Machenschaften - Peter Wark - E-Book

Machenschaften E-Book

Peter Wark

4,9

Beschreibung

„Stadtrat und Unternehmer fällt Mord zum Opfer“ lautet die Überschrift, die die Ruhe des in die schwäbische Provinz abgetauchten und Bike-begeisterten Journalisten Jörg Malthaner mit einem Schlag beendet. Tief verwickelt scheint der Kompagnon des toten Software-Unternehmers - und gleichzeitig enger Freund Malthaners -, der seit der Tat spurlos verschwunden ist. Journalistische Neugier und persönliches Interesse treiben ihn an, in die Vorgeschichte des Falles einzusteigen. Doch je näher er der Lösung kommt, desto gefährlicher werden plötzlich seine über alles geliebten Bike-Touren über die Schwäbische Alb ...

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Peter Wark

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2002 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Isabell Michelberger, Meßkirch

Herstellung: Mirjam Hecht

Für Sandra, die mich vor manchem Fehler bewahrt hat.

Mein Dank gilt Kutti und Goyo für den Rat in ihren jeweiligen Fachgebieten. Fiktion und Realität gehen, wie in jedem Roman, Hand in Hand. Dennoch sei aufs Schärfste darauf hingewiesen, dass Handlung und Personen in diesem Buch lediglich der kriminellen Phantasie des Autors entstammen. Selbstverstänlich ist jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen nicht beabsichtigt und wäre daher rein zufällig.

Die Schauplätze sind real, wenn auch teilweise verfremdet. In den Fällen, in denen diese geschah, gab es gute Gründe dafür.

Kapitel I

Malthaner schlug den Kragen seiner alten Lederjacke hoch. Ein kühler Wind war aufgekommen und deutete das baldige Ende dieses schönen Herbstnachmittags an. Nach einem weitgehend verregneten Sommer zeigte sich der Oktober bisher von seiner Schokoladenseite. Viele Tage, an denen man im Straßencafé sitzen konnte, würde es dennoch in diesem Jahr nicht mehr geben. Zwei, drei Wochen noch, höchstens, dann würde sich der beginnende Winter des Landes und des Gemüts der Menschen bemächtigen. Nicht umsonst sagt der Volksmund, dass die Winter auf der Schwäbischen Alb vier Wochen früher anfangen und dafür einen Monat länger dauern als im Unterland. Genüsslich schlürfte Jörg Malthaner seinen Cappuccino, zu dem er sich wie immer ein Mineralwasser bestellt hatte. An fast allen der um einen kleinen Brunnen gruppierten Tische im Freien saßen Gäste – fest entschlossen, die letzten Sonnenstrahlen zu genießen. Ein dünnes Lächeln stahl sich auf Malthaners Gesicht, als sich für einen Moment Bilder einer viele Jahre zurückliegenden Reise in den kalten skandinavischen Sommer in sein Bewusstsein drängten. In Oslo hatten sich die Menschen dick vermummt in lange Mäntel mit Schals und Mützen in den Straßencafés und Parks vergnügt. Trotz erbärmlicher Temperaturen war es ungeheuer schwierig, irgendwo einen freien Platz zu erhaschen, und kein Einheimischer schien sich an der Kälte zu stören.

Malthaner beobachtete das Treiben um sich herum. An diesem Freitag Nachmittag pulsierte tatsächlich das Leben im sonst eher verschlafenen Städtchen Albstadt. Die kleine Fußgängerzone hatte in den vergangenen Jahren eine gewisse Aufwertung erfahren, was weniger mit städtebaulichem Geschick zu tun hatte als vielmehr mit der Tatsache, dass einige neue Läden und das immer gut frequentierte Café aufgemacht hatten. Diese Entwicklungen in seiner Heimatstadt hatte Jörg Malthaner mehr oder minder interessiert aus der Ferne verfolgt. Bei seinen seltenen Heimatbesuchen hatte er immer wieder kleine Veränderungen registriert, die den hier lebenden Freunden kaum aufgefallen waren.

Seit einigen Monaten wohnte Malthaner, zumindest teilweise, wieder in Albstadt. Er war bei Brigitte eingezogen, hatte aber seine Stuttgarter Stadtwohnung behalten, und pendelte mehrmals wöchentlich zwischen der Schwäbischen Alb und der knapp 100 Kilometer entfernten Landeshauptstadt, wo er als freier Journalist bei der Landeszeitung arbeitete. Ein improvisiertes Leben, aber im Moment kamen er und Brigitte ganz gut damit zurecht, obwohl ihn die Fahrerei zunehmend nervte. Der Kilometerstand des alten Saab wuchs in dem Maße bedrohlich an, wie die Benzinpreise Malthaners Konto belasteten. Das gut gemeinte Vorhaben, regelmäßig mit der Bahn von Albstadt nach Stuttgart zu fahren, hatte er schon nach zwei Versuchen frustriert aufgegeben. Bis zum Stuttgarter Hauptbahnhof ging es ja noch, aber bis er  seine Wohnung oder die Redaktion erreicht hatte, war er knapp drei Stunden unterwegs, doppelt so lange wie er mit dem Auto normalerweise trotz des täglichen Staus benötigte. Seine beruflichen Erfolge hatten Jörg Malthaner einen gewissen Freiraum verschafft, den ihm nicht jeder gönnte. Im Prinzip konnte er kommen und gehen, wann er wollte, solange er regelmäßig seine Artikel ablieferte. Malthaner arbeitete auch noch für andere überregionale Zeitungen und Zeitschriften, an die Landeszeitung war er durch einen entsprechenden Vertrag nur locker  gebunden. Dass er auf der Alb immer wieder gute Geschichten ausgrub, die die Landeszeitung exklusiv erhielt, machte ihn ein Stück weit gegen Kollegenkritik unangreifbar. Erst vorgestern war ein Artikel von ihm im Blatt, der vom Chefredakteur bei der Blattkritik als »beste human-interest-Geschichte der letzten Wochen« gelobt worden war. Malthaner hatte über einen alten Mann berichtet, der vor Gericht stand, weil er mehrfach in Kindergärten eingebrochen war. Nach einigem Zögern hatte sich der Rentner bereit erklärt, mit dem Journalisten zu sprechen. Es war eine skurrile und Malthaner traurig stimmende Geschichte: Der alte Mann kam mit seiner kargen Rente von weniger als 800 Mark nicht über die Runden. In den Kindergärten stahl er Lebensmittel aus den Kühlschränken, um überhaupt etwas zu essen zu haben. Dabei stellte er sich so ungeschickt an, dass er schnell von der Polizei erwischt wurde.

»Das Wetter muss man ausnutzen!« Eine Stimme schreckte Jörg Malthaner aus seinen Gedanken. Sie gehörte Kurt, einem langjährigen Freund. Er und Kurt waren schon gemeinsam zur Schule gegangen, und der Kontakt war auch in all den Jahren, die Malthaner auswärts verbracht hatte, nie völlig abgerissen. Kurt ließ seine auf knapp 1,90 Meter Körpergröße verteilten 95 Kilo Lebendgewicht geräuschvoll in den gegenüber stehenden Stuhl fallen. Er trug einen schwarzen Motorrad-Kombi und hatte einen Sturzhelm dabei, den er auf das Bistro-Tischchen legte. Bekannt war Kurts Vorliebe für schnelle Fahrzeuge auf zwei und vier Rädern.

»Ich habe heute Nachmittag frei genommen, um eine Runde drehen zu können«, sagte Kurt, nachdem sie sich begrüßt hatten, und winkte die extrem junge Bedienung heran, bei der er einen Cortado bestellte. »War ein heißer Ritt«, schwärmte Kurt. »Bodensee. Überlingen. Mal eben ein Eis essen. Und ordentlich am Gashahn drehen natürlich.«

»Natürlich. Gibt‘s was Neues in deinem Fuhrpark, was ich noch nicht kenne?«, wollte Malthaner wissen und stellte damit eine Frage, die bei Kurt immer angebracht war.

»Noch nicht, aber ich habe mir heute eine V-max ausgeliehen. Absolute Übermaschine, sage ich Dir. Geht wie der Teufel.«

»Wenn du noch immer so fährst wie früher, wirst du ihn über kurz oder lang persönlich kennen lernen«, stellte Malthaner fest.

»Man muss seine Grenzen kennen, dann passiert auch nichts. Ich glaube, ich werde mir die Max zulegen. Muss mal mit meinem Händler sprechen. Wollte die alte Trude schon länger durch was Flotteres ersetzen.«

Kurt deutete Malthaners fragenden Blick richtig: »Trude ist mein Kosenamen für die Suzuki Introuder, die ich in der Garage habe.«

»Ich erinnere mich an das alte Mädchen. Hat mir immer gefallen.«

»Wenn du sie haben willst, können wir über einen guten Preis reden.«

»Manchmal würde ich schon gerne wieder mit dem Motorradfahren anfangen, aber dann ist es mir doch ein zu großer finanzieller Aufwand.«

»Papperlapapp. Du bist doch ein Spitzenverdiener.« Malthaner bedachte den Kumpel mit einem schrägen Blick. Kurt arbeitete in der EDV-Branche und war wirklich ein Spitzenverdiener. Musste er auch sein, bei seinem Auto- und Motorradfimmel.

»Nee, lass mal. Wenn ich mir in absehbarer Zeit ein neues Gefährt zulege, dann ist es ein Auto. Der gute alte Saab hat jetzt 200.000 Kilometer runter, ich weiß nicht, wie lange er es noch macht.«

»Dann solltest du dir mal was anschaffen, was wirklich Dampf unter der Haube hat«, begeisterte sich Kurt. »Also meinen BMW habe ich ja jetzt schon fast ein Jahr, den wollte ich eigentlich bei Gelegenheit verkaufen. Wäre ein echtes Schnäppchen, hat noch keine 20.000 Kilometer drauf, Sechszylinder, 248 PS ...«, Kurt grinste, »... und gut eingefahren.«

»Danke, kein Interesse.«

»Kann man nichts machen«, bedauerte Kurt und schlürfte vernehmlich am Cortado.

»Anderes Thema«, sagte Malthaner, »wir sollten mal wieder gemeinsam biken, bevor es Winter wird. Ich meine biken mit Muskelkraft.«

Beide waren begeisterte Mountainbiker und hatten in der Vergangenheit bei Malthaners Heimatbesuchen hin und wieder gemeinsame Touren unternommen. Seit Malthaner den Großteil seiner Freizeit wieder auf der Alb verbrachte, hatte sich noch nie die Gelegenheit ergeben, mit Kurt in die Pedale zu treten. »Gute Idee«, pflichtete der bei, »ich habe da neulich einen wunderbaren Singletrail entdeckt, oben am Albtrauf bei Onstmettingen. Gibt dir die notwendigen Adrenalinstöße, weil du da direkt am Abgrund entlang radelst.«

Als wäre der gemeinsame Ausritt schon beschlossene Sache, grinste Kurt in diebischer Vorfreude. »Ach ja, und über oberschenkeldicke Baumwurzeln muss man dort auch biken, damit es nicht zu einfach wird.«

»Ich kenne die Strecke«, antwortete Malthaner. Die Wurzeln machten die Sache wirklich spannend. Im vergangenen Jahr war er auf diesem Trail einmal gestürzt und konnte sich gerade noch vor einem zweifellos tödlich verlaufenden Absturz an der glatten Felswand retten. Seither war er die Strecke nicht mehr gefahren. Ihm war, als würde selbst bei der Erinnerung daran sein Herz heftiger schlagen.

»Nachher muss ich noch kurz in die Praxis«, stellte Brigitte beim Frühstück fest. Vor einiger Zeit hatte Malthaners Freundin die Hausarztpraxis von ihrem Vater übernommen und konnte sich vor Patienten inzwischen kaum retten. Trotzdem versuchte sie, sich wenigstens die Wochenenden einigermaßen frei zu halten, an denen sie keinen Bereitschaftsdienst hatte. Das klappte immer seltener. Brigitte stammte aus Albstadt. Nach vielen auswärtigen Jahren und ihrer Scheidung war sie hierher zurückgekommen und hatte sich in die Praxis ihres Vaters eingearbeitet. Der war mittlerweile ein äußerst aktiver Ruheständler.

Sie waren gegen neun aufgestanden und Malthaner hatte frische Brötchen geholt, während der Kaffee durchlief. Sie aßen an einem ausladendem Tisch im Wohn- und Esszimmer von Brigittes beeindruckender Penthousewohnung, durch deren riesige Glasfront sie auf einen beachtlichen Teil der Stadt hinunter blicken konnten. Die Wohnung war ihr von ihrem Vater geschenkt worden – eine wirklich großzügige Geste.

»Solange du in der Praxis bist, gehe ich auf den Markt und kaufe ein«, kündigte Malthaner an.

»Lass uns getrennt fahren, ich weiß noch nicht genau, wie lange ich am Schreibtisch sitzen werde«, sagte Brigitte mit einem Unterton, der die Entschuldigung bereits in sich barg. Er verdrehte die Augen. »Also sehen wir uns nicht vor heute Abend, befürchte ich.«

»Nein, Jörg, spätestens gegen eins will ich zurück sein«, sagte sie energisch und stand auf. Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und rauschte hinaus.

Malthaner seufzte, als er das Albblatt aufschlug, die örtliche Tageszeitung. Wie immer blätterte er sich zuerst durch den Lokalteil. Die Aufmachergeschichte schrie geradezu danach, gelesen, ach was, verschlungen zu werden.

Stadtrat und Unternehmer fällt Mord zum Opfer lautete die Überschrift über einem von einem Kasten eingerahmten Vierspalter. Ein Foto zeigte die Außenansicht eines Bürogebäudes, das Malthaner sehr bekannt vorkam, auch wenn er nicht gleich wusste, woher. Die Überschrift entfaltete genau die beabsichtigte Wirkung. Sie zwang Malthaner zum Weiterlesen, so wie sie an diesem Samstagvormittag schätzungsweise knapp 30.000 weitere Abonnenten zum Lesen animierte. Wie immer man es dreht und wendet, ein Mord weckt den Voyeur in  jedem Leser. Wer wusste das besser als Malthaner, der zu Beginn seiner journalistischen Karriere als Polizeireporter in Stuttgart unterwegs war. Ein Mord, das war schon eine Klasse für sich, da konnte so ein gewöhnlicher Unfall mit zwei Todesopfern einfach nicht mithalten. Den Artikel im Albblatt hatte Volker Vogt geschrieben, ein junger Redakteur, den Malthaner vor einiger Zeit kennen gelernt hatte. Gierig fraß sich Malthaner durch den Text:

 Der bekannte Albstädter Unternehmer Henry Ellwanger (39) ist tot. Offensichtlich wurde er Opfer eines Verbrechens. Er wurde gestern von Mitarbeitern seiner Firma SoftData im Büro tot aufgefunden. Wie Theo Reiher, der Sprecher der Polizeidirektion, auf Albblatt-Anfrage sagte, steht »mit großer Sicherheit« fest, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelt.

Schlagartig war Malthaner klar geworden, welches Bürogebäude in der Zeitung abgebildet war. Heilige Scheiße! Ellwangers Firma. Ellwangers Firma war auch Reinhards Firma. Henry Ellwanger und Malthaners guter Freund Reinhard Mössner hatten sich während des Studiums an der Uni in Konstanz kennen gelernt und später gemeinsam das Unternehmen gegründet. Die anfänglich kleine Zwei-Mann-Klitsche war rasend schnell gewachsen, wie so viele Software-Firmen. Reinhard hatte Malthaner einmal erzählt, wie die Arbeitsteilung funktioniert: Er, Reinhard, war der Software-Entwickler, das Computer-Genie, und Ellwanger der kaufmännische Boss.

Elektrisiert las Malthaner weiter:

Die Kriminalaußenstelle Albstadt hat die Ermittlungen aufgenommen. Ein Mitarbeiter von Ellwangers Firma fand den tödlich verletzten Geschäftsführer bei Dienstantritt gegen 8 Uhr in seinem Büro vor. Offensichtlich handelt es sich nicht um einen Raubmord, da der Getötete seine Geldbörse mit etwa 500 Euro Bargeld sowie mehreren Kreditkarten noch bei sich trug. Die Limousine von Henry Ellwanger stand auf dem Firmenparkplatz. Über die weiteren Umstände der Auffindesituation wollte Polizeisprecher Reiher mit dem Hinweis auf »ermittlungstaktische Gründe« nichts sagen. Er deutete jedoch an, dass Ellwanger vermutlich schon längere Zeit tot war, als seine Leiche gefunden wurde. Die Beschäftigten von SoftData zeigten sich schockiert über das Geschehen. »Wir können es alle nicht fassen«, sagte stellvertretend für die Belegschaft die Sekretärin Nadele Grüninger dem Albblatt. Die Firma SoftData hat zwei Geschäftsführer. Neben Henry Ellwanger ist Reinhard Mössner für die Geschäftsleitung zuständig. Er befindet sich zurzeit auf Geschäftsreise und konnte noch nicht über die grausige Tat informiert werden. Henry Ellwanger stammt aus Schömberg im Schwarzwald. Er hinterlässt seine aus Albstadt stammende Ehefrau. Seit fünf Jahren sitzt er für die CDU-Fraktion im Gemeinderat. Er hat zahlreiche Ehrenämter und Funktionen in Vereinen inne. Vor zehn Jahren hat Ellwanger das Unternehmen SoftData gemeinsam mit Reinhard Mössner gegründet. Die Firma erlebte einen stürmischen Aufschwung und hat heute etwa 50 Mitarbeiter, die am Firmensitz in Albstadt und bundesweit im Außendienst tätig sind. SoftData entwickelt und vertreibt vor allem Buchhaltungssoftware für mittelständische Unternehmen und hat sich in der Branche durch innovative Entwicklungen einen Namen gemacht.

Durch den offenen Mund zog Malthaner Luft ein. Zwei Dinge waren ihm beim ersten Überfliegen des Textes sofort aufgefallen. Erstens: In der Überschrift wurde kein Zweifel daran gelassen, dass es sich um Mord handelt, obwohl der Polizeisprecher sich ein Hintertürchen offen ließ. Beim Fachblatt für Volksverdummung war so etwas zwar an der Tagesordnung, aber für eine Lokalzeitung lehnte sich das Albblatt da doch sehr weit aus dem Fenster. Da fiel es geradezu nicht mehr ins Gewicht, dass die Zeitung aus einem Tötungsdelikt gleich einen Mord machte. Diese Vereinfachung war andererseits durchaus üblich. Zweitens: Redakteur Vogt war so sensibel, dass er von Henry Ellwanger noch nicht in der Vergangenheitsform schrieb.

Es war noch gar nicht lange her, dass er sich mit Reinhard getroffen hatte, erinnerte sich Jörg Malthaner. Berufliche Dinge besprachen sie meistens nur am Rande. Trotzdem erinnerte er sich, dass Reinhard in jüngerer Zeit mehrfach angedeutet hatte, dass sich das einst freundschaftliche Verhältnis zu Ellwanger ziemlich abgekühlt hatte. Armer Reinhard! Auf ihn würde Stress in vielfältiger Form zukommen. Dabei hatte er davon als Unternehmer mehr als genug. Stress sei sein zweiter Vorname, hatte er neulich einmal im Spaß gesagt.

Es war schon komisch, doch irgendwo spürte Malthaner dieses Kribbeln, das sich immer einstellte, wenn er eine Story witterte. Einmal hatte er versucht, Brigitte gegenüber dieses Gefühl in Worte zu fassen, doch es war ihm nicht sonderlich überzeugend gelungen. Nicht gerade ein Ruhmesblatt für jemanden, der mehrfach mit Journalistenpreisen ausgezeichnet worden war.

Der Mord an Ellwanger, das konnte vielleicht wirklich eine Story sein. Ohne sich dessen vollständig bewusst zu sein, tippte Malthaner mehrfach mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf die vor ihm liegende Zeitung. Reinhard war auf Geschäftsreise, hieß es in Vogts Artikel. Die Entscheidung war insgeheim schon gefallen, auch wenn Malthaner sich das noch nicht eingestehen wollte, er würde sich an die Sache hängen. Neben dem beruflichen war ein persönliches Interesse nicht zu leugnen. Wie lange Reinhard »auf Geschäftsreise« sein würde, hatte Vogt nicht geschrieben.

Er überlegte, dann wählte er auf gut Glück Reinhards Privatnummer an. Nach dem dritten Klingeln sprang der Anrufbeantworter an, doch Malthaner hatte wenig Interesse, sich mit einer seelenlosen Maschine zu unterhalten. Er legte auf, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Genau genommen wusste er nicht einmal, was er hätte sagen sollen. Was hätte man in dieser Situation schon zu Reinhard sagen können, was sich nicht in irgendeiner Form nach Leichenfledderei anhören würde?

Mit den Gedanken war Malthaner nicht ganz bei der Sache, als er den Frühstückstisch abräumte. Auch später, beim Gang über den Wochenmarkt, konnte er die dunklen Ahnungen nicht abschütteln, die sich seiner bemächtigten. Böse Gedanken konnte man genauso wenig ignorieren wie Zahnschmerzen, egal wie sehr man sich bemühte.

Der späte Samstagvormittag auf dem Wochenmarkt war immer ein guter Zeitpunkt, um bekannte Gesichter zu sehen. Es dauerte nicht lange, da lief ihm Roland Tück mitsamt seiner kleinen Tochter über den Weg. Für das übliche Geplänkel war kein Platz, da sich etwas Unerhörtes ereignet hatte.

»Hast du heute die Zeitung gelesen?«, wollte ein aufgeregter Roland wissen. Roland und Jörg Malthaner kannten sich seit über 20 Jahren. Reinhard hatte sie seinerzeit miteinander bekannt gemacht.

»Nur einen einzigen Artikel. Darin waren genug Neuigkeiten für einen einfachen Samstag Morgen enthalten.«

»Das kann man wohl sagen«, meinte Roland. »Hast du diesen Ellwanger gekannt?«

»Kaum. Eigentlich nur aus Reinhards Erzählungen und aus der Zeitung. Im Albblatt tauchte er ja ungefähr jeden zweiten Tag auf.«

»Manchmal auch zweimal am Tag«, sagte Roland. »Die Quote wird er in Zukunft nicht mehr halten können, nehme ich an.« Mit dieser Aussage hatte Roland seinen Jahresvorrat an schwarzem Humor vermutlich verbraucht, denn er galt nicht gerade als Meister zynischer Bemerkungen.

»Ich hatte verschiedentlich das zweifelhafte Vergnügen mit Ellwanger zusammen zu treffen«, fuhr Roland fort, dessen Tochter Marga verstohlen zu Malthaner aufblickte und fest die Hand ihres Vaters drückte. »Auch wenn man über Tote nichts Schlechtes sagen soll, ich konnte den Typen nie leiden. Zu der Zeit, als er mit Reinhard die SoftData gegründet hatte, war er manchmal in der Kneipe mit dabei. Schon damals war er mir ziemlich unsympathisch. Für meinen Geschmack hatte er immer eine etwas zu große Klappe. Als ich ihm dann im letzten Wahlkampf mehrfach begegnet bin, war mir klar, dass er nie zu meinen engeren Freunden zählen wird.« Damit spielte Roland auf die Zeit vor der letzten Gemeinderatswahl an. Nach heftigem Drängen seitens einiger seiner engeren Bekannten hatte Roland auf der SPD-Liste kandidiert, aber knapp den Einzug ins Stadtparlament verfehlt. »Wenn du mich fragst, ist, ... äh, ... war dieser Ellwanger ein ziemlich verschlagener Taktiker. Ich weiß, dass er sich auch in seiner eigenen Fraktion nicht nur Freunde gemacht hat, denn er gilt nicht bei jedem als Musterbeispiel eines anständigen Menschen.«

»Komisch«, sinnierte Malthaner, »dass es so einer so lange mit Reinhard ausgehalten hat.«

»Und anders herum.«

Was die kleine Marga wohl von dem Gespräch mitbekam, fragte sich Malthaner und lächelte dem Mädchen zu. Mit dem Erfolg, dass sie sich noch krampfhafter an Roland festklammerte und zu weinen begann. Sofort wurde Roland zum Krisenmanager. »Jetzt müssen wir weiter, sonst hört sie nicht mehr so schnell mit Weinen auf«, sagte er entschuldigend und versuchte seine Tochter zu beschwichtigen. Ein schnelles Ende des Gesprächs kam Malthaner nicht unrecht, der sich in Gegenwart heulender Kinder ausgesprochen fehl am Platz vorkam.

»Wenn du was hörst, halte mich auf dem Laufenden«, sagte er zu Roland.

»Gleichfalls. Grüß Brigitte von mir.«

»Mach ich, Gruß auch an Petra.«

Nach dem Besuch auf dem Markt machte Malthaner einen kurzen Abstecher in seine Lieblings-Buchhandlung, wo er die Samstags-Ausgabe der Landeszeitung, seiner Landeszeitung, kaufte. Sein Abo lief nach wie vor unter der Stuttgarter Adresse, aber er wollte das Blatt auch in Albstadt stets aktuell lesen. Da sich das gute Wetter von gestern ins beginnende Wochenende hinübergerettet hatte, beschloss Malthaner, sich in einem Straßencafé einen Cappuccino samt Wasser zu gönnen. Er blätterte in der Landeszeitung. Der Mord an Ellwanger kam als Agenturmeldung auf der Landesseite. Malthaners Gedanken schweiften ab. Der Mord beschäftigte ihn mehr, als ihm lieb war. Mit dem Handy versuchte er erneut, Reinhard anzurufen. Wieder ohne Erfolg. Wieder unterließ er es, aufs Band zu sprechen. Er versuchte es telefonisch bei einigen anderen Bekannten, die gut mit Reinhard befreundet waren, aber niemand wusste, wo Reinhard sich aufhielt. Geeint wurden alle durch das ungläubige Staunen über den Todesfall.

Der Cappuccino schmeckte bitter.

Kapitel II

Brigitte war noch nicht zurück, als er nach Hause kam. Er verstaute die Einkäufe im Kühlschrank, legte das Albblatt mit dem Artikel über den Mord so auf den Küchentisch, dass Brigitte ihn nicht übersehen konnte und ging ins Bad. Dort zog sich  eines seiner Fahrrad-Trikots über, nachdem er den Brustgurt des Herzfrequenzmessers  angelegt hatte. Er entschied sich für ein kurzärmeliges Shirt und eine kurze Hose; nein, er würde heute nicht frieren. In den Bike-Rucksack stopfte er dennoch einen Windstopper, rein aus Gewohnheit; so wie er gewohnheitsmäßig die Luftpumpe, einen Ersatzschlauch, Reifenheber, sein Multifunktionswerkzeug und die Trinkflasche mit sich führte. Der Blick in den großen Badezimmer-Spiegel stellte Malthaner halbwegs zufrieden. Für einen Enddreißiger hatte er sich ganz gut gehalten. Kein Bauchansatz war unter dem Trikot zu sehen. Seine knapp 80 Kilo Gewicht verteilten sich vorteilhaft auf 1,86 Meter Körpergröße. Die ersten grauen Spuren in den dunkelblonden, fast braunen Haaren – geschenkt! Ein wenig blass kam er sich vor, kein Wunder bei dem, was ihn seit dem Morgen gedanklich beschäftigte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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