Bauernleben - Barbara Lukesch - E-Book

Bauernleben E-Book

Barbara Lukesch

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Beschreibung

Wisi Zgraggen war seit zwei Jahren verheiratet und Vater eines Buben, als er mit 25 mit dem Gedanken spielte, den Hof seines Vaters Alois in Erstfeld im Kanton Uri zu übernehmen. Kurze Zeit später vereitelte ein schwerer Arbeitsunfall den Plan: Wisi geriet bei der Heuernte in die Rundballenpresse und verlor beide Arme. Noch auf der Unfallstelle versicherte er seinem Vater, weiterhin bauern zu wollen. Dank eisernem Willen und positiver Lebenseinstellung hat er das Unglaubliche geschafft. Heute ist er das, was er immer werden wollte: ein erfolgreicher Landwirt. In "Bauernleben – Die unglaubliche Geschichte des Wisi Zgraggen" erzählt der Urner Vater von vier Kindern nicht nur, wie er seinen Unfall überwunden und gelernt hat, den Alltag ohne Arme und Hände zu meistern, sondern gibt der Autorin Barbara Lukesch auch Einblick in die Gesetze der Landwirtschaft und den Beruf des Bauern. Darüber hinaus erzählt das Buch die Geschichte der Familie Zgraggen, die seit 1871 in Erstfeld Landwirtschaft betreibt und es – dank unternehmerischem Geschick und hoher Risikobereitschaft – über fünf Generationen hinweg schaffte, jeden Strukturwandel zu bewältigen. Nicht zuletzt bleibt im Kapitel "Alles über Kühe – Kühe über alles" keine Frage zum Rindvieh offen.

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Seitenzahl: 266

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Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

© Wörterseh, Lachen

Wörterseh-Bestseller als Taschenbuch 3. Auflage 2023

Die Originalausgabe erschien 2016 als Hardcover mit Schutzumschlag

Lektorat: Andrea Leuthold Korrektorat: Claudia Bislin Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina Foto Cover: Samuel Trümpy (Wisi Zgraggen inmitten seiner Dexterkühe – im Hintergrund der 3073 Meter hohe Bristen) Foto Kapitel »Über das Buch«: René Staubli (die Familie Zgraggen – von links: Thomas, Wisi, Reto, Ivan, Angelika, Leonie, Silvia und Alois) / Bilderrahmen www.istockphoto.comFotos Bildteil: zur Verfügung gestellt aus dem Privatarchiv der Zgraggens / René Staubli / Gianni Pisano / Foto Aschwanden Karte »Entwicklung des Bielenhofs«: Rich Weber, Infografik Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Rolf Schöner, Buchherstellung Lithografie: Tamedia Production Services Druck und Bindung: Beltz Grafische Betriebe

ISBN 978-3-03763-312-0 (Taschenbuch) ISBN 978-3-03763-074-7 (Originalausgabe, vergriffen) ISBN 978-3-03763-610-7 (E-Book)

www.woerterseh.ch

Tun zu können, was man gerne tut, bedeutet Freiheit. Das gerne zu tun, was man tut, bedeutet Glück.

Henry David Thoreau (1817–1862) US-Schriftsteller, Philosoph und Naturalist

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorin

Ein ganz besonderer Bauer – ein Vorwort

Zgraggens fahren an die Miss-Wahl

Der kleine Wisi

Lehr- und Wanderjahre

Fünf Generationen

Alois baut den Hof auf

Erstfeld, das Eisenbahnerdorf

Angelika

Der Unfall

Im Universitätsspital

Bildteil

Rehabilitation in Bellikon

Wie weiter auf dem Hof?

Leben ohne Hände

Vater und Sohn

Im Schlachthof

Das Jahr des Bauern

Alles über Kühe – Kühe über alles

Liebesgeschichten

Glaubenssätze

Das liebe Geld

Die Zukunft

Dank

Über das Buch

Wisi Zgraggen war seit zwei Jahren verheiratet und Vater eines Buben, als er mit 25 mit dem Gedanken spielte, den Hof seines Vaters Alois in Erstfeld im Kanton Uri zu übernehmen. Kurze Zeit später vereitelte ein schwerer Arbeitsunfall den Plan: Wisi geriet bei der Heuernte in die Rundballenpresse und verlor beide Arme. Noch auf der Unfallstelle versicherte er seinem Vater, weiterhin bauern zu wollen. Dank eisernem Willen und positiver Lebenseinstellung hat er das Unglaubliche geschafft. Heute ist er das, was er immer werden wollte: ein erfolgreicher Landwirt. In »Bauernleben – Die unglaubliche Geschichte des Wisi Zgraggen« erzählt der Urner Vater von vier Kindern nicht nur, wie er seinen Unfall überwunden und gelernt hat, den Alltag ohne Arme und Hände zu meistern, sondern gibt der Autorin Barbara Lukesch auch Einblick in die Gesetze der Landwirtschaft und den Beruf des Bauern. Darüber hinaus erzählt das Buch die Geschichte der Familie Zgraggen, die seit 1871 in Erstfeld Landwirtschaft betreibt und es – dank unternehmerischem Geschick und hoher Risikobereitschaft – über fünf Generationen hinweg schaffte, jeden Strukturwandel zu bewältigen. Nicht zuletzt bleibt im Kapitel »Alles über Kühe – Kühe über alles« keine Frage zum Rindvieh offen.

Über die Autorin

© Kathrin Schulthess

BARBARA LUKESCH, geb. 1954, studierte an der Universität Zürich Germanistik, Anglistik und Literaturkritik. Heute arbeitet sie als freie Journalistin und ist als Dozentin an verschiedenen Fachhochschulen tätig. Für den Wörterseh-Verlag verfasste sie bereits die Bücher »Starke Worte« (mit Koautor Balz Spörri), »Klaus Heer, was ist guter Sex?«, »Und es geht doch! – Wenn Väter mitziehen«, den Bestseller »Wie geht Karriere? – Strategien schlauer Frauen« sowie »Peter Schneider, wie wird eine Ehe schön?«. Ihr Buch »Bauernleben – Die unglaubliche Geschichte des Wisi Zgraggen« entstand, weil sie mehr über den Beruf des Bauern erfahren und endlich wissen wollte, wie sich ein Rind von einem Ochsen und einer Kuh unterscheidet. Dass sie dabei auf Wisi Zgraggen stieß, ist in vielerlei Hinsicht ein Glücksfall. Barbara Lukesch lebt in Zollikon ZH und in Gais AR. www.lukesch.ch

Ein ganz besonderer Bauer – ein Vorwort

Seitdem wir mehrere Monate pro Jahr in Gais im Kanton Appenzell Außerrhoden verbringen, in einer Wohnung mit Blick auf Wiesen, Kühe und Bauernhöfe, ist mein Interesse an der Landwirtschaft und dem bäuerlichen Leben stetig gewachsen. Zuweilen traten peinliche Wissenslücken zutage: Auf Wanderungen begegneten wir Tieren, bei denen wir nicht sicher waren, ob es sich um Stiere, Ochsen oder Rinder handelte. Unklar war ebenso, wie bedrohlich nun eigentlich Kühe sind, wenn man sich ihnen ungeschützt, ungeschickt und unsicher nähert. Seit einmal eine ganze Herde, angeführt von der Leitkuh, getrennt nur durch einen dünnen, hoffentlich elektrisch geladenen Zaun in rasendem Tempo hinter mir hergejagt war, hatte ich höllischen Respekt vor den großen Tieren – und war umso mehr daran interessiert, mir zusätzliches Wissen über sie anzueignen.

Mit der Zeit reifte die Idee, ein Buch zu schreiben, was mir die Gelegenheit verschaffen würde, einem Bauern über die Schulter zu schauen. Als ich Gabriella Baumann-von Arx, die Verlegerin des Wörterseh-Verlags, fragte, ob sie Interesse an einem solchen Buch hätte, kam ihre Reaktion prompt: »Und wie! Ich habe dir sogar einen Protagonisten, der ideal wäre!«

Sie erzählte mir von Wisi Zgraggen, einem knapp vierzigjährigen Landwirt aus Erstfeld, der bei einem Unfall beide Arme verloren hat und trotzdem einen großen Hof mit rund 150 Tieren führt. Das klang zwar beeindruckend, schien aber nichts für mich zu sein, denn ich wollte ein Buch über einen Bauern schreiben und keins über einen Behinderten. Gaby Baumann blieb cool: »Lern ihn kennen und entscheide dann!«

Beim »Wörterseh-Znacht« im Januar 2015 im Restaurant Weißer Wind in Zürich arrangierte sie ein Treffen: Wisi kam mit seiner Frau Angelika, ich mit meinem Mann René – und einem gebrochenen Unterarm mit Gips bis zum Ellenbogen. Als ich Wisi erstmals gegenüberstand, fiel mir nichts Besseres ein, als zu scherzen: Im Hinblick auf unsere Begegnung hätte ich mir aus lauter Solidarität grad mal den Arm gebrochen.

Er fand das offenbar lustig, zumindest lachte er. Das entspannte uns alle erheblich. Wir waren schnell beim Thema und sprachen über meine Buchidee, für die sich der Landwirt durchaus erwärmen konnte. Gleichzeitig beobachtete ich, wie Angelika ihrem Mann einen kurzen Strohhalm in die Kaffeetasse steckte, das Zellophanpapier des Kekses entfernte, der auf seiner Untertasse lag, und ihm diesen in den Mund schob. Im Nu kamen mir zahllose Fragen in den Sinn: Wie isst er eine ganze Mahlzeit? Wie zieht er sich einen Pullover über? Wie öffnet er den Reißverschluss seiner Hose? Und wie »umarmt« er seine Frau?

Beim Essen bekam ich zumindest auf die erste Frage eine Antwort: Angelika befestigte Wisi ein schmales Band mit Klettverschluss um den Armstumpf, auf dem eine Stoffschlaufe befestigt war. In die Schlaufe steckte sie eine speziell für ihn angefertigte Gabel. Damit beugte sich Wisi tief über seinen Teller, lud sich geschickt Hörnli mit Gehacktem auf und schob sich eine Ladung nach der anderen in den Mund. Nach kurzer Zeit hatte er seinen Teller leer gegessen. Ich war überrascht und merkte, wie meine Neugier wuchs. Wie führte er wohl seinen Hof? Wir verabredeten ein weiteres Treffen, diesmal in Erstfeld, Kanton Uri, auf dem Bielenhof, seinem Betrieb.

Ich war nach wie vor skeptisch und fragte mich, ob ich mich wirklich auf das Wagnis einlassen sollte, diesen Bauern zu porträtieren. Würden die fehlenden Arme nicht allgegenwärtig sein und andere, mir viel wichtigere Themen dominieren? Hätte ich beim Schreiben nicht ständig eine Schere im Kopf, die mich zu Rücksichtnahme und unentwegter politischer Korrektheit einem Behinderten gegenüber zwingen würde?

Der Besuch auf dem Bielenhof löste meine Bedenken auf. Nach einem Kaffee in der Wohnküche führte mich Wisi über den Hof zu den Ställen und präsentierte mir seine Tiere: schwarze Dexterkühe, dazu ein paar dunkelbraune mit einem Rotstich, viele Muttertiere mit ihren Kälbchen und vier Stiere, die abgetrennt von der Herde in ihrer eigenen Box standen. Ein imposanter Anblick.

Just in dem Augenblick gingen zwei Tiere, Rinder, wie mir Wisi erklärte, aufeinander los und trugen einen rohen, in meinen Augen geradezu gewalttätigen Kampf aus, bei dem Knochen auf Knochen trafen, was scheußlich krachte. Wisi sah dem Treiben ungerührt zu, während ich fürchtete, dass sich die Tiere verletzen könnten. Aufgebracht bat ich ihn, die beiden zu stoppen, das sehe ja schrecklich aus. Er pfiff und lotste die Tiere mit Zurufen so zum Futterbarren, dass er ihre Köpfe zwischen den metallenen Stangen fixieren und sie damit am Weiterkämpfen hindern konnte. Den Hebel, den jeder andere Bauer mit der Hand umgelegt hätte, betätigte er mit dem Fuß.

Diese Sequenz wurde für mich zur Schlüsselszene. Ich sah Wisi auf einmal mit anderen Augen. Langsam dämmerte mir, dass er in erster Linie Bauer und nicht Behinderter war. Sein Alltag war von seiner Arbeit geprägt, seiner Frau und seinen vier Kindern. Dass er keine Arme hat, ist eine normale Begleiterscheinung, inzwischen eine Selbstverständlichkeit, die innerhalb seiner Familie und in seinem beruflichen Umfeld selten zu reden gibt.

Natürlich hatte der schreckliche Unfall im Jahr 2002 gravierende Folgen und machte eine komplette Neuausrichtung des Bielenhofs nötig – weg von der Milch-, hin zur Fleischwirtschaft. Dass er diese Herausforderung zusammen mit seinem Vater Alois angenommen hat und heute einen erfolgreichen Betrieb führt, hängt aber entscheidend damit zusammen, dass er seinen Beruf leidenschaftlich gernhat und sich keinen schöneren vorstellen kann. Als ich das kapiert hatte, war mir klar: Ich wollte mein Bauernbuch über ihn schreiben.

Bevor wir uns endgültig entschieden, schlug Wisi noch eine weitere Begegnung vor. Ich solle ihn doch zu einem Vortrag begleiten. Da würde ich in einer halben Stunde das Wichtigste zu seiner Person erfahren und könnte mir ein noch besseres Bild von ihm machen. So fuhr ich nach Amriswil im Kanton Thurgau, wo Wisi an einem Seniorennachmittag im reformierten Kirchgemeindehaus auftreten sollte. Als ich den großen, etwas nüchternen Raum betrat, stieg er gerade auf die Bühne und ließ sich beim Anschließen seines Laptops und des Beamers helfen. Dann schob er sich mit dem einen Fuß den Schuh vom anderen und umgekehrt. Nanu! Was wurde das denn? Nachdem der Pfarrer ihn willkommen geheißen hatte, klatschte das Publikum, das mehrheitlich aus Frauen bestand. Wisi trat an den Bühnenrand, und nun kapierte ich, warum er seine Schuhe ausgezogen hatte: Er bediente die Maus seines Laptops, die auf dem Boden lag, mit dem Fuß.

Seine Power-Point-Präsentation fesselte die Anwesenden. Sie verfolgten mucksmäuschenstill, wie Wisi seinen Alltag meistert. Als er sie anschließend bat, Fragen zu stellen, verharrten sie schweigend. Vielleicht verboten sie sich ihre Neugier aus Angst, ihm zu nahe zu treten. Darf man denn einen vom Schicksal so hart Geprüften mit der Frage belästigen, ob er die berühmten Phantomschmerzen habe, und wenn ja, wie sie sich äußern? Als Kaffee und Butterbrezeln serviert wurden, wagte sich eine alte Dame in seine Nähe und wollte genau das von Wisi wissen. Er lachte sie an und gab bereitwillig Auskunft.

Das Interesse der Leute störe ihn nicht, erzählte er mir später. Im Gegenteil. Mit Mitleid könne er hingegen nicht viel anfangen: »Es gibt keinen Grund, mich zu bemitleiden; ich führe ein gutes Leben.« Hilfe nimmt er gern an, wenn er sie braucht; nett gemeinte, aber unnötige Fürsorglichkeit, die ihn in die Rolle des Bedürftigen drängt, löst bei ihm – vorsichtig formuliert – Unbehagen aus. »Was mir stattdessen echt nützen würde, wäre eine zupackende Hand, die mir beim Gang aufs WC in einem Restaurant den Hosenladen öffnet, wenn ich pinkeln muss.« Seine Direktheit passte mir.

Inzwischen ist mehr als ein Jahr vergangen, und ich bin rund vierzigmal mit dem Zug von Zürich über Arth-Goldau nach Erstfeld gefahren, um mit Wisi, aber auch seiner Frau Angelika, seiner Mutter Silvia und seinem Vater Alois zu sprechen. Dabei habe ich erfahren, welche Aufgaben ein Bauer im Verlauf eines Jahres erfüllen muss, sah trächtige Kühe, frisch geborene Kälber und kraftstrotzende Stiere und war dabei, als eines von Zgraggens Dexterrindern an einer Schönheitskonkurrenz richtig gut abschnitt. Und – ich fasste sogar den Mut, Wisi ins Schlachthaus zu begleiten, als er dort acht seiner Tiere metzgen ließ. Es war ein emotional bewegendes Erlebnis, aber ich habe es verdaut und esse weiterhin Fleisch, allerdings nur noch ausgewähltes, über dessen Herkunft und Produktionsweise ich genau Bescheid weiß.

Die Arbeit an diesem Buch hat mich um viele Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen reicher gemacht und mich oft staunen lassen, welche Hindernisse ein Mensch überwinden kann, wenn er seine Arbeit über alles liebt. Für das Kapitel »Alles über Kühe – Kühe über alles« stellte ich Wisi weit über hundert Fragen und erfuhr endlich all das, was ich schon lange über das Rindvieh wissen wollte. Bei unseren Gesprächen wurde mir bewusst, dass die Zgraggens auf dem Bielenhof seit 1871 Landwirtschaft betreiben, lange Zeit als Selbstversorger in ärmlichen Verhältnissen. In diesen knapp 150 Jahren haben sie alle tief greifenden Veränderungen und Herausforderungen ihres Gewerbes – von der Mechanisierung über die Ökologisierung bis hin zur Globalisierung – miterlebt und dank erstaunlicher unternehmerischer Risikobereitschaft gemeistert. Wisi führt den Bauernhof in der fünften Generation. Sein fünfzehnjähriger Sohn Thomas soll dereinst die Nachfolge antreten.

Meine wachsende Freude hat letztlich auch meinen Mann, den Journalisten René Staubli, dazu bewogen, zwei Kapitel zu recherchieren und zu schreiben: »Erstfeld, das Eisenbahnerdorf« und »Das liebe Geld«. Darüber bin ich sehr froh.

Barbara Lukesch, Zürich und Gais, im Juni 2016

Zgraggens fahren an die Miss-Wahl

Auf dem Bielenhof herrscht emsige Betriebsamkeit, gepaart mit nervöser Anspannung. In einer Woche findet die Swissopen statt, die Eliteschau für Fleischrinder, an der Wisi Zgraggen zwölf Tiere aus seiner Dexterzucht präsentieren wird. Er hat sich für die Rinder Ronda und Iala sowie die fünf Kühe Karin, Radisli, Paika, Pirella und Penole mit je einem Kälbchen entschieden. Ihnen traut er zu, seinen Erfolg von der letzten Swissopen zu wiederholen, an der er sowohl die Rassesiegerin wie auch die Zweitplatzierte stellte. Doch um ganz vorn mitzumischen, braucht es einiges an Vorarbeit.

Als Erstes müssen die Tiere auf eine für sie neue Situation vorbereitet und mit einem Halfter vertraut gemacht werden. Da sie sich an das vergleichsweise freie Leben im Laufstall und auf der Weide gewöhnt sind, reagieren sie zunächst gestresst, ja sogar ungehalten, wenn sie die Riemen umgebunden bekommen. Wenn sie von Wisi, seinem Vater Alois, einem der Kinder oder einem Lehrling am Strick aus dem Stall geführt, manchmal auch gezogen oder gar gezerrt werden, hebt ein ohrenbetäubendes Muhen an. Paika, die schöne rote Kuh, gibt erst Ruhe, als sie ihr Junges, das knapp sechs Monate alte Stierkalb Taiko, wieder an ihrer Seite hat und dieses gierig an ihrem Euter saugt.

Auch andere Tiere versuchen, sich loszureißen, wollen zurück in den Stall, schlagen aus oder drücken die Person, die sie führt, mit viel Kraft zur Seite. Reto, Wisis dreizehnjähriger Sohn, hat zu kämpfen, um sein Kälbchen festzuhalten, ein störrisches kleines Wesen, das regelrechte Bocksprünge vollführt. »Dädi!«, ruft er verzweifelt. Wisi ist zur Stelle, beugt sich hinunter und wickelt sich den Strick um seinen Armstumpf. Seine Entspanntheit überträgt sich auf das Kalb, das ihm problemlos folgt.

Sogar Mathias, der Lehrling, ein Bauernsohn, der nach seiner ersten Ausbildung als Landmaschinenmechaniker noch Landwirt lernt und viel Erfahrung mit Kühen hat, muss seine ganze Kraft und Geschicklichkeit aufbieten, um der ungestümen Tiere Herr zu werden. Mit beherztem Zupacken, viel Streicheln von Hals- und Kopfpartie, Klopfen, Knuffen und gutem Zureden gewinnt der 25-Jährige das Vertrauen der aufgeregten Tiere. Anders als Milchkühe, die dank dem täglichen Melken eine Beziehung zum Menschen entwickeln, fehlt Mutterkühen diese Bindung. Sie fremdeln zunächst und stellen sich quer, statt zu kooperieren.

Inzwischen sind acht Tiere auf dem Vorplatz des Hofs versammelt und am Zaun angebunden. Allmählich kehrt Ruhe ein. Die prächtige Frühlingssonne vermag erstmals in diesem Jahr richtig zu wärmen und entspannt Mensch und Tier. Wisi sagt: »Wir sind auf dem richtigen Weg. Aber bis Ende Woche müssen wir noch etliche Male mit den Tieren trainieren, damit sie bei der Präsentation einen guten Eindruck hinterlassen.«

Zu diesem guten Eindruck, so Wisi, trage maßgeblich ein harmonischer, entspannt wirkender Auftritt der Züchter mit ihren Tieren im Ring bei. Eine Kuh hingegen, die ständig auszubrechen versuche, beeinträchtige ihre Chancen. Deren Fell könne noch so glänzen, die Klauen schwarz lackiert und der Schwanz besonders schön frisiert sein: »Sobald die Nervosität der Tiere ein normales Maß übersteigt, gibt es Punktabzüge.«

Mit der einwandfreien Präsentation ist es allerdings nicht getan. Bereits im Vorfeld muss der Jury der Stammbaum der Tiere vorgelegt werden. Wisi hatte Mühe, den Erzeuger eines seiner Rinder eindeutig zu bestimmen, und veranlasste deshalb noch rasch einen DNA-Test. Jetzt ist die Sache geklärt, der Zuchtstier namentlich bekannt, und so kann er auch den letzten Stammbaum ordnungsgemäß vervollständigen.

Am Anlass selber begutachten die Punktrichter dann besonders aufmerksam die Qualität des Fundaments, also der Gliedmaßen und Klauen der Tiere, die Größe, Proportionen und Bemuskelung, in der Fachsprache Rahmen genannt. Bei den Kälbern zählen der Wuchs, das Gewicht und die Attraktivität.

Die kleinrahmigen Dexterrinder gehören einer Rasse an, die in der Schweiz nur wenig verbreitet ist. Hierzulande dominieren nebst dem kommunen Braun- und Grauvieh die rötlichen Limousins, die pechschwarzen Angusrinder und das Simmentaler Fleckvieh. Entsprechend klein ist die Konkurrenz, auf die Wisi mit seinen Tieren stoßen wird. Die Aufregung ist trotzdem groß. Schließlich nehme er die ganze Vorbereitung, den Transport in drei Viehwagen und die zweitägige Abwesenheit von seinem Hof nur in Kauf, erklärt er, weil er in möglichst vielen Kategorien gewinnen oder zumindest den zweiten Rang belegen wolle. An der Ausstellung versammelt sich nämlich ein Fachpublikum, das an diesem Aprilwochenende sondiert, welche Tiere derart überzeugen, dass es sich einen Kauf vorstellen kann.

Die Swissopen ist ein spannend aufgezogener Wettkampf, an dem diesmal knapp hundert Zuchtbetriebe und 37 Jungzüchter mehr als 250 Tiere in den Ring schicken. Die Veranstaltung verspricht den Teilnehmern mehr Aufmerksamkeit als ein Inserat in der »Bauernzeitung« oder dem »Schweizer Bauer«. Wer Rassesiegerinnen und -sieger in seinem Stall hat, steigert seinen Bekanntheitsgrad auf einen Schlag. Branchenwebsites wie mutterkuh.ch tragen ihren Teil dazu bei, die Namen erfolgreicher Betriebe zu verbreiten. Der Ausstrahlung des Anlasses, der diesmal rund 1500 Besucherinnen und Besucher anzieht, schadet es nicht, wenn ihn Insider zuweilen als »Show« bezeichnen, bei der nur eine »Momentaufnahme« vorgenommen werden könne, die sich nicht vergleichen lasse mit der akribischen Beurteilung der Zucht durch Experten in den Betrieben.

Am Tag vor dem großen Ereignis führen Zgraggens ihre Ausstellungstiere nochmals über den Vorplatz auf dem Bielenhof. Das Training hat sich gelohnt. Karin, die siebenjährige Mutterkuh, dreht entspannt ihre Runden, ihr Kälbchen, gerade mal zwei Monate alt, folgt ihr auf dem Fuß. Die Tiere werden erneut mit kaltem Wasser und Seife gewaschen, getrocknet und anschließend gebürstet, bis ihr Fell glänzt; ein Spray verhindert, dass an den Klauen Dreck, Stroh und Heureste kleben bleiben.

Am Samstag ist es endlich so weit. Die Familie samt Entourage macht sich mit den Transportern schon früh auf den Weg nach Brunegg in der Nähe von Brugg im Kanton Aargau. Wisi und seine Frau Angelika, ihre vier Kinder Thomas, Reto, Ivan und Leonie, sein Vater Alois, sein Schwager und vier Lehrlinge sind an diesem wichtigen Tag dabei. Das Wetter ist freundlich und angenehm mild. In den Stallungen der Vianco-Arena bekommt jeder Zuchtbetrieb Boxen für seine Tiere zugewiesen. Angrenzend an Zraggens Vieh sind die Kühe, Rinder und Kälber der anderen Dexterzüchter untergebracht, mithin die Tiere, mit denen es sich zu messen gilt. Wisi erkennt auf den ersten Blick, dass auch die Konkurrenz »sehr attraktive Exemplare ins Rennen schickt; das wird spannend«.

Dann der erste Dämpfer: Wisis Tiere weigern sich, das Heu zu fressen, das der Veranstalter in den Boxen deponiert hat. Alois Zgraggen, der 71-jährige Senior, der sein Leben lang Viehzucht betrieben hat, ist aufgebracht: »Das Heu riecht zu stark nach Erde und Dreck, weil es nicht lange genug getrocknet worden ist.« So etwas passiere, wenn alles immer schneller gehen müsse, weil man nur noch an den maximalen Ertrag denke. »Unsere Tiere sind solches Futter nicht gewohnt.« Es werde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als am Sonntag ihr eigenes Heu vom Bielenhof mitzunehmen. Wisi lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Mit einem leeren Magen würden ihre Tiere zwar nicht so schön rund und fleischig aussehen, »aber entscheidend ist es nicht«.

Nach und nach füllen sich die Boxen. Weitere Tiere werden von den Viehtransportern zu den Stallungen geführt. Ein Angusstier, dessen Fell so kurz geschoren ist, dass es glänzt wie ein nasser Fahrradschlauch, hat die Ausmaße eines kleinen Elefanten. 1,4 Tonnen bringe er auf die Waage, erzählt sein Besitzer mit unverhohlenem Stolz. Unter den Limousinstieren befinden sich Exemplare, die noch wuchtiger sind.

Das emsige Treiben versetzt das ganze Areal in Schwingung. Es ist nicht ganz ungefährlich, sich auf dem Platz zu bewegen, auf dem den ganzen Tag Tiere hin und her geführt werden: raus aus dem Viehwagen, rein in den Stall, in die Waschanlage, zurück in die Boxen, später in den Ring. So warnt der Veranstalter denn auch via Lautsprecher vor der Unberechenbarkeit der Tiere und bittet Eltern, ihre Sprösslinge und Kinderwagen nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Prompt reißt sich eine Kuh los, die auf dem Vorplatz warten muss, und bringt einen Mann zu Fall.

Gegen Mittag nimmt die Anspannung spürbar zu. Viele Tiere werden nochmals abgespritzt, shampooniert und gebürstet. Nichts wird dem Zufall überlassen. Allerdings lässt sich nur schwer vorhersagen, wie sie auf die vielen ungewohnten Eindrücke in der Arena reagieren werden: auf die fremde Umgebung, das giftgrün gefärbte Sägemehl, die Gerüche aus der Küche, Lautsprecherdurchsagen, Musik, das Klatschen des Publikums. Auch Zgraggens sind gespannt, wie sich Iala und Ronda benehmen werden, die um dreizehn Uhr mit zwei Mitbewerbern als Erste in den Ring müssen. Alois führt Iala und hat keine Probleme. Urs aber, der Lehrling, ein groß gewachsener, kräftiger junger Mann, kann Ronda kaum bändigen. Störrisch weigert sich das Rind, mit ihm im Rund zu gehen. Es bricht aus, dreht sich um die eigene Achse, um dann bockstill zu verharren. Das ist kein Auftakt nach Maß. Wisi steht am Rand der Arena und beobachtet das Treiben.

Walter Reulecke, der Punktrichter, der für die Wettbewerbe der Dexterkühe zuständig ist, stammt aus Kiel an der Ostsee und ist extra für die Eliteschau in die Schweiz gereist. Er bewegt sich behände zwischen den Tieren, begutachtet sie von vorn und von hinten, macht sich Notizen und bittet die Halter nach einigen Minuten, die vier Rinder gemäß seiner Rangierung aufzustellen: Ganz rechts der Sieger, anschließend die Nächstplatzierten. Diesmal haben Zgraggens das Nachsehen. Reulecke greift zum Mikrofon und lobt zunächst in freundlichem, wohlwollendem Ton alle vier Konkurrenten: »Es sind schöne Tiere, allesamt sehr korrekt im Skelett.« Der Siegerin attestiert er eine »besondere Harmonie im Seitenbild, aber auch in den Bewegungen«. Sie verfüge zwar »nicht über die meiste Masse«, sei aber »hervorragend entspannt präsentiert worden« und habe ihn damit überzeugt.

Unbeeindruckt von diesen Komplimenten, reißt Ronda, Zgraggens wildes Rind, beim Abgang den bedauernswerten Urs nochmals fast zu Boden. Wisi und sein Vater tragen ihre Enttäuschung mit Fassung. Um 13 Uhr 40 gibt es eine zweite Chance, geht es doch weiter mit zweien ihrer Kühe, begleitet von je einem Kälbchen.

Diesmal geht auch Wisi in den Ring. Die Landwirte und Viehzüchter kennen ihn längst, den Bauern aus Erstfeld, der bei einem Unfall auf seinem Betrieb beide Arme verloren hat. Sein Anblick erregt höchstens noch bei Besuchern Aufmerksamkeit, die ihn zum ersten Mal sehen und staunend bemerken, wie er sich den Strick des von ihm geführten Kälbchens regelrecht elegant um seinen Armstumpf wickelt. Sie fragen sich natürlich, wie es ein Mensch mit einer solchen Behinderung schafft, einen Betrieb zu leiten und Viehzucht zu betreiben. Vielleicht beobachten sie auch die Szene, als Wisi während der Präsentation seine Frau Angelika erblickt, die Fotos macht. Für einen Moment rückt die Swissopen in den Hintergrund, Wisi geht zu ihr hin und drückt ihr über den Rand des Gatters hinweg einen Kuss auf den Mund. Die beiden lachen sich an, und Wisi ist zurück im Ring.

Punktrichter Reulecke steht die Freude an seiner Arbeit ins Gesicht geschrieben. Er mag Kühe, keine Frage, und so hört sich denn auch das Fazit dieser zweiten Runde an: »Das sind durchs Band so schöne Dexter, da könnte man neidisch werden.« Zgraggens haben Boden gutgemacht und landen jetzt immerhin auf Platz zwei. Paika und ihr Stierkälbchen Taiko lassen den Juror jubeln, er könne zu dieser tollen Kuh mit dem hervorragend entwickelten Kalb nur gratulieren: »Bravo!«

Die Swissopen wird vom Verband Mutterkuh Schweiz ausgerichtet. Die Organisation ist so gut wie perfekt. Schlag auf Schlag folgen sich die einzelnen Wettbewerbe, Verspätungen sind die Ausnahme. So beginnt denn auch die letzte Präsentation der Zgraggens an diesem Tag um Punkt 14 Uhr 20, exakt wie im Programmheft angegeben. Jetzt gilt es ernst. Denn mindestens eine Siegerin hätte Wisi schon gern in seinen Reihen. Entsprechend groß ist die Spannung, als Walter Reulecke die Halter bittet, ihre Tiere aufzureihen. Und siehe da: Zgraggens räumen ab, Platz eins für die Kuh Radisli und ihr Kälbchen Ivan, Platz zwei für Karin. Der Siegerin widmet der Juror begeisterte Worte. Er habe auf den ersten Blick gewusst, dass diese »komplette, schöne und harmonische Kuh mit ihrem exzellenten Euter und den kleinen feinen Zitzen« das Rennen machen werde. »Das Seiten-Rückenbild« sei »wie aus einem Guss geformt«. Wisi freut sich diebisch, insbesondere weil er Radisli und Ivan um ein Haar zu Hause gelassen hätte.

Damit ist für Zgraggens der erste Tag gelaufen. Die Anspannung lässt langsam nach, und sie haben nun auch die Ruhe, um sich mit Kollegen und anderen Züchtern auszutauschen. In der Arena haben inzwischen die Stiere Einzug gehalten, pechschwarze Angusbrocken, von denen einer schöner ist als der andere, oder rötlich braune Limousinmunis, deren Hinterbacken teilweise rasiert sind, um die beeindruckende Muskulatur besser zur Geltung zu bringen. Nach dem schlanken Walter Reulecke haben jetzt Punktrichter das Sagen, die passend zu den mächtigen Stieren über einen imposanten Bauchumfang verfügen.

Die Tiere der Zgraggens übernachten in den Stallungen der Arena. Sie selber fahren zurück nach Erstfeld, um dort nach dem Rechten zu schauen. Schließlich warten daheim einige Dutzend Kühe, etliche Schafe mit ihren Lämmchen, Zwergziegen und natürlich Rico, der Hofhund, auf sie. Außerdem müssen sie Silvia Zgraggen, Wisis Mutter und Alois’ Frau, haarklein berichten, was sie in Brunegg erlebt haben.

Dort zeigt sich am Sonntagmittag ein völlig verändertes Bild. In den Stallungen herrschen Ruhe und Frieden – kein Mucks, kein Muhen. Selbst die gewaltigen Stiere haben sich hingelegt und dämmern mit geschlossenen Augen satt vor sich hin. Nur Wisis Kühe und Rinder haben keine Zeit, um sich auszuruhen. So ausgehungert, wie sie vom Vortag sind, fressen sie jetzt, ohne sich auch nur die kleinste Pause zu gönnen. Endlich haben sie wieder ihr gewohntes Heu, das ihnen Zgraggens vom Bielenhof mitgebracht haben. Nach und nach werden auch die anderen Tiere wieder munter, und man staunt, dass es sogar die größten Fleischkolosse aus eigener Kraft schaffen, auf die Beine zu kommen.

Gegen dreizehn Uhr wird es für Zgraggens nochmals richtig spannend. Nun wird aus allen erst- und zweitplatzierten Dexterkühen die Rassesiegerin erkoren. Alois führt Radisli in den Ring, Wisi den kleinen Ivan. Walter Reulecke ist so enthusiastisch wie am Vortag. Er freut sich über die »vielen schicken, einwandfreien Tiere«, weiß aber auch sehr schnell, wer an diesem Tag seine Favoritin ist: Radisli! Übers Mikrofon preist er »ihre perfekte Körperlänge, ihren unheimlich eleganten schnurgeraden Rücken, ihr harmonisches Seitenbild« und schließt mit den Worten: »Das ist eine Kuh, die ich gern mit nach Hause nehmen würde.« Alois freut sich und winkt ins Publikum, Wisi geht auf die Knie und knuddelt das Stierkälbchen mit der Nasenspitze.

Im Verlauf des Nachmittags werden die Champions in allen Kategorien bestimmt: Rinder, Kühe und Stiere von insgesamt dreizehn Rassen, darunter die robusten Highland Cattle aus Schottland, die man an ihrem zotteligen Fell und den geschwungenen, spitz aufragenden Hörnern erkennt. Die Tribünenränge und die Tische der Festwirtschaft sind trotz prächtigem Frühlingswetter gut besetzt. Das Publikum genießt die Wettbewerbe sichtlich und wartet gespannt, bis es um 15 Uhr 30 zum Showdown kommt, der Parade aller Rassesieger und -siegerinnen und der Wahl von Miss und Mister Swissopen, den beiden schönsten Tieren der ganzen Schau.

Wisi und Alois sehen diesem Schlussakt gelassen entgegen, wissen sie doch, dass sie mit ihren kleinen Dexterkühen chancenlos sind gegen die stattlicheren Rassen. Miss Swissopen wird denn auch Ramona, ein wohlgeformtes Stück Braunvieh aus dem Bündnerland. Bei den Stieren setzt sich der imposante Simmentaler Crosby aus der Westschweiz durch. Die einheimischen Rassen feiern also einen durchschlagenden Erfolg, und das, obwohl die Jury mit einem deutschen, einem irischen, einem französischen und zwei Schweizer Punktrichtern international zusammengesetzt ist. Zum Dank erhalten alle Experten – passend zum Anlass – einen reich bestückten Fleischkorb.

Der kleine Wisi

Viehausstellungen hatten Wisi schon begeistert, als er noch ein kleiner Bub war. Wenn sein Vater Alois, ein erfolgreicher Züchter, wieder mal einen Kranz für eine seiner Kühe gewann, herrschte Feststimmung bei Zgraggens. Mit der Zeit durften Wisi und seine Schwestern auch ihre eigenen Tiere an den Jungzüchterwettbewerben präsentieren. Als er zwölf Jahre alt war, führten er und Heidi die Rinder Jässli und Nelli am Olma-Wettbewerb vor. Jässli hatten sie einen großen Blumenkranz um den Bauch gebunden und den »Schälle-Puur« aufgemalt, die höchste Trumpfkarte im Jassen. Wisi trug seine schwarze Sonntagshose, ein weißes Hemd und – der Clou – eine Krawatte, auf der das Wappentier seines Heimatkantons, der Uri-Stier, abgebildet war. »Diese Erlebnisse waren die Highlights meiner Kindheit«, erinnert sich Wisi, »etwas Schöneres gab es fast nicht.«

Geboren wurde er am 22. Mai 1977 im Spital Altdorf als zweites Kind von Alois und Silvia Zgraggen-Jud. Seine Mutter erinnert sich gern an die Geburt, die morgens um Viertel nach sieben an einem herrlichen Frühlingstag »wunderbar problemlos« verlaufen sei. Sie war damals 26 und ihr Mann 32.

Zwei Jahre zuvor hatte sie ein Mädchen zur Welt gebracht, das sie Silvia tauften. In diesem Rhythmus ging es weiter: 1979 kam Heidi, 1981 Monika. Die Eltern freuten sich, dass ihr zweites Kind ein Knabe war: der Vater, weil er nun einen Stammhalter hatte, die Mutter, weil sie am Namen Rösli vorbeigekommen war. Alois hatte nämlich darauf bestanden, dass ein Mädchen Rösli heißen müsse – wie Silvias Mutter und ihre Schwester. Sie fand, das sei des Guten zu viel. Die Eltern waren glücklich, dass sie ein gesundes Baby auf den Arm nehmen konnten, das übers ganze Gesicht strahlte und, so Silvia, »auffällig große, schöne Hände hatte«.

Bereits drei Wochen später fuhr die junge Familie mit Sack und Pack über den Gotthard Richtung Tessin, um auf den steilen Wiesen zu heuen, die sie dort gepachtet hatten. Das Baby lag tagsüber in seinem Wägelchen, freundlich, friedlich, pflegeleicht. Wenn es Hunger hatte, bekam es die Brust. Schien die Sonne zu stark, schob es jemand unter einen Baum in den Schatten.

Weil Zgraggens auf ihrem Hof eine zusätzliche Arbeitskraft brauchten, stellte Alois seinen jüngeren Bruder Hans bei sich an. Dieser lebte mit seiner Frau Therese und seinen zwei Töchtern, beide im Alter von Wisi, in einem benachbarten Haus auf Zgraggens Grundstück. Wisi wuchs also mit fünf Mädchen auf und spielte viele Jahre Mädchenspiele: Mutter und Kind, Babys wickeln, Kochen mit Gras und Stroh. Aus Wolldecken bastelten sich die Kinder Zelte, in denen ihre Familie wohnte.

Wisi fand das alles völlig normal, er kannte nichts anderes und spielte gern mit den Mädchen. Was ihn zuweilen ärgerte, war die Tatsache, dass er sich immer wieder herumkommandiert gefühlt habe. Aber er habe sich schon zu wehren gewusst, und ein Lamm, das müsse er zugeben, sei er ja auch nicht gewesen.

An eine Geschichte erinnert er sich besonders gut. Seine große Schwester hatte einen kleinen Plastikzwerg als Schlüsselanhänger. Den habe sie immer wieder demonstrativ hin- und hergeschwungen – im Wissen, wie gern Wisi mit dem Zwergli gespielt hätte. Wenn er etwas für sie tun, ihr beispielsweise eine Arbeit abnehmen sollte, versprach sie ihm als Belohnung den Schlüsselanhänger, »eingelöst wurde das Versprechen eher selten«. Der Ehrlichkeit halber wolle er aber nochmals betonen, dass er manchmal wirklich »ein rechter Plaggeist« gewesen sei, der seine Spielkameradinnen getriezt und oftmals genervt habe. Vielleicht habe er sich als einziger Bub eben doch ein bisschen in Szene setzen und wichtigmachen müssen, lacht er. Was er allerdings diesen frühen Jahren verdanke, sei ein spezielles Interesse, ja vielleicht sogar eine gewisse Fähigkeit, mit Frauen zu reden. »Ich komme gut mit ihnen ins Gespräch und tausche mich gern mit ihnen aus.«

Eines Tages zogen eine Tante, ihr Mann und ihre zwei Söhne im Alter von Wisi auf die Bitzi, ein an den Bielenhof grenzendes Grundstück. Sie wohnten in einem uralten Haus, das sie eigenhändig renoviert hatten und das keine hundert Meter von jenem der Zgraggens entfernt stand. Die Cousins fanden sich schnell und genossen es, im Dreck und Matsch zu wühlen, Bäche zu stauen, Hütten zu bauen, halt Bubenspiele zu spielen. Auch mit den Mädchen lief es rund: »Versteckis«, »Fangis«, Ball spielen, Velo fahren, im Wald herumstreunen. Das Leben im Freien und im Stall, umgeben von Tieren, begeisterte die Kinder.