BARCA. Aufstieg und Fall des Klubs, der den modernen Fußball erfand - Simon Kuper - E-Book

BARCA. Aufstieg und Fall des Klubs, der den modernen Fußball erfand E-Book

Simon Kuper

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Beschreibung

Dies ist die  Geschichte, wie der FC Barcelona zum erfolgreichsten Fußballverein der Welt wurde - und wie diese Position nun auf dem Spiel steht. Mit 250 Millionen Fans in den sozialen Medien und vier Millionen Besuchern im Camp-Nou-Stadion pro Jahr ist es kein Wunder, dass das Vereinsmotto "Mas que un club"lautet. Aber das war nicht immer so. Simon Kuper hat für sein preisgekröntes Buch recherchiert, wie in den letzten 30 Jahren aus einem katalanischen Fußballverein eine globale Marke und soziales, kulturelles und politisches Phänomen wurde. Er beschreibt die Arbeit der Trainer, Mediziner, Datenanalysten und Ernährungswissenschaftler, die die Sportwelt revolutioniert haben. Und er untersucht den überragenden Einfluss der beiden größten Legenden des Vereins, Johan Cruyff und Lionel Messi. Hierfür erhielt er beispiellosen Zugang hinter die Kulissen des Klubs und zu den Menschen, die dort arbeiten.

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Seitenzahl: 681

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Für Pamela, Leila, Joey und Leo, die mich dieses Buch während der Lockdown-Monate in unserem Pariser Wohnzimmer schreiben ließen und die meine Liebe zu Spanien und Katalonien teilen. Ohne euch wäre es die Sache nicht wert gewesen.

»Bevor er kam, hatten wir in Barcelona keine Kathedrale des Fußballs, diese wunderbare Kirche. Wir brauchten etwas Neues. Und jetzt ist es etwas, das Bestand hat. Es wurde Stein um Stein von einem Mann aufgebaut: Johan Cruyff.«

Pep Guardiola

»Tatsache ist, dass es lange Zeit keinen Plan oder etwas Ähnliches gegeben hat. Sie jonglieren und stopfen Löcher, während die Dinge ihren Lauf nehmen.«

Lionel Messi, September 2020

»Wenn Journalisten tatsächlich etwas vom Fußball verstünden, wären sie vermutlich keine Journalisten.«

Johan Cruyff

INHALT

Personenverzeichnis

Ein Barça-Glossar

Anmerkungen zum Text

Einleitung: Barça kennenlernen

TEIL I – IM INNEREN DER KATHEDRALE

1Wer ist wer im Hause Barça

TEIL II – DER ARCHITEKT

2Der Mann, der mit dem Ball sprach

3Der FC Barcelona – nach einer Grundidee von Johan Cruyff

4Der Choreograf

5Cruyffs Unruhestand

TEIL III – DIE GOLDENE ÄRA 2008–2015

6Mehr als eine Jugendakademie

7Wie macht er das? Lionel Messi verstehen

8Hohe Kunst: 2008–2012

TEIL IV – TALENT

9Die Definition von Talent

10Das Talent regiert

11So leben Talente

12Essen, spielen, schlafen: Das Talent und der Privatkoch

TEIL V – DIE KATHEDRALE BRÖCKELT

13Transferfehler

14Alle werden zu La Masia

15Mehr als ein Verein?

16Messis Verein

 

Das Ende?

Danksagung

Ausgewählte Quellen

Personenverzeichnis

Eric Abidal (*1979): Vereinslegende, seit er 2011 nur wenige Monate nach einer überstandenen Krebserkrankung mit Barça die Champions League gewann. Dem Klub diente er zunächst als erfolgreicher Linksaußen in Pep Guardiolas Übermannschaft, bevor er von 2018 bis 2020 ziemlich erfolglos als Sportdirektor fungierte, der die falschen Spieler einkaufte.

Jordi Alba (*1989): La-Masia-Zögling, der Barcelona verließ, um seine Profikarriere zu beginnen, und 2012 zu seinem Jugendverein zurückkehrte. Linksaußen. Guter Freund von Messi, der auch gemeinsam mit ihm und seiner Familie Urlaub macht.

Thiago Alcântara (*1991): Mittelfeldspieler. Sohn des brasilianischen Weltmeisters Mazinho. Absolvierte La Masia, schaffte es aber nicht in Barças erste Mannschaft. Wechselte dann zu Bayern München und brillierte dort u. a. beim vernichtenden 8:2-Sieg der Bayern über den FC Barcelona im Jahr 2020. Spielt seit 2020 in Liverpool.

Josep Maria Bartomeu (*1963): Barças Vereinspräsident von 2014 bis zu seinem Rücktritt im Jahr 2020, der für zu viel Geld die falschen Spieler verpflichtete. Leitet ein Familienunternehmen. Netter Kerl.

Tonny Bruins Slot (1947–2020): Johan Cruyffs treuer Assistent, Spross einer Amsterdamer Arbeiterfamilie. Wurde im selben Jahr wie Cruyff geboren und war einer er wenigen, mit denen sich der berühmte Trainer nie überwarf. War für die taktische Analyse der Gegner zuständig, eine Aufgabe, für die Cruyff selbst nie die nötige Geduld aufbrachte.

Sergio Busquets (*1988): Ein brillanter pivote, also ein als cruyffscher »Verbinder« fungierender Mittelfeldspieler, solange er nicht laufen musste. Der La-Masia-Schüler begann 2008 als Ersatzspieler bei Barcelonas B-Mannschaft und hatte bereits 2011 alle großen Titel gewonnen. Cruyffs nicht ganz so brillanter Ersatztorwart Carles Busquets ist sein Vater.

Albert Capellas (*1967): Langjähriger Koordinator der Masia-Akademie. Nach einem Jahrzehnt als Trainer im Ausland kehrte er 2021 zu Barça zurück. Auf 1 verbreitet er cruyffsche Spielideen. Dem Autor dieses Buches stand er als wichtiger Berater zur Seite.

Manus Cruijff (1913–1959): Johans Vater. Er war Ajax-Fan und arbeitete als Lebensmittelhändler in dem Viertel, in dem das alte Amsterdamer Stadion stand. Sein früher Tod infolge eines Herzinfarkts war das prägendste Ereignis in Johans Leben. Manus schrieb seinen Familiennamen nie mit »y«.

Danny Cruyff (*1949): Johans Witwe. Behandelte Cruyff zeitlebens wie einen ganz normalen Mann aus Amsterdam. Hat nichts dafür übrig, in der Öffentlichkeit zu stehen, und auch nichts mit Fußball am Hut.

Johan Cruyff (1947–2016): Vater des modernen FC Barcelona. Sein Familienname lautete eigentlich Cruijff, aber Johan dachte, dass der Name mit »y« geschrieben international besser funktionieren würde. Eine der interessantesten Persönlichkeiten der modernen Fußballgeschichte. Von 1964 bis 1984 brillanter Spieler, danach ein ganz und gar origineller Trainer. Als Chefcoach schuf er in Barcelona von 1988 bis 1996 das sogenannte Dream-Team und ließ es dann zugrunde gehen. Cruyff erfand einen Großteil des modernen Fußballs, einschließlich des typischen Barça-Stils (obwohl andere Vereine ihn heute besser beherrschen). Ziemlich durchgeknallt.

Jordi Cruyff (*1974): Johans Sohn, eine Rolle, die ihm nicht leicht gefallen sein wird. Spielte (und saß auf der Bank) für Barcelona, Manchester United und die niederländische Nationalelf. Fühlt sich mehr als Katalane statt als Niederländer. Im Juni 2021 kehrte er von seinem Cheftrainerposten beim chinesischen Klub FC Shenzhen nach Spanien zurück und wurde wenig später Sportdirektor bei Barça.

Ousmane Dembélé (*1997): Schneller französischer Flügelspieler, der allerdings nicht gerade einen asketischen Lebensstil pflegt und oft verletzt war und/oder mit dem Verein im Clinch lag. Barcelona wird es sicher bereut haben, über 140 Millionen Euro für ihn an Borussia Dortmund gezahlt zu haben, wo er sich aus seinem Vertrag rausgestreikt hatte.

Robert Enke (1977–2009): Der deutsche Keeper wechselte 2002 zum FC Barcelona, wo er einen Karriereeinbruch erlebte und lediglich für eine Handvoll Spiele zum Einsatz kam, u. a. bei einer Pokalniederlage gegen einen Drittligisten, für die er zum Sündenbock gemacht wurde. Der an Depressionen erkrankte spätere deutsche Nationaltorhüter nahm sich am 10. November 2009 das Leben.

Samuel Eto’o (*1981): Exzellenter Stürmer mit einer nicht ganz einfachen Persönlichkeit. Guardiola wollte ihn 2008 zunächst verkaufen, wird aber erleichtert gewesen sein, es doch nicht getan zu haben, nachdem ihm nicht zuletzt der Kameruner zu einer perfekten Debütsaison verhalf.

Cesc Fàbregas (*1987): Ein Masia-Absolvent, der mit Messi und Piqué in seiner Jugend das »Baby-Dream-Team« bildete. Wechselte mit 16 zu Arsenal, bevor er als 24-Jähriger nach Barça zurückkehrte, gerade noch rechtzeitig, um die letzten ruhmreichen Jahre des Vereins mitzuerleben.

Francisco Franco (1892–1975): Galizier, der vom Armeegeneral zum Führer (»Caudillo«) der Nationalisten im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) aufstieg und schließlich als Diktator Spanien regierte (1939–1975). Unter seinem Regime wurden schätzungsweise 200.000 Spanier getötet und viele andere ins Exil getrieben. Den katalanischen Nationalismus unterdrückte er brutal.

Louis van Gaal (*1951): Ein Cruyffianer, der Cruyff selbst verhasst war. Trainierte den FC Barcelona von 1997 bis 2000 und noch einmal von 2002 bis 2003. Gewann zweimal die spanische Meisterschaft, wobei man sich in Barcelona eher an seine sehr unkatalanische barsche Direktheit und sein Spanisch mit Amsterdamer Akzent erinnert.

Joan Gaspart (*1944): Hotelier, kellnerte einst im berühmten Londoner Fünfsternehotel The Connaught. Von 2000 bis 2003 war er – erfolglos – Präsident des FC Barcelona. In Michelangelo Antonionis 1975 in Barcelona gedrehten Film Beruf: Reporter spielte er einen Rezeptionisten.

Antoni Gaudí (1852–1926): Katalanischer Architekt. Begann 1882 mit dem Bau der noch immer unvollendeten Kathedrale Sagrada Família. Der Autor dieses Buches zieht möglicherweise übertriebene Parallelen zwischen ihm und Johan Cruyff, einem anderen verrückten Genie.

Antoine Griezmann (*1991): Star des französischen Weltmeisterteams von 2018. Eigentlich ein brillanter Spieler, allerdings nicht während seiner zwei Jahre beim FC Barcelona. Ein Mini-Messi, was vielleicht das Problem war.

Pep Guardiola (*1971): Cruyffs Musterschüler. Kam mit 13 Jahren nach Barcelona. Ein Cruyffianer, der die Kathedrale des Fußballs gründlich sanierte. Seit er als Trainer im Jahr 2012 fortging, ist der Verein nicht mehr derselbe. Ein Separatist, der sich für die Unabhängigkeit Kataloniens einsetzt.

Thierry Henry (*1977): Französischer Stürmer, der seine besten Jahre in Diensten des FC Arsenal verbrachte, aber von 2007 bis 2010 eine späte Blütezeit in Barcelona erlebte. Hat mit Messi gespielt und ihn beobachtet.

Zlatan Ibrahimović (*1981): Schwedischer Stürmer, dessen einzige Saison in Barcelona (2009/10) ein Reinfall war, weil Messi keinen massigen Schweden in der Mannschaft dulden wollte, der seine Läufe in die Mitte blockiert. Definitiv kein Guardiola-Fan.

Andrés Iniesta (*1984): Bleichgesichtiges Genie. Absolvierte die Masia, gewann mit Barcelona alles, was es zu gewinnen gab, litt an Depressionen und wechselte 2018 zum japanischen Klub Vissel Kobe, wo er u. a. mit Lukas Podolski zusammenspielte. Ein großartiger Fußballer, der glücklich war, im Dienste eines noch größeren zu spielen: Messi.

Frenkie de Jong (*1997): Niederländischer Mittelfeldspieler, der seinen Trainern Albträume beschert, indem er aus der eigenen Abwehr heraus dribbelt. Kam 2019 nach Barcelona – und damit genau zum falschen Zeitpunkt.

Ronald Koeman (*1963): Als torgefährlicher Innenverteidiger von 1989 bis 1995 wurde er zur Vereinslegende. Er erzielte den Siegtreffer im Champions-League-Finale 1992 in Wembley. Wohnte direkt neben Cruyff. Als Barças Cheftrainer war er weniger erfolgreich. Im Oktober 2021 wurde er nach einer unglücklichen 14-monatigen Amtszeit entlassen.

Joan Laporta (*1962): Präsident des FC Barcelona von 2003 bis 2010 und erneut seit März 2021. Ein gutaussehender Anwalt, der charismatischste Mann in ganz Katalonien, der es allerdings besser versteht, zu improvisieren als zu organisieren.

Michael Laudrup (*1964): Dänischer »Schattenstürmer« (auch »falsche Neun« genannt), stammt aus der oberen Mittelschicht und spielte zwischen 1989 und 1994 in Cruyffs Dream-Team. Überwarf sich dann mit Cruyff und wechselte zu Real Madrid. Eine Saison, nachdem er Barça zu einem 5:0-Sieg gegen Real verholfen hatte, verhalf er Real zu einem 5:0-Erfolg gegen Barça. Heute ist er Fußballtrainer und importiert spanischen Wein nach Dänemark.

Gary Lineker (*1960): Englischer Stürmer, der von 1986 bis 1989 für Barcelona spielte. Er liebte die Stadt und lernte sogar Spanisch. Cruyff konnte leider nichts mit ihm anfangen. Heute moderiert er die Fernsehsendung Match of the Day.

Antonia Lizárraga (Geburtsjahr unbekannt): Ernährungsberaterin. Wurde 2010 vom Gesundheitsfanatiker Guardiola eingestellt, um den Fußballern des FC Barcelona beizubringen, wie man sich richtig ernährt. Sie versucht es immer noch.

Diego Maradona (1960–2020): Spielte von 1982 bis 1984 für Barcelona, aber die Stadt war zu spießig für ihn, und Andoni Goikoetxea, der »Schlächter von Bilbao«, brach ihm seinen Knöchel. Trotzdem schaffte er es, an ein paar Orgien teilzunehmen.

Lieke Martens (*1992): Stürmerin von Barcelonas Frauenmannschaft, die die Tradition der niederländischen Spieler bei Barça fortsetzt. Wurde 2017 zur besten FIFA-Frauenfußballerin gewählt, verdient aber immer noch zu wenig, um mit einer großen Entourage anzureisen.

Jorge Messi (*1958): Vater und Agent von Lionel. Vormals Manager in einer Stahlfabrik im argentinischen Rosario. Hält sich für einen brillanten Geschäftsmann. Wurde 2016 zusammen mit seinem Sohn wegen Steuerhinterziehung verurteilt, kam aber mit einer Geldstrafe davon. Einer der Hauptverantwortlichen für den wirtschaftlichen Absturz des FC Barcelona.

Lionel Messi (*1987): Einflussreichste Persönlichkeit im Verein, bis er im August 2021 plötzlich gehen musste. Er kam mit 13 Jahren zu Barça und schoss mehr als 600 Tore für die erste Mannschaft, verwandelte den FC Barcelona letztendlich aber in den FC Messi. Sein Gehalt (das irgendwann auf rund 150 Millionen Euro pro Jahr angestiegen war) trug zum Niedergang des Vereins bei.

Rinus Michels (1928–2005): Ehemaliger Sportlehrer für gehörlose Kinder. Hatte während des Großteils seiner Trainerkarriere – bei Ajax, Barcelona, der niederländischen Nationalmannschaft, den Los Angeles Aztecs und dem 1. FC Köln – ein aufreibendes, aber fruchtbares Lennon-und-McCartney-haftes Verhältnis zu Johan Cruyff. Miterfinder des »totalen Fußballs« und damit des Fußballs des 21. Jahrhunderts. Großvater des modernen FC Barcelona.

José Mourinho (*1963): Portugiesischer Trainer. Als Real-Coach langjähriger Erzfeind des FC Barcelona, der zuvor zwischen 1996 und 2000 als Assistenztrainer bei Barça entscheidend geprägt wurde, wo er auch als Übersetzer und Taktikanalyst fungierte. Er übernahm das cruyffsche Konzept vom Fußball als einem Tanz im Raum, zieht es aber vor, den Raum zu schließen, anstatt ihn zu öffnen.

Neymar (*1992): Kam 2013 zum FC Barcelona und blieb dort bis zu seinem verhängnisvollen Wechsel zu Paris Saint-Germain 2017. Er hinterließ bei Barça eine Lücke, die nie wieder gefüllt werden konnte. Es war der folgenreichste Fußballtransfer der 2010er-Jahre. Messi wollte mit ihm in Barcelona wiedervereint werden. Stattdessen geschah es in Paris.

Josep Lluís Núñez (1931–2018): Entwickelte sich vom Immobilienmagnaten zum langjährigen Präsidenten des FC Barcelona (1978–2000). Verpflichtete Cruyff, konnte ihn aber nicht ausstehen. Ihm wurde keine Anerkennung für den Aufstieg des Vereins unter seiner Führung zuteil. Barças letzter nichtkatalanischer Präsident.

Pedro (*1987): Ein La-Masia-Schüler, der 2007 in Barcelonas C-Mannschaft anfing und später so ziemlich alles gewann, was es im Fußball zu gewinnen gibt. Kein Genie, was bedeutet, dass seine Karriere weitaus eher der Masia zu verdanken ist als die von Messi.

Gerard Piqué (*1987): Angehöriger der kaufmännischen Elite Kataloniens, Unternehmer, war lange mit der Popsängerin Shakira verheiratet und bis November 2022 Innenverteidiger beim FC Barcelona. Spielte 20 Jahre lang an Messis Seite. Wird als künftiger Vereinspräsident gehandelt. Die Gene dafür hat er.

Inma Puig (Geburtsjahr unbekannt): Sportpsychologin, die bis 2018 15 Jahre lang für den FC Barcelona arbeitete. Half Iniesta durch seine persönliche Krise. Berät heute Unternehmen.

Carles Puyol (*1978): Langhaariger Innenverteidiger im famosen Guardiola-Team, gewann 2010 mit Spanien die Weltmeisterschaft. Nachdem er seine Ausbildung in La Masia beendet und den Sprung in die erste Mannschaft geschafft hatte, übernahm Iniesta sein Bett in der Nachwuchsschmiede.

Mino Raiola (1967–2022): Italienisch-niederländischer Spielerberater, der sein Handwerk in den Pizzerien seines Vaters lernte. Zeichnete für zahlreiche Toptransfers verantwortlich. War Agent von Ibrahimović und damit zwangsläufig Feind von Guardiola.

Carles Rexach (*1947): Verbrachte sein ganzes Leben in einem Radius von etwa einem Kilometer rund ums Camp Nou. Ebenso begabter Flügelspieler wie kongenialer Sturmpartner von Cruyff beim FC Barcelona. Nach seiner aktiven Karriere hatte er fast jeden denkbaren Posten im Klub inne, darunter auch den des Trainerassistenten und Freundes von Cruyff. Mit dem Niederländer zerstritt er sich unweigerlich.

Frank Rijkaard (*1962): Brillanter niederländischer Fußballer und von 2003 bis 2008 Cheftrainer des FC Barcelona. Gewann 2006 mit Barça die Champions League. Beendete seine Trainerkarriere frühzeitig wenige Jahre später, weil ihn das Coaching nicht mehr reizte.

Rivaldo (*1972): Barças kreativster Spieler zwischen 1997 und 2002. Dann erklärte er dem Team, dass er nicht mehr auf dem Flügel spielen wolle, was wahrscheinlich ein Fehler war. Besser lief es für ihn bei der Wahl zu Europas Fußballer des Jahres 1999 und bei der Weltmeisterschaft 2002, die er mit der brasilianischen Nationalmannschaft gewann.

Sergi Roberto (*1992): Gebürtiger Katalane, einer der wenigen Spieler der A-Mannschaft, die Katalanisch sprechen, und zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes einer der vier Mannschaftskapitäne des FC Barcelona. Möglicherweise tritt er in der Kabine energischer auf als auf dem Platz.

Romário (*1966): Brillanter, wenn auch etwas lauffauler Torschütze in Cruyffs Dream-Team von 1993 bis 1995. Training, Laufen und Defensivarbeit waren nicht sein Ding, Schlafen und Sex hingegen umso mehr. Seit Längerem in der Politik aktiv und Senator des Bundesstaates Rio de Janeiro. Wurde 1994 mit Brasilien Weltmeister.

Ronaldinho (*1980): Brasilianisches Genie. Barça verpflichtete ihn 2003, nachdem man David Beckham nicht bekommen konnte. 2005, als er kurzzeitig als bester Spieler der Welt gehandelt wurde, gewann er mit dem Klub die Champions League. Kurz darauf verlor er allerdings das Interesse am Fußball. 2020 wurde er in Paraguay kurzzeitig inhaftiert, weil er angeblich mit einem falschen Pass in das Land eingereist war.

Cristiano Ronaldo (*1985): Brillanter portugiesischer Stürmer. Zweitbester Fußballer seiner Zeit. Wäre als Teenager beinahe zum FC Barcelona gekommen. Wurde zwischen 2009 und 2018 stattdessen gefeierter Star bei Barças Erzrivalen Real Madrid, spielte dann bei Juventus Turin und schließlich – wie schon von 2003 bis 2009 – bei Manchester United. Kickt seit Anfang 2023 in Saudi-Arabien.

Sandro Rosell (*1964): Angehöriger von Barcelonas burgesia. Verdrängte seinen alten Verbündeten Joan Laporta 2010 vom Posten des Vereinspräsidenten, den er danach selbst bis 2014 innehatte. Trat dann aufgrund von Ermittlungen wegen Unterschlagung im Zusammenhang mit dem Transfer von Neymar vom FC Santos zurück. Verbrachte fast zwei Jahre im Gefängnis, wurde im anschließenden Prozess vom Vorwurf der Geldwäsche und Bandenbildung jedoch freigesprochen.

Eusebio Sacristán (*1964): Kleinwüchsiger Mittelfeldspieler, der von 1988 bis 1995 für den FC Barcelona auflief. Cruyff vermittelte ihm die Essenz des strukturierten Passspiels, so wie es Eusebio seit seiner Kindheit vorgeschwebt hatte. Später wurde er Rijkaards Assistenztrainer.

Paco Seirul·lo (*1945): Hüter der cruyffschen Tradition bei Barça. Begann als Trainer der Handballabteilung und wurde zu Cruyffs rechter Hand. Heute lehrt er an der Universität von Barcelona, redet wie ein Pariser Philosoph und ist eine Art wandelnder USB-Stick mit dem institutionellen Gedächtnis des Klubs. Im Camp Nou ist er als El Druida – »der Druide« – bekannt.

Ferran Soriano (*1967): Gebürtiger Barceloner mit BWL-Diplom. Bei Barça für die Finanzen zuständiger Vizepräsident von 2003 bis 2008. Inzwischen ist er CEO bei Manchester City, wo er Guardiola eingestellt hat. Sein kaum beachtetes Buch La pelota no entra por azar (dt.: »Der Ball geht nicht durch Zufall rein«) ist in Bezug auf das moderne Barça eine erstaunlich ergiebige Quelle.

Christo Stoitschkow (*1966): Der bulgarische Stürmer gehörte von 1990 bis 1995 zu Barcelonas Dream-Team. Cruyff liebte seine mala leche (dt.: »schlechte Milch« bzw. im übertragenden Sinne »böse Ader«). Stoitschkow feierte gerne mit Romário, bis sie sich zerstritten. Es gibt ein tolles YouTube-Video, in dem Cruyff ihm zeigt, wie man seilspringt.

Luis Suárez (*1987): Uruguayischer Stürmer, Nachbar und bester Freund von Messi. Spielte von 2014 bis 2020 für Barcelona, bis Ronald Koeman ihm in einem 40-Sekunden-Telefonat mitteilte, dass seine Dienste nicht mehr benötigt werden. Niemand aus dem Vorstand dankte ihm für die 198 Tore, die er für den Verein geschossen hatte. Er ging zu Atlético Madrid und schoss nun für sie reihenweise Tore, womit er dem Klub entscheidend half, 2021 spanischer Meister zu werden.

Lilian Thuram (*1972): Französischer Intellektueller und Abwehrspieler. Als er mit 34 Jahren zum FC Barcelona kam und die cruyffschen Prinzipien kennenlernte, fühlte er sich zum ersten Mal voll und ganz als Fußballer. Er fragte sich, welchen Sport er bis dahin betrieben hatte. Heute setzt er sich gegen Rassismus ein.

Oriol Tort (1929–1999): Barcelonas langjähriger unbezahlter Chefscout. Im zivilen Leben Pharmavertreter. Sah sich manchmal bis zu 20 Juniorenspiele an einem Tag an und hielt jeden vielversprechenden Namen mithilfe seiner Schreibmaschine fest. Er entschied, dass Barça eine Akademie brauchte, um talentierte Kinder von außerhalb der Stadt aufzunehmen. 1979 öffnete La Masia ihre Pforten. Er holte Iniesta nach Barcelona.

Jorge Valdano (*1955): Wurde an der Seite von Maradona Weltmeister mit Argentinien. Ehemaliger Trainer und technischer Direktor in Diensten von Real Madrid, kann prima schreiben, ist ein Charmeur und netter Kerl – insgesamt entspricht er ziemlich gut der Vorstellung des Autors vom Idealbild eines Mannes. Valdano zog wegen der Militärdiktatur in seiner argentinischen Heimat 1975 nach Spanien – gerade rechtzeitig, um den Tod Francos und den Wandel des Landes mitzuerleben. Ein Cruyffianer, aber auch ein kritischer Beobachter von Cruyff und Barça.

Victor Valdés (*1982): La-Masia-Absolvent, der Stammkeeper in Guardiolas Topteam war. Lange zu gestresst, um den Fußball zu genießen, bis Guardiola ihm beibrachte, das Spiel kühl zu analysieren. Ein sehr enger Freund von Iniesta.

Ernesto Valverde (*1964): Eher unbedeutender Stürmer bei Barcelona unter Cruyff von 1988 bis 1990. Als Trainer gewann er mit Barça in seinen beiden kompletten Spielzeiten zwischen 2017 und 2020 zweimal die Meisterschaft und einmal den spanischen Pokalwettbewerb, bis ihn die Vereinsführung entließ. Die hatte keine Ahnung, wie gut sie es mit ihm gehabt hatte. Ein bescheidener kleinwüchsiger Mann mit Sinn für Humor – und ein leidenschaftlicher Fotograf.

Tito Vilanova (1968–2014): In den 1980er-Jahren Guardiolas Jugendfreund in La Masia, von 2008 bis 2012 sein Assistenztrainer bei der A-Mannschaft. Gab den guten Cop, während Guardiola den bösen Cop mimte. Als Guardiola zurücktrat, erklärte sich Vilanova bereit, das Amt des Cheftrainers zu übernehmen, was Guardiola ihm verübelte. Während seiner Saison als Chefcoach kam der Krebs zurück, von dem er als geheilt galt, und zwang Vilanova nach dem Gewinn der Meisterschaft zum Rücktritt. Ein Jahr später starb er. Seine Witwe untersagte Guardiola die Teilnahme an der Beerdigung.

Arsène Wenger (*1949): War zwischen 1996 und 2018 Cheftrainer bei Arsenal. Ist ein Fan der cruyffschen Spielidee. Zu diesem Buch trug er sein Wissen als altgedienter Beobachter des modernen Fußballs bei, vor allem deshalb, weil der Autor das Glück hatte, in den entscheidenden letzten Monaten der Arbeit an diesem Buch ein Interview mit ihm zu führen. Ist jetzt für die FIFA tätig. Elsässer.

Xavi (*1980): Mittelfeldspieler, der Barcelonas Passspiel prägte: schauen, passen, schauen, passen – und wieder und wieder… So fehlerfrei, dass seine Mannschaftskameraden ihm den Spitznamen la Maquina – »die Maschine« – gaben. Er absolvierte La Masia und spielte von 1998 bis 2015 in der ersten Mannschaft. Wechselte dann nach Katar und kehrte im November 2021 heim, um Barças Cheftrainer zu werden.

Boudewijn Zenden (*1976): Der viel herumgekommene, mehrsprachige niederländische Flügelspieler lief zwischen 1998 und 2001 für Barça auf. Später spielte er auch für Chelsea, Liverpool, Marseille u. v. m. Anthropologischer Beobachter der Fußballsitten und gelegentlicher Interviewpartner des Autors seit 1997.

Andoni Zubizarreta (*1961): Kluger Baske. Bestritt fast 1000 Spiele als Profifußballer. Von 1986 bis 1994 stand er als Keeper für Barça im Kasten, zwischen 2010 und 2015 war er dort Sportdirektor. Er nahm Neymar und Suárez unter Vertrag. Bartomeu hätte ihn nicht entlassen sollen.

Ein Barça-Glossar

burgesia: Bezeichnung für den katalanischen Kaufmannsstand, ein Pendant zur französischen Bourgeoisie. Viele Barça-Funktionäre aus der Führungsriege entstammen der burgesia, üblicherweise kommt auch der Vereinspräsident aus ihren Reihen. Fast alle von ihnen sprechen Katalanisch.

Can Barça: »Das Haus Barça«, etwas pathetischer Spitzname für den Klub.

El Clásico: Bezeichnung für alle Begegnungen zwischen Barça und Real Madrid, die wichtigsten Spiele im spanischen Fußballkalender, allerdings erst seit Februar 1974, als der FC Barcelona unter der Führung seines Spielmachers Johan Cruyff 0:5 im Bernabéu gewann. Davor galten die Lokalderbys zwischen Real Madrid und Atlético Madrid als die wichtigsten Spiele. Der Clásico entwickelte sich zu einem übersportlichen Event, bei dem die jahrhundertelangen Spannungen zwischen Katalonien und der Zentralregierung in Madrid jedes Mal aufs Neue eine Rolle spielen.

culer (spanisch: culé): Bezeichnung für Barça-Fans. Wörtlich übersetzt bedeutet es »Hintern«. Der Name stammt womöglich aus der Zeit des alten Barça-Stadions vor gut 100 Jahren, als Passanten, die am Stadion vorbeigingen, nur die Allerwertesten der Zuschauer sahen, die über die Stadionmauer ragten.

en un momento dado: »zu einem bestimmten Moment« – Cruyffs beliebte Floskel, wenn ihm im Spanischen die Worte ausgingen.

entorno: wörtlich übersetzt »Umfeld« oder »Umgebung«; Cruyff meinte damit das spezielle Umfeld des Vereins: die socis, Barças Ultras, die sich vor dem Haus des Präsidenten versammelten, um ihn zu bedrohen, die Journalisten, die von dem Verein lebten, die sich in den laufenden Betrieb einmischenden Lokalpolitiker, Sponsoren und Vorstandsmitglieder, die ehemaligen Vorstandsmitglieder und Mitarbeiter, die wieder in den Verein hineinzukommen versuchten, und die Oppositionellen, die den Vereinsvorstand absetzen wollten.

indepe: Abkürzung für independentiste; Befürworter der katalanischen Unabhängigkeit, d.h. in etwa die Hälfte der Bevölkerung Kataloniens. Indepes sind in der Regel katalanische Muttersprachler.

madriditis: Ausdruck für die leidenschaftliche Besessenheit von Real Madrid im Besonderen und der spanischen Hauptstadt im Allgemeinen.

La Masia: Wörtlich übersetzt »das Bauernhaus«. Mit Barcelonas Masia – ursprünglich in einem alten Bauernhaus untergebracht – ist die inzwischen nicht mehr ganz so berühmte Jugendakademie des Vereins gemeint.

Més que un club: »Mehr als ein Klub«, das Motto des FC Barcelona. Gemeint ist damit, dass der Klub auch für katalanischen Nationalismus steht, für cruyffschen Fußball, dafür, Spieler aus dem eigenen Nachwuchs heranzuziehen und ganz allgemein für Würde und Werte (valors) einzustehen. Darüber hinaus ist der Satz ein der Selbstbeweihräucherung frönender und inzwischen ziemlich überholter Werbeslogan.

Pa amb tomàquet: Brot mit Tomate, eine katalanische Spezialität.

rondo: Eine Abwandlung des Kinderspiels »Schweinchen in der Mitte«. Barças beliebteste Trainingsübung seit Cruyffs Zeiten. Eine Gruppe von Spielern passt sich den Ball innerhalb eines fest umrissenen Raums zu, während ein paar andere versuchen, ihn abzufangen. Beim Rondo geht es um die wesentlichen Elemente des cruyffschen Fußballs: Timing, Raum, Passspiel und geometrische Figuren.

soci: Ein beitragszahlendes Mitglied des Vereins (span.: socio). Barças etwa 150.000 socis – die fast alle in Katalonien leben – gelten als Eigentümer des Vereins.

Anmerkungen zum Text

Bei meinen Ausführungen über Barça verwende ich bevorzugt katalanische Begriffe statt spanische, weil die Vereinssprache Katalanisch ist. So nenne ich die beitragszahlenden Mitglieder socis, nicht socios, wie es im Spanischen heißen würde. Auch bei gleichlautenden Begriffen verzichten die Katalanen in der Regel auf das Setzen von Akzenten. Kastilianisch metodología (»Methodik«) wird auf Katalanisch metodoligia geschrieben. La Masia (der Name der Jugendakademie des FC Barcelona) trägt im Spanischen einen Akzent auf dem i, die Katalanen hingegen verzichten auf den Akzent.

Einleitung: Barça kennenlernen

Inzwischen ist mir klar geworden, dass ich mit der Arbeit an diesem Buch eigentlich schon 1992 begonnen habe, als ich mit 22 Jahren in einer zerschlissenen Jacke zum ersten Mal einen Fuß ins Camp Nou setzte. Ich reiste mit 5000 britischen Pfund in der Tasche und einer Schreibmaschine im Rucksack um die Welt, um mein erstes Buch zu schreiben, Football Against the Enemy – Oder: Wie ich lernte, Deutschland zu lieben. Ich wohnte im Hostal Kabul an der Plaça Reial, an der es von Taschendieben nur so wimmelte. Aufs Mittagessen verzichtete ich, um Geld zu sparen, doch abends gönnte ich mir an einem Imbiss ein Falafel-Sandwich. Barcelona, das lange als schäbiges Provinznest galt, war für die in diesem Sommer hier stattfindenden Olympischen Spiele mächtig herausgeputzt worden. Mir war nicht klar gewesen, wie schön diese Stadt wirklich war. Ich saß vor der Kasparo Bar in der Sonne, spielte miserabel Schach und beschloss, eines Tages hierher zurückzukehren.

Hergekommen war ich, weil mich der hiesige Fußballverein faszinierte. Ich bin in den Niederlanden aufgewachsen (was auf den kommenden Seiten hier und da vielleicht durchscheinen wird), daher war Johan Cruyff, der Holländer, der 1973 zum FC Barcelona ging – zunächst als Spieler –, der Held meiner Kindheit. Cruyff war aber nicht nur ein hervorragender Spieler, sondern auch ein großer Fußballtheoretiker, so etwas wie Edison und die Glühlampe in Personalunion. Er ist der Vater des typischen Barça-Stils, des mitreißenden Angriffsfußballs, der sich durch schnelles Direktspiel und hohes Pressing auszeichnet. In diesem Buch stelle ich die These auf, dass er sogar als Vater des modernen Fußballs an sich angesehen werden kann.

An einem Tag im Jahr 1992 machte ich mich mit der Metro auf zum Camp Nou, um zu versuchen, ein Interview für Football Against the Enemy mit ihm zu führen. Die freundliche Pressesprecherin, Ana, schaute sich meine zweifelhaften journalistischen Referenzen ebenso an wie meine zerschlissene Jacke und schlug mir dann vor, stattdessen Barças betagten ersten Vizepräsidenten Nicolau Casaus zu interviewen. Ana erklärte mir, dass er kein Englisch spreche, aber als ich vor seinem Büro wartete, hörte ich, wie er mehrmals mit amerikanischem Akzent das Wort »siddown« wiederholte. Es wirkte gerade so, als würde er für mich üben. Als ich eintrat, rauchte er eine stattliche Zigarre. Ich fragte ihn, ob das Vereinsmotto – més que un club – auf die politische Bedeutung des FC Barcelona in Spanien anspielte. Casaus antwortete mir auf Spanisch. Er verneinte und sagte, dass die Barça-Anhänger durchaus verschiedenen Parteien zugeneigt wären und auch bezüglich ihrer Religionszugehörigkeit ein gemischtes Bild abgeben würden. Warum also dieses Motto? »Barcelonismo ist eine große Leidenschaft«, entgegnete er vage. Die Politik schien ihm ein zu heikles Thema zu sein. Damals wusste ich noch nicht, dass er als katalanischer Aktivist während der Franco-Diktatur fünf Jahre im Gefängnis gesessen hatte, ursprünglich sogar zum Tode verurteilt worden war.

Nach diesem Gespräch ging ich wieder zu Ana und bat sie erneut um ein Interview mit Cruyff, doch sie vertröstete mich und schlug stattdessen vor, mit seinem Assistenten Tonny Bruins Slot einen Termin zu machen. Insgeheim war ich erleichtert: Allein die Vorstellung, mein Idol zu treffen, machte mir doch weiche Knie.

1992 ging es im Fußball noch wesentlich nahbarer zu als heute. Barça trainierte damals auf einem Platz neben dem Camp Nou. Eines Morgens vor dem Training wies man mir einen Stuhl vor der Kabine zu und bat mich, dort auf Bruins Slot zu warten. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt hatte ich im ganzen Leben erst einen einzigen Profifußballer getroffen. Michael Laudrup kam aus der Kabine und sah mich an. Dann kam Cruyff raus, im Eilschritt mit einem Fußball unterm Arm. Er scherzte mit einem Zeugwart und einem kolumbianischen Journalisten, der auf eine Audienz hoffte. Es war ein herrlicher Morgen, er war auf dem Weg, die Sieger des Europapokals der Landesmeister zu trainieren, und wollte den jungen Kerl mit der zerschlissenen Jacke gewiss an seinem Glück teilhaben lassen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er mich aus zwei Metern Entfernung anstrahlte, aber als ich es endlich schaffte, mir auf Holländisch ein »Hallo« abzuringen, war er schon wieder fort. Bruins Slot kam heraus und fragte, wie lange ich brauche. Er hatte es eilig, zum Training zu kommen. »Zwanzig Minuten«, sagte ich.

Bruins Slot entstammte wie Cruyff unverkennbar der Amsterdamer Arbeiterklasse. Er führte mich in einen Aufenthaltsraum, trieb einen schwarzen Kaffee im Pappbecher für mich auf, suchte überall nach einem Aschenbecher, zweckentfremdete schließlich einen weiteren Pappbecher dafür und verwickelte mich in ein zweistündiges Gespräch über Fußball. Zum Training schaffte er es an diesem Tag nicht mehr. »Wir haben ein Copyright, ein Patent«, sagte er. »Patente kann man nachahmen, aber es gibt ein paar Kniffe, die nur eine einzige Person kennt.«

Cruyff machte Barça groß. Seinem berühmtesten Schüler, Pep Guardiola, zufolge erbaute er die Kathedrale. Mehr noch, man kann durchaus behaupten, dass er der Schöpfer des gesamten modernen Fußballs ist. Er ist der Freud oder der Gaudí dieses Spiels, der interessanteste, originellste und aufbrausendste Mann der Fußballgeschichte. Die Kathedrale von Barça wurde später von Guardiola modernisiert und von Lionel Messi perfektioniert, bevor sie letztlich anfing zu zerbröckeln.

Messi ist die andere Persönlichkeit, die mich dazu bewegte, dieses Buch zu schreiben. Ich habe immer versucht zu verstehen, wie er das, was er auf dem Platz macht, anstellt. Und als ich angefangen hatte, Barça genauer unter die Lupe zu nehmen, stieß ich auf etwas anderes, das mein Interesse weckte: seine Macht. Dieser stille Argentinier mag den Eindruck erwecken, das genaue Gegenteil von Cruyff zu sein, tatsächlich jedoch trat er direkt in die Fußstapfen des Holländers und entwickelte sich zur einflussreichsten Person des Vereins. Jahrelang attestierten ihm Außenstehende aufgrund seines ausdruckslosen Blicks und seiner großen Zurückhaltung in der Öffentlichkeit einen Mangel an Persönlichkeit. Bei Barça hingegen hatte man schon lange gewusst, wie dominant und furchteinflößend er sein kann. Mit der Zeit verwandelte sich der FC Barcelona in den FC Messi.

Das nahm kein gutes Ende. Während ich Barça erforschte, ging es mit dem Klub allmählich immer mehr den Bach hinunter. Als ich 1992 zum ersten Mal herkam, war die große Zeit des Vereins gerade angebrochen, und 2021, zum Ende meiner Recherchen, schien er mit Messis Abschied kurz vor dem Untergang zu stehen. Es war ein wenig so, als würde man um das Jahr 400 herum ein Buch über das Römische Reich schreiben. Zu Beginn meiner Arbeit hatte ich noch gedacht, dass ich in meinem Buch Barças Aufstieg erklären würde. Das habe ich zwar auch getan, allerdings schildere ich zugleich den Untergang des Vereins.

In den Jahren nach 1992 lernte ich Barcelona als Journalist kennen, immer wegen irgendeiner Story. Als Mensch mittleren Alters wird man nach dem Mittagessen gerne müde und macht ein Nickerchen. Das Älterwerden hat aber auch seine Vorteile: Man verfügt über eine große Anzahl an Kontakten, hat ein Gespür dafür entwickelt, wie sich die Dinge verändern, und einen persönlichen Backkatalog aufgebaut. Während ich diese Zeilen schreibe, steht neben mir in meinem Pariser Büro ein Bücherregal mit über 200 Notizbüchern, die alle meine Recherchenotizen seit 1998 enthalten. Darin finden sich Ab- bzw. Mitschriften der Interviews mit ehemaligen und aktuellen Barça-Spielern und Trainern, wie Rivaldo, Lilian Thuram, Neymar und Gerard Piqué, sowie die Notizen, die ich während meiner einzigen Begegnung mit Cruyff im Jahr 2000 im Wohnzimmer seines Hauses gemacht habe – ein sehr angenehmer Abend übrigens (in dessen Folge ich mich schrecklich mit Cruyff zerstritt).

2008 wurde mir sogar die Ehre zuteil, einmal im Camp Nou zu spielen. 2007 hatte ich den jährlich ausgelobten Sportjournalistenpreis des FC Barcelona gewonnen. Aus diesem Anlass wollte mich das Team des Vereinssenders filmen, wie ich in Straßenkleidung einen Ball über das Spielfeld kickte. Als ich den Rasen betrat, merkte ich, wie dick, kurz und perfekt er war, und musste unweigerlich lachen. Das Spielfeld hat die maximalen Abmessungen für einen Fußballplatz, um ausreichend Platz für Barças Angriffe zu bieten, dadurch hatte ich das Gefühl, auf einer riesigen Wiese zu spielen. Es gab sogar etwas Publikum: ein paar Dutzend Touristen, die gerade eine Stadionführung mitmachten.

Ich dribbelte vor mich hin, während ich darüber nachdachte, wie es sich wohl anfühlte, wenn man hier vor ausverkauften Rängen spielt. Als ich zu den Tribünen des größten Stadions in Europa aufblickte, dachte ich: Das kommt mir alles erstaunlich bekannt vor. Von der schicken Hülle einmal abgesehen war es im Grunde nichts anderes als ein Fußballplatz wie jeder andere, auf dem man schon mal gespielt hat. Dieser Gedanke dürfte vermutlich einige Debütanten im Laufe der Jahre beruhigt haben.

Am Mittelkreis konnte man fast vergessen, dass jemand zuschaut, aber während ich nahe der Seitenlinie herunterdribbelte, wurde ich mir der Blicke der Touristen erschreckend bewusst. Die Zuschauer blicken einen dort direkt an. Ein Flügelspieler ist näher an ihnen dran als am Geschehen im Strafraum. Ich konnte einzelne Gesichter ausmachen. Für einen Moment war es sogar möglich, einen direkten Kontakt zu dieser oder jener Person auf der Tribüne herzustellen.

Ich schoss ein paar Mal aufs leere Tor, und immer, wenn der Ball ins Netz ging, jubelten die Touristen nicht ganz ernst gemeint. Keine Ahnung, was sie sich bei meiner Darbietung gedacht haben.

Als ich vor einem Eckball das Leder am kleinen Viertelkreis positionierte und zum Tor aufschaute, fuhr mein Blick über das gesamte Stadion. Das Ganze hatte etwas von einer Theaterbühne: Für ein, zwei Sekunden lag mir das Spiel zu Füßen und ich kam mir vor wie ein Schauspieler, der vor seinem Publikum steht. Ein Barça-Psychologe erklärte mir später, dass Spitzenfußballer diese Eindrücke ausblenden. Während eines Spiels nehmen sie zwar wahr, was ihre Mitspieler ihnen zurufen, die Fangesänge aber nicht.

Den letzten Anstoß zu diesem Buch erhielt ich bei einem Aufenthalt in Barcelona 2019. Ich recherchierte dort im Auftrag der Financial Times für einen Artikel und war zufällig genau an dem Tag angereist, an dem der Klub seinen alljährlichen Sportjournalistenpreis verlieh. Der Vorstand lud mich zu der Verleihung und einem anschließenden Mittagessen ein. Danach saß ich stundenlang an einem Tisch irgendwo in einer Ecke des Camp Nou, trank Wein und unterhielt mich mit Präsident Josep Maria Bartomeu sowie einigen directius (der Übersetzung nach Geschäftsführer, eigentlich fungierten sie aber eher als Berater des Präsidenten). In diesem Moment wurde mir klar, dass man mich bei Barça als eine Art Alumnus betrachtete. Die Medienabteilung arrangierte bereitwillig Interviews für mich mit Bartomeu, dem damaligen Cheftrainer Ernesto Valverde und einigen niederrangigen Angestellten des Vereins: Ärzten, Datenanalysten und Markenmanagern.

Überhaupt Zugang zu erhalten, stellt für Fußballjournalisten die schwierigste Hürde dar. Etwa zur gleichen Zeit, als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, bat ich bei einem unterklassigen Verein um ein Interview mit einem Jugendtrainer. Ich erhielt keine Antwort, telefonierte und mailte den Verantwortlichen wochenlang hinterher, um meiner Anfrage Nachdruck zu verleihen, und erhielt letztlich all der Bemühungen zum Trotz eine Absage. Die meisten großen Vereine gewähren Journalisten heute kaum mehr als einen Platz bei den Pressekonferenzen, wo sie den Selbstrechtfertigungen des Trainers lauschen können, einige inoffizielle »Briefings« und alle paar Monate ein 15-minütiges »Gespräch« mit einem Spieler, der fest entschlossen ist, nichts Substanzielles preiszugeben.

Ich veröffentlichte meinen Artikel und dachte mir, dass es doch noch erheblich mehr zu sagen gibt. Ich wollte Cruyff und Messi als Menschen begreifen, nicht als Halbgötter. Und ich wollte Barça als Arbeitsplatz unter die Lupe nehmen, nicht als Theater der Träume. Der Klub wurde von Menschen geleitet, die fehlbar sind, die jeden Tag zur Arbeit gingen, zwischen denen es natürlich auch Streit gab, die Dinge ausprobierten und selbstverständlich auch Fehler machten und dabei etwas schufen, das ebenso katalanisch war wie international, so brillant wie unvollkommen, so sehr seiner Zeit verhaftet wie für die Ewigkeit gemacht. Wie sieht der Büroalltag bei Barça aus? Wer sind die Menschen hinter diesem Verein? Wie viel Einfluss haben sie auf die Spieler? Wie geht Barça mit Talenten um? Wie sieht das Leben der Spieler aus? Wie sollten sie sich ernähren und kann sie irgendjemand dazu bringen, tatsächlich das zu essen, was sie essen sollen?

Ich fragte bei meinen Kontaktleuten im Verein nach, ob sie mir für ein Buchprojekt ihre Türen öffnen würden. Und sie taten es. Weder zu diesem noch zu einem späteren Zeitpunkt hat irgendjemand bei Barça versucht, sich in meine Arbeit einzumischen. Es wurden keine Gefälligkeiten ausgetauscht, um dieses Buch zu realisieren.

Vom Frühjahr 2019 bis zu einer letzten Stippvisite während der Pandemie im September 2020 kam ich regelmäßig nach Barcelona, um zu recherchieren. Ich frischte mein lückenhaftes Spanisch auf, trug meinen Teil zum Airbnb-Problem der Stadt bei und lernte, um 15 Uhr zu Mittag zu essen. (Diesmal ließ ich definitiv keine Mahlzeit aus.) Hauptberuflich schreibe ich eine gesellschaftspolitische Kolumne für die Financial Times und es hat mir außerordentlich viel Spaß gemacht, das Coronavirus, den Klimawandel, Trump und den Brexit hinter mir zu lassen, um über die größte aller menschlichen Errungenschaften zu schreiben. Früher bekümmerte mich immer der Gedanke, dass Fußball ein vermeintlich weniger anspruchsvolles Thema sei als die Politik. Das ist heute nicht mehr so.

Ich lebe gerne in Paris, aber ich würde sofort nach Barcelona ziehen, wenn meine Familie mich ließe. Viertel wie Born oder Gràcia, die Prachtstraßen an den unteren Hängen des Tibidabo oder die nahe gelegenen Küstenorte Gavà Mar und Sitges sind Musterbeispiele für den europäischen Traum: Hier findet man die perfekte Mischung aus köstlichem Essen, Schönheit, gutem Wetter, Wohlstand, angenehmem Tempo, Freundlichkeit, Bergen und Meer.

Vor jeder Reise schickte ich dem Pressebüro eine Liste mit Interviewanfragen. Am schwierigsten war es, Gespräche mit den Spielern der A-Mannschaft zu arrangieren. Manchmal hat es selbst der Verein nicht leicht, mit ihnen in Kontakt zu treten, weil Berater, Medienprofis oder irgendein Mitglied der Entourage dies unterbinden. Ich sprach mit drei Vereinspräsidenten (einer davon war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden) und dem Mittelfeldspieler Frenkie de Jong. Am lehrreichsten waren für mich jedoch die Gespräche mit den vielen Vereinsangestellten der mittleren Ebene: von Ernährungsberatern über Videoanalysten bis hin zu Social-Media-Experten. Viele von ihnen schienen sich sehr zu freuen, einmal davon erzählen zu können, was sie ihr Leben lang tun, sei es Trainingsarbeit mit Kindern, der Aufbau der neuen Profi-Frauenmannschaft oder die Leitung eines Vereinsbüros in einer entfernten Metropole. Der Klub erlaubte es mir in den meisten Fällen nicht, diese Mitarbeiter namentlich zu zitieren. Natürlich ist das Buch aus meiner Perspektive geschrieben, aber es stützt sich dabei auf das, was mir diese Menschen erzählt haben. Kurz gesagt, ich hatte zwar einen gewissen Zugang zu den Spielern, viel mehr aber zu den Leuten, die den Laden jeden Tag am Laufen halten.

Dabei gab ich die ganze Zeit über mein Bestes, diesen provinziellen katalanischen Arbeitsplatz mit seiner globalen Reichweite zu verstehen. Wie ist der Klub Barcelona in der Stadt Barcelona verankert? Wie gelang es Barça, sich innerhalb von 30 Jahren von einem katalanischen zu einem europäischen und schließlich einem internationalen Topklub zu entwickeln? Was hat es auf diesem Weg gewonnen? Was ging verloren? Wie gelang es dem FC Barcelona, die vermeintlich beste Talentschmiede und die beste Mannschaft der Fußballgeschichte aufzubauen, und warum ging schließlich alles den Bach runter? Warum wird die neueste Version des cruyffschen Fußballs nicht in Barcelona, sondern in Manchester und in München gespielt?

Ich habe herausgefunden, dass man sich beim Barça Innovation Hub, einer Art vereinsinternem Thinktank, der 2017 ohne großes Tamtam aus der Taufe gehoben wurde, dieselben Fragen stellt. Aufgabe des Hubs ist es, den Profifußball völlig neu zu denken. Die Angestellten machen sich Gedanken zu allem, was irgendwie mit dem Spiel zu tun hat, von Virtueller Realität bis hin zum Rote-Bete-Saft. Sie gaben mir gegenüber zu, dass sie keine Ahnung hätten, wie Fußball funktioniert (das weiß niemand), aber immerhin fingen sie an, sich zu überlegen, welche Fragen man stellen musste. Barças nachdrückliche Versuche herauszufinden, wie genau ihnen gelang, was ihnen gelang – etwas, das sie während ihrer Glanzzeiten fast für selbstverständlich gehalten hatten – machten mein Projekt umso spannender. Zumindest für mich.

Nicht wenige Interviews in der Vor-Corona-Zeit endeten mit einer freundschaftlichen Umarmung. José Mourinho, als ehemaliger Assistenztrainer jemand mit nicht unerheblicher Barça-Erfahrung, spottete einmal: »Bei Barcelona bringen sie einen dazu zu glauben, dass man es bei ihnen ausschließlich mit sympathischen, netten, freundlichen Leuten in einer perfekten Welt zu tun hat.«1 Es stimmt, dass sich hinter einem Lächeln bei Barça tiefe Abgründe verbergen können, aber (und ich hoffe, diese Einschätzung ist nicht meiner Naivität geschuldet) meine Erfahrung ist, dass die Menschen hier tatsächlich sympathisch oder zumindest freundlich sind. Seit fast 30 Jahren kann ich mich über das Verhalten mir gegenüber dort nicht wirklich beklagen, und meine Faustregel im Umgang mit Menschen aus der Fußballbranche lautet: Wenn sie selbst Journalisten gegenüber freundlich sind, dann sind sie es wahrscheinlich allen Menschen gegenüber.

Der Fußball ist in Barcelona auf ganz besondere Weise mit der Ernährung verbunden. Bei Barça verwendet man tatsächlich Weingläser und Zuckerpäckchen, um Aufstellungen zu erläutern. Während eines vierstündigen Mittagessens – es gab Paella und weißen Rioja – verwendete Albert Capellas, ehemaliger Koordinator von Barças Talentschmiede La Masia und seinerzeit U21-Trainer in Dänemark, eine Olivenölflasche sowie einen Salz- und Pfefferstreuer, um mir zuerst Mittelfeldpositionen zu veranschaulichen und später zu erklären, wie man Pa amb tomàquet zubereitet, ein traditionelles katalanisches Gericht aus Brot und Tomate. Capellas wurde eine meiner wichtigsten Informationsquellen, nicht nur in kulinarischer Hinsicht.

Ich war mir stets bewusst, dass sich vor mir bereits viele erstklassige Journalisten der schreibenden und filmenden Zunft mit dem Verein beschäftigt hatten, und ich habe mich während der Lockdowns in Paris im Frühjahr und Herbst 2020 intensiv mit ihren Arbeiten auseinandergesetzt.

Natürlich besteht immer die Gefahr, sich von einer glamourösen Institution blenden zu lassen, aber ich habe versucht, einen kühlen Kopf zu bewahren. Bei diesem Buch handelt es sich nicht um eine offizielle Darstellung. Es legt meine Sicht auf Barça dar, die im Allgemeinen von Bewunderung geprägt ist, oft kritisch, immer neugierig und – wie ich hoffe – frei von Illusionen.

Größtenteils zeigt es Barça als Arbeitsstätte. Oft geht es aber auch um außergewöhnliche Talente, wie Cruyff, Messi und den jungen Flügelstürmer, der nacheinander vier Privatköche entlassen hat. Die Spannung zwischen dem Alltäglichen und dem Außergewöhnlichen ist das, was Barça ausmacht.

1Jonathan Wilson, The Barcelona Legacy (Blink, London 2018), S. 153

TEIL IIM INNEREN DER KATHEDRALE

1Wer ist wer im Hause Barça

Während meiner Aufenthalte in Barcelona wurde das Camp Nou tagelang zu meinem Arbeitsplatz. Ich gewöhnte mich daran, in dem riesigen Betonklotz herumzulaufen, mich mit jemandem in einer nahe gelegenen Tapasbar oder in den Büros der großen Bosse hinter Tor 11 zu treffen. Eines Tages entdeckte ich gleich gegenüber dem Barça-Museum die Seele des Klubs: das zur Eissporthalle gehörende Café mit seinen schlichten Holztischen, wo sich die Vereinsmitarbeiter zum Kaffeetrinken und Intrigenspinnen treffen. Gleich nebenan befindet sich der Klubraum für die socis (die beitragszahlenden Mitglieder des Vereins, socios auf Spanisch) – ein Ort, an dem alte Männer Karten spielen und ein Werbeplakat für die Weihnachtstombola hängt.

Ich fand heraus, dass im Can Barça – dem Haus Barça – vier verschiedene soziale Gruppen aufeinandertreffen, in denen es auch zu Überschneidungen kommen kann: die directius, die socis, die Angestellten und die Spieler. Für einen so großen Verein ist der Umgang dieser einzelnen Gruppen untereinander erstaunlich familiär. Die Menschen, die bei Barça arbeiten, kennen sich oft bereits seit ihrer Kindheit. Der ehemalige Präsident Sandro Rosell, Pep Guardiola, Carles Puyol und Andrés Iniesta waren alle einst Balljungen im Camp Nou. Der Verein wird von und für Menschen geführt, die davon ausgehen, bis zu ihrem Lebensende hierzubleiben.

Daraus lässt sich einiges folgern. Erstens, dass die persönlichen Beziehungen innerhalb des Vereins oft ein Leben lang bestehen bleiben und sehr intensiv sind. Und zweitens, dass die Menschen bei Barça instinktiv langfristig denken. So kümmern sich die Mitarbeiter im Eissporthallen-Café etwa um die Kids aus der U13-Mannschaft, weil sie davon ausgehen, dass sie miterleben werden, wie es diese Kinder in die erste Mannschaft schaffen.

Kurz gesagt: Barça unterscheidet sich deutlich von englischen Fußballklubs, die als Aktiengesellschaften firmieren und von hoch bezahlten Managern geführt werden, für die der jeweilige Klub nur eine Karrierestation von vielen ist. Der FC Barcelona hingegen ist ein echter Verein, ein freiwilliger Zusammenschluss von ortsansässigen Mitgliedern, die ein gemeinsames Interesse eint. Und das wiederum ist ein sehr katalanisches Phänomen. In Katalonien gibt es viele starke Gewerkschaften und Genossenschaften, und auch der Real Automóvil Club de Cataluña, mit rund einer Million socis der größte Automobilklub in Spanien, ist hier ansässig. In einer Region, in der die spanische Zentralregierung traditionell ein geringes Ansehen genießt und daher keine allzu große Autorität besitzt, haben die Menschen gelernt, sich selbst zu organisieren.

Die Vorstandsmitglieder, die bei Barça das Sagen haben, stammen aus der burgesia, dem katalanischen Kaufmannsstand. Barcelona verfügt seit Jahrhunderten über das am besten funktionierende Wirtschaftssystem der Mittelmeerregion und die Händler sind seit jeher die Hauptnutznießer davon. Seit Generationen haben sie bei ihren Geschäften immer auch die Regionen jenseits des Meeres im Blick, und sie halten sich traditionell für kosmopolitischer, moderner und europäischer als das vermeintlich primitive, rückständige Spanien.

Katalonien (7,6 Millionen Einwohner) ist eine autonome Gemeinschaft Spaniens, ohne Eigenstaatlichkeit und ohne nennenswerte Aristokratie, insofern stehen die Angehörigen der burgesia in der gesellschaftlichen Rangordnung ganz oben. Und die Spitze der katalanischen Gesellschaft (und die De-facto-Regierung) bildet wahrscheinlich die Vorstandsetage des FC Barcelona. Die Wurzeln des Vereins liegen eindeutig nicht in der Arbeiterklasse: Seit seiner Gründung 1899 wurde er von Kaufleuten geführt. Damals gab der eingewanderte Schweizer Buchhalter Hans Gamper in der von ihm mitgegründeten regionalen Sportzeitung Los Deportes eine Anzeige auf, die 63 Wörter umfasste und in der Gleichgesinnte, die Lust hatten, an Fußballspielen teilzunehmen, aufgefordert wurden, sich bei der Redaktion zu melden.2

Gamper gründete den FC Barcelona während des sogenannten tancament de caixes (dt.: Kassenschließung), als katalanische Händler im Steuerstreik gegen die spanische Regierung ihre Geschäfte ruhen ließen. Madrid reagierte darauf mit einer Kriegserklärung an Katalonien, ohne allerdings jemals Truppen zu entsenden.3 Schon damals war der Konflikt zwischen Madrid und der aufsässigen Region Katalonien viele Jahrhunderte alt. Der Katalanismus, also der katalanische Nationalismus, war von Anfang an Teil der Klub-DNA. Hans Gamper selbst bezog eindeutig Stellung für Katalonien, indem er seinen Vornamen katalanisierte und sich fortan Joan nannte.

Die katalanischen Händler saßen beide Weltkriege aus. Ihr größtes Trauma im 20. Jahrhundert war der Spanische Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 und die Repressalien, die ihnen der faschistische General Francisco Franco als Sieger nach dem Krieg auferlegte. Der Historiker Paul Preston schätzt, dass Francos Terrorregime, der sogenannte weiße Terror, 200.000 Spanier das Leben kostete. Einer von ihnen war Barças 38-jähriger Präsident Josep Sunyol. 1936 wollte er republikanischen Truppen in der Nähe von Madrid einen Besuch abstatten, als sein Chauffeur unwissentlich die Frontlinie zu nationalistischem Gebiet überquerte. Als die Gruppe an einem Kontrollpunkt von Truppen angehalten wurde, grüßten Sunyol und seine beiden Begleiter sie arglos mit ¡Viva la república!, weil ihnen nicht bewusst war, dass die Soldaten, die sie angehalten hatten, Faschisten waren. Sunyol wurde noch an Ort der Stelle durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet, bevor seinen Mördern überhaupt klar wurde, wen sie gerade exekutiert hatten.4 Jahrzehntelang fast vergessen, wurde er in den 1990er-Jahren als »Märtyrerpräsident« Teil der Barça-Mythologie.

Als sich Francos Truppen im Januar 1939 Barcelona näherten, flohen Hunderttausende Menschen aus der Region nach Frankreich, viele von ihnen zu Fuß. »Frauen brachten ihre Kinder am Straßenrand zur Welt. Babys erfroren in der Kälte, Kinder wurden zu Tode getrampelt.«5 Familien wurden auseinandergerissen oder ausgelöscht. Viele Exilanten kehrten nie wieder nach Hause zurück.

Nachdem die Faschisten Barcelona eingenommen hatten, führten sie auf dem Camp de la Bota im Stadtteil Poble Nou unter freiem Himmel Hinrichtungen durch.6 In den folgenden Jahrzehnten hob man in der Stadt 54 Massengräber aus, in denen man 4000 Leichen fand.7 Franco verbot die katalanische Sprache. Auf Schildern wurde die Bevölkerung aufgefordert »christlich«, also Spanisch zu sprechen.8 Die Faschisten behandelten Katalonien, zumindest zu Beginn ihrer Schreckensherrschaft, als handele es sich um besetztes Feindesland.

Einige katalanische Händler wie Nicolau Casaus litten sehr unter Franco, die meisten schlossen jedoch ihren Frieden mit El Caudillo. Viele Händler begrüßten sogar sein rigoroses Vorgehen gegen die Anarchisten und Kommunisten, die in Barcelona zuvor Angst und Schrecken verbreitet hatten, indem sie die Häuser der reichen Kaufleute geplündert, ihre Fabriken beschlagnahmt und sie an die Wand gestellt hatten. Tatsächlich haben die linken Kräfte in Katalonien vor und während des Krieges wahrscheinlich mehr Menschen hingerichtet als Franco danach.9

Im Sommer 1945 war Franco der grausamste Diktator, der in Europa westlich der Sowjetunion noch an der Macht war. Zu diesem Zeitpunkt regierte er nicht mehr mit ganz so harter Hand, aber die Erinnerung an seine Gräueltaten – über die man zu seinen Lebzeiten in Spanien so gut wie nicht sprach – brachte fast alle Katalanen für die nächsten Jahrzehnte zum Verstummen.

Der katalanische Schriftsteller Manuel Vázquez Montalbán (der selbst unter Franco im Gefängnis saß) sagte: »Auf dem vierten Platz der Organisationen, die nun verfolgt wurden, stand hinter den Kommunisten, Anarchisten und Separatisten der Futbol Club Barcelona.«10 Davon zu sprechen, dass der Verein »verfolgt« wurde, ist in diesem Zusammenhang vielleicht etwas übertrieben, auf jeden Fall aber behielten die Faschisten Barça sehr genau im Auge. 1940 zwangen sie den Verein, den englischen Begriff »Football Club«, den er im Namen trug, durch das spanische »Club de Fútbol« zu ersetzen.11 Anfangs bestimmte die Regierung, wer Vereinspräsident wurde. Mit der Zeit lernten der CF Barcelona und die Franquistas jedoch, miteinander zu leben. Ab 1949 durfte der Verein sogar wieder die katalanische Flagge in seinem Wappen führen.12

Die Barceloner Geschäftsleute verhielten sich unter Franco still und unauffällig, sie widmeten sich ihren Familien, ihren Geschäften und ihrem Fußballverein. Erst als das Regime seinem Ende entgegenging, begannen einige von ihnen, sich Francos Willen zu widersetzen. Als er 1975 schließlich starb, tranken sie die städtischen Cava-Lager leer.13 Als Franco begraben war und somit von ihm keine Gefahr mehr ausging, schlossen sich alle dem Widerstand gegen ihn an. Und mit der Zeit glaubten viele Katalanen an einen Mythos, den sie selbst erst geschaffen hatten, nämlich dass ihre Region dem Franco-Regime geschlossen Widerstand geleistet, während in Madrid jeder auf Seiten des Diktators gestanden habe.

In Wahrheit war alles viel komplexer, als es eine solch triviale Schwarz-Weiß-Sicht suggeriert. Tatsächlich hatte man in Madrid ebenso wie in Barcelona während des Bürgerkriegs gegen Francos Truppen gekämpft; die Vereinsführung von Real Madrid hatte sogar kurzzeitig in den Händen revolutionärer Kommunisten gelegen.14 Und auch in Madrid hatte Franco Tausende, die Widerstand geleistet hatten, hinrichten lassen. In jeder Stadt gab es aber auch einen gewissen Anteil an Franquistas. Im Spanischen Bürgerkrieg ging es eben nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Katalanen und Spaniern, auch wenn einige moderne katalanische Nationalisten das gerne so darstellen.15

Die jahrhundertealte Rivalität zwischen Katalonien und Madrid (das für ganz Kastilien bzw. Spanien steht), spielt heute immer noch eine Rolle beim El Clásico, dem traditionsreichen Duell zwischen dem FC Barcelona und Real Madrid. Wird eine solche Begegnung im Camp Nou ausgetragen, besuchen Barça-Fans vor dem Spiel gerne den nahe gelegenen Friedhof, um verstorbene Familienmitglieder, Freunde und Fußballer um Glück zu bitten.16 Für sie ist Real Madrid der Erzrivale. Die Menschen im Can Barça sehen das entspannter: Für sie ist Real Madrid eine Art Zwillingsbruder. Die Vorstandsmitglieder beider Klubs verstehen sich in der Regel gut und pflegen bei den gemeinsamen Zusammenkünften an den Spieltagen vor dem Anpfiff einen vertrauten Umgang miteinander. Insgesamt wird ihre Beziehung von einer Mischung aus Verbundenheit und Eifersucht geprägt, wobei in Barcelona ständig befürchtet wird, dass das Geschwisterchen unfairerweise bevorzugt werden könnte, während man in Madrid argwöhnt, Barça könne zu sehr in den Himmel gelobt werden.

Letzten Endes ist ein Klub aber immer das, was er den Fans bedeutet, und insbesondere zu den Clásicos wird Barça zu dem, was Vázquez Montalbán die »unbewaffnete Armee Kataloniens« nannte, die den ewigen Kampf gegen Madrid führt. Während eines Großteils des letzten Jahrhunderts war das Camp Nou an Sonntagen das wichtigste Forum für den Katalanismus. An die Stelle des Nationalstaats trat der Nationalverein. Die Katalanen steckten so viel Liebe und Geld in den FC Barcelona, dass sich die zweitgrößte Stadt eines mittelgroßen, wirtschaftlich arg angeschlagenen europäischen Landes (im Jahr 2018) rühmen konnte, Heimat des umsatzstärksten Sportvereins der Welt zu sein.17

Barças Motto més que un club ist mehr als ein selbstgefälliger Marketingslogan (obschon er das auch ist). Geprägt wurde er allem Anschein nach von Narcís de Carreras, einem Vereinspräsidenten zu Zeiten der Franco-Diktatur. Im Januar 1968 sagte er: »Barcelona ist mehr als ein Fußballverein. Er ist ein Geist, der tief in uns steckt, Farben, die wir über alles lieben.« Unter Franco konnte er nicht deutlicher werden, aber worüber er hier sprach (auf Spanisch natürlich), war der Geist des Katalanismus.

Die Bedeutung der Worte »mehr als ein Klub« hat im Lauf der Jahre eine Erweiterung erfahren. Heute stehen sie auch für den cruyffschen Fußball, dafür, Spieler aus dem eigenen Nachwuchs heranzuziehen, und für einen allgemeinen Sinn für Würde und Werte (valors). Letzteres manifestiert sich in Barças gemeinnütziger Stiftung und Präsident Joan Laportas Entscheidung, die Mannschaftstrikots im Jahr 2006 mit dem Logo von UNICEF statt mit einem Sponsorennamen bedrucken zu lassen. Laporta fasste den Slogan »mehr als ein Verein« wie folgt zusammen: »Cruyff, Katalonien, Masia, UNICEF.«18

Barça verändert sich, aber die Verantwortung liegt nach wie vor in den Händen der burgesia. Die Geschäftsleute, die heute das Sagen haben, sind Catalans de tota la vida – gebürtige Katalanen. (Als ich einen ehemaligen, einflussreichen Barça-Vorstand bat zu definieren, was es bedeute, Angehöriger der burgesia, also seines eigenen Standes, zu sein, lautete seine erste Antwort: »Katalane zu sein – seit mindestens zwei Generationen.«) Ihre Familien sind Mitglieder im Reial Club de Tennis Barcelona, sie machen Urlaub in der Cerdanya in den Pyrenäen, gehen in die Liceo-Oper und sehen sich Barça-Spiele von der tribuna, der Tribüne, aus an. Auf den besten Plätzen im Camp Nou sitzen Angehörige der Vorstandsmitglieder oder namhafte Persönlichkeiten aus der Region. Im Madrider Bernabéu sieht man Minister, Wirtschaftsmagnaten und Richter auf solchen Plätzen sitzen.

Nicht alle Angehörigen der burgesia sind extrem reich – unter ihnen gibt es auch Architekten und Professoren – und ganz gewiss protzen sie nicht mit ihrem Geld. Mit ihrer schlichten, in dezenten Farben gehaltenen Kleidung machen sie eher unterschwellig auf ihren Wohlstand aufmerksam, als dass sie alle Welt darauf stoßen würden. Die meisten von ihnen leben in wunderschönen Eigentumswohnungen (im Idealfall in von Gaudí gebauten Häusern), die sie oft von ihren Großeltern geerbt haben, und den Sommer verbringen sie auf ihrem Zweitwohnsitz auf dem Land irgendwo in Katalonien. Sie sind Kosmopoliten, die ihre Kinder zunächst auf englisch-, französisch- oder deutschsprachige Schulen und später auf amerikanisch geprägte Wirtschaftsakademien schicken. Das Ansehen der ausländischen Schulen ist hier so hoch, dass Messi seine Kinder während seiner Zeit im Verein jeden Morgen zum Colegio Británico fuhr.

In der Chefetage von Barça wird Katalanisch gesprochen. Was ein Beleg der Standeszugehörigkeit ist. In Barcelonas proletarischem Milieu spricht man normalerweise Spanisch. Das liegt daran, dass die Arbeiter, die sich in Barcelona verdingten, früher meist aus ärmeren Regionen des Landes wie beispielsweise Andalusien angeworben wurden. Einige dieser Arbeiter haben noch heute die unangenehme Angewohnheit, Real Madrid zugeneigt zu sein. Zugezogene können sich integrieren, indem sie in der Schule Katalanisch lernen, pa amb tomàquet essen und sich für Barça begeistern, es ist allerdings so gut wie ausgeschlossen, dass sie je in die Vorstandsetage des Vereins aufsteigen werden.

Ein typisches Beispiel für eine der burgesia angehörenden Familie sind die Piquets. Der Großvater des langjährigen Innenverteidigers Gerard Piqué war ein directui bei Barça. Seine Mutter ist Neurowissenschaftlerin und sein Vater, ein eleganter Herr, der beim Treffen mit mir einen tadellos um den Hals gewundenen Schal trug und sich auf Englisch als »Kollege« vorstellte, betätigt sich als Romanautor und leitet nebenher ein Familienunternehmen, das Baustoffe exportiert.

Gerard Piqué selbst ist ein geborener Geschäftsmann. Er hat mit seiner Investmentgruppe Kosmos den Davis Cup übernommen und ist überdies eng befreundet mit Mark Zuckerberg. Bei einem Dinner 2015 in San Francisco trug er seinen nicht unmaßgeblichen Teil dazu bei, einen weiteren Freund aus der Geschäftswelt, Hiroshi Mikitani, den Gründer des japanischen Amazon-Konkurrenten Rakuten, als Barças Hauptsponsor anzuwerben.19 Manchmal erweckte Piqué dadurch den Eindruck, als wäre der Fußball für ihn nur eine Nebenbeschäftigung. Er selbst war bereits von Geburt an ein soci, und auch seinen eigenen Sohn Milan hat er bereits kurz nach der Geburt als Vereinsmitglied angemeldet. Daher verwundert es kaum, dass Piqué seinem Sohn als Wiegenlied die Barça-Hymne vorsang (wenngleich Milan später den Mickey-Maus-Wunderhaus-Song bevorzugte). Piqué wird als zukünftiger Vereinspräsident gehandelt. Die genetischen Voraussetzungen bringt er zweifellos mit.

Um bei Barça einen Direktorenposten zu bekleiden, braucht man ein ordentliches finanzielles Polster. Die Arbeit im Vorstand ist ehrenamtlich und man muss sich dafür in der Regel jahrelang von allen anderen Aufgaben (meist im Familienbetrieb) freistellen lassen. Außerdem muss man eine persönliche Bürgschaft in Höhe von mehreren Millionen Euro hinterlegen, um eventuelle Verluste des Vereins ausgleichen zu können. Stand Frühjahr 2022 ist in Spanien ein neues Gesetz in Arbeit, durch das die Notwendigkeit für eine solche Bürgschaft entfallen könnte, aber solange dieses Gesetz nicht in Kraft tritt, muss jeder der 15 directius rund sieben Millionen Euro aus eigener Tasche zahlen, sollte der Verein unter der Ägide des Vorstands 100 Millionen Euro Verlust machen. Es ist gelegentlich vorgekommen, dass ein reicher directiu einem seiner weniger liquiden Freunde unter die Arme griff, indem er dessen Bürgschaft in Höhe übernahm, die in einem Fall 40 Millionen Euro betrug. Doch ganz gleich, wie die Summe aufgebracht wird, ein directiu kann durchaus all sein Hab und Gut verlieren, wenn es Barça finanziell richtig schlecht geht. Mehrere Vorstandsmitglieder machten mir gegenüber Scherze darüber, dass ihre Frauen äußerst aufgebracht gewesen seien, als sie sich in den Vorstand haben wählen lassen. (Fast alle Vorstandsmitglieder sind Männer.)

Barças directius stammen oft aus eng miteinander verbandelten Familien und kennen einander schon ewig. Im Großraum Barcelona leben mehr als fünf Millionen Menschen, aber direkt im Zentrum, wo die meisten Angehörigen der burgesia wohnen, sind es nur 1,6 Millionen. Wenn die Einheimischen von Barça oder ihrer Stadt reden, verwenden sie oft den Begriff endogámic, was so viel heißt wie »inzüchtig«. Als ich 2020 ein Interview mit Barças Vizepräsidenten Jordi Cardoner führte, stellte sich heraus, dass er der Enkel von Casaus war, dem zigarrerauchenden Vizepräsidenten, den ich 1992 interviewt hatte. Casaus hatte ihn am Tag seiner Geburt bei Barça als soci angemeldet. Außerdem war er ein Schulfreund des Vereinspräsidenten Bartomeu. Und vor ihm hatte schon seine Schwester dem Vereinsvorstand angehört.

Wenn an einem Abend nach einem Sieg in Madrid im Vorstandsbus alle zusammen die Barça-Hymne anstimmen, sind diese tiefen Bindungen besonders deutlich zu spüren. Dennoch sind solche engen Bande kein Garant dafür, dass es in der Vorstandsetage nicht auch immer wieder zu internen Machtkämpfen kommt. Während Real Madrid unter Florentino Pérez einer Autokratie gleicht, Manchester United wie eine Aktiengesellschaft und Manchester City wie ein Familienunternehmen funktioniert, ähnelt Barça einer demokratisch gewählten Oligarchie.

Bei Barça rühmt man sich, der einzige demokratische Verein unter den größten Fußballklubs der Welt zu sein. (Auf englische Vereine, die sich an ausländische Investoren verkauft haben, sieht man dort insgeheim herab.) Doch die alle sechs Jahre stattfindenden Präsidentschaftswahlen sorgen auch für eine gewisse Instabilität im Kluballtag. Denn wenn der neu gewählte Präsident mit seinem neu zusammengestellten Team das Ruder übernimmt, treten die erfahrenen Vorstandsmitglieder von der Bühne ab und nehmen auch all ihr durch Erfahrungen gesammeltes Wissen mit. Von einem Tag auf den anderen befinden sich dann nur noch zwei, drei alte Hasen in dem zwölf- bis fünfzehnköpfigen Exekutivkomitee. Stellen Sie sich vor, Sie müssten plötzlich mit den sehr erfahrenen, mit allen Wassern gewaschenen Haudegen von Real Madrid oder Manchester City verhandeln. Erschwerend kommt hinzu, dass viele der Vorstandsmitglieder eines Tages selbst Präsident werden wollen. Das kleinstädtische Gezänk, in das die Mitarbeiter dieses Weltvereins verstrickt sind, wird nach Mitternacht in zahlreichen Sportbeiträgen im Lokalradio oder auch im Sportteil der Lokalzeitungen ausgetragen. Denn diejenigen, die der burgesia angehören, lesen tatsächlich immer noch Zeitung. Wenn Sie sich in den hell erleuchteten Büros der Vereinszentrale umsehen, werden Sie feststellen, dass überall auf den Schreibtischen Ausgaben von El Mundo Deportivo oder La Vanguardia (die katalanische Ausgabe) herumliegen. Der Verein schließt bisweilen ein Großabonnement für eine bestimmte Zeitung ab oder lädt Journalisten zu einer großzügigen Auslandsreise ein, in der Hoffnung, im Gegenzug bei der Berichterstattung eine gewisse Nachsicht zu erfahren. (Um an dieser Stelle vermeintliche Interessenskonflikte auszuschließen: Die einzigen Geschenke, die ich von Barça erhalten habe, sind – abgesehen von einer gelegentlichen Tasse Kaffee – zwei Trikots mit meinem Namen darauf. Wobei ich den Gegenwert des zweiten Jerseys umgehend an UNICEF spendete.) Mehr als ein ehemaliger Barça-Präsident belohnte Zeitungen für eine wohlgesonnene Berichterstattung mit einer heimlichen Sonderzahlung. Unter Josep Lluís Núñez, der von 1978 bis 2000 Präsident des Vereins war, sollen widerspenstige Journalisten auch schon einmal bedroht oder sogar verprügelt worden sein.20