. Mit undeutlicher, aber lauter Stimme gab ich Pepe zu verstehen, dass ich am Verdursten war und aus medizinischen Gründen dringend noch einer Flasche von dem wirklich genießbaren Roten bedurfte.
Da schien Siggi ganz anderer Meinung zu sein. Auch er hatte die Stimme erhoben. Lauter als notwendig versuchte er mir klar zu machen, dass Miguels Abtauchen einen ernsten Hintergrund haben müsse. Selbst Rosita, Miguels vergötterte junge Ehefrau, hatte keine Ahnung, wo sich ihr Miguelito aufhalten konnte. Und das war für die Jungverheirateten schon sehr außergewöhnlich.
Pepe schlurfte herbei, die Rotweinflasche in der einen Hand, zwei weitere Gläser in der anderen. Von einem Nachbartisch zog er einen Stuhl heran und setzte sich. Er schenkte mir nach und füllte die beiden anderen Gläser, schob eines Siggi zu und stellte das andere vor sich selbst hin.
Nicht einmal mit einer ausgewachsenen Depression konnten sie einen alleine lassen. Freunde!
Mein Kopf war wie in Watte gehüllt, aber ich tauchte ein Stück weit aus meiner dumpfen Abkapselung auf und stierte im Raum umher. Außer uns Dreien saß niemand mehr in der Bodega. Mitternacht war längst vorbei, was zwar für den Betrieb in der Bodega meist keine einschränkende Bedeutung hatte, aber an diesem Tag ging es um mich herum offenbar ausgesprochen ruhig zu.
Mit einem Zug leerte Siggi sein Glas zur Hälfte, dann fing er wieder mit dieser Miguel-Sache an. Nicht, dass es mich in diesem Augenblick sonderlich interessiert hätte, aber das war Siggi egal. Er redete viel. Zu viel für meinen Geschmack. Ich konzentrierte mich auf die wichtigen Passagen und sog das Exzerpt aus seinen Sätzen. Demnach glaubte Siggi wirklich an ein Problem. Die Sorge um seinen Angestellten Miguel ehrte ihn. Einerseits. Auf der anderen Seite begann er, mich ernsthaft zu nerven.
Am Nachmittag, so entnahm ich Siggis Worten, hatte Miguel als Tourguide eine sechsköpfige Urlaubergruppe mit den Mountainbikes hinauf zum Refugio El Pilar und auf den Bergrücken der Cumbre Vieja geführt, die klassische Vulkantour in den Süden – eine der anstrengenderen Touren, die die Bikestation im Programm hatte. Unterwegs verschwand Miguel plötzlich. Er war einfach weg! Er blieb hinter der Gruppe zurück, nachdem er einen Platten hatte, und tauchte nicht mehr auf. Die verunsicherten Tour-Teilnehmer warteten lange, nachdem sie sein Verschwinden bemerkt hatten. Zwei besonders Mutige aus der Gruppe machten sich schließlich auf den Weg zurück bis zu dem Punkt, wo sie sich von Miguel getrennt hatten. Sie fanden aber keine Spur von ihm. Die sechs Biker waren dann irgendwann vor Einbruch der Dunkelheit nach Los Llanos zurückgefahren. Da sich die ortsunkundigen Touristen mehrfach verfahren hatten, kamen sie erst sehr spät an der Bikestation an, wo ein nervöser Siggi auf sie wartete, schließlich hätten sie zu diesem Zeitpunkt schon längst wieder zurück sein müssen. Siggi hatte da schon stundenlang versucht, Miguel auf dem Handy zu erreichen, das der immer im Rucksack mit sich führte, aber der Kollege hatte sich nicht gemeldet.
Allgemeine Ratlosigkeit. Das war der Stand der Dinge, wenn ich Siggis Worte richtig deutete.
Selbst in meinem Zustand spürte ich, dass Siggi in der Tat Schlimmes befürchtete.
Das Schlimmste, das würde bedeuten, dass Miguel unterwegs etwas zugestoßen war – eine Vorstellung, die mir einigermaßen absurd erschien. Natürlich gab es auf der Tour schwierige Passagen entlang steil abfallender Felswände und Kraterspalten, aber wenn selbst einigermaßen trainierte Hobbyradler sie leidlich gut meistern konnten, dann stellten sie für einen erfahrenen Bikeguide keinerlei Anstrengung dar. Und Miguel war erfahren. Noch vor wenigen Jahren hatte er in ganz Spanien Radrennen absolviert. Miguel war Mitglied des spanischen Straßen-C-Kaders. Das wollte schon etwas bedeuten in einem radsportverrückten Land. Miguel war wirklich gut, sowohl auf dem Rennrad als auch auf dem Mountainbike. Eine Tour über die Berge La Palmas stellte für ihn keine nennenswerte Herausforderung dar. Selbst mit verbundenen Augen würde er die Strecken meistern. Rückwärts, wenn es sein musste. Hunderte Male hatte er Gruppen über die Berge gelotst. Dass ihm dabei etwas zugestoßen sein könnte, war eine Vorstellung, die nicht in diese Welt passte.
Der sonst fast immer glänzend aufgelegte Pepe schien die Sprache verloren zu haben, was so gut wie nie vorkam und damit als ein Zeichen für drohendes Unheil gelten durfte. Trübsinnig starrte er in das Glas, das vor ihm stand. Pepe machte sich nicht weniger Sorgen als Siggi. Das war offensichtlich, wie selbst mir dämmerte. »Vielleicht findet sich ja morgen eine Erklärung«, sagte er. »Dann werden wir alle über uns selbst und unsere unnötige Aufregung lachen.« Überzeugt klang das nicht. Auch nicht für mich, der ich der ganzen Angelegenheit noch immer nicht die Bedeutung beimessen wollte wie meine beiden Freunde.
»Nüchtern betrachtet«, sagte ich allen Ernstes und etwas undeutlich, »wird sich schon eine Erklärung finden.« Zur Bekräftigung meiner weisen Worte schob ich ein »Jawohl!« nach, das sich eher anhörte wie ein verwaschenes …woll.
»Mit dem ist nichts mehr anzufangen«, meinte Siggi an Pepe gerichtet und zeigte mit einer Geste der Resignation auf mich.
Wenn mit mir schon nichts mehr anzufangen war, konnte ich genauso gut noch einen trinken. Ich entschied mich für den Schnaps. Die Mühe mit dem Glas ersparte ich mir und setzte die Flasche an die Lippen. Ich saugte an der Flasche wie ein Baby an der Mutterbrust. Ziemlich viel von der Flüssigkeit lief mir aus dem Mundwinkel. Ich schüttelte mich. »Sollte einem nicht auf die Schuhe tropfen, das Gesöff, sonst ätzt es glatt das Leder durch«, gab ich nach dem großen Schluck eine Weisheit zum Besten, die ich mir aus einem Westernfilm ausgeborgt hatte.
Meine Freunde waren angemessen abgestoßen von meinem Verhalten. »Oh Mann.« Mehr wollte Siggi, der mich mit einem Anflug von Abscheu betrachtete, offensichtlich nicht mehr einfallen.
»Du bist ganz schön hin«, vernahm ich Pepe, der mit dem Zeigefinger auf mich zielte.
»Peng«, lallte ich und erntete einen missbilligenden Blick von meinem Lieblingsgastwirt.
Siggi atmete tief durch. »Heute können wir nichts mehr unternehmen, schätze ich. Wenn Miguel bis morgen früh nicht aufgetaucht ist, suche ich die Strecke ab, auf der er gestern mit seiner Gruppe gefahren ist.«
»Ich komme mit«, hörte ich die Worte zu meiner eigenen Überraschung aus meinem Mund quellen. Siggi und Pepe schauten mich stumm an. Sie machten einen erstaunten Eindruck.
»Ehrensache«, bekräftigte ich mit feierlicher Stimme, sauber artikuliert.
Hätte Siggi beschlossen, morgen zu einer Expedition an den Nordpol aufzubrechen, hätte ich auch dazu spontan und erfüllt mit Freude und Tatkraft meine Teilnahme zugesagt.
Wie Pepe vorhin so messerscharf beobachtet hatte: Ich war ziemlich hinüber.
Schmerzen.
Der Kopf. Der Nacken. Die Seite. Alles schmerzte.
Das Telefon hatte mich geweckt. Es klingelte und klingelte und hörte einfach nicht auf zu klingeln. So ganz war mir nicht klar, wer ich war und wo ich mich befand. Nachdem ich die Augen endlich offen hatte, sah ich ein Spinnennetz direkt vor mir. In meinem Bett konnte ich demnach nicht liegen. Mochte um mich herum auch der Verfall fortschreiten, so hatten sich bisher doch noch keine Spinnweben in meinem Bett gebildet.
Langsam wurde die Sache etwas deutlicher. Die Spinne hatte ihre Fäden an ein Holzbein gesponnen. Beeindruckend, das Netz. Zumindest für Leute, die einen Sinn für die Reize der Tierwelt hatten. Das Scheißtelefon lärmte noch immer. Unter Mühen drehte ich den Kopf. In dem Moment, in dem die Erinnerung an den gestrigen Abend wiederkam, begriff ich auch, wo ich mich befand, nämlich auf dem Boden meines Schlafzimmers, direkt vor dem Bett. Dem Bett, das ich früher mit Carmen geteilt hatte. Wie lange war das schon her?
Ein Ächzen entwand sich meinem Mund, und ein Wunder geschah: Das Telefon stellte die Lärmbelästigung ein. Mühsam rappelte ich mich auf und setzte mich auf das Bett. Mein Blick fiel auf den Wecker, der seine Existenzberechtigung einzig und alleine daraus zog, dass ich mit einer gewissen Regelmäßigkeit morgens pünktlich bei der Bikestation auftauchen musste.
Es war 7.00 Uhr in der Frühe. Eine obszöne Tageszeit.
Welcher Hirntote rief mich mitten in der Nacht an?
Noch bevor ich mich rückwärts auf meine Schlafstatt fallen lassen konnte, begann der Telefonterror von Neuem und zwang mich zu einem Fluch der rustikalen Sorte. Dem Idioten würde ich was husten! Mit Wut im Bauch und Restalkohol im Kopf nahm ich den Hörer ab. Noch bevor ich etwa sagen konnte, bellte mich eine Stimme an, die Siggi gehörte. Er erinnerte mich daran, dass ich ihn heute auf den Berg begleiten wollte, um nach Miguels Spuren oder was-auch-immer zu suchen. Schlagartig drängte sich die Erinnerung an den gestrigen Abend in mein Bewusstsein. Miguel, der angeblich verschwunden war. Siggi, der Miguels gestrige Tour zu den Vulkanen absuchen wollte.
Rosita schien verzweifelt zu sein, schlimmer noch als gestern, wenn man Siggis Worten glauben durfte. Sie hatte keine Nachricht von ihrem Ehemann. Miguel war wie vom Erdboden verschluckt. Verschwunden. Weg. In Luft aufgelöst.
Ich hatte einen Ruf zu verlieren. Das war so ziemlich das Einzige, was ich zu verlieren hatte. Es gab kein Zurück, ich musste mein unter erheblichem Alkoholeinfluss gemachtes Versprechen halten und Siggi heute begleiten. Das nach dieser Nacht – mir graute. Siggi wollte mich in einer halben Stunde zu Hause abholen. Ich sollte mein Bike bereit machen, meinte er. Nachdem das Telefonat beendet war, schlug ich den nicht sonderlich weiten Weg in die Küche ein, wo ich den Gasherd anwarf und in einem alten Topf heißes Wasser für den Kaffee aufsetzte. Der sündhaft teure Saeco-Kaffeevollautomat war mit Carmen ausgezogen.
Das Wasser überließ ich sich selbst und dem Herd, und schleppte mich in Richtung Badezimmer, wo ich mir eine Wechseldusche angedeihen ließ. Mein Kreislauf bedankte sich.
Bei richtigem Timing musste es zu schaffen sein, rechtzeitig wieder in der Küche zu stehen, bevor das Kaffeewasser überkochte. Dachte ich mir so in der Theorie.
Die Praxis gestaltete sich anders.
Immerhin war noch so viel Wasser im Topf verblieben, dass ich mir eine große Tasse mit Instantkaffee aufbrühen, über den gestrigen Abend und den bevorstehenden Vormittag nachdenken konnte. Die Kekse, die ich im hinteren Teil des Küchenschranks gefunden hatte, rundeten gemeinsam mit zwei Bananen aus heimischem Anbau ein nicht sonderlich üppiges Frühstück ab. Der Versuchung, den Tag mit einem tiefen Schluck aus einer der vielen Pullen zu beginnen, die sich in den vergangenen Wochen um mich herum angesammelt hatten, widerstand ich unter Mühen. Stattdessen setzte ich auf die segensreiche Wirkung einer größeren Anzahl Aspirin.
Was Siggi mit seiner Rettungsaktion erreichen wollte, war mir nicht ganz klar. Mit der Vermutung, er wolle sich beruhigen und etwas gegen aufkeimende Selbstvorwürfe tun, lag ich wohl nicht so falsch. Bestimmt tauchte Miguel bald wieder auf, und es würde sich ein vollkommen harmloser Grund für seine vorübergehende Abwesenheit finden. Was sollte ihm schon zugestoßen sein?
Ich sah Miguel vor mir, einen erwachsenen 30-jährigen Mann, dessen lausbübischer Charme schon mancher Touristin weiche Knie beschert hatte. Miguel stammte aus Puntagorda oben im Nordwesten, wo seine Familie seit Generationen lebte. Er war der Erste in der Familie, der aus Puntagorda fortgegangen war und die anderen Familienmitglieder, seinen Andeutungen nach, damit in eine Sinnkrise gestürzt hatte. Wobei fortgegangen in seinem Fall bedeutete, dass er gerade mal 40 Autominuten von zu Hause entfernt lebte. Zu seiner aktiven Zeit als Radrennfahrer hatte er die meiste Zeit des Jahres bei Rennen auf dem spanischen Festland verbracht. Vor einigen Monaten hatten Miguel und Rosita ein Stück weit oberhalb von El Paso ein Häuschen gekauft, das sie seither zielstrebig ausbauten. Von dort benötigte Miguel mit dem Auto nur zehn Minuten bis zu seinem Arbeitsplatz, meistens fuhr er aber mit einem seiner Bikes. Rosita war täglich eine halbe Stunde zur Arbeit in der Hauptstadt unterwegs. Miguel hatte langes, tiefschwarzes Haar, das bis auf die Schultern fiel, und fast immer ein ehrliches, warmes Lächeln im unrasierten Gesicht. Wenn Miguel lachte, dann lachten die dunklen Augen mit. Regelmäßig kam es vor, dass Kundinnen der Bikestation ihm, dem Latin Lovertyp, unverblümt Avancen machten.
Soweit ich es beurteilen konnte, ließ Miguel davon lediglich sein Ego streicheln. Ansonsten blieb er seiner Rosita treu, die als Lehrerin in der Hauptstadt Santa Cruz arbeitete. Miguel und Rosita hatten im vergangenen Jahr geheiratet, nachdem sie schon seit einigen Jahren zusammenlebten.
Man musste es neidlos anerkennen, die beiden gaben ein ausgesprochen hübsches Paar ab.
Das hatte man von Carmen und mir auch gesagt.
Zu besseren Zeiten.
Seufzend zwängte ich mich in meine Arbeitskleidung, ein dezent blaues Trikot und eine enge, schwarze Bikehose. Handschuhe, Pulsmesser, Brille, Helm und Schuhe befanden sich im Rucksack, der neben meinem Specialized-Bike an der Wand im Flur lehnte. Das Fahrrad repräsentierte so ziemlich den höchsten materiellen Wert, den vorzuweisen ich imstande war. Siggi hatte es mir im vergangenen Jahr geschenkt, nachdem er es wenige Wochen selbst gefahren hatte. Andere Leute stellten ihre Autos in gut gesicherten Garagen ab, da konnte ich doch mein Rad mit in die Wohnung nehmen. Das war etwas, was Carmen nie leiden konnte: das Fahrrad in der Wohnung. Dafür wollte sie einfach kein Verständnis aufbringen. Carmen.
Unten auf der Avenida Venezuela herrschte noch kein nennenswerter Verkehr. Kein Wunder, berücksichtigte man die Uhrzeit. Nur ein wiederholtes Hupen zerriss die Stille. Siggi malträtierte die Hupe seines in die Jahre gekommenen Landrovers, bis ich endlich die Haustür hinter mir ins Schloss warf.
»Ist ja gut«, murmelte ich mehr zu mir selbst und öffnete die Hecktür des Geländewagens. Vorsichtig legte ich den Rucksack und das Fahrrad hinein, das nun Siggis nagelneuem Bike Gesellschaft leistete. Laut donnerte ich die schwere Tür wieder zu.
»Hola.« Mit der landesüblichen Begrüßungsformel und einem Ächzen ließ ich mich auf den Beifahrersitz fallen und war auf die eine oder andere dumme Bemerkung über den vergangenen Abend gefasst. Überraschenderweise sagte Siggi nichts, er schickte nur einen prüfenden Blick herüber, bevor er den ersten Gang einlegte. Mit einem Satz, der einem Blechkoloss wie dem Landrover kaum zuzutrauen war, setzte sich das graue Ungetüm in Fahrt.
»Rosita ist völlig aufgelöst.« Siggis Stimme klang ernst. »Das hat es noch nie gegeben, dass Miguel einfach abhaut und ihr nicht sagt, wo er ist.«
»Einmal ist immer das erste Mal«, antwortete ich.
Wieder dieser Blick von der Seite. »Sie macht sich Sorgen. Und ich, ehrlich gesagt, auch. Es passt einfach nicht zu unserem Miguel, sich ohne ein Wort aus dem Staub zu machen. Er hat ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein gegenüber unseren Kunden …« Pause. »… und unserer Firma.«
Der dritte Blick von dieser eigenartigen Sorte. Wollte mir mein Chef mit seiner letzten Bemerkung etwas zu verstehen geben?
»Dass du dir Sorgen machst, merke ich. Sonst würde ich nicht mitten in der Nacht mit dir durch die Gegend gondeln.«
»Du nimmst die Sache nicht besonders ernst, was?«, fragte Siggi.
»Nö.« Nicht, dass ich besonders gut gelaunt gewesen wäre. »Miguel wird schon wieder auftauchen, da bin ich mir ganz sicher. Hast du nicht auch manchmal den Wunsch, einfach abzuhauen?«
»Nein. Nicht mehr.«
Ja, wenn das so war. Da fiel mir auch nichts mehr zu sagen ein.
Dass er vor Jahren aus Deutschland mehr oder weniger überstürzt ausgewandert war, wollte ich ihm jetzt nicht unbedingt vorhalten. Schließlich gehöre ich nicht zu den Leuten, die zwanghaft das letzte Wort haben müssen.
Komisch war die Sache mit Miguel schon, das gestand ich mir selbst gegenüber ein. Natürlich konnte ich das Siggi nicht sagen, eher hätte ich mir die Zunge abgebissen. Hatte Miguel mitten auf dem Berg die Lust an seinem Job verloren und war kommentarlos zurück ins Tal gefahren? Dass er sechs unserer Kunden sich selbst überließ, passte wirklich nicht zu ihm. Aber wer konnte schon wissen, was einen anderen Menschen antrieb? Die meiste Zeit über wusste ich ja noch nicht einmal, was in mir selbst vorging.
Wir kamen schnell voran, fuhren mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit die drei Kilometer hinauf nach Las Rosas und El Paso, wo sich die Menschen allmählich an ihr Tagwerk machten. El Paso galt früher als Zentrum der Seidenraupenzucht und beherbergte eine, für palmerische Verhältnisse, beachtliche Tabakindustrie. Der Ort besaß meiner bescheidenen Meinung nach ausgeprägte Reize, wenn im Februar die Mandelblüte für einen Farbenrausch sorgte. Er bezog seine Anziehungskraft hauptsächlich durch die geografische Lage am Fuß des Bergsattels der Cumbrecita.
Eine ganze Reihe vermögender deutscher Hausbesitzer hatte sich hier im Viertel Vista Valle angesiedelt und dafür gesorgt, dass die deutsche Metzgerei ebenso ihr Auskommen fand wie der von Deutschen betriebene Naturkostladen. Diese Leute sollten sich einmal Gedanken darüber machen, was die einheimischen Ladenbesitzer von dieser Art der Globalisierung hielten! Meine Landsleute, die sich hier niedergelassen hatten, gehörten vermutlich zu einer Klientel, der sich, im Gegensatz zu mir, keine Sorgenfalten auf die Stirn brannte, wenn sie über ihre finanzielle Zukunft im kanarischen Paradies nachdachte. Falls sie diese Art von Denksport jemals auf sich nehmen sollten.
Für solche Gedanken schien mir an diesem Morgen dann aber doch wieder nicht der geeignete Zeitpunkt zu sein.
Mit zusammengekniffenen Lippen saß Siggi am Steuer und preschte die 812 hoch, vorbei an den kleinen Häuschen und bescheidenen Bungalows der Einheimischen, den häufig etwas größeren Ferienhäusern der meist deutschen Einwanderer und an der einen oder anderen Bauruine. Wir hatten beide keinen Blick für die Pracht der Maulbeerbäume, die man hier entlang der Straße und vor einigen Häusern fand.
Tief hingen die dunklen, schweren Wolken über der Cumbre, wie so häufig am frühen Morgen, und standen damit geradezu sinnbildlich für die düstere Atmosphäre, die über uns lastete. Wer La Palma nicht kennt, hätte sich kaum vorstellen können, dass überall auf der Südseite der Insel in einer Stunde strahlender Sonnenschein herrschen würde. Siggi tat sein Bestes, um das Tempo-50-Schild kurz vor dem großen Inselschlachthof zu ignorieren, und stemmte den Fuß aufs Gaspedal, was dem Motor des Landrovers nicht gerade einen übertriebenen Temperamentsausbruch abrang. Mein Fahrer zeigte sich wenig gesprächig. Das kam mir an diesem sehr frühen Vormittag durchaus zupass. Noch immer vermochte ich keinen rechten Sinn in unserer Mission zu entdecken, grübelte aber doch sehr viel mehr über Miguel nach, als ich eigentlich wollte.
Wir ließen die Abzweigung zur Wallfahrtskirche Ermita de la Virgen del Pino links liegen. Schließlich setzte Siggi den Blinker. Es rumpelte ordentlich, als er den schweren Geländewagen so schnell wie eben noch möglich um eine scharfe Kurve nach rechts zog. Half aber alles nichts, denn der Schwung war dahin. Runterschalten, noch mal runterschalten, Bleifuß; das britische Schwergewicht hatte Mühe, wieder in Tritt zu kommen. Ich war mir sicher, dass hinter uns eine dicke Rußfahne von der harten Arbeit der Maschine kündete. Auf einem kilometerlangen, engen Sträßchen quälte sich der Landrover bergan, Kurve um Kurve nehmend. Siggi fuhr die meiste Zeit im zweiten Gang, und es ging ihm eindeutig nicht schnell genug. Etwas nagte an ihm. Er hatte seinen Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, so als wolle er das Gewicht verlagern, um dadurch schneller zu werden. Fehlte nur noch, dass er die Fahrertür öffnete und mit dem linken Fuß anschob. Kein einziges Auto kam uns entgegen. Was, nebenbei bemerkt, auch kein Wunder war angesichts der nachtschlafenden Zeit.
Als Jurist war ich frühes Aufstehen gewöhnt. Gefallen konnte ich schon damals nicht daran finden. Und jetzt war ich – verdammt noch mal – längst kein Rechtsanwalt mehr und musste doch wieder so früh auf die Beine.
Je mehr wir an Höhe gewannen, desto bedrohlicher wirkten die Wolken. Wir fuhren in eine dicke Suppe hinein. Piniennadeln bildeten einen dichten Teppich auf der Fahrbahn. Nach Regenfällen konnte das eine ausgesprochen rutschige Angelegenheit werden, vor allem bergab. Über das Wetter machte ich mir keine Sorgen, denn ich wusste, dass sich die Sonne bald kraftvoll durch die Wolken kämpfen würde, auch wenn es im Moment gar nicht so recht danach aussehen wollte. Oben angekommen, drängte sich der Eindruck von Einsamkeit auf. Kein Auto am Rastplatz El Pilar, der auf knapp 1500 Höhenmetern lag. Zwei, drei Stunden noch, dann würden sich hier die Kleinwagen der ortsansässigen Autovermieter drängen und die mit Wanderstiefeln und Trekkinghosen verkleideten Touristen ausspucken, die vom El Pilar in alle Himmelsrichtungen strömten, die gängigen Reiseführer im Rucksack, Erwartungen an Naturerlebnisse im Sinn.
Ruhig und verlassen lag die Schutzhütte da, die vor längerer Zeit erbaut worden war. Das ganze Gelände mit den zahlreichen Spielgeräten für Kinder und den Feuerstellen machte den Eindruck, als würde es sich noch im Schlaf befinden, um Kraft für den beginnenden Tag zu sammeln. Kaum vorstellbar in diesem Moment, dass es hier regelrecht wuselte, wenn an den Wochenenden Familien aus dem ganzen Umkreis kamen, um zu grillen und sich mit Verwandten und Freunden zu treffen. Siggi steuerte den Landrover noch ein Stück weiter und fuhr dann an den Straßenrand, wo er ihn unter einer mächtigen Pinie abstellte.
Wir stiegen aus.
Die Wolken machten den Tagesbeginn düster und wenig einladend.