BAT Boy 2 - C. A. Raaven - E-Book

BAT Boy 2 E-Book

C. A. Raaven

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Beschreibung

Die lang erwartete Fortsetzung der Urban Fantasy Reihe um Lucas und die Berliner Akademie für Transmutationen.Direkt nachdem es Lucas gelungen ist, die Berliner Bevölkerung vor einem katastrophalen Anschlag auf der Millenniumsfeier zu bewahren, sieht er sich mit der Tatsache konfrontiert, dass vieles von dem, was er zu wissen glaubte, nicht den Tatsachen entspricht.Ray, sein Mentor, schien nicht nur einer der Mitverschwörer gewesen zu sein, sondern wurde offensichtlich auch beim Kampf zum Millennium ins Jenseits befördert. Seine Freundin Ines konnte er zwar aus den Fängen der Fieslinge befreien, jedoch liegt sie seitdem im Koma. Und auch seine Eltern haben sich ihm in einem völlig neuen Licht präsentiert.Selbst der Trost, den ihm der Besuch der BAT bisher geschenkt hatte, verliert mehr und mehr an Kraft, da er nicht weiß, wem er dort noch trauen kann. Ehe er es sich versieht befindet er sich im Fokus einer Schar von Abtrünnigen, die den Namen "Blood Pride" trägt, und muss feststellen, dass alles, was er bisher über bluttrinkende Vampire zu wissen glaubte, nur ein kleiner Teil der Wahrheit ist.

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Auftakt
Notfall
Erstkontakt
Wundertüte
Schlachtplan
Rede und Antwort
Attacke
Ansichtssache
Abgrund
Zu spät
Trick 17b
Suchen und Finden
Dank und Undank
Tatsachenkarussell
Zugriff
Kevin, allein im Dunkeln
Jetzt musst du springen
Der geschnappte Schnapper
Fehlerhafte Pläne
Austausch mit Hindernissen
Epilog
Nachwort
Über den Autor
Impressum

Inhaltsverzeichnis

Auftakt

Notfall

Erstkontakt

Wundertüte

Schlachtplan

Rede und Antwort

Attacke

Ansichtssache

Abgrund

Zu spät

Trick 17b

Suchen und Finden

Dank und Undank

Tatsachenkarussell

Zugriff

Kevin, allein im Dunkeln

Jetzt musst du springen

Der geschnappte Schnapper

Fehlerhafte Pläne

Austausch mit Hindernissen

Epilog

Nachwort

Über den Autor

Impressum

Auftakt

Was bisher geschah:

Lucas Franke schreckt an seinem 13. Geburtstag aus einem seltsamen Traum hoch und hat von da an das Gefühl, dass etwas mit ihm vorgeht, das er sich nicht erklären kann. Nachdem er seiner Nachbarin Ines in den Sommerferien näher gekommen ist, trifft er sie in seiner neuen Schule zusammen mit ihrem Freund an. In einem Moment der Panik, als seine Sinneseindrücke ihn auf dem Schulhof fast überwältigen, macht Lucas die Bekanntschaft eines eigenartigen Lehrers namens Neumann. Dieser erkennt im Verhalten des Jungen etwas und nimmt ihn deshalb zu einer geheimnisvollen Veranstaltung mit. Dort erfährt Lucas, dass er zu einer besonderen Art von Menschen gehört. Sie selbst nennen sich »Begabte« und sind unter anderem in der Lage, die Gestalt verschiedener Tiere anzunehmen. Hinzu kommen geschärfte Sinne, erhöhte Körperkraft und einige weitere Fähigkeiten. Diese lernen sie in der Berliner Akademie für Transmutationen (kurz BAT) zu kontrollieren. Lucas stellt sich als besonders talentiert heraus. Er verbringt jede freie Minute in der BAT, die er seinen Eltern gegenüber als Jugendclub beschreibt. Dort wird er zufällig Ohrenzeuge einer geheimen Besprechung, in der es um eine Bombe geht und bei der ein für ihn unverständliches Wort eine Rolle spielt. Eines Tages folgt Ines ihm aus Neugier und bekommt durch einen Zufall ebenfalls Zugang zur BAT, ohne dass sie etwas von deren eigentlicher Bestimmung ahnt.

Auch sie erfährt etwas von dieser Bombe, und ihre Abenteuerlust wird gepackt. Im Verlauf ihrer Nachforschungen gerät sie schließlich in höchste Lebensgefahr.

Lucas saß auf einem unbequemen Stuhl und stierte vor sich hin. Es waren schon mehrere Stunden vergangen, seit sein Vater den entsetzten Bunges eine Geschichte darüber erzählt hatte, wie sie Ines vorhin in diesem Zustand fanden:

Zuerst hatten sie den Abend damit verbracht, Voyager in Enterprise-Kostümen zu genießen, die Paul von einem Geschäftsfreund aus den Staaten geschenkt bekommen hatte. Um Mitternacht war Lucas auf die Idee gekommen, Ines zum neuen Jahr alles Gute zu wünschen, da er Licht in ihrem Zimmer gesehen hatte. Aber niemand hatte auf die Anrufe reagiert. Lucas hatte jedoch nicht eher Ruhe gegeben, bis Betty und Paul sich dazu bereiterklärten, mal vorbeizuschauen. Auch auf das Klingeln an der Haustür hatte niemand reagiert. Sie ließen sich von Lucas erneut überreden, auch noch ums Haus zu gehen. Es war ihnen allen seltsam vorkommen, dass oben Licht brennen sollte, das restliche Haus aber vollkommen dunkel war. Dabei hatten sie erstaunt festgestellt, dass die Terrassentür nur angelehnt war. Sie waren dann durch die offene Tür ins Haus gegangen, wo sie letztendlich Ines – vollkommen angekleidet, aber ohne Bewusstsein – liegen gesehen hatten.

Lucas fühlte sich elend, was zum Großteil daran lag, dass er seit einer Ewigkeit nichts mehr gegessen hatte. Aber er brachte trotzdem keinen Bissen hinunter. Er machte sich bittere Vorwürfe, dass er Ines so lange nicht aus sich herausgelassen hatte – ja dass er sie überhaupt in sich aufgenommen hatte.

Es hatte schon allein über eine Stunde gedauert, bis ein Rettungswagen eingetroffen war. Bei der Feuerwehr war um genau 4 Minuten nach Zwölf der Zentralcomputer ausgefallen. Das ergab einen weiteren Punkt, für den er sich schuldig fühlte, denn das Rechenzentrum befand sich in Siemensstadt, wo er die Bombe fallengelassen hatte. Auf der Fahrt hierher ins Krankenhaus hatten mit einem Mal Ines‘ Organe versagt. Es war den Rettungssanitätern gerade noch so gelungen, sie lebend dort abzuliefern. Jetzt lag sie auf der Intensivstation. Maschinen übernahmen die Aufgaben, die ihr Körper nicht mehr zu leisten imstande war. Lucas blickte hinüber zu dem Bett, das – umringt von blinkenden Apparaten – durch eine Glaswand zu sehen war. Seine Finger nestelten fahrig an etwas herum, das er in seiner Hand hielt. Er blickte nach unten und entdeckte den Rucksack, den sie zusammen mit dem von Ines in der Siegessäule gefunden hatten. In diesem Moment erklang daraus ein Geräusch. Lucas ließ ihn vor Schreck fallen. Das Geräusch entpuppte sich bei näherem Hinhören als »Enter Sandman« von Metallica. Es spielte immer weiter. Voller Neugier stöberte Lucas im Rucksack herum, auf der Suche nach der Quelle des Songs. Kurze Zeit später hielt er etwas in der Hand, das er noch nie irgendwo gesehen hatte. Es musste ein Handy sein, aber auf Anhieb konnte Lucas keine Tastatur entdecken. Dann fand er heraus, dass es sich aufklappen ließ. Als er dies tat, wurde sein Erstaunen immer größer. Die Handys, die er kannte, konnten nur ziemlich hässliche Piepser von sich geben. Dieses hier spielte einen vollständigen Musiktitel und hatte darüber hinaus ein Farbdisplay, das sogar Bilder darstellen konnte. Auf diesem Display war nun ein Sarg zu sehen, auf dem mit blutroten Buchstaben »Blood Pride« geschrieben stand. Lucas starrte noch einen Moment darauf, dann drückte er die Annahme-Taste.

»Plague, was ist los? Warum hat es nicht geklappt?!«, dröhnte eine tiefe Stimme aus dem Hörer.

Notfall

ucas starrte den Hörer in seiner Hand mit einem Gesichtsausdruck an, als ob er erwarten würde, dass dieser sich jeden Moment in eine Kobra verwandelte.

»Hey, was ist los? Hat’s dir die Sprache verschlagen?«, rief der Mann am anderen Ende der Leitung ungeduldig.

»Plague spricht nicht mehr. Ich hab ihn gekillt«, sagte Lucas mit tonloser Stimme. Dann wurde ihm bewusst, was er da gerade gesagt hatte und er schlug sich erschrocken die freie Hand vor den Mund. Die andere hielt immer noch das Handy an sein Ohr.

»Wie? Was is los? Wer ist da!?«, sagte der Mann immer noch laut, aber nun etwas überrascht.

Auf Lucas‘ Gesicht breitete sich ein kaltes Grinsen aus.

Bist du bekloppt? Leg auf!, schrie die Stimme in seinem Hinterkopf, aber er hörte nicht auf sie. Von einer morbiden Neugier auf die Reaktion seines Gegenübers gepackt öffnete er den Mund. Er brannte darauf, dem Unbekannten von den letzten Sekunden in Plagues Leben zu berichten – dem Mann, der seinen Mentor auf den Stufen der Berliner Siegessäule getötet hatte.

»Was glaubst du eigentlich, was du hier machst? Das ist hier ne Intensivstation! Hier sind Handys verboten!«, herrschte ihn plötzlich eine Stimme an.

Lucas fuhr erschrocken hoch und blickte in das verärgerte Gesicht eines Pflegers, der sich vor ihm aufgebaut hatte.

»Oh ... äh, Tschuldigung. Das wusste ich nicht«, murmelte er.

Der Pfleger zeigte nur stumm nach rechts, wo auf einem Schild die Worte zu lesen waren: »Achtung Intensivstation. Benutzung von Mobiltelefonen verboten.«

»Wennde det nich lassen kannst, dann sieh zu, dassde Land jewinnst«, ergänzte er und zeigte in Richtung der Lifttüren am anderen Ende des Flurs.

Lucas setzte sich in Bewegung. Dabei hob er die Hand mit dem Telefon, die er eben hatte sinken lassen, wieder ans Ohr.

»Wer zum Teufel bist du und wo hast du das gottverdammte Handy her?«, grollte die Stimme des Mannes erneut daraus hervor.

»Ich bin …«, begann Lucas, brach dann aber ab, weil in seinem Kopf so etwas wie eine Alarmglocke zu schrillen begonnen hatte. Doch etwas in ihm wollte sich nicht zum Schweigen bringen lassen. Etwas wollte davon berichten, wie jämmerlich dieser Typ auf der Flucht zugrunde gegangen war. Er hatte die friedliche Millenniumsfeier in ein Chaos verwandeln und dabei tausende unschuldiger Menschen zu Opfern bluttrinkender Vampire machen wollen. Aber schließlich endete er als Häufchen Asche.

»Ich bin jemand, der diesem Schwein das gegeben hat, was ihm zusteht«, sagte er mit fester Stimme, während er auf den Abwärts-Knopf des Aufzugs drückte.

… was?

»Okay jetzt hör‘ auf mit dem Quatsch und hol mir Plague ans Rohr«, grunzte der andere mit nur mühsam beherrschter Wut.

Ein Gong ertönte. Die Aufzugtüren öffneten sich. Entnervt trat Lucas in die Kabine und drückte den Knopf mit der ‘1‘. Er hoffte, dort weitertelefonieren zu können, weil sich in dieser Etage eine Cafeteria befand. Das Gespräch lief ganz und gar nicht nach seinem Geschmack, aber er hatte nicht vor, es dabei zu belassen. Die Türen schlossen sich. Der Lift begann, sich in Bewegung zu setzen.

»Zum letzten Mal«, blaffte Lucas den Unbekannten an. »Plague ist Toast! Wenn du willst, dann kannst du den Rest von ihm vom Boden in der Siegessäule abkratzen.«

… nein … nicht …

Aus dem Hörer war mit einem Mal ein seltsames Geräusch zu hören, aber Lucas war jetzt voll in Fahrt. Er schrie seine ganze Wut und Trauer darüber hinaus, dass Neumann nicht mehr lebte, stieß Beschimpfungen über Plague und seine Horde von Monstern aus.

… nicht weiter …

»Doch«, bellte Lucas. »Ich mach weiter! Ich …«

... bitte Lucas … nicht … noch … weiter …

Lucas verstummte. Er blickte auf das Display des Telefons, das ihm sagte, die Verbindung sei unterbrochen. Aber woher kam dann diese Stimme? Diese erschreckend vertraute Stimme.

»Ines?«, hauchte er.

… Lucas … ich geh … kaputt – ein schwaches Flüstern.

Seine Beine gaben nach, und Lucas rutschte an der Kabinenwand herunter in eine hockende Position. Was mochte es zu bedeuten haben, dass er sie hören konnte? Völlig verwirrt wanderte sein Blick vom nutzlosen Handy in seiner Hand in der Aufzugskabine umher, bis er an der sich ständig verändernden Stockwerksanzeige hängen blieb.

Ich halt nicht mehr lange – kaum noch wahrnehmbar.

In diesem Moment traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Er sprang auf, stopfte das Handy in seine Tasche und hämmerte wie wild auf der Tastatur des Aufzugs herum. Es war alles so klar. Wie hatte er es nur übersehen können? Es musste immer noch ein kleiner Teil von Ines in ihm geblieben sein. Deshalb wachte sie nicht auf. Als sie vorhin hinter dem Krankenwagen hergefahren waren, hatten sie an einer roten Ampel halten müssen und den Wagen daher aus den Augen verloren. Nachdem sie kurz darauf im Krankenhaus eingetroffen waren, hatten Ines‘ Eltern erzählt, dass sie kurz vor der Ankunft des Krankenwagens in der Klinik plötzlich einen Kreislaufzusammenbruch gehabt hätte. Also konnte man den Teil von Ines, den Lucas noch in sich trug, nicht beliebig weit vom Rest entfernen. Es war wohl wie bei einem Gummiband, das riss, wenn es zu stark gespannt wurde. Aber wie weit war zu weit? Er war in der siebten Etage losgefahren und nun war er schon fast in der zweiten Etage angekommen.

… Lucas …

Er hämmerte an die Tür – wohl wissend, dass es niemanden gab, der in einem Aufzug dafür sorgte, dass sich auf ein Klopfen hin Türen öffneten. Und doch kam der Lift zu einem Halt. Die Türen glitten sanft auseinander. Lucas fiel mehr durch den sich öffnenden Spalt hindurch, als dass er lief. Unvermittelt stand er vor einer Krankenschwester, die ihn entgeistert anstarrte.

»Treppenhaus«, keuchte Lucas.

»Äh, wie?«, stammelte die Schwester.

»Treppenhaus! Wo?«, rief er ungeduldig.

»Ach, warum fahren Sie denn mit dem Lift, wenn Sie wissen, dass es Ihnen nicht bekommt?«

Lucas bemerkte, wie sich die Präsenz von Ines, die er kurz vorher noch gar nicht wahrgenommen hatte, zu flackern begann, wie eine Kerze in einem starken Luftzug. Tränen begannen, ihm in die Augen zu steigen.

»Treppenhaus, bitte«, sagte er flehentlich.

»Da vorn«, sagte sie und zeigte nach rechts.

Zum Glück nicht noch weiter weg von ihr. Lucas rannte los.

Bereits auf dem übernächsten Treppenabsatz verfluchte er seine Entscheidung, nicht einen anderen Aufzug gerufen zu haben, der nach oben fuhr. Seine Beine fühlten sich an, als ob sie jeden Moment platzen wollten. Das Herz hämmerte wie wild in seiner Brust. Aber Lucas beschloss, es zu ignorieren, weil Ines‘ Präsenz immer schwächer wurde. Er ignorierte auch das Stechen in seiner Seite, während er Stufe um Stufe erklomm. Dann erspähte Lucas die ersehnte Sieben über einer Tür. Er machte noch einen mächtigen Satz, drückte den großen Entriegelungsbügel dabei hinunter und prallte mit voller Wucht dagegen. Der Aufprall presste die Luft aus seinen Lungen. Lucas taumelte rückwärts und kam sehr unsanft auf seinem Hintern zu sitzen. Japsend starrte er die Tür an.

… bitte … ich … kann … nicht …

Ines‘ Stimme schwebte als gepresstes Flüstern durch seinen Kopf – verbunden mit einem übelkeiterregenden Schwindelgefühl. Lucas spürte in seinem – oder ihrem? – Innern eine lauernde Dunkelheit, die danach trachtete, ihrer beider Bewusstsein zu umfangen. Er wusste, dass diese Umarmung zumindest für Ines eine endgültige sein würde. Das brachte ihn dazu, sich aufzuraffen und die Tür erneut zu bestürmen. Sie wollte sich nicht öffnen, so sehr er auch drückte und stieß. In diesem Moment meldete sich noch eine weitere Stimme in seinem Hinterkopf. Vielleicht war sie auch schon die ganze Zeit über da gewesen, nur hatte er sie in seiner Panik nicht bemerkt:

Hör auf, du Idiot. Das ist ne Fluchttür! Wohin wird die sich wohl öffnen?!

Aufstöhnend drückte Lucas den Bügel hinunter und zog an der Tür, die sich widerspruchslos öffnete. Er stürzte in den Gang, der nun nicht mehr so still und scheinbar friedlich dalag, wie er es gewesen war, als Lucas ihn verlassen hatte. Am entfernten Ende pulsierte hinter der Glastür ein rotes Licht. Ohne genau hinsehen zu müssen, wusste Lucas, dass dieses Alarmzeichen über der Tür von Ines‘ Zimmer leuchtete. Vor der Glastür, die den Zugang zur Intensivstation versperrte, stand eine Menschentraube, in der sich auch die Eltern von Ines befanden. Sie alle wollten hindurch, wurden aber von dem stämmigen Pfleger daran gehindert, der beschwörend auf sie einredete: »Machen Sie sich bitte keine Sorgen. Sie können Ihrer Tochter jetzt nicht helfen. Das Notfallteam tut alles menschen… Hey, was soll das?«

Lucas war in vollem Lauf in die Menge hineingestürmt. Dann hatte er sich blitzschnell fallen lassen, um auf dem glatten Boden unter den ausgebreiteten Armen des Pflegers hindurchgleiten zu können. Er rutschte noch ein Stück weiter, nutzte die nächstgelegene Wand, um sich abzustoßen. Wie ein menschlicher Querschläger schoss er in Ines‘ Zimmer, das in diesem Moment von mehreren Personen bevölkert war. Eine davon hatte ihren Blick starr auf einige Anzeigen eines Gerätes über dem Kopfende ihres Bettes gerichtet und verlas laut die angezeigten Werte. Die zweite Person – eine Krankenschwester – fummelte an einem Tablett mit Fläschchen herum, aus denen sie Flüssigkeiten auf Spritzen zog. Die Dritte schien ein Arzt zu sein. Sie war dabei, zwei etwa handtellergroße metallische Gegenstände, die durch Kabel mit einem auf einem Rollwagen befindlichen Gerät verbunden waren, hochzunehmen. Sie alle stoppten abrupt, als Lucas mit einem lauten »Nein!« zwischen sie fuhr. Bevor einer von ihnen auch nur »Was zum Teufel …« sagen konnte, war er näher an Ines‘ Bett herangetreten und sah sie an. Sie sah erschreckend klein aus, so wie sie dort lag. Ihr Körper war fast komplett unter der Bettdecke verborgen, mit der man sie vor Auskühlung schützen wollte. Nur ihr Kopf und ein Arm schauten darunter hervor.

Hautkontakt. Ich brauche Hautkontakt, überlegte er fieberhaft. Also schied der Arm aus, denn er befand sich auf der falschen Seite des Bettes. Aber Lucas hatte keine Zeit mehr für große Überlegungen, denn in diesem Moment hatten die Drei ihre Überraschung überwunden. Auch der Pfleger trat aus dem Gang mit finsterer Miene durch die Tür. Lucas wollte mit zwei schnellen Schritten die kurze Distanz bis zum Kopfende des Betts überwinden, blieb aber an einem herumliegenden Kabel hängen. Er stolperte, fiel und landete mit seinem Gesicht mitten auf dem von Ines, wobei seine Lippen nur knapp die ihren verfehlten. Seine Hände suchten Halt, fanden aber nichts, um sich abzustützen, und so knallte er hart gegen die Metalleinfassung des Betts.

»Hast du den Verstand verloren?«, herrschte der Arzt Lucas an, während dieser auf Ines zu liegen kam.

Aber Lucas hörte ihn nicht, denn er war vollauf damit beschäftigt, das allerletzte Stückchen von Ines zu finden und es dorthin zu führen, wo es hingehörte.

»He, hast du mich nicht gehört?«, schnauzte der Arzt erneut, da Lucas keine Reaktion zeigte.

»Der hat vorhin schon Ärger gemacht«, meldete sich der Pfleger zu Wort. »Hat einfach telefoniert. Direkt unter dem Verbotsschild.«

»Aha, hmmm«, machte der Arzt, ohne jedoch seinen Blick dem Pfleger zuzuwenden. Fasziniert starrte er das Pärchen an, das dort vor ihm auf dem Bett lag – sie fast unter der Decke verborgen, er halb vom Bett herunterhängend. Was wollte dieser junge Kerl denn bezwecken? Stürmte hier herein und stürzte sich auf die Kranke. Dachte er etwa, dass er sein Mädchen wie der Prinz Dornröschen durch einen Kuss von den Toten erwecken könnte? Er wollte gerade die Paddles des Defibrillators beiseitelegen, um dem Unsinn ein Ende zu machen, als etwas geschah, das ihn diese Paddles komplett vergessen ließ. Sie entglitten seinen Händen und fielen zu Boden.

Sämtliche Warntöne, die eben noch das bevorstehende Multi-Organversagen der Patientin angekündigt hatten, verstummten mit einem Mal.

Dann gab sie einen unartikulierten Laut von sich, der kurz darauf zu einem »Lucas, wie konntest du!« wurde.

Er versuchte mühevoll, sich in eine senkrechte Position hochzustemmen, sodass er nicht in der Lage war, sich abzuwenden.

Die linke Hand des Mädchens traf ihn und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Vom Schwung, mit dem sie ihn schlug, löste sich sogar das Pulsoximeter von ihrem Zeigefinger. Es flog durch die Luft, bis es vom daran befestigten Kabel gebremst wurde.

Aber anstatt überrascht oder gar verärgert zu reagieren, sah Lucas sie nur traurig an.

Er murmelte: »Ja, tut mir leid, aber du weißt ja warum.«

Dann drehte er sich wortlos um und schlurfte mit hängendem Kopf nach draußen auf den Gang. Nicht einmal der Pfleger hielt ihn auf, denn er war viel zu sehr damit beschäftigt, mit offenstehendem Mund auf das Mädchen zu starren. Sie hatte sich aufgesetzt und schickte dem Jungen wütende und zugleich verwirrte Blicke hinterher. Dann schien sie sich ihrer Umgebung bewusst zu werden und fuhr zusammen.

»Huch, was ist los? Wo bin ich?«

Als wären diese Fragen ein Startschuss gewesen, erwachten die vier Personen aus ihrer Starre.

»Mach dir keine Sorgen. Wir tun das Menschenmögliche, dass es dir bald wieder besser geht«, sagte der Arzt. Er war automatisch auf eine der Floskeln verfallen, die er in seinem Job schon zu so vielen Menschen gesagt hatte.

»Wieso besser? Mir geht’s gut«, antwortete sie. »Wann kann ich hier raus?«

»Na ja, ganz so schnell wird das nicht gehen«, gab er zurück. »Immerhin wärst du eben fast …«

Dann verlor sich seine Stimme, denn ihm wurde bewusst, was er eben – überrumpelt von der plötzlichen Verbesserung des Zustandes – zu einer Minderjährigen gesagt hätte.

Aber das Mädchen enthob ihn eines Erklärungsnotstandes, denn sie sprudelte plötzlich los: »Aber das war doch bloß, weil Lucas … Ich war doch noch in … ähm …« Ihr Blick verlor sich.

In diesem Moment bahnten sich zwei Personen ihren Weg durch die Menschenmenge, die sich zwischenzeitlich auf dem Gang vor dem Krankenzimmer gebildet hatte. Die beiden stellten sich als die Eltern des Mädchens heraus. Der Arzt war froh darüber, ihnen von der erstaunlichen Genesung seiner Patientin berichten zu können. Das war endlich wieder ein Metier, das er verstand. Er hielt es auch nicht für nötig, ihnen von der Episode mit dem Jungen zu erzählen. Das würde nur zu unnötigen Fragen führen, die er weder beantworten konnte, noch wollte.

Mit unbewegter Miene trottete Lucas den Flur des Krankenhauses entlang in Richtung Lift. Innerlich tobte ein Chaos aus widerstreitenden Gefühlen. Triumph, weil er herausgefunden hatte, woran es gelegen hatte, dass Ines nicht aufgewacht war. Erleichterung, darüber, dass es geklappt hatte, das letzte Stückchen von ihr aus sich herauszulösen. Horror über das, was hätte passieren können, wenn er es nicht mehr rechtzeitig geschafft hätte. Enttäuschung über Ines‘ Reaktion. Aber hatte er denn überhaupt eine andere Reaktion erwarten können? Mit Sicherheit nicht. Im Verlauf des Abends hatte Ines bestimmt mehrfach Angst oder sogar Panik ausstehen müssen, zum Teil auch durch ihn selbst verursacht. Trotzdem musste Lucas zugeben, dass er darauf gehofft hatte, dass sich alles wieder einrenken würde, wenn Ines erst mal vollständig in ihren eigenen Körper zurückgekehrt wäre.

So viel zum Thema Wunsch und Wirklichkeit, dachte er resigniert. Dann kam er am Lift an und drückte auf den Äbwärts-Knopf. Er wollte nun endlich in die Cafeteria. Zwar hatte sich das mit dem Telefonieren inzwischen erledigt – das Gespräch kam ihm schon völlig unwirklich vor. Aber er wollte sehen, ob er seine Eltern fand, weil er sich danach sehnte, endlich nach Hause zu kommen. Vielleicht würde er im Schlaf etwas Vergessen finden können. Der Gong ertönte. Die Türen glitten auseinander. Überrascht stellte Lucas fest, dass er sie bereits gefunden hatte, denn sie standen in der Kabine.

»Luky, was …«, begann Betty, aber er trat nur zu ihnen in die Kabine und drückte wortlos auf den Knopf für das Erdgeschoss.

»Heißt das, Ines ist …?«

»Aufgewacht. Lasst uns fahren«, brummte Lucas.

»Ähm, Moment mal«, sagte Paul verwirrt. »Wie ist das denn passiert?«

Lucas blickte seinen Vater müde an.

»Ich kann jetzt nicht. Ich will auch nicht«, murmelte er. »Bitte. Ich will nur noch nach Hause.«

»Oh, ich dachte, du wolltest …«, setzte Paul an, aber Betty legte ihm die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf.

»Lass gut sein Paul. Wir sollten wirklich besser fahren. Guck dir Lucas doch an. Der ist völlig fertig. Wer sollte es ihm auch verdenken. Er hat heute immerhin eine ganze Menge Menschenleben gerettet.«

Damit schloss sie Lucas in die Arme und drückte ihn ganz fest an sich. In diesem Moment war es ihm, als ob ein Damm tief in ihm bräche und er sackte schluchzend zusammen. Von der Fahrt nach Hause bekam Lucas fast nichts mit. Er dämmerte auf dem Rücksitz des Autos vor sich hin. Als sie schließlich angekommen waren, stieg er ohne noch etwas von sich zu geben die Treppe hinauf, ließ sich auf sein Bett fallen und hieß dankbar die Schwärze des Schlafs willkommen.

»Mann Mäuschen, da hast du uns aber nen ordentlichen Schrecken eingejagt«, sagte Tom, Ines‘ Vater.

»Ähm«, machte Ines.

»Was ist denn bloß passiert?«, fiel ihr Diana ins Wort.

»Also …«, begann sie erneut.

»Nun lass sie doch mal ausreden«, sprudelte Tom gleichzeitig hervor.

Ines sah ihre Eltern an. Dann brachen alle drei in erleichtertes Gelächter aus.

»Okay, jetzt nochmal von vorn«, sagte Tom, nachdem sich alle lachend umarmt hatten. »Was ist denn bloß los gewesen und warum hast du uns nicht Bescheid gesagt?«

»Ja, also«, begann Ines, die froh darüber war, dass sie durch das Gruppenkuscheln noch ein wenig mehr Zeit gehabt hatte, ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen. Seit sie von Lucas aus dem dunklen Loch geholt worden war, in dem er sie eingekerkert hatte, war sie krampfhaft darum bemüht gewesen, mit dem klarzukommen, was sie in den letzten Stunden gesehen hatte. Aber viel mehr noch beschäftigte sie das, was sie nicht mehr sehen konnte. Dieses Nichts, in dem Lucas sie abgeladen hatte, war fast nicht zu ertragen gewesen. Kein Wort, kein Geräusch wahrzunehmen und noch dazu blind zu sein, hatte ihre Nerven fast zum Zerreißen gebracht. Viel schlimmer noch war jedoch das Gefühl gewesen, plötzlich zu fallen und immer weniger zu werden. Zum Glück hatte Lucas sie noch rechtzeitig bemerkt und aufgefangen. Irgendwie hatte er sie gerettet. Dafür musste sie ihm wohl dankbar sein, aber trotzdem würde sie es nicht vergessen, dass er sie so einfach mir nichts, dir nichts weggesperrt hatte.

»Ja, Maus?«, riss ihre Mutter sie aus den Gedanken.

»Ach, ich weiß auch nicht«, sagte Ines und versuchte, dabei möglichst müde zu klingen.

Sie hatte keine Ahnung, wie sie es ihren Eltern erklären konnte, dass sie sich ohne ihr Wissen nachts allein in Berlin herumgetrieben hatte – ganz davon abgesehen, dass sie zwischendurch entführt worden war. Dann fiel es ihr plötzlich ein. Das mussten sie gar nicht wissen! Für die beiden galt immer noch, dass sie bei ihrer Freundin übernachten wollte. Jetzt stand nur noch zu hoffen, dass sie nicht dort angerufen hatten, und Tina ahnungslos gewesen war.

Okay, Augen zu und durch, sagte sie sich.

»Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich dabei war, mich für Tina fertigzumachen. Dann wurde mir mit einem Mal ganz komisch. Ich dachte, dass ich mich nochmal kurz hinlegen könnte. Ja und dann bin ich hier aufgewacht.«

In diesem Moment wurde Ines der Fehler in ihrer Story bewusst. Sie hatte ja gar keine Ahnung, wo, wie und von wem sie gefunden worden war. Vorsichtig blickte sie ihre Eltern an, innerlich darum betend, dass es doch funktionieren würde.

Diana lächelte und strich Ines über die Wange.

»Na dann ist es ja gut, dass Lucas dich um Mitternacht besuchen wollte und er dich zusammen mit seinen Eltern gefunden hat. Ich glaub, der mag dich.«

»Was?«, fuhr Ines auf. Einerseits war sie froh, darüber, dass sie ihr die Geschichte abgekauft hatten, aber Lucas hatte sie aus dieser Sache möglichst heraushalten wollen.

»Huch, was ist denn mit dir? Ich dachte, du magst ihn auch«, sagte Diana mit einer beschwichtigenden Geste.

»Hmm … ja … nee … weiß nich«, grummelte Ines. »Aber was hat das denn mit heute zu tun?«

»Na ja, sie haben erzählt, dass Lucas dir eigentlich um Mitternacht ein gesundes neues Jahr wünschen wollte, weil er noch Licht bei dir gesehen hatte. Dann haben sie wohl gemerkt, dass irgendeine Tür offen war, sind rein und haben dich so gefunden. Wir sind dann kurz danach auch zu Hause angekommen, weil wir dich um zwölf nicht erreichen konnten. Blöderweise hatte Papa dann auch noch sein Handy vergessen, sodass wir Tinas Telefonnummer nicht dabei hatten. Kannst du dir das vorstellen? Papa ohne Handy? Na egal, auf jeden Fall haben sie dich mit dem Rettungswagen hergebracht. Und jetzt bist du wieder in Ordnung. Du fühlst dich doch okay?«

Den letzten Satz sagte ihre Mutter mit einem leicht flehenden Unterton in der Stimme, sodass Ines automatisch mit »Na klar« antwortete. Innerlich war sie sich dessen nicht so sicher. Irgendwie musste Lucas es geschafft haben, ein Stück von ihr mit sich herumzutragen. Was, wenn er nicht alles wieder zurückgegeben hatte? Und wieso zum Teufel hatte er es überhaupt gehabt? Alles, an das sie sich noch klar erinnern konnte, war gewesen, dass Herr Neumann und dieser Freak sie auf der Siegessäule gefangen gehalten hatten. Dann war Lucas gekommen – woher eigentlich? – und hatte sie anscheinend gerettet. Aber wie nur? Irgendwann zu dieser Zeit verlor sich ihre Erinnerung und wurde durch völlig abstruse Träume ersetzt – von Bomben … und Fischen … und Blitzen … und Drachen? Warum ausgerechnet Drachen? Und warum hatte sie das Gefühl, sie wäre dieser Drache gewesen? Sie mochte dieses ganze Fantasy-Gedöns nicht, also natürlich auch keine Drachen. Wieso sollte sie also davon träumen? Ines seufzte verwirrt.

»Ja, Maus?«, sagte Tom.

»Ach, Papi, ich bin doch ganz schön müde«, antwortete sie matt. »Ich glaube, ich lege mich noch ein bisschen hin.«

Ihre Eltern sandten hilfesuchende Blicke in Richtung des Arztes, der diskret ein wenig in Richtung Gang zurückgetreten war, um die Familie nicht zu stören. Dieser nickte beruhigend und antwortete auf die unausgesprochene Frage: »Keine Sorge. Jetzt kann nichts mehr passieren. Sie soll ruhig ein wenig schlafen. Wir müssen ohnehin noch ein paar Tests durchführen, um auszuschließen, dass es eine physische Ursache für den Zustand gibt, in dem ihre Tochter eingeliefert wurde. Die Ergebnisse erhalten wir frühestens morgen Vormittag. Wenn Sie möchten, dann können Sie gern nach Hause fahren. Oder wir besorgen Ihnen einen Ruheraum, wenn Sie gern hierbleiben wollen.«

»Ich geh hier nicht weg«, sagte Diana.

»Was meinst du?«, fragte Tom und drehte sich dabei zu seiner Tochter um.

Aber Ines war bereits eingeschlafen.

Erstkontakt

a der 2. Januar ein Sonntag war, startete die Schule erst am 3. Das war auch gut so, denn sowohl Ines als auch Lucas hätten ansonsten vom ersten Schultag kaum etwas mitbekommen. Das ganze Wochenende über dämmerten sie vor sich hin, schliefen oder starrten auf den laufenden Fernseher, ohne viel vom dort gezeigten Programm aufzunehmen. Lucas‘ Eltern betrachteten es mit Wohlwollen und einem gewissen Stolz über das, was er vollbracht hatte. Zwar verstanden sie einiges von dem, was auf der Siegessäule abgelaufen war, überhaupt nicht, hofften aber, dass Lucas es ihnen bald erklären würde. Andererseits wollten sie ihren Sohn nicht bedrängen, denn er schien von alldem nicht nur körperlich, sondern auch emotional sehr mitgenommen zu sein. Also übten sie sich in Geduld. Irgendwann würde er schon auf sie zukommen.

Diana und Tom waren weniger entspannt dabei, wenn sie Ines matt auf der Couch liegen sahen. Auch wenn der Arzt ihnen erzählt hatte, dass es bei ihr keine Anzeichen für eine Erkrankung gäbe, beruhigte sie dies nur teilweise. Es half auch nicht, dass Ines ihnen auf alle ihre vorsichtigen Fragen, den Silvesterabend betreffend, nur wortkarge und ausweichende Antworten gab.

Lucas war froh darüber, dass er seine Ruhe hatte. Es gab zu viele Dinge, die er in seinem Kopf erst mal ordnen musste, bevor er sich den Fragen seiner Eltern oder auch denen von Ines stellen konnte.

Fakt ist eins. An der BAT gibt es eigentlich nur normale Begabte.

Er scheute sich immer noch davor, das Wort Vampir zu benutzen.

Aber wie viel weiß ich denn eigentlich über die Lehrer dort? Bragulia ist zwar der Chef, aber er ist auch ziemlich vertrottelt. Der müsste schon ein absolutes Ass darin sein, sich zu verstellen. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Upuaut ist da schon eher so ein Kandidat. Den kann ich einfach nicht einschätzen und irgendwie ist er auch sonst ziemlich geheimnisvoll. Mandana ist ja gar nicht so viel älter, als ich. Von ihr kann ich es überhaupt nicht glauben, dass sie Blut trinken sollte. Und dann sind da ja auch noch die Augen.

Lucas schauderte bei dem Gedanken an Plagues Augen mit ihrer weißen Iris.

So etwas kann man nicht verbergen. Nein, Blutsauger gibt’s bei uns bestimmt nicht.

Wie kannst du dir da so sicher sein?, erklang die altbekannte Stimme aus seinem Hinterkopf. Immerhin hast du ja auch nicht gewusst, dass Neumann mit ihnen gemeinsame Sache macht.

Hat er nicht!, fuhr Lucas sich innerlich an. Dann merkte er, was er da tat und schloss kopfschüttelnd die Augen. Es konnte einfach nicht sein, dass Neumann bewusst mit bluttrinkenden Vampiren zusammengearbeitet hatte. Sicher, er kannte dieses Monster Plague. Er war auch an dem Plan beteiligt gewesen, der Berlin zu Silvester um Mitternacht in Dunkelheit und Chaos versinken lassen sollte. Aber er hatte es nur wegen Geld getan. Als Plague sich als Blutsauger zu erkennen gegeben hatte, war Neumann ehrlich erschüttert gewesen. Das konnte er nicht gespielt haben. Leider gab es keine Möglichkeit mehr, ihn dazu zu befragen, denn er war tot. Plague hatte ihn umgebracht, als er von der Siegessäule geflohen war. Bei diesem Gedanken spürte Lucas, wie ihm die Kehle eng wurde, und seine Augen zu brennen begannen. Er vermisste Neumann, diesen coolen, geheimnisvollen Typen, der ihm gezeigt hatte, was er war und ihm dann geholfen hatte, mit der Angst davor umzugehen. Ohne ihn wäre Lucas wahrscheinlich nicht einmal an die BAT gekommen, denn Neumann war es gewesen, der in ihm den Begabten erkannt hatte. Aber es tat einfach zu weh, an ihn zu denken. So zwang er sich dazu, seine Aufmerksamkeit auf den Fernseher zu richten. Glücklicherweise lief dort eine Action-Komödie, die Lucas dabei half, sich lange genug ablenken zu können, um vom Schlaf übermannt zu werden.

Verdammt, wie soll ich das bloß hinbekommen?

Ines starrte in das Gesicht, das der Spiegel ihr zeigte. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass es sich um ihr eigenes handelte, dann hätte sie es nicht erkannt. Blass war sie, mit dunklen Ringen um rot geäderte Augen. Das Haar stand ihr wirr um den Kopf – zumindest die Strähnen, die nicht auf dem tränenfeuchten Gesicht klebten. Eigentlich wusste sie gar nicht, warum sie weinte. Ines konnte sich an nichts vom Silvesterabend erinnern, dass die tiefe Trauer, die sie empfand, rechtfertigen würde. Genau genommen konnte sie sich an überhaupt nichts klar erinnern. Aber die Trauer war echt und deshalb musste sie herausbekommen, woher sie kam.

Ruf ihn doch endlich an, nörgelte eine Stimme in ihrem Kopf.

Ich kann nicht, antwortete sie sich selbst. Ich … habe Angst.

Jetzt war es heraus. Bei aller Notwendigkeit, zu wissen, was zu Silvester vorgefallen war, hatte sie doch trotzdem viel zu viel Angst davor, es wirklich herauszufinden. Tief in ihrem Innern befürchtete Ines, mit der Wahrheit nicht klarzukommen.

Aber würde sie mit der Unwissenheit fertigwerden?

Was wäre, wenn sie plötzlich von jemandem auf die Ereignisse angesprochen würde?

Wäre sie dann in der Lage, die Ruhe zu bewahren?

Könnte sie halbwegs vernünftige Antworten geben?

Oder würde sie womöglich wieder in Tränen ausbrechen?

Wenn Ines so in sich hineinhorchte, dann wäre vermutlich das Letztere der Fall. Nein, das konnte so nicht weitergehen. Sie stieß sich vom Waschtisch ab und drehte sich herum, um das Badezimmer zu verlassen und zum Telefon zu gehen. Auf dem Treppenabsatz zögerte Ines jedoch. Der Elan, der sie eben noch angetrieben hatte, war bereits wieder verflogen. Zögernd setzte Ines einen Fuß auf die nächste Stufe, zog ihn aber gleich wieder zurück, als hätte sie sich daran verbrannt. Mit hängendem Kopf trottete sie zurück zu ihrem Zimmer, nur um sich dort angekommen mit der Stirn gegen die geschlossene Tür zu lehnen.

Als Ines feststellte, dass sich die erhoffte Ruhe einfach nicht einstellen wollte, wartete sie noch eine Weile weiter, bis sie fühlte, dass sich innerlich eine Art Druck aufbaute. Schon kurze Zeit später war dieser Druck stark genug, dass sie das Gefühl hatte, sich von der Tür abstoßen zu können. Das tat sie dann auch, und diesmal reichte der Schwung dafür, dass sie nicht nur die erste Treppenstufe überwand, sondern direkt bis um Standort des Telefons vordrang. In dem Moment, als Ines das Handteil aus der Ladeschale nahm, kam ihre Mutter in den Flur. Sie hatte wohl aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrgenommen und war aus der Küche geeilt, um ihrer Tochter zu begegnen, in der Hoffnung, sie in ein Gespräch verwickeln zu können.

»Hallo Mäuschen, da bist du …«, begann sie, aber Ines schnappte sich nur das Telefon und stürmte, ohne ein Wort zu sagen, wieder die Treppe hoch.

»… ja wieder«, schloss Diana den eben begonnenen Satz lahm und schaute ihr hinterher. Zumindest bewegte sich Ines inzwischen wieder aus ihrem Zimmer. Das war doch schon einmal etwas.

»Luky? Bist du wach?«

Verdammt. Jetzt bin ich es wirklich wieder. Fast hätte ich es endlich geschafft gehabt. Die letzten paar Minuten des Films habe ich doch bloß noch als Geräusch wahrgenommen.

Er drehte seinen Kopf in Richtung Tür, wo er Betty stehen sah, und brachte sogar fast so etwas wie ein Lächeln zustande.

»Oh, gut«, sagte sie, als sie dies sah. »Ich hab jemanden für dich am Telefon.«

»Hmm, wen denn?«, murmelte Lucas, aber statt zu antworten, streckte seine Mutter ihm das Telefon entgegen.

»Ja?«, sagte Lucas und versuchte dabei, nicht allzu leidend zu klingen. Wenn Erik dran wäre, dann wollte er möglichst keinen Anlass zu Mitleid – oder noch viel schlimmer zu Nachfragen – geben. Die nächsten Worte, die er hörte, brachten jedoch alle Vorsätze ins Wanken.

»Hi, Lucas«, sagte Ines.

»Ohhh«, machte er, teils aus ehrlicher Überraschung, teils deswegen, weil er seiner Stimme nicht traute.

Doch dann geschah etwas, mit dem Lucas nicht gerechnet hatte. Ines lachte. Zuerst war es nur ein verhaltenes Kichern, aber es steigerte sich immer mehr, bis sie lauthals lachte. Und Lucas lachte mit, obwohl er eigentlich gar nicht wusste, warum. Er lachte, bis ihm die Tränen in den Augen standen, und bemerkte dabei erstaunt, wie befreiend es auf ihn wirkte.

Als sie sich beide wieder beruhigt hatten, räusperte sich Lucas und sagte: »Ja, hi Ines. Ähm. Warum hast‘n du gelacht?«

»Ach, na ja. Ich hab schon den halben Tag mit mir gekämpft, weil ich wusste, dass ich mit dir sprechen muss. Und eben beim Wählen habe ich mir die ganze Zeit gesagt ‘Wir müssen reden – wir müssen reden – wir müssen reden’. Und dann gehst du ran und sagst ‘Oh’.«

Lucas grinste. »Stimmt. Da hätte ich wohl auch lachen müssen.«

Doch dann wurde ihm bewusst, was als Nächstes geschehen würde, und das Grinsen erstarb.

»Ähm«, machte Ines.

Lucas schwieg, denn er hatte Angst davor, was sie gleich sagen oder fragen würde. Es trat eine unangenehme Pause ein, während die beiden krampfhaft nach Worten suchten, um weiterzumachen. Lucas hob seinen Blick und sah aus dem Fenster in die Richtung des Balkons, hinter dem sich Ines‘ Zimmer befand. Als er dort nicht nur ein erleuchtetes Fenster, sondern auch ihren Umriss erkannte, zuckte er schuldbewusst zusammen. Ihm wurde klar, dass es für Ines ungleich schwerer sein musste, den Anfang zu machen.

Also räusperte er sich erneut und fragte: »Gibt es etwas Bestimmtes, das du wissen willst?«

»Alles«, hauchte sie in ihr Telefon. »Ich will, nein ich muss alles wissen. Sonst werd ich noch verrückt. Was war das mit diesem Freak? Wo ist Neumann? Und was hast du mit mir gemacht? Wo war ich?«

Lucas ließ seinen Kopf hängen. Verdammt – das volle Programm. War sie überhaupt bereit dafür? War er es? Wo sollte er anfangen?

Er schluckte schwer. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, gestand er.

»Na dann fang doch am besten mit dem Club an. Wenn ich es mir überlege, dann denke ich, dass ich nicht mal die Hälfte von dem weiß, was da so abgeht.«

Oh, Mist.

Das stimmte. Also war es sogar noch mehr, als nur das volle Programm. Das würde sie bestimmt nicht aushalten. Aber als Lucas in sich ging, stellte er fest, dass er eigentlich davon überzeugt war, dass Ines es doch aushalten würde. Das Nichtwissen war vermutlich noch schwerer zu ertragen. Lucas stand auf und trat an sein Fenster.

Ines‘ Silhouette im Blick sagte er mit möglichst fester Stimme: »Das geht so nicht. Ich muss zu dir kommen.«

»Was?!«, kam es prompt von ihr zurück.

Lucas schloss die Augen. Genau diese Reaktion hatte er befürchtet. Es hatte sich nichts geändert. Auch das gemeinsame Lachen vorhin war nichts weiter gewesen, als ein Zufall, der sie beide kalt erwischt hatte. Aber er blieb hart.

»Hör mal. Ich kann dir das nicht einfach am Telefon erzählen, so wie man nem Freund von einem Kinobesuch berichtet. Ich muss dir dabei in die Augen sehen. Also entweder lässt du mich vorbeikommen, oder du kannst lange auf die Erklärung warten.«

Lucas hörte, wie Ines tief Luft holte – wahrscheinlich um zu einer geharnischten Antwort auszuholen – aber dann ließ sie die Luft seufzend wieder entweichen.

»Na gut. Tu, was du nicht lassen kannst. Ich sag meiner Mutter Bescheid, dass du gleich rüberkommst«, murmelte sie und legte auf, ohne sich zu verabschieden.

Ein weiteres Mal starrte Lucas auf ein Telefon in seiner Hand. Dann stand er auf, zog sich schnell etwas an und spritze sich im Bad ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht. Danach ging er hinunter, um seinen Eltern zu sagen, dass er kurz zu Ines gehen würde.

»Ach, weiß du, es ist bestimmt ganz gut, dass du noch ein bisschen frische Luft bekommst, und ihr beide mal ein bisschen in Ruhe quatschen könnt«, sagte Lucas‘ Vater, während dieser das Haus verließ.

Wenn du wüsstest, was es mit dieser netten Plauderei auf sich hat, dachte Lucas, als er die Tür hinter sich schloss.

Der Spaziergang bis zu Ines‘ Haus dauerte nicht lange. Dort angekommen erblickte Lucas Ines, die in der Tür stehend auf ihn wartete.

»Hi«, begann er, wurde aber von Ines sofort gestoppt.

»Am besten gehen wir direkt hoch«, sagte sie. »Meine Eltern sind gerade beschäftigt.«

»Okay?«, machte Lucas zweifelnd, folgte ihr aber gleichwohl.

Oben angekommen führte Ines ihn in ihr Zimmer und schloss die Tür. Sie setzte sich auf ihre Bettcouch und sah Lucas erwartungsvoll an.

»Also gut. Dann schieß mal los.«

Lucas stand etwas belämmert da, weil ihm in diesem Moment klar wurde, dass er – abgesehen von der Aktion zu Silvester – zum ersten Mal in Ines‘ Zimmer war und das auch noch allein. Hilfesuchend sah er sich nach einer Sitzgelegenheit um, da er keine Lust hatte, wie bei einem Vortrag in der Schule stehen zu müssen.

Zu seinem großen Erstaunen sagte Ines: »Ach, Quatsch. Setz dich hier mit her. Ich glaub, ich habe insgesamt ein bisschen überreagiert. Aber das war alles echt …«

»Ist schon okay«, platzte Lucas heraus und setzte sich auf die Couch, bevor Ines es sich anders überlegen konnte. Dann sah er ihr fest in die Augen und sagte eindringlich: »Tu mir bitte den Gefallen und hör dir erst mal alles an, was ich zu sagen habe. Ich hoffe, dass ich in möglichst kurzen Worten zumindest das Wichtigste erzählen kann. Wenn du Fragen hast – und du wirst welche haben – dann beantworte ich sie gerne hinterher.«

»Na gut«, kam es von Ines zurück.

»In Ordnung«, begann Lucas. »Das alles hat schon vor über einem halben Jahr angefangen. Weißt du noch, als wir uns bei dem Footballspiel das erste Mal außerhalb der Schule begegnet sind?«

»Hmm.«

»Ich musste da plötzlich abhauen, weil mich der Lärm fast alle gemacht hat.«

»Aha.«

»Ja, und nicht nur das. Alles war plötzlich viel heller, lauter und irgendwie … mehr. Erst habe ich es gar nicht richtig bemerkt, aber als wir an die neue Schule gekommen sind, da wär ich fast ausgetickt, wenn Herr Neumann mich nicht gefunden hätte.«

»Stimmt. Du bist doch mit dem zusammengeknallt. Was ist eigentlich mit …«

»Später.«

»Aber …«

»Bitte lass mich weitermachen.«

»Na gut.«

»Neumann schien damals irgendwas bemerkt zu haben und hat mich dann in so einen Club eingeladen, wo ich angeblich Antworten auf diese Fragen bekommen sollte.«

»Der BAT-Club!«

»Genau. Aber hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, was das BAT zu bedeuten hat?«

»Ähm«, machte Ines. »Na ist doch eigentlich ganz einfach … ‘bat’ heißt Fledermaus.«

»Also Fledermaus-Club?«, bemerkte Lucas fragend.

»Och Mensch, jetzt nerv doch nicht«, sagte Ines und schubste ihn spielerisch.

Lucas war stark in Versuchung, jetzt mit ihr eine armlose Kabbelei einzugehen, aber er zwang sich zur Beherrschung.

Okay, schnall dich an. Showtime.

Er blickte Ines an, bis er sich sicher war, wieder ihre volle Aufmerksamkeit zu haben.

»Du hast gar nicht mal so unrecht, auch wenn BAT in Wirklichkeit eine Abkürzung ist. Und zwar für ‘Berliner Akademie für Transmutationen’.«

»Transmu … wasfürnzeug?«

»Transmutationen. Das bedeutet Umwandlung durch Veränderung des Erbguts.«

Zwischen Ines‘ Augen bildete sich über der Nasenwurzel eine tiefe Falte, als sie bei dem Versuch, Lucas‘ Worten eine Bedeutung zu entnehmen, die Stirn runzelte.

»Lass es mich so erklären«, fuhr er fort. »Wenn du als Mensch lieber eine … sagen wir mal, weil wir schon dabei sind, Fledermaus wärst. Was hindert dich dann daran, eine zu sein?«

»Was?!«, rief Ines völlig verwirrt.

»Dein Erbgut. Das hindert dich daran, denn deine Gene besagen, dass du nun mal ein Mensch bist.«

»Ist doch klar«, kam es von Ines zurück.

»Richtig. Aber was wäre, wenn du in der Lage wärst, deine Gene zu verändern, sodass sie nun ‘Fledermaus’ sagen?«

»Ja klaar«, bemerkte sie ungläubig.

Aber Lucas sah ihr ein weiteres Mal in die Augen und sagte: »Ja, klar.«

Ines blinzelte entgeistert.

»Du … du-du-du meinst …«

»Dass es Menschen gibt, die genau dazu in der Lage sind. Und die BAT ist ein Ort – wenn nicht sogar der Ort, wo sie lernen können, damit umzugehen.«

Ein Großteil der Farbe wich aus Ines‘ Gesicht. Sie sackte leicht zusammen, als sie diesmal Lucas fest in die Augen sah.

»Sag, dass das nicht wahr ist«, hauchte sie.

»Das kann ich nicht, denn es ist wahr. Und ich bin einer von ihnen. Ein Gestaltwandler.«

Lucas sprach nicht weiter, da er sich sicher war, dass Ines etwas sagen würde. Aber sie saß nur da und sah ihn mit großen Augen an. Also machte er weiter.

»Jeder von uns kann sich zuallererst in eine Fledermaus umwandeln. Später kommen dann möglicherweise noch andere Tiere dazu.«

»So wie … Löwen?«, fragte Ines dazwischen.

Lucas nickte. Er wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als er plötzlich ein eigenartiges Geräusch hörte, dass ihm die Haare zu Berge stehen ließ. Dann aber merkte er, dass es sich um ein leicht hysterisches Lachen handelte, und dass es Ines war, die da lachte. Nun war es an ihm, verwirrt dreinzuschauen.

»Ähm, warum …«, begann er.

»Warum ich lache?«, presste Ines kichernd hervor. »Ich habe gerade an den Tag denken müssen, als ich in einem der Räume in der BAT etwas holen wollte und mit einem Mal vor einem Löwen stand. Dann bin ich wieder rausgestürzt und hab die Tür hinter mir zugeknallt, weil ich hoffte, dass Löwen keine Türen öffnen können. Aber sie öffnete sich doch. Da standest du und hast mir was von Projektoren erzählt. Aber das war keine Projektion, sondern du!«

»Ja, ich und Harald. Oder denkst du, ich dürres Gerippe kriege allein so nen großen Löwen hin?«

Ines brach in ein erleichtertes Gelächter aus, denn ihr war in diesem Moment ein Stein vom Herzen gefallen. Tief in ihrem Inneren hatte sie nie das geglaubt, was Lucas ihr damals als Erklärung angeboten hatte. Nur hatte sie sich nicht getraut, nachzufragen, aus Angst davor, dass er sie lediglich beruhigen wollte, weil mit ihr etwas nicht stimmte.

Lucas bemerkte, wie ein Teil der Anspannung aus Ines wich. Hoffnungsvoll stimmte er in ihr Lachen ein. Vielleicht konnte ja doch noch alles gut werden.

Nach einer Weile wischte sich Ines die Lachtränen aus den Augen und sagte: »Puh, das war gut. Und wie ging’s dann weiter? Was hat Neumann denn dazu gesagt, dass du nen Löwen kannst?«

»Hatte überhaupt keine Gelegenheit dazu, es ihm zu sagen, und …«

»Na ja, das kannst du ja später nachholen.«

»Ähm Lucas?«, ergänzte Ines, nachdem eine Weile Stille geherrscht hatte. Dann sah sie ihn genauer an und stutzte, denn Lucas war bleich geworden. Tränen rannen in Strömen seine Wangen hinunter.

»Lucas, was ist denn?«, fragte Ines vorsichtig, aber er schüttelte nur den Kopf und schwieg.

Er hatte geglaubt, hatte es inständig gehofft, dass er nach fast zwei kompletten Tagen, in denen er seiner Trauer freien Lauf gelassen hatte, besser mit den Tatsachen umgehen könnte. Aber nichts dergleichen war der Fall. Der Verlust war immer noch wie eine frisch geschlagene Wunde in seiner Brust, durch die sein Lebensmut entwich. Am liebsten hätte er sich einfach fallen lassen, in einen Schlaf, aus dem er nie mehr erwachen musste. Klar, Neumann war letztendlich einer von den bösen Jungs gewesen, aber Lucas konnte einfach nicht vergessen, was er alles für ihn getan hatte.

»Was ist denn nur los mit dir?«, fragte Ines von neuem und berührte ihn sanft am Arm.

Es war diese Berührung ihrer warmen Finger, die es Lucas ermöglichte, sich aus der Abwärtsspirale zu lösen, in die er sich begeben wollte. Er schniefte mit der Nase und hob den Kopf, um Ines anzusehen.

»Neum …« Lucas räusperte sich, weil seine Stimme ihm den Dienst versagte. »Neumann kann ich nix mehr erzählen.«

»Wieso? Na klar, morgen ist doch …«

»Er ist tot!«, sagte Lucas mit erstaunlich fester Stimme, aber viel lauter, als notwendig.

»Waas?«, rief Ines mit weit aufgerissenen Augen, die Hand vor den Mund geschlagen.

»Okay, die Kurzfassung«, sagte Lucas, der sich inzwischen wieder unter Kontrolle bekommen hatte. »Ich bin also in der BAT und kriege mit, dass sich irgendwelche Typen über diese Bombe unterhalten. Leider muss ich abhauen, als die das Gespräch beenden, damit mich keiner sieht. Daher weiß ich nicht, wer das war. Aber ich schaue hinterher in dem Kabuff nach, wo sie sich unterhalten hatten, und entdecke eine Zeichnung. Außerdem habe ich bei dem Gespräch so ein Wort mitbekommen.«

»Weitukäi«, bestätigte Ines.

Lucas stockte kurz, dann aber fiel ihm ein, dass Ines ja in ein Gespräch zwischen ihm und Harald geplatzt war, in dem es um dieses Wort ging. Er nickte.

»Richtig. Wir haben das ja wohl irgendwie beide kapiert, wann und wo es letztendlich abgehen sollte. Wie haben sie dich eigentlich erwischt?«

»Tja, erst hab ich es tatsächlich noch geschafft, aus dem Lieferwagen rauszukommen, ohne dass mich wer sieht. Aber dann habe ich Neumann mit Kevin und Dirk gesehen und bin ihnen hinterher, als sie zur Siegessäule sind. Die haben da von der Bombe gesprochen, und ich wollte doch wissen, was los ist. Plötzlich kommt dieses Monster von hinten und schleppt mich mit rein.«

Lucas hörte interessiert zu. Einerseits, weil es bisher noch keine Gelegenheit gegeben hatte, mit Ines darüber zu reden. Andererseits hoffte er, dass der Schrecken dessen, was er gleich erzählen musste, etwas geringer sein würde, wenn sie sich durch ihre Erzählung wieder ein wenig mit der Situation vertraut machen konnte.

Deshalb fragte er nach: »Warum hattest du eigentlich das Meta-Suit an?«

»Das was?«

»Na den schwarzen Anzug, den du unter deinen Klamotten getragen hast.«

»Ach, dieses komische Ding, das ich erst gar nicht angezogen bekommen habe, weil ich nicht wusste, wo der Einstieg ist?«

»Jep.«

»Das hat mir Herr Neumann gegeben, weil’s da oben so schweinekalt war.«

Und wieder wurde Lucas‘ Kehle bei der Erwähnung des Namens eng. Er schloss resigniert die Augen. Würde das jetzt ewig so weitergehen? Es war doch schließlich nicht mehr zu ändern. Tot war tot. Er öffnete seine Augen wieder und sah jetzt auch in denen von Ines Tränen stehen.

»Aber wie kann das nur sein? Was ist passiert?«, fragte sie.

»Erinnerst du dich noch daran, wie du oben auf der Siegessäule gestolpert bist?«

»Ja. Ich bin da gegen irgend so ein Ding geknallt und dann war ich … weg.«

»Na ja, fast«, bemerkte Lucas. »Das war nicht ein Ding, sondern ich, als ich gerade mitten dabei war, mich umzuwandeln. Da gibt es so eine Phase, in der alles zerfließt. Die musst du wohl erwischt haben.«

Ines klappte der Mund auf. Mit starr auf Lucas gerichtetem Blick stammelte sie: »Du … du meinst … ich war … in … dir drin?«

»Nee, ich glaube eher, dass wir beide eins waren«, entgegnete Lucas. Die Tatsache, dass außer ihr auch noch Harald dabei gewesen war, verschwieg er lieber. »Das war auch der Grund, warum wir miteinander reden konnten.«

»Nein«, stieß Ines hervor und rückte ein Stück von Lucas ab. »Du … wir … das geht nicht.«

»Geht es doch. Ich habe eine wohl sehr seltene Fähigkeit. Ich kann mich mit anderen Lebewesen verbinden und daraus ein großes Ganzes machen. Als du dann anfingst … na ja, ein bisschen hysterisch zu werden …«

»Wärst du das nicht?«, unterbrach Ines ihn.

»Ich hab ja nicht gesagt, dass das falsch war oder so. Aber das war leider das Letzte, was ich in diesem Moment gebrauchen konnte. Die Typen waren fast oben angekommen, und ich wollte sie aufhalten. Da musste ich was tun. Also habe ich dich irgendwo in mir … uns versteckt. Ich weiß nicht wie, aber es war so, als hätte ich dich irgendwo eingeschlossen.«

Lucas stockte einen Moment – innerlich auf eine Schimpfkanonade von Ines gefasst, die aber ausblieb.

»Aha«, machte sie nur, was er als Zeichen wertete, dass er fortfahren konnte. Und er tat es nur zu gern, denn es war seltsam wohltuend, dies mit Ines zu teilen.

»Ja, und dann ging alles total schnell. Ich hab mich denen in den Weg gestellt. Es ist zu einem Kampf gekommen. Plötzlich hat dieser Plague Neumann die Treppe runtergestoßen, um durch die Verwirrung, die daraus entstand, fliehen zu können. Als ich gecheckt habe, dass wir den nicht so ohne Weiteres einholen können, da hab ich mich in einen Zitteraal umgewandelt und ihm einen Stromstoß hinterhergeschickt. Aber dabei habe ich aus Versehen wohl ein bisschen übertrieben und sowohl Plague als auch den auf der Treppe liegenden Neumann zu Asche verbrannt. Danach haben wir es alle zusammen gerade noch so geschafft, diese Bombe wegzubringen, bevor sie losgegangen ist.«

»Was?! Die ist explodiert? Aber wo … wie?«, rief Ines und sprang von ihrer Couch auf.

»Das war keine Bombe, die explodiert«, beruhigte Lucas sie. »Eigentlich war es eher eine Art Maschine, die alle technischen Geräte auf einmal kaputtgemacht hätte oder so ähnlich. Wir waren schon recht nah am Stadtrand, als ich sie aus den Klauen verloren habe, und sie im Fallen losging.«

»Ähm Moment mal. Klauen?«, fragte Ines, die inzwischen in ihrem Zimmer auf und ab ging.

»Ich habe dir ja schon erzählt, dass ich mich mit anderen Personen oder Organismen verbinden kann. Als es kurz vor zwölf war, hatten wir die Vermutung, dass die einzige Chance, ein Chaos in der Innenstadt zu verhindern, darin bestand, dieses Bomben-Dings von da wegzubringen. Aber wie sollte das passieren? Da kam mir die Idee, dass es nur durch die Luft schnell genug gehen könnte. Also haben wir uns in etwas umgewandelt, das fliegen konnte und stark genug war, um diese Bombe schnell wegzutragen.«

»Was soll das eigentlich für ein Wesen sein, von dem du da sprichst? Und wenn es so groß und stark sein sollte, wie du sagst, dann würden Harald und du alleine dafür bestimmt nicht ausreichen, oder?«, fragte Ines. Ein seltsames Gefühl von Hoffnung beschlich sie in diesem Moment.

Lucas blickte sie unsicher an und sagte: »Aber versprich mir bitte, dass du weder lachst, noch ausflippst.«

»Okay«, antwortete Ines schnell, denn aus einem unerfindlichen Grund versprach sie sich eine wesentliche Erkenntnis von dem, was er gleich sagen würde.

»Na gut. Also wenn ich ‘wir’ gesagt habe, dann meinte ich damit Harald … und meine Eltern.«

»Mhmm«, machte Ines nur.

Sie fixierte Lucas mit ihrem Blick, so als ob sie sich jedes Detail und jede Regung von ihm einprägen wollte.

Von diesem Verhalten noch mehr verunsichert, rutschte dieser unruhig auf der Couch hin und her. Dann stand er ebenfalls auf, um ihr Aug in Auge gegenüberzustehen.

»Tja und dieses Wesen«, begann er zögernd. »Dieses Wesen habe ich aus verschiedenen Tieren zusammengesetzt. Eigentlich gibt’s das gar nicht – denke ich.«

»Ja?«, ermunterte Ines ihn.

»Ich glaub, das Wort, das es am besten bezeichnen würde, ist … Drache.«

»Yes!«, rief Ines und fiel Lucas lachend um den Hals.

Endlich war es heraus. Sie hatte so sehr gehofft, dass er genau dieses Wort sagen würde, denn das bedeutete, dass all die verwirrenden Träume und Erinnerungen, die sie zu haben geglaubt hatte, wahr waren. Also hatte sie keinen Sprung in der Schüssel. Vor Erleichterung ganz trunken, gab sie Lucas einen dicken Kuss auf die Wange.

»Ups, oh entschuldigt bitte. Ich wollte nicht stören«, erklang es plötzlich hinter ihnen.

Ines ließ Lucas abrupt los und drehte sich um. Dort stand Diana, ihre Mutter, mit einem Tablett, auf dem sich eine Flasche Limonade, Gläser und Kekse befanden, in der geöffneten Tür.

»Ich wollte nicht … ich bin schon wieder weg«, murmelte sie, stellte das Tablett auf einen Tisch und verließ hastig das Zimmer.

»Arme Mama«, prustete Ines los. »Sie hält immer so viel darauf, dass sie nicht so ätzend ist, wie manche anderen Eltern es nun mal sind. Und jetzt platzt sie ausgerechnet rein, wo wir … na egal.«

Sie wurde rot, als sie sich vorstellte, wie es wohl für Diana ausgesehen haben mochte. Um ihr Erröten zu verbergen, aber auch keine peinliche Pause entstehen zu lassen, drehte Ines sich nach den Gläsern um. Dabei fragte ie das Erstbeste, das ihr durch den Kopf ging: »Sag mal, was macht dich eigentlich so sicher, dass Herr Neumann tot ist? Ich meine, es hat doch keiner gesehen, was passiert ist, als er die Treppe herunterfiel.«

Bei diesen Worten prallte Lucas von Ines zurück, als ob sie ihn geschlagen hätte. Hinter seinem Gesicht, aus dem alle Farbe gewichen war, überschlugen sich seine Gedanken.

Nein, nicht das. Sie konnte doch nicht meinen, dass er …

Ines ergänzte nichtsahnend: »Vielleicht hat dieser Freak ihn ja doch nur schwer verletzt und … Lucas!«

Erschrocken ließ sie eines der Gläser fallen, denn sie hatte sich in diesem Moment umgedreht und Lucas erblickt, der – kalkweiß im Gesicht – seinerseits sie fassungslos anstarrte. In diesem Moment wurde Ines klar, was sie mit den Worten, die sie eben gedankenlos gesagt hatte, für ihn angedeutet haben musste.

Schnell stürzte sie in Lucas‘ Richtung und rief zerknirscht: »Ach verdammt, das habe ich doch nicht …«

Aber der Schaden war bereits angerichtet.