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Ermittler Poseidon Plumpernickel löst seine Fälle stets mit Verstand, Witz und einem dicken Bauchgefühl. "Beim Hirschgeweih meiner Großmutter", donnert er los, wenn es ihm reicht. In seinem geliebten Bergdorf Schlittenbach bricht Panik aus, seitdem einige Promis spurlos in dem gespenstisch anmutenden Wald rund um den Brocken verschwunden sind. Frisch gefällte Bäume versperren Straßen und Wege. In den Ästen hängen Trophäen der Entführten. Die Zeit drängt! Denn bald sollen die haushohen Ostermeiler im Harz entzündet werden. Plumpernickel ahnt, dass den Entführten "heiße Zeiten" bevorstehen. Nicht nur das, die Opfer müssen um ihr Leben essen. Sie fühlen sich wie Tiere, die bald geschlachtet werden sollen. Tierisch sicher lenkt Schnuff sein Herrchen Poseidon Plumpernickel auf interessante Fährten. Das unstete Gelände des Gebirgspasses "Gelber Brink", das Luxus-Hotel "First Förster", Reiterhöfe, Erzgruben - überall lauern Hinterhalte der gefährlichen Entführer. Poseidon und seine geliebte Kollegin Paula geraten nicht nur einmal in Lebensgefahr! Dabei würde Poseidon mit Paula lieber gemeinsam Liebesknochen knabbern. Poseidons Sohn, der achtjährige Phil, ahnt, dass sein Papa gerade einen kniffligen Fall lösen muss. Phil will seinem Papa helfen. Mit seinem selbst gemixten Verfolgungsparfüm fühlt sich der Junge unschlagbar. Phil und seine Schulfreundin Ann begeben sich heimlich auf Verbrecherjagd und tappen in eine heimtückische Falle. Plumpernickel scheut keine Mittel, um die Gangster zu schnappen. Als Dame verkleidet, rückt er den Ganoven auf die Pelle. "Baum-Fall" ist ein amüsanter Kriminalroman mit einem bodenständigen Ermittler, der die Wege der üblichen Polizeiarbeit verlässt. Mit Hund, verkleidet und verliebt gibt Poseidon Plumpernickel alles, um die Verbrecher dingfest zu machen. Ohne es zu wollen, werden Plumpernickels Sohn, Oma und Opa in den Fall hineingezogen. Das Buch ist humorvoll und spannend bis zur letzten Seite!
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Seitenzahl: 516
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Tag 1 - Dienstag
Tag 2 - Mittwoch
Tag 3 - Donnerstag
Tag 4 - Karfreitag
Tag 5 - Sonnabend
Tag 6 - Ostersonntag
Beweise, Strafen, Ausblicke
Orte des Geschehens
Kühler Wind streift die kleine Fichte. Sie winkt mit ihren zarten Ästen gen Brocken. Trotz ihrer Christbaumgröße würde sie hier oben keine noch so scharfe Axt niederstrecken. Zwischen all den grauen Geisterpfählen versprüht sie ein Fünkchen Hoffnung auf ein frisches grünes Blätterdach – in vielleicht fünfzig bis sechzig Jahren. Nur leider ist sie eine Fichte und keine Buche! Ihr hundertjähriger Ex-Nachbarbaum fiel einer Horde Buchdrucker zum Opfer. Obwohl sein Stamm noch aufrecht stand, wurde er brutal geschlagen und just über den mühsam beräumten Wanderweg gekippt. Beinahe wie eine Entschuldigung, ist der gefällte Geisterbaum geschmückt. Doch nicht bunte Glaskugeln und Schokoladenkringel zieren seine dünnen Zweige, nein! Sein Totenhemd besteht aus elegantem Stoff. Zwischen seinen staksigen Ästen spannt ein rot-weiß-kariertes Herrenhemd. Über den Hemdsärmeln geknotet, baumelt ein dunkelblaues Sweatshirt, innen mollig angeraut. Den dicken blassen Stamm ziert ein vornehmer hellblauer Schal aus edlem Cashmere, so weich, dass die gefallene Fichte zu Lebzeiten mit Freude ihre Nadeln in den flauschigen Stoff verstrickt hätte. Über dem Schal thront eine weiße Baseballkappe mit der Aufschrift „Hero“. Nur wer ganz genau hinsieht, erkennt das sorgfältig mit Klebeband am Hut befestigte graue Haarbüschel.
Siglinde Huhn haut ihre Wanderstöcke im Takt auf den felsigen Untergrund. „Schau Siggi, da hinten liegt etwas quer! Unmöglich! Hat die von der Rezeption nicht gesagt, die Wanderwege wären frei?“
Sigmund Huhn hält kurz inne und runzelt die Stirn. „Da müssen wir eben klettern!“
Siglinde tätschelt ihre schöne neue Cordhose, in der sich vermutlich gleich vergammeltes Holz verfängt. Dann denkt sie an ihre Bandscheiben, die bei nicht alltäglichen Bewegungen gern verrutschen. „Gib mir doch mal dein Fernglas! Wenn der Baum zu dick ist, kehren wir wieder um!“ Vorsichtig nimmt sie den Feldstecher entgegen, stellt die Sehschärfe ein und späht in Richtung Hindernis. „Ah! Sigmund! Da ist einer aufgespießt!“
„Was?“, fragt Siggi entsetzt, entreißt seiner Frau das Fernglas und sieht hindurch. „Oh ha! Sieht aus wie ein Gespenst oder eine Art Vogelscheuche!“
„Vogelscheuche?“, entrüstet sich Siglinde. „Was soll die scheuchen? Die einzigen Vögel, die hier herumflattern, sind Touristen!“
Sigmund steckt das Fernglas zurück in die Hülle. „Komm, Glindilein! Wir haken uns fest unter und gehen dem Geister-Scheuch gemeinsam entgegen. Ich halte sicherheitshalber mein Handy bereit, falls uns das Monstrum anspringt!“
Die Vorstellung, dass der Aufgespießte plötzlich herumspringt, findet Siglinde nicht lustig. Sie nimmt beide Wanderstöcke in eine Hand, um sich eng an Siggi anzukuscheln, so eng war sie lange nicht mit ihrem Gatten. Schritt für Schritt nähert sich das Pärchen der Gestalt.
„Recht vornehm für eine Vogelscheuche“, findet Siglinde Huhn.
Sigmund resümiert: „Vom Aufgespießten sind nur noch die Klamotten übrig, der Rest ist schon verdunstet!“
Siglinde beäugt den Baumstamm. „Da schwinge ich mich nicht rüber, sonst ende ich wie Mister Baseballkappe! Wer weiß, vielleicht ist der Baum ja verhext? Wer ihn berührt, bleibt hängen und löst sich in Luft auf!“
„Das vielleicht nicht, Siglindchen! Dennoch finde ich das Ganze merkwürdig. Ich rufe bei der Polizei an. Die armen Touristen dermaßen zu erschrecken, ist keine feine Sache! Das muss ein Spaßvogel gewesen sein!“
„Ja“, kichert Siglinde, „ein aufgespießter Spaßvogel!“
Polizeiobermeisterin Paula Preisel nimmt Sigmunds Anruf gewissenhaft entgegen. „Ja, ich verstehe! Kurz vor der Stempelstelle Gelber Brink, aha! Ein gut angezogener Geist hängt an einem umgekippten Baum mitten über dem Weg. Er trägt eine weiße Baseballkappe, ´Hero` steht drauf. Alles klar! Wir werden uns um den Helden kümmern, Herr Huhn! Danke, einen schönen Tag noch!“ Paula tippt sich an die Stirn. Gelangweilt trinkt sie einen Schluck Milchkaffee. Eigentlich hätte sie gern ihrem Schreibtischgegenüber Poseidon Plumpernickel vom Geist im Baum erzählt, aber Plumpernickel hockt seit zwanzig Minuten bei Polizeioberkommissarin Maggie Mistel.
„Ihre Einzelgänger-Touren haben jetzt ein Ende, Plumpernickel!“ Maggie Mistel schüttelt ihre Schüttelfrisur, stakst zwischen Fenster und Büroschrank auf und ab und schlägt sich permanent ihren Kugelschreiber gegen die Finger. „Dieses stümperhafte Ermitteln nach Bauchgefühl! Kein Wunder, dass Sie so dick sind!“
Poseidon merkt, wie ihm die Zornesröte ganz langsam wie heißer Punsch ins Gesicht steigt. Am liebsten würde er dem Fräulein Mistelzweig ein Bein stellen und dann über sie hinweg aufrecht durch die Tür schreiten. „Ruhig! Ruhig Blut! Die Mistelhexe will dich nur provozieren! Sie will, dass ich ausraste, um einen Grund zu haben, mich loszuwerden. Den Gefallen tue ich der Gewürzmischung nicht!“, denkt Poseidon. Stattdessen lehnt er sich zurück in den wippenden Bürostuhl und zählt auf: „Vergewaltiger und Kunstdieb Dagobert Düsenschmied gefasst, drei vermisste Kinder in der Tannenhöhle gefunden, Gangsterzwillinge Affenröder zur Strecke gebracht, Schwindler und Kindesentführer Graustein, Letscho und Bimbo gefangen, Erpresser Willi Wellenbügel entlarvt – mit Bauch und Verstand! Wenn Sie mir eine Bemerkung erlauben, Fräulein Oberhauptkommissarin, Ihre Kritik an meiner äußerlichen Erscheinung ist herabwürdigend! Derartiges sollte nicht aus dem Mund einer Beamtin dringen! Finden Sie nicht auch? Außerdem habe ich zu tun! Sie erlauben, dass ich mich entferne?“
Polizeihauptmeister Plumpernickel erhebt sich und verlässt wortlos, erhobenen Hauptes den Raum.
Doch Mistel rennt ihm hinterher und winkt mit einem Papierfetzen. „Hier! Halt! Wichtig!“
Plumpernickel dreht sich um, nimmt wortlos das Stück Papier und geht in sein Büro. Während er sich auf seinen Bürostuhl fallenlässt, liest er laut vor: „Vermisstenmeldung, hochrangiger Politiker aus Berlin wird gesucht, letzter bekannter Aufenthaltsort: Schlittenbach!“
Paula klatscht in die Hände: „Schlittenbach! Das hört sich nach einem Fall für uns an, Plumpi!“
Doch der lehnt sich entspannt zurück. „Da müssen erst mal ein paar Infos von oben rüberwachsen!“ Dann streicht er sich betont über seinen Bauch. „Sofort aufspringen und suchen – das war einmal, Paulinchen!“
Paula ahnt: „Die alte Mistel, stimmts?“
Poseidon nickt, glättet sorgfältig die Notiz und legt sie auf einen Aktenstapel.
So streicht unsteter Wind durch den hellblauen Schal aus feinstem Cashmere. Das Karo-Hemd und der mollige Pullover wärmen die vertrockneten Äste der toten Fichte. Das graue Haarbüschel hat sich eine winzige Haubenmeise für ihren Nestbau ergattert.
Dutzende wanderfreudige Touristen und sportliche Biker folgen ihrem Weg geradewegs über den dekorierten Baumstamm. Ihre Wander-Buxen und Fahrradhosen hinterlassen dabei unzählige winzige Faserreste auf dem grauen Stamm.
Der alte Paul, dem das Geld als Journalist nicht gerade zufliegt, findet sogar Gefallen am blauen Pullover und zieht ihn kurzerhand über. „Was die Leute heutzutage alles wegwerfen, unglaublich!“, entrüstet er sich und kuschelt sich in sein flauschiges Fundstück.
Tobi und Sandra, die gelangweilt hinter ihren sportfanatischen Eltern herlaufen, springen über den bekleideten Stamm und pflücken sich kurzerhand die weiße Kappe vom Geäst.
„Fang Sandra!“
„Hab sie! Cool, jetzt du!“
„Hey, nicht so hoch! Na, warte!“
„Aua! Genau gegen mein Schienbein! Achtung Superwurf!“
„Von wegen! Gehalten! Nimm das!“, johlt Tobi und schleudert die Hero-Kappe genau im 45-Grad-Winkel nach oben – optimale Wurftechnik.
Sandra stemmt die Arme in die Seiten. „Du Spezialist! Genau in die Baumspitze! Mist!“
Ulmer Unterschädel träumt, er reite auf einem prächtigen schwarzen Hengst mit wilder Mähne. Über ihm schwallt düsterer Himmel. Er galoppiert vorbei an Feldern aus Bratkartoffeln und Wurstbäumen. Deren Stämme bilden meterdicke Rotwürste, die Äste sind handbreite Rindswürste und die feinen Zweige bestehen aus zarten Wienern. Hier und da pirscht Ulmers Ross durch weiches Eigelb. Am Rande formieren sich saure Gürkchen und feine Zwiebelringe zu anmutigen Sträußen. Watsch, patschen die Hufe durch gelblichweiße Mayonnaise! Hui, streift ein Hauch aus frischem Curry Ulmers Gesicht! Ah, entdecken seine Augen einen Teich aus mittelscharfem Senf! Leicht öffnet Unterschädel seine Lippen, um eine heranfliegende Bratwurst mit dem Mund einzufangen. Er will sie sich schnappen, die fliegende Wurst. Doch als er seine Hand heben will, hält sie etwas zurück – etwas Starkes, Schepperndes, Metallenes. Ulmer schreckt auf!
Die Schönroder Kirchturmuhr schlägt Zwölf, als Polizeioberkommissarin Maggie Mistel in ihrer zitronengelben langen Bluse und ihrer grünen Watteweste mit einem veganen Burger beim „Würstel-Hübner“ steht. Gerade, als sie ihren Mund genüsslich in den Fleischersatz graben will, vibriert ihr Handy.
„Gut, dass ich noch nicht abgebissen habe“, denkt Maggie und nimmt den Anruf entgegen. … „Ja natürlich!“ … „Oberste Priorität, ja!“ … „Presse pressiert, verstehe!“ … „Schon verstanden!“, legt Maggie auf und meckert: „Sie mich auch! Und das mitten im Essen!“ Sie mag es nicht, wenn ihr jemand ins Essen quatscht. „Zwölf Uhr! Da ruft man doch niemanden an! Die da in Berlin stehen garantiert nicht so früh auf wie unsereins! Bei denen gibt es wahrscheinlich erst abends Mittag! Berliner eben, außen süß und frech, innen nur Marmelade!“
Maggie Mistel genießt den Rest des pflanzlichen Hamburgers. Sie schaut auf die Menschen, die zwischen den urigen Fachwerkhäusern herumwuseln. Genießerisch saugt sie tief die frische kühle Luft in sich ein und fängt mit ihrem blassen Gesicht die wohltuenden Strahlen der Frühlingssonne. „Das mit dem Berliner Bonzen übernimmt Plumpernickel. Wenn was schiefläuft, kann ich ihm das in seine großen Schuhe schieben. Schließlich prahlt er mit seiner Erfahrung, Entführer zur Strecke gebracht zu haben. Da wird er wohl einen lumpigen Politiker-Quassel-Kopp aufspüren können! Wer weiß, vielleicht hat der sich einen Diensthubschrauber geschnappt und war zu blöd, auf dem Brocken zu landen? Oder er hat so viele Blasen geredet, dass er mit ihnen auf und davon geschwebt ist! Nein, eine Brockenhexe hat ihn mit ihrem Besen so richtig Feuer unterm Hintern gemacht!“ Bei diesen Gedanken kommt Maggie ins Schmunzeln. So gefällt ihr der Job! Sie genehmigt sich noch einen Becher Cappuccino, streift sich ihren braunen elastischen Rock glatt und spaziert langsam zur Dienststelle zurück.
Polizeihauptmeister Poseidon Plumpernickel sitzt gemütlich am Schreibtisch und wippt mit der Lehne. Er hat sich die untersten drei Vorgänge aus dem Papierstapel gezogen und liest vor: „´Wäscheleinen durchgeschnitten und entwendet!` Da wieder: ´Der oder die Unbekannte sprang in meinen Garten, schnitt mit einer Schere alle Leinen meiner Wäschespinne durch und nahm die Schnüre mit.` Oder hier, noch besser: ´Der Typ ist über unser Grundstück zum Schlafzimmerfenster gelaufen und hat die Federbetten gestohlen.` Sagen Sie mal, wer in aller Welt klaut fremde benutze Betten? Da hat womöglich gerade noch ein Fremder reingefurzt und sich nackt darin gewälzt! Vielleicht hängt noch eine warme dampfende Schlafanzughose drin? Ekelhaft!“
Paula Preisel kichert: „Vielleicht ist es ja gerade das, was der Dieb sucht: schnuppernde Erotik in fremden Federn.“
Poseidon zuckt mit den dicken Augenbrauen. „Da möchte ich mir das mit der Wäscheleine erst gar nicht vorstellen, Paulinchen. Fesselspiele sind nicht meins!“
„Meins auch nicht!“, stöhnt Paula. „Schon genug, dass wir von Berufs wegen Handschellen benutzen müssen!“
Die Tür fliegt auf und Mistel weht herein. „Vergessen Sie das mit den Handschellen, Kollegin Preisel! Sie und Plumpernickel suchen jetzt mit Hochdruck den entlaufenen Politiker, diesen Unterkiefer oder so! Hier ist die Beschreibung! Ich erwarte täglich eine genaue Berichterstattung und vor allem Ergebnisse! Auf!“ Mistel knallt Preisel eine Akte auf den Tisch und stürmt zurück in den Flur.
„Hui, es gibt schon eine Akte!“, wundert sich Paula. „Kommen Sie rüber, Plumper! Schauen Sie, was wir hier haben!“
Plumpernickel zieht seinen Bürostuhl um die Ecke. „Der Mann heißt Unterschädel, nicht Unterkiefer – Ulmer Unterschädel, 1,85 Meter groß, grau melierte Haare, blaugraue Augen, fünfzig Jahre alt. Hier ist ein Foto! Der sieht aus wie eine graue Maus, völlig unauffällig.“
Paula blättert: „Kein Wunder, der arbeitet im Umweltministerium!“
„Als Maus?“, flachst Poseidon. „Dann sitzt er jetzt womöglich in einer Falle, in einer Mausefalle!“
Paula kombiniert: „Dann brauchen wir nur nach dem stinkenden Käse zu suchen, dem unsere Maus auf den Leim gegangen ist.“
„Kluger Gedanke“, lobt Plumpernickel seine Kollegin. „Was hatte denn unser Mäuslein am Tag seines Verschwindens an?“ Poseidon blättert in der Akte. „Hier – eine dunkelblaue Daunenweste, eine schwarze Wanderhose, ein rot-weiß-kariertes Hemd, einen blauen Baumwollpullover und er trug eine weiße Kappe mit dem Aufdruck ´Hero`.“
„Hero?“, platzt es aus Paula heraus. Erschrocken sieht sie in Plumpernickels Augen.
„Was ist, Preislerin? Haben Sie gerade einen Geist gesehen?“
„Ich nicht, aber der Anrufer von heute Morgen! Er meinte der Geist auf dem Baumstamm trüge eine weiße Kappe mit der Aufschrift ´Hero`.“
„Wo liegt das Baum-Ungeheuer?“
„Auf dem Weg zum Gelben Brink! Der Touri kam aus Schlittenbach. Da lag ihm plötzlich ein dicker verkleideter Baum im Weg.“
„Dann sollten wir dem Karnevals-Geäst dringend einen Besuch abstatten! Kommen Sie, Paula!“
Poseidon und Paula schlüpfen in ihre warmen Jacken und sausen zum Dienstwagen.
„Gut, dass wir bis zur Stempelstelle das Auto nehmen können“, findet Plumpernickel. „Da sparen wir eine Menge Zeit und Energie. Und Energiesparen ist heutzutage enorm wichtig!“
„Insbesondere wenn wir auf der Jagd nach einem Beamten aus dem Umweltministerium sind“, ergänzt Paula.
Poseidon gibt Gas. „Am besten, wir fahren über Schlittenbach, dann kommen wir aus derselben Richtung wie der Wanderer von heute früh.“
Nach einer halbstündigen Fahrt versperrt den Polizisten eine ausladende Baum-Leiche den Weg. Plumpernickel bremst scharf. „Endstation, bitte aussteigen!“
Paula zieht ihre Jacke zu. „Stattlicher Baum, früher!“
Poseidon steigt aus und lässt seinen Blick in die Runde schweifen. Die Sonne kitzelt seine Nase und er muss heftig niesen. „Schauen Sie, es wird Frühling, Paulachen! Da oben in der grünen Fichte sitzt eine süße Haubenmeise mit einem Grasbüschel im Schnabel. Ist die nicht süß? Ich liebe Haubenmeisen!“ Plumpernickel dreht sich um. „Ach und hier – der Brocken, der ewig kalte, windige Berg! Ja und da auf der Baumspitze! Thront da nicht ein Sahnehäubchen? Der Baum hat sich geschmückt für das Osterfest, ganz ohne Eier.“
Paula versucht, die romantischen Gedankenanfälle ihres Kollegen nachzuempfinden. „Die Fichte hat sich einen letzten Schneewipfel genehmigt, gewiss als Zeichen, dass sie den Winter gut überstanden hat und jetzt bereit ist, der kommenden Trockenheit zu trotzen – ein echter Baum eben! Aber nun Plumpi sollten wir uns den Baumriesen betrachten, der vor uns über dem Weg lagert. Der kommt tatsächlich gespenstisch rüber mit seinem rot-weißen Hemd!“
Poseidon schießt ein paar Fotos. „Es scheint uns zuzuwinken, das Hemd, als wolle es uns etwas sagen. Von allein ist es nicht hierher geflogen. Das muss jemand regelrecht drapiert haben!“
Paula erinnert sich. „Der Anrufer von heute Morgen, der Herr Huhn, hat berichtet, dass der Baum ein Hemd, einen blauen Pullover und eine weiße Baseballkappe trägt.“
Poseidon befürchtet: „Den Ästen nach zu urteilen, ist hier inzwischen eine Horde Wanderer drüber geklettert. Ein Wunder, dass vom Gespenst überhaupt noch etwas übrig ist!“
„Nur das Hemd“, bedauert Paula.
Poseidon grinst: „Und die Schneehaube, Preislerin!“
Paula besieht sich den umgestürzten Baum. „Wo denn?“
Plumpernickel blinzelt gen Sonne: „Na da!“
„Der Osterbaum mit Schneewipfel!“ Paula klatscht in die Hände.
„Das haben wir gleich genauer!“ Der Polizeihauptmeister holt seinen Feldstecher aus dem Handschuhfach, packt ihn aus, hält ihn vor seine Augen und betrachtet das weiße Tannen-Mützchen näher. „…ero, das H ist verkrempelt. Wer sagts, Preiselbeere! Da bestellen wir gleich den Freddy von der Feuerwehr! Der pflückt uns das Beweisstück vom Baum. Denn eins ist klar, freiwillig hat der Unterschädel seine Bluse hier nicht ausgezogen!“
„Ich rufe Freddy an!“ Paula ordert die Feuerwehr an den Einsatzort. „Hier liegt ein Baum quer über der Straße und ein Käppi müsst ihr retten!“
Freddy Flamm lacht: „Was denn, ist euch der Sonnenhut weggeflogen?“
„Uns nicht“, erklärt Paula Preisel, „aber einem Hero aus dem Umweltministerium.“
„Soso, der wollte sich sicher von der intakten Natur am Brocken überzeugen und kriegt nun bedauerlicherweise einen Frühlings-Sonnenbrand auf der Nase.“
„Schön wäre es“, meint Paula und legt wieder auf.
Plumpernickel kratzt sich am Kinn. „Eigenartig, dass der Baum genau über den Weg gefallen ist! Die Hauptwanderwege wurden doch alle gesichert“, weiß der Polizeihauptmeister und schreitet gewichtig in Richtung Wurzel. Die ragt jedoch nicht aus der Erde, wie so oft, wenn ein Flachwurzler einfach umkippt. Poseidon kniet sich ans Baumende. „Der ist nicht abgebrochen, Preislerin. Der Baum wurde frisch gehackt! Sehen Sie hier, taufrische Späne!“
Paula schießt Beweisfotos, sammelt Hemd, Späne, Faserreste ein und steckt sie in kleine Tüten. „Da schau her, Plumpi, der Baum ist gekennzeichnet. Hier!“
Plumpernickel geht abermals in die Hocke „Zwei gelbe Buchstaben: ´PO`! Das stammt nicht vom Förster. Der markiert die Bäume anders. Das hier wurde nachträglich auf den Stamm gemalt, als der Baum schon lag, denn die Buchstaben kann jeder erkennen, so wie der arme Baum daliegt.“
„Wir sollten das gut lesen können“, vermutet Paula.
„Exakt Paula-Oberpolizistin! Wir solltenes lesen! Nur was sollten wir lesen?“
„Na PO!“, antwortet Preisel.
„Ja! Aber was bedeutet PO?“, grübelt Poseidon und rauft sich die braunen Haare. „POPO oder PORNO – für etwas Sexistisches? POLIZEI – ja, könnte sein, ein Hinweis für die Polizei! POST, PORTO – deswegen die gelbe Schrift, vielleicht kommt ein weiterer Hinweis von der Post, in einem Brief vielleicht!“
„Oder in einem Paket mit einer Hand drin“, ergänzt Preisel.
Plumpernickel läuft es eiskalt den Rücken herunter, als er an das Erpresserpaket im Fall ´Rosen-Herz` denkt.
Paula überlegt: „Wie wäre es ganz einfach mit POLTERGEIST? Schließlich sollte das hier aussehen wie ein Geist!“
„POLLENALLERGIE“, schießt es Poseidon durch den Kopf. „POOL, POLEPOSITION, POMMES, POPCORN, PORTEMONNAIE, PORZELLAN, POTTWAL, POLEN – doch etwas Politisches?“ Plumpernickel springt unvermittelt in die Höhe. „Politisches, Mann Paula, der Mann arbeitet im Ministerium, er ist POLITIKER, das fängt mit PO an!“
Nach dieser entscheidenden Erkenntnis muss Plumpernickel etwas Süßes essen. Er zieht zwei hübsch eingewickelte Stückchen Schokolade aus der Jackentasche. „Hier die mit fünfundfünfzig Prozent mag ich am liebsten“, grinst er und reicht Paula ein Täfelchen.
„Mit Schoki sieht die Welt gleich viel klarer aus“, findet auch Paula und deutet auf die Straße.
Auf der bahnt sich im Schritttempo ein Feuerwehrauto mit Leiter den Weg durch sensationshungrige Wanderer, die allesamt stehengeblieben sind und gespannt auf eine dramatische Rettungsaktion warten.
„Ja wo brennts denn?“, schaut sich Hannelore um. „Ich sehe gar kein Feuer!“
Helmut vermutet: „Vielleicht ist jemand verunglückt, so ein bedepperter Radfahrer. Die sausen ja überall mit einem Affentempo runter! Wenn da die Bremse versagt, zack, ist es durch, das Schlüsselbein!“
„Dann ist der Radler aber ganz schön hochgeflogen, Helmut! Siehst du? Er hängt da oben in der Tanne!“
„Das ist eine Fichte, Herzilein.“
Hannelore ist skeptisch. „So? Woher willst du das so genau wissen?“
Helmut antwortet: „Na guck doch, da liegen lauter längliche Zapfen. Das sind Fichtenzapfen!“
„Aha“, staunt Hannelore, „und ich dachte immer, es heißt Tannenzapfen!“
Helmut bleibt geduldig. „Tannenzapfen gibt es auch, Hannchen, aber die sind klein und dick so wie …“
Ein warnender kurzer Blick seiner Gattin genügt und Helmut kratzt die Rede-Kurve. „Weißt du, die Tannenzapfen wachsen aufrecht auf den Zweigen und die Fichtenzapfen hängen runter, so wie bei …“
„Dir“, ergänzt Hannelore und gibt ihrem Mann einen Klapps auf den Hintern.
„Lass das Hannelore, wenn das jemand sieht!“
„Wer denn, die gaffen doch alle gerade zur Feuerwehrleiter. Schau, jetzt klettert einer hoch! Er angelt etwas Weißes von der Baumspitze!“
„Eine Katze vielleicht“, vermutet Helmut, der seine Brille beim Wandern nie mitnimmt.
„Nein, Mist, jetzt hat er sie eingesteckt!“, bedauert Hannelore.
„Die Katze?“
Das Wanderpärchen und all die anderen Schaulustigen bekommen ein weiteres wahres Schauspiel geboten.
Während Helmut in seiner Rucksack-Seitentasche den Bluetooth-Lautsprecher mit „Jodiljo hido hidü, jodelijo hido hidü“ auf Dauerschleife einststellt, greift Freddy Flamm zu seinem Lieblings-Equipment, zur 3,5 PS-starken Kettensäge im orangenen Farb-Look. Im Takt zu den Jodlern arbeitet sich Flamm durch den Stamm. Knack, da ist er an einer Stelle durch. Nun noch drei Songschleifen und bsssssssssss, so singt die Kettensäge immer wieder, bis nach einer halben Stunde nur noch Baumstücke auf dem Weg lagern, die nun Poseidon und Freddy gemeinsam beiseiteräumen.
„Ganz schön anstrengend so eine Tatortbesichtigung“, findet Plumpernickel, der die Jacke ausgezogen hat und sich die Hose abklopft.
„Dafür haben wir die hier“, schwenkt Paula fröhlich die eingetütete Kappe durch die Luft.
„Zeigen Sie mal, Pauli!“ Der Polizeihauptmeister besieht sich kritisch die Baseballkappe. „Da klebt ein Klebestreifen, mit einem Haar dran!“
„Dreck?“, mutmaßt Polizeiobermeisterin Preisel.
„Oder ein weiterer Hinweis“, grübelt Poseidon.
Flamm zieht sich die Schutzhandschuhe aus. „Das war schon ein dickes Ding, da überm Weg!“
Plumpernickel grinst: „Ein ganz dickes Ding! Danke dir Freddy! Wir sehen uns sicher irgendwann auf ein Bier im ´Wilden Hopfen`.“
„Klaro! Machts gut, ihr beiden und viel Glück beim Promi-Suchen, ist ja bald Ostern!“
Plumpernickel winkt Freddy hinterher. Winken ist für Poseidon sehr wichtig. Er hat schon als Kind zum Abschied immer gewinkt, wenn Oma weggefahren ist, wenn er selber irgendwohin verreist ist, wenn ihm seine Klassenlehrerin im Supermarkt begegnet ist. Er ist ein Winke-Kind. Er weiß, dass die meisten Menschen nicht winken. Auch nicht, wenn sie es eigentlich sollten, weil ein geliebter Freund von dannen zieht oder wenn die Ferne ruft und alle netten Nachbarn sich am Straßenrand versammelt haben. Vielleicht wollen sie damit jeglichen Abschiedsschmerz im Keim ersticken? Plumpernickel vertieft sich dagegen in Abschiedsmomente. Er erlebt sie ganz bewusst und intensiv, denn er weiß nie so genau, was kommt, zumal er Polizist ist.
Das Wort „Ostern“ hängt Poseidon noch nach, denn er denkt an die vielen Vorbereitungen, die er zu treffen hat: Äste irgendwo abschneiden, Eier ausblasen, Eier bemalen – natürlich mit Phil. „Wer weiß, auf welche Ideen Phil in diesem Jahr kommt“, fürchtet Poseidon. „Am vergangenen Osterfest hat er die Eierfarbe mit einem Trinkhalm auf die Eier geblasen, hat plötzlich gehustet und ich sah aus wie das dickste Ei aller Zeiten!“ Poseidon zählt auf: „Schokohasen muss ich kaufen, das ist einfach. Kleine Knobelspiele werde ich besorgen, die will ich für Phili-Boy im Garten verstecken.“ Plumpernickel lächelt. Sein Lächeln wirkt unsicher, denn er weiß, dass ihn seine Eltern besuchen wollen. „Oho, Mama stellt immer hohe Ansprüche ans Backen und Kochen und Papa braucht pünktlich sein Essen, sonst stimmt der Zucker nicht!“
„Fertig geträumt?“, reißt ihn Paula Preisel aus seinen Überlegungen.
„Ja doch, Fräulein Paula! Ich habe nur intensiv übers Suchen nachgedacht.“
„Hier haben wir alles abgesucht, Poseidi. Jetzt gönnen wir uns am Stand eine Bratwurst, mit viel Senf!“
„Das hört sich gut an“, findet Poseidon, steigt zu seiner Kollegin in den Dienstwagen und fährt nach Schönrode bis zum „Würstel-Hübner“.
Ulmer Unterschädel lässt seine Blicke kreisen, denn mehr kann er nicht kreisen lassen – eventuell eine kleine gymnastische Bewegung mit dem linken Fuß ist drin. Der rechte ist mit Plastikseilen an der Europalette festgebunden, auf der Unterschädel sitzt. Sein Rücken lehnt gegen ein weiches Federbett. Vor ihm stapeln sich schüsselweise Essensreste.
„Das Essen riecht gar nicht so übel“, findet der Gefesselte. Übel wird ihm wiederum, wenn er auf das Pappschild sieht, das in einer Schale mit Kartoffelklößen steckt.
Was Ulmer am meisten am Schriftstück stört, ist das SOFORT. „Wenn ich brav futtere, sterbe ich erst später!“ Das ist die klare Schlussfolgerung, die Unterschädel der Drohung entnimmt. Ulmer rüttelt an seinen gefesselten Körperteilen. Selbst wenn er sein Bein von den Plastikschnüren befreien könnte, die eiserne Handschelle ist unknackbar. Also fügt sich der Berliner Umweltbeamte und schiebt sich einen Knödel nach dem anderen hinein.
Poseidon und Paula beißen dagegen freiwillig in ihre Bratwurst im Brötchen.
„Das Wichtigste an der Wurst ist der Senf“, leckt Plumpernickel sich die Lippen.
„Dann bestellen Sie sich doch einfach ein Glas Senf“, schlägt Paula vor.
„Nein, Preislerin, im Glas hätte ich gern ein kühles Hefeweizen! Was kochen Sie eigentlich Ostern? Einen Braten? Meine Eltern kommen, da muss alles stimmen! Verstehen Sie?“
„Verstehe!“, nickt Paula. „Am Karfreitag gibt es bei uns zu Hause immer Fisch. Am Sonntag brutzelt meine Mutter meist einen großen Braten, gleich für zwei Tage. Dann färben wir gekochte Eier und essen die sukzessive auf.“
„Das mit den Eiern kriegen wir hin, der Phil und ich. Färben macht ihm immer Spaß! Fisch – da könnte ich Fischstäbchen in den Ofen legen, gleich zwei Bleche voll. Am Samstag gibt es dann Rührei mit Spinat und am Sonntag koche ich Falschen Hasen, gleich für Montag mit. Passt!“, freut sich Plumpernickel, denn schon ist das Essensproblem für Ostern gelöst. „Vielleicht sehen wir uns Ostersonntag am großen Ei?“
Paula erinnert sich an die Aushänge auf dem Marktplatz. „Stimmt, das große Ei!“
Poseidon schleckt den Senf von seinen Fingern. „Das Ei als Zeichen der Lebendigkeit und Freude! Wie war das nochmal – von außen kalt und tot, von innen ein süßes Küken, richtig?“
„Kann sein“, schmatzt Paula ihren letzten Wurstzipfel weg. „Wird das große Ei nur aufgeklappt oder ist etwas darunter versteckt?“
Poseidon zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung! Ich werde auf jeden Fall mit Oma, Opa und Phil dahin gehen – als kulturelles Highlight!“
Paula Preisel wischt sich den Mund ab. „Jetzt bringen wir erstmal unsere Beute ins Labor, denn die Mistel ist sicher schon auf hundertachtzig!“
„Übernehmen Sie das, Preislerin! Ich habe noch etwas zu erledigen.“
Plumpernickel hat es eilig. Sein Spiegelbild im Schaufenster mahnt ihn: „So kannst du nicht vor Oma und Opa antreten! Die Mama tituliert dich als ollen Wischmopp! Opa ist das egal. Der wäre über ein Bruchstück deiner Prachtmatte froh wie Oskar!“
Nach wenigen Schritten ist Plumpernickel am Frisiersalon „Haar-Monika“ angelangt. Poseidon schwingt sich durch die Tür. „Guten Tag Monika! Darf ich vielleicht kurz …? Meine Haare müssen dringend …!“
„Nehmen Sie Platz, Poseidon, gleich hier am Fenster!“
Poseidon schiebt dankend den schwarzen Ledersessel zurück.
Monika entschuldigt ihr bekleckertes Aussehen. „Wissen Sie, mein Mann kriegt es einfach nicht auf die Reihe! Wir wollen uns nämlich einen Event-Keller einrichten, mit einem runden Tisch für spirituelle Sitzungen. Seh-Renata will ihn für ihre monatlichen Seancen nutzen. Das spült Geld in unsere Kasse. Mein Mann hat schon alles gestrichen. Ich bin gerade dabei, den Fußboden neu zu verlegen mit orientalischen Ornamenten.“ Monika streift sich die Gummihandschuhe über. „Gut, dass Sie gekommen sind, dann brauche ich nicht zu Ihnen!“
Plumpernickel setzt sich und schaut verwundert in den großen Frisierspiegel. Er sieht, wie Monika aufgeregt den Salon durch die Hintertür verlässt und wenige Sekunden später mit einem braunen Briefumschlag zurückkehrt.
„Stellen Sie sich vor, das lag heute in meiner Post!“ Monika schiebt Plumpernickel den Umschlag mit spitzen Fingern über den Tisch.
„Ein Umschlag!“, sagt Poseidon, klappt den bereits geöffneten Falz beiseite und sieht hinein. „Haare! Gelbe Haare!“, stellt er nüchtern fest.
“Hellblond!“, korrigiert Monika.
„Haben Sie irgendwelche hellblonden Ersatzteile bestellt? Diese Ixtänschens?“
„Extensions? Nein!“, entgegnet Monika. „Ja schauen Sie doch genau hin, da hängt ein Zettel dran!“
Erst jetzt bemerkt der Polizeihauptmeister das winzige braune Schriftstück in Briefmarkengröße, das mit Klebeband am Haarbüschel befestigt ist. „Da steht ´PI` drauf. Kennen Sie einen Kunden mit diesen Initialen?“
Monika greift zum Haar-Trimmer und überlegt. „Petra Immergrün, aber die hat pechschwarze Locken. Von der sind die Strähnen nicht.“
Poseidon versucht, die Zeit bei der Haarexpertin professionell zu nutzen, immerhin ist er im Dienst. „Fällt Ihnen etwas auf an den gelben, nein hellblonden Haaren? Ich meine, sind es gesunde Haare, alte Haare, gefärbte oder junge?“
Monika fachsimpelt: „Rein vom Glanz her sind sie eher stumpf. Gefärbt sind sie nicht, jedenfalls nicht frisch! Sie scheinen ein wenig ausgeblichen, vielleicht durch intensive Sonne. Eins ist auffällig, sie sind oben erheblich farbiger als weiter unten! Also ich meine, zwischen oben und unten beziehungsweise mehr und weniger Farbe gibt es nahezu einen auffälligen Rand!“
„Haare mit Rand, interessant“, findet Plumpernickel. „Woher kann so etwas kommen?“
Monika stellt die nächste Rasierstufe ein. „Vielleicht von einer Kopfbedeckung, von einem Hut oder einer Kappe.“
Poseidon erschrickt: „Von einem Polizeihut?“ Dabei fährt er herum und der Rasierer bahnt sich eine deutliche Schneise von links unten nach rechts oben.
„Ha!“, erschrickt Monika. „Poseidon! Jetzt haben Sie eine Autobahn im Ansatz!“
Plumpernickel wird rot. „Sieht es schlimm aus?“
„Wie bei einem misslungenen Selbstversuch!“
„Misslungener Selbstversuch“, jammert Poseidon. „Was machen wir denn da?“
Monika wird kreativ. „Ich könnte das Muster erweitern, vervollständigen, damit es aussieht wie ein Kunstwerk!“
„Kunstwerk gefällt mir schon viel besser! Dann kunstwerkeln Sie, Monika! Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf!“
„Ja gut! Wie wäre es mit Streifen?“
„Bloß nicht, dann werden mich meine Kollegen als Streifenhörnchen bezeichnen!“
„Keine Streifen! Was halten Sie von einem Kreuz?“
„Nur kein Kreuz! Dann denkt jeder Verbrecher, er könne mich aufs Kreuz legen oder mich ins Visier nehmen – keine gute Idee!“
„Zweig!“
„Zweig?“
„Ich könnte an den versehentlich geschnittenen Stängel kleine Blätter in die Frisur fräsen, dann sieht es aus wie ein Zweig.“
„Das passt gut zu Ostern! Prima! Natur ist immer gut. Dann nehme ich den Zweig Monika!“
Ein heimliches Grinsen kann sich Monika nicht verkneifen, als sie in Poseidons Hinterkopf Blätter rasiert. „Das ist mal etwas anderes! Ein richtiges Gemälde, also Geschneide!“ Monika nimmt den großen Handspiegel, um Poseidon seinen neuen Look zu präsentieren.
„A …, außergewöhnlich!“, lobt Plumpernickel und wagt gar nicht an die Bemerkungen der Kollegen zu denken, die ihn gleich erwarten.
Der Polizeihauptmeister bedankt sich artig bei Monika, bezahlt, steckt den verdächtigen Umschlag in eine Tüte und marschiert damit zur Polizeidienststelle.
Polizeioberkommissarin Maggie Mistel lauert dem Polizeihauptmeister direkt hinter der Eingangstür auf. Wortlos tippt sie mit ihrem Zeigefinger auf ihre viereckige Blinki-Watch: „Ich kann nicht erkennen, dass gerade Mittagspause wäre. Wo waren Sie, Plumpernickel? Doch nicht etwa beim Barbier?“
„Bei einer Barby-Puppe war ich nicht, Fräulein Mistel, sondern bei einer Friseurin!“
„Friseurin, soso und das mitten in Ihrer Dienstzeit?“
„Verdeckt“, schießt Poseidon hinterher. „Ich war da als verdeckter Ermittler!“
„Ach so nennen Sie das! Was genau haben Sie denn bedeckt ermittelt?“
„Verdeckt, Frau Oberkommissarin!“, korrigiert Plumpernickel und streckt der aufgebrachten Mistel den eingetüteten Umschlag entgegen. „Das Skalp einer vermutlichen Leiche!“
„Skalp?“ Mistel läuft augenblicklich die Farbe aus dem Gesicht. „Mit Kopfhaut?“ Maggie hält den Beutel mit zwei spitzen Fingernägeln fest.
„Nicht mit Kopfhaut, nur mit Klebeband, sind auch nicht alle Haare, nur eine Kostprobe, sozusagen!“
„Ich bringe das selber ins Labor, Plumpernickel. Sie forschen sofort nach, was es mit den Haaren auf sich haben könnte und ob es einen Zusammenhang zwischen beiden Fällen gibt, also der Politiker-Entführung und dem hier!“
„Gibt es“, platzt Poseidon heraus, „das P!“
„Das P?“, wundert sich Mistel. „Wie soll ich das verstehen?“
Poseidon schwillt ein wenig die Brust, weil er weiß, dass er gerade überaus intelligent rüberkommt. „An den Haaren hing ein Zettel mit der Aufschrift ´PI` und auf dem Baumstamm des Baumgeistes stand ´PO`.“
„Tatsächlich zweimal ein ´P` nuschelt Maggie Mistel vor sich hin und begibt sich schnurstracks ins Labor.
„Oh, Frau Polizeirat persönlich“, begrüßt Lars Lupe die Hereinkommende.
„Für Sie immer noch Polizeioberkommissarin Mistel“, wettert dieselbe. „Hier Lupe! Arbeit für Sie, höchste Priorität!“
„Ach ja, wenn Sie schon einmal hier sind. Die DNS-Untersuchung der Fundsachen ist erst in ein paar Tagen abgeschlossen. Sie können die Ergebnisse dann in der digitalen Akte nachlesen.“
„Haben Sie denn noch gar nichts herausgefunden?“
Lars Lupe resümiert: „Das karierte Hemd der Größe L ist ein Männerhemd. An der Kappe klebte ein Klebestreifen mit einigen unbrauchbaren, weil abgeschnittenen Haaren. Aber in der Kappe selbst haben sich einige Haare mit Wurzel verfangen. Die untersuchen wir gerade. Es wird sich wohl um die Haare des bereits bekannten Opfers handeln. Auf dem Klebeband konnten wir einen Fingerabdruck sichern. Der könnte vom Täter sein. Doch leider gab es dazu keinen Treffer in unserer Datenbank. Die Fasern vom Baum stammen von gut dreißig Wanderhosen, die da rübergerutscht sind.“
Mistel ist enttäuscht. „Danke Lupe! Was ist mit der Aufschrift auf dem Baumstamm?“
„Ach ja, die wurde mit Wandfarbe aufgemalt, bienengelb, matt. Die gibt es in großen Eimern im Bau-markt.“
„Schriftvergleich!“, schießt es Mistel durch den Kopf. Sie braust wortlos zurück, geradewegs ins Büro von Paula und Poseidon. „Kollegin Preisel, bitte vergleichen Sie die Schriften vom Baumstamm und vom Zettel mit den Haaren!“
„Nö!“, sagt Paula.
Maggie Mistel verstummt.
„Haben wir längst erledigt, der Poseidon und ich. Das ´P` stimmt eindeutig überein, da brauchen wir keinen Spezialisten. Sehen Sie?“ Paula Preisel zeigt auf den Bildschirm, auf dem das PO vom Baum und das PI aus dem Umschlag in gleicher Größe nebeneinanderstehen.
„Sehen Sie den Bogen vom P? Der berührt nicht den senkrechten Strich.“
„Ja und er ist ein bisschen schräg, der Balken nach oben. Der Kringel saust voll über den senkrechten Strich hinaus – eine schwungvolle Handschrift!“, mischt sich Poseidon ein.
„Geschrieben mit bienengelber Wandfarbe – auf dem Baum“, informiert Maggie Mistel. Sie ahnt nichts Gutes! Die Entführung könnte ihr leicht das Genick brechen. Kaum angekommen im schönen Schönrode, kann sie gleich wieder ihre Koffer packen, wenn sie diesen Fall nicht löst. „Muss auch so ein blöder Promi betroffen sein? Bei jedem anderen Bürger würden die Wellen nicht so hochschlagen. Aber so?“
„Bienengelb wie Ihre Bluse?“ Poseidon ohrfeigt sich in Gedanken und lenkt eilig von seiner blöden Bemerkung ab. „Wie wäre eine Schnüffelattacke?“, schlägt Plumpernickel vor, der die verzweifelten Gedanken von Mistel erahnt.
„Schnüffeln?“, fragt Mistel und besieht sich skeptisch Plumpernickels breite Nase.
„Also ich persönlich kann den Unterschied von Obst und Gemüse im Supermarkt nicht unterscheiden. Stellen Sie sich vor, ich habe mit meinem Phil ´Löffelquiz` gespielt. Mein Sohn hat mir einen Löffel Essbares hingehalten. Ich musste mit verbundenen Augen riechen und schmecken. Nicht einmal Nektarine und Gurke konnte ich unterscheiden, schmeckt alles gleich – nach Pappe!“
„Das ist das Ergebnis der Massenproduktion“, wirft Paula ein. „Nur das Aussehen kriegen sie gut hin. Deswegen sollten Sie immer gucken, was Sie gerade in sich hineinfuttern, damit Sie mehr mit den Augen essen als mit dem Mund.“
„Die armen Blinden! Die können gleich auf das teure Obst verzichten und sich stattdessen billige Gurken hinter die Kiemen schieben. Das spart Geld!“, findet Poseidon.
„Zurück zum Schnüffeln, Plumpernickel“, mahnt Maggie Mistel.
„Hunde, Frau Polizeioberkommissarin!“, wirft Poseidon ein. „Wir haben doch ein Kleidungsstück vom Vermissten!“
„Das gut durchlüftet ist, so lange wie es da draußen herumwehte!“, seufzt Mistel. „Ich werde sofort zur Ehefrau des Vermissten fahren. Da hole ich uns ein paar deftige Geruchsproben. Wir müssen das gesamte Umfeld von Unterschädel abklopfen. Sie beide machen sich hier vor Ort nützlich und klappern die Hotels und Gaststätten in Schlittenbach ab! Vielleicht hat jemand den prominenten Wanderer gesehen.“
„Ich könnte meinen Schnuff mitnehmen“, schlägt Plumpernickel vor. Doch Mistel ist in Gedanken längst auf der Reise nach Berlin. „Wir sehen uns morgen“, verabschiedet sie sich von Paula und Poseidon und verlässt schnellen Schritts die Dienststelle.
Paula grinst Poseidon an. „Na, Osterlämmlein!”
“He?”
“Na, ich meine den Zweig, den Osterzweig! Es fehlen nur noch die Eier!“
Poseidon ist verunsichert. „Ach Sie meinen meine künstlerisch wertvolle Frisur!“ Poseidon will jetzt auf keinen Fall von einem Frisierunfall reden. „Das ist gerade in Mode! Vorösterlicher Look, sozusagen!“
„Aha“, feixt Paula. „Vielleicht sollte ich mir einen Dutt stecken und oben rein ein paar bunte Eier legen? Das wäre ein Hingucker!“
Paula und Poseidon rufen sich auf dem Handy die Karte von Schlittenbach auf. „Da ist der Wanderweg zum Gelben Brink“, tippt Paula auf das Display.
Poseidon blättert im Internet: „Der Gelbe Brink ist ein Gebirgspass auf neunhundert Metern Höhe. Er trennt die Täler von Ilse und Kalter Bode. Hier liegt die Stempelstelle 22. Im Untergrund gurgelt die Ilse.* Vielleicht hat sie ja Halsschmerzen?“, blödelt Poseidon.
Paula überlegt: „Was meinen Sie Plumpi, von wo aus könnte Unterschädel gestartet sein?“
„Er ist vom ´First Förster` los!“
„So, woher wissen Sie das?“
Plumpernickel grinst über beide Backen. „Ich habe bei meinen Hotel-Anrufen im Luxussegment begonnen und hatte gleich einen Volltreffer!“
„Supi! Dann fahren wir da zuerst hin“, schlägt Paula vor und schnappt sich ihre wetterfeste Wanderjacke.
Auch Plumpernickel greift zum sportlichen Anorak. „Gut, dass wir nicht mehr in unserer Uniform auflaufen müssen“, zwinkert er Preisel zu und pfeift sich noch einen Streifen dunkle Vollnuss-Schokolade zwischen die Zähne. „Nervennahrung! Wollen Sie auch?“
„Gerne,“ freut sich Paula und beißt mit Schmackes in die volle Nuss. „Aua! Mein Zahn! Ich glaube Plumpi, mir ist gerade ein Stück Zahn abgebrochen!“
„Oje!“, bedauert Poseidon. „Dann setze ich Sie schnell beim Zahnarzt ab und fahre allein zum ´First Förster` nach Schlittenbach.“
Quelle: *sinngemäß, www.harzer-wander-gui.de
Paula Preisel steigt aus dem Dienstwagen und winkt Poseidon zu. Der winkt freudig zurück und nimmt die Straße nach Schlittenbach.
„Hoffentlich komme ich gleich dran“, betet Paula. Als Beamtin ist sie dank günstiger Tarife glücklicherweise privat krankenversichert.
„Herr Doktor Weiß ist gleich für Sie da“, lächelt die attraktive Sprechstundenhilfe ihr allerschönstes Lächeln. Erna Brösel, die eigentlich vor Preisel an der Reihe gewesen wäre, hat nicht so viel Glück. Sie muss mit ihrem zerbrochenen Backenzahn noch drei Wochen ausharren! Die nette Sprechstundenhilfe hat ihr geraten, den Zahn zu kühlen. Menschenfreundlich wie sie ist, hat sie ihr obendrein eine Packung Schmerzkapseln mitgegeben.
„Bestimmt eine Kassenpatientin“, denkt Preisel, fühlt sich aber nicht schuldig an diesem maroden Behandlungssystem. Sie zieht sich eine Zahnbürste aus dem Becher und geht sich die Zähne putzen.
„Paula Preisel“, bittet sie auch schon die junge Arzthelferin in ein freies Sprechzimmer und legt ihr eine Halsmanschette aus Papier um.
„Wo fehlt es denn?“, betritt Herr Doktor Weiß das Zimmer.
„Mir ist gerade mein Zahn abgebrochen, bei einem Stückchen Nuss-Schokolade.“
„War sie wenigstens lecker, die Schokolade?“, fragt der Arzt freundlich.
„Keine Ahnung, der Appetit ist mir augenblicklich vergangen“, nuschelt Preisel mit halb offenem Mund.
„Ja, da ist ein Stück Zahn abgebrochen! Halb so schlimm, das repariere ich Ihnen sofort! Damit es nicht so wehtut, gebe ich Ihnen eine kleine Spritze.“ Doktor Weiß bereitet die Spritze vor. „Sie haben Glück, dass ich überhaupt hier bin! Eigentlich wollte ich heute früh gen Süden fliegen, aber die Piloten streiken. Mein Kumpel ist Pilot. Der hat mir gesagt, ich solle besser eine Woche warten, bis wieder Ruhe eingekehrt ist, im Flugbetrieb. Stattdessen wollten wir heute eine Fahrradtour unternehmen. Aber der Leo ist einfach nicht gekommen. So sind sie, die Piloten, mal hier, mal da und am Ende nirgendwo!“
Während Paula brav den Mund aufhält und die Prozedur der Zahnreparatur tapfer über sich ergehen lässt, hämmert es in ihrem Kopf. Aber es ist nicht der Zahnschmerz, es ist das zweisilbige Wörtchen „Pilot“.
„Wie heißt denn Ihr Freund, Herr Doktor Weiß?“
„Oh, wissen Sie, wie alle Piloten sieht er gut aus! Aber ich muss Ihnen die traurige Mitteilung machen, dass er sich bereits eine adrette Freundin geangelt hat.“
Paula lacht: „Ich will ihn ja nicht heiraten! Ich will nur wissen, ob es ihm gut geht.“
„Nun ja, Fräulein Preisel, da gibt es so ein ellenlanges, gewichtiges Wort. Es fängt mit D an und hört mit Z auf.“
„Und ich bin Polizeiobermeistern, das fängt mit P an und hört mit N auf. Ich meine, ich könnte mir jetzt auch umständlich eine Genehmigung besorgen. Aber da verstreicht wertvolle Zeit – überlebenswichtige Zeit, verstehen Sie?“
„Nein!“ Doktor Weiß ist perplex.
„Dann rufen Sie doch bitte Ihren Freund einmal an!“
„Jetzt?“
„Sofort!“
„Na gut, wenn Sie meinen“, resigniert der Zahnarzt und wählt die Nummer seines Freundes.
„Laura hier! Hi Wolfi! Was gibt’s? Ist Leo bei dir?“
„Nein!“
„Komisch, der wollte dich doch heute Morgen besuchen, um mit dir Fahrrad zu fahren.“
„Fahrradtour! Ja ich weiß! Nur ist er nie bei mir angekommen, da bin ich in die Praxis gegangen. Du, ich schicke dir eine junge Dame vorbei, Fräulein Preisel. Die hat gewiss ein paar Fragen.“
„Preisel?“
„Ja, eine Polizistin!“
„Polizei! Oh Gott! Ist etwas passiert?“
„Keine Ahnung! Also bis dann, ciao!“ Weiß legt auf.
„Wintergasse drei, hier in Schönrode, mein Freund heißt Leonard Luft, seine Freundin Laura. Ihren Nachnamen kenne ich gar nicht.“
„Danke, Herr Doktor Weiß und viel Spaß im Urlaub nächste Woche!“
Paula Preisel verlässt die Praxis und klingelt Poseidon an. „Plumper, das ´PI` könnte Pilot bedeuten! Stellen Sie sich vor, der Kumpel vom Zahnarzt ist zufällig Pilot. Leonard Luft heißt er. Er ist seit heute Morgen verschwunden! Ich gehe jetzt zu seiner Adresse, Wintergasse drei. …. Was haben Sie? … Ich kann Sie so schlecht verstehen! … Ach so, Sie kauen gerade. Na dann, wohl bekomm’s!“
Vor ihrer Fahrt nach Berlin braust Polizeioberkommissarin Maggie Mistel noch schnell zu ihrer Wohnung im Schönroder Steintal. Sie hastet bis ins Dachgeschoss, schließt die Wohnungstür auf, eilt ins Bad, wirft sich Wasser ins Gesicht, rubbelt feucht durch ihre Haare, cremt sich ein, schminkt sich. „Die gelbe Bluse geht noch, der braune Rock sowieso.“ Dann stopft sie sich drei Schokoriegel, zwei Äpfel und eine Banane in eine kleine Kühltasche und greift sich zwei Flaschen Wasser – eine für die Hinfahrt, eine für die Rückfahrt. Flugs verlässt sie ihr neues Zuhause, steigt in ihr weißes E-Auto und surrt nahezu lautlos in Fahrtrichtung weiter. „In zweieinhalb Stunden bin ich in Berlin“, denkt sie. Durch ihren Kopf schwirren die Buchstabenkombinationen PO und PI. Für Radiohören hat Maggie keinen Nerv. Sie braucht einfach nur Ruhe, Ruhe zum Nachdenken.
Doch lange währen ihre Gedankengänge nicht, denn vor ihr stehen gut fünf Fahrzeuge, die mit stückweisem Hin- und Herfahren versuchen zu wenden. Erst jetzt bemerkt Maggie den Grund für die wilden Kurvereien. Quer über der Straße lagert ein ausgewachsener Baum. Maggie Mistel steigt schlagartig aus ihrem Wagen, das Handy in der Hand. Sie rennt beinahe bis zu dem umgestürzten Ungetüm. Sie drückt auf „Video“ und filmt das Geschehen: den Baum, die Umgebung, die Leute. Mistels Blut gerinnt vor Schreck in den Adern. „PI“ steht mit großen gelben Buchstaben fein säuberlich auf dem Stamm. Zwischen den Ästen, dekorativ drapiert, hängt ein weißes Modellflugzeug. „Airbus A320“, liest Mistel. Dann stellt sie sich mit ausgestreckten Armen vor den Baum. „Das ist ein Tatort! Bitte zurücktreten!“, obwohl sich gerade niemand direkt an der Straßensperrung aufhält. Mistel informiert ihre Dienststelle. Schnell holt sie aus dem Kofferraum rot-weißgestreiftes Absperrband und sichert den Baumriesen. Dann ruft sie Paula an: „Paula Preisel, bitte kommen Sie schnell ins Steintal! Hier liegt ein neuer Hinweis.“
Das komfortable Hotel „First Förster“ steht am Rande von Schlittenbach. Plumpernickel gefällt das weitläufige Restaurant mit seinen großzügigen Panoramafenstern aus dunklem Holz. In der ersten Etage und im Dachgeschoss befinden sich die Gästezimmer. Es riecht nach süßem Gebäck und Kaffee, als Polizeihauptmeister Plumpernickel die Rezeption betritt. „Ein einladender Duft“, begrüßt er die Dame am Empfang freundlich.
„Einen schönen guten Tag, der Herr! Was kann ich für Sie tun?“
Plumpernickels Bauch knurrt. „Kann ich mit Ihnen vielleicht einen Cappuccino trinken?“
„Einen Kaffee können Sie gern bei uns trinken. Aber ich muss hier leider die Stellung halten.“
„Und wenn Sie Ihre Stellung für ein paar Minuten ändern?“
„Sie gehen ja forsch ran, guter Mann!“, meint die junge Dame mit einem prüfenden Augenaufschlag.
„Ach ich, nein! Ich bin nur hier wegen eines Mannes!“
„Eigentlich vermitteln wir hier nicht! Aber ich kann ja mal im Massagebereich nachfragen. Der Manfred hat manchmal so spezielle Kunden …“
„Mann-Fred, verstehe“, sagt Plumpernickel. „Klappt es nun mit dem Cappuccino oder nicht? Hier ist mein Ausweis!“ Poseidon streckt der Dame seinen Dienstausweis entgegen.
„Polizei! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Soll ich die Chefin rufen?“
„Später!“
„Dann kommen Sie bitte!“ Die Empfangsdame geht dem Polizisten voraus und geleitet ihn in das rustikale Restaurant. Sie bestellt für Poseidon einen Cappuccino.
„Noch einen Apfelkuchen bitte! Der in der Vitrine schaut unglaublich lecker aus!“ Plumpernickel rückt einen gepolsterten Stuhl beiseite und setzt sich. „Wie ist denn Ihr Name?“
„Hanni Hase-Müller!“
„Können Sie sich an diesen Gast erinnern?“ Plumpernickel zieht sein Handy heraus, tippt auf das Foto von Unterschädel und reicht es der Dame.
„Ach ja, das ist doch dieser Herr, eh, Unterkiefer, oder so! Ja, der hat vorgestern bei uns eingecheckt. Was ist mit ihm?“
„Unterschädel, heißt der Mann, Ulmer Unterschädel“, korrigiert Plumpernickel. „Oh, danke für den Kaffee! Wie der Apfelkuchen duftet!“ Poseidon löffelt den leckeren Milchschaum. „Herr Unterschädel ist verschwunden!“
Hanni guckt erschrocken.
„Ist Ihnen an dem Mann etwas aufgefallen?“
„Nein! Er sah ein wenig blass aus. Er meinte, er wolle beim Wandern durch die Natur zu sich selber finden und er wolle auf keinen Fall, dass ihm jemand nachspioniert. Ich sollte also niemandem verraten, dass er hier für ein paar Tage logiert.“
„Interessant“, äußert Plumpernickel. „Der Kuchen ist ein Gedicht, schmeckt fast wie Apfelstrudel! Wann haben Sie Herrn Unterschädel das letzte Mal gesehen?“
Frau Hase-Müller überlegt: „Gestern Nachmittag, da ist er los zum Wandern. Er wollte zum Abendessen wieder zurück sein.“
Plumpernickel isst mit wenigen Happen den Kuchen auf, kippt den Cappuccino in sich hinein und überreicht Frau Hase-Müller einen Zehn-Euro-Schein. „Darf ich mir Unterschädels Zimmer ansehen?“
„Ja, na klar!“ Hanni Hase-Müller steht auf und führt Plumpernickel durchs Hotel. Sie steigen die mit rotem Teppich beklebten Stufen hinauf. „Hier gleich das erste Zimmer rechts!“ Hanni öffnet es mit einem Generalschlüssel. „Das Zimmer wurde heute Morgen geputzt.“
„Mist!“, entfleucht es Poseidon. Dennoch zieht er sich Handschuhe über und betritt das Dachgeschosszimmer. Rustikale Holzmöbel, Laminatboden, alles sehr sauber und ordentlich. „Hier liegt aber auch gar nichts rum“, sinniert Plumpernickel. Grinsend tappt er zum Bett, greift nachdem sorgfältig gefalteten Schlafanzug und sichert ihn in einer Tüte. Dann geht Poseidon auf die Knie und kriecht zwischen Bett und Regalwand. „Oh, die guten ´Harzer Feuertropfen`!“, streckt sich Poseidon und angelt vom unteren Regalbrett eine nur noch zu einem Drittel gefüllte Kräuterlikörflasche. „Da hatte aber einer Verdauungsprobleme!“
„Muss nicht sein, den kann man auch so trinken, ist was Regionales“, verteidigt Hase-Müller die Küche des Hauses.
„Offensichtlich hat er die Flasche nicht allein gepichelt“, stellt Poseidon fest und fingert zwei schmale Schnapsgläser unterm Schrank hervor.
„Oh, das hat die Putzkraft wohl übersehen“, entschuldigt sich Hase-Müller.
„Da freut sich der Polizeihauptmeister“, grinst Poseidon und sichert seine offensichtlichen Beweisstücke.
„Sagen Sie Hanni Hase, war der Herr Unterschädel allein, als er das Hotel verließ?“
„Ich weiß nicht?“, zuckt Hanni mit den Schultern. „Aber wir haben eine Kamera am Eingang. Vielleicht ist da was drauf?“
„Kamera!“, platzt es aus Plumpernickel heraus. „Ja warum denn nicht gleich so, Hanni Hase?“
„Da muss ich aber die Chefin rufen. An die Kamera darf ich nicht ran!“ Frau Hase-Müller eilt die Treppe runter, biegt in Richtung Küche ab und verschwindet eine Weile. Alsbald kommt sie wieder mit einer rundlichen Dame im Blumenkostüm.
„Gestatten, ich bin Hella Honigtopf! Ich leite dieses Hotel seit ein paar Jahren.“
„Angenehm, ich bin Poseidon Plumpernickel, Polizeihauptmeister. Einer Ihrer Gäste wird vermisst, der Herr Ulmer Unterschädel. Er wurde von Ihrer Angestellten Hanni Hase-Müller gestern Nachmittag das letzte Mal gesehen. Ihre Kollegin meint, Sie hätten eine Kamera für den Eingangsbereich …“
Hella Honigtopf greift sich in die blonden Locken. „Kamera, ja die haben wir. Nur leider ist sie unserer Putzfrau beim Staubwischen runtergefallen. Peng! Im Eimer!“ Seitdem hängt da oben nur noch die äußere Hülle. Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir eine neue zu installieren.“
Plumpernickel ist enttäuscht. „Ich weiß schon, warum ich zu Hause nicht so oft Staub wische, es könnte etwas kaputtgehen. Trotzdem herzlich Dank, Ihnen beiden für die Auskünfte! Einen schönen Tag noch!“, verabschiedet sich Poseidon und verlässt trotz der nicht vorhandenen Kameraaufnahmen zufrieden das „First Förster“.
Erst jetzt kontrolliert Plumpernickel sein Handy, das in seiner Jackentasche bereits mehrfach vibriert hat.
„´PI` steht auf dem Baumstamm vor Mistels Auto, Steintal, Schönrode. Ich fahre da jetzt hin, Paula.“
Plumpernickel ist entsetzt. „Fotos?“, schreibt er zurück. Schon trudeln nach und nach Maggies Bilder vom Tatort ein. Sogar ein Video ist dabei.
Plumpernickel geht zum Dienstwagen, setzt sich hinein und schaut sich alles an. „Da, wieder diese Buchstaben in Wespengelb, nein Bienengelb! Auch hier der frisch gefällte Stamm einer bereits toten Fichte! ´PI` bedeutet wohl tatsächlich Pilot. Warum sonst sollte ein Spielflugzeug zwischen den Zweigen klemmen? Paula kennt sogar den Namen des Piloten!“
Plumpernickel sieht sich seine Ausbeute an: ein Schlafanzug von Unterschädel, eine Flasche Harzer Feuertropfen und zwei passende benutze Schnapsgläser. „Den Fusel bringe ich ins Labor zu Lars Lupe. Den Schlafanzug behalte ich für Schnuff. Vielleicht riecht er den Braten!“, beschließt der Polizeihauptmeister und fährt zurück nach Schönrode.
Polizeiobermeisterin Paula Preisel hat ihren Besuch in der Wintergasse drei abgebrochen und ist umgehend Mistels Ruf zum Baumstamm gefolgt. Preisel wäre schon längst am Ort des Geschehens, wenn ihr nicht so viele kreuz und quer stehende Autos den Weg versperren würden. Sie pflanzt die Rundumleuchte auf ihr Dach und kurvt kunstvoll an den Wartenden und Schaulustigen vorbei, die sich in den vergangenen zwanzig Minuten hier angesammelt haben. Endlich sieht sie von Weitem das rotweiße Flatterband. „Gleich geschafft! Nur noch ein paar Meter!“
Paula stellt ihren Wagen quer über die Straße, sodass die Schaulustigen automatisch größeren Abstand vom Baumhindernis halten müssen. Dann fotografiert Preisel alles, was sie als wichtig erachtet, einschließlich der Gaffer rundherum. Schließlich bittet sie die Feuerwehr, das hölzerne Monstrum von der Straße zu räumen. „Wo steckt nur diese Mistel?“, fragt sich Paula. „Sie hat mich hergerufen und haut dann einfach ab! Keine feine Art!“ Paula verstaut das weiße Flugzeugmodell in einem riesigen Plastiksack und legt es in den Kofferraum.
Schon nach wenigen Minuten ertönt das erlösende Tatütata der Feuerwehr. Freddy Flamm winkt Paula freudig zu.
Die Passanten, die bisher noch im Weg standen, räumen freiwillig das Feld.
„Gib es zu, Paula! Ihr sägt heimlich Bäume ab, um uns zu beschäftigen! Stimmts oder habe ich recht?“
„Klaro Freddy! Vorher bemalen wir sie mit gelben Buchstaben und hängen Deko in den Baum, beinahe wie Weihnachten!“
„Wie wären Ostereier?“, lacht Freddy Flamm.
Seine Kollegen springen aus dem Auto, werfen die Kettensäge an und zerteilen den alten Fichtenstamm in tragbare Stücke, die sie am Straßenrand aufstapeln.
„Falls die Leute hier ihr Kaminholz aufstocken wollen“, witzelt Flamm.
Paula zwinkert: „Dann kann ich ja wieder abdampfen, habe viel zu tun! Du weißt ja, es sind Leute verschwunden!
„Dann such sie, Osterhasi! Bis zum nächsten Baum!“, ruft Freddy, der nun vorbildlich die Holzreste von der Straße fegt.
„Es ist ein Unterschied, ob man essen darf oder essen muss“, sinniert Ulmer Unterschädel. Seit seinem Erwachen vor vielleicht sieben Stunden hat er zehn Knödel, einen Liter Bratensaft mit Fleischresten, zwei nicht vollständig abgeknabberte Haxen, eine Schüssel mit kalten Bratkartoffeln und eine Kanne Vanillesoße in sich hineingekippt. Ihm ist schlecht und er hat das dringende Bedürfnis, sich auf ein Klo zu setzen.
Seine Gedanken scheinen erhört worden zu sein, denn es scheppert an der Stahltür und zwei kräftige Vermummte treten in den Keller. Wortlos schleifen sie den Gefangenen zur Tür hinaus, in einen langen Gang, von dem eine Tür zu einem fensterlosen, grün gestrichenen Raum mit einem Wasserklosett führt. Die zwei Gestalten schubsen Ulmer in den winzigen Betonraum, schließen die Tür ab und warten offenbar, bis er da drin fertig ist. Das dauert eine Weile. Unterschädel drückt die Spülung. Sofort öffnen die Gangster die Klotür, ergreifen den Entführten, schieben ihn zurück in Richtung Europaletten-Bett und ketten ihn wieder fest. Sie verzichten dabei auf die lästigen Fuß-Stricke, denn die sind einfach nur unpraktisch!
Eigentlich wollte Unterschädel etwas fragen, irgendwas. Doch schon wird ein Wattebausch auf seine Nase gepresst und er versinkt in einen tiefen Schlaf.
„Oh, Zeit nach Phil zu schauen! Karla hat gleich Feierabend“, schwirrt es durch Plumpernickels Kopf. „Anschließend kann ich mit Schnuff Gassi gehen.“
Poseidon lenkt den Dienstwagen an den südöstlichen Stadtrand von Schönrode. Er parkt vor dem sanierten, weiß gestrichenen Einfamilienhaus mit rotem Spitzdach. Mit Unterschädels eingetütetem Schlafanzug im Arm öffnet er die hölzerne Gartenpforte. Noch bevor er an der Haustür ankommt, reißt auch schon ein kesser Achtjähriger mit blauen Osterhasenohren die Tür auf.
„Halt! Hier kommen nur Hasen herein!“, bestimmt der Junge mit den aufgesteckten Hasenohren im Türrahmen.
„Das wollen wir doch mal sehen!“, erwidert Poseidon.
„Stopp!“, mahnt Phil. „Zeig erst deine Vorderbeine!“
Poseidon streckt seine Arme aus.
„Jetzt die Hinterbeine!“
Poseidon schiebt sein rechtes Bein nach vorn.
„Soso, also gleichlang, schlechtes Zeichen! Nun die Ohren!“
Plumpernickel dreht seinen Kopf nach links und rechts.
„Die Ast-Frisur hat was!“, lacht Phil. „Die Ohren sind aber viel zu kurz! Kannst du sie bewegen?“
„Was?“
„Die Ohren!“
Plumpernickel versucht es.
Der Junge stöhnt: „Nur ein jämmerliches Wackeln! Nun die Nasenkontrolle!“
Plumpernickel hält geduldig seine Nase in den Türspalt.
„Kein Y – ganz schlecht!“, beurteilt Phil. „Jetzt die Vorderzähne, zeig her!“
Poseidon fletscht die Zähne.
„Auch zu kurz! Nein, so etwas! Nun zeig deinen Schwanz!“
Plumpernickel reißt die Tür auf. „Jetzt reichts!“
„Ach Papa! Das habe ich heute alles von Karla gelernt. Wusstest du, dass Hasen ihre Ohren bewegen können?“
„Nein, Bio war nie mein Lieblingsfach“, gibt Poseidon zu.
„Was war denn dein Lieblingsfach?“
„Mathe, da gab es nur richtig oder falsch, kein stupides Auswendiglernen, reines logisches Denken, das spart Zeit.“
„Aha, deswegen bist du Polizist geworden“, kombiniert Phil. „Ich werde Parfümhersteller! Ich könnte einen Duft an unsere Ostereier pinseln, dann finden sie Oma und Opa schneller.“
„Bloß nicht!“, lenkt Plumpernickel ein. „Dann kann sie am Ende keiner mehr essen!“
„Das kommt auf den Duft an, Papi Poseidi! Wenn ich einen 1A-Käsegeruch hinkriege … Welchen Geruch magst du denn am liebsten?“
Poseidon überlegt: „Bier, Apfelstrudel, Sauerbraten, Bratwurst und Kaffee natürlich!“
„Registriert, Papa! Willst du mal sehen, was wir heute alles gebastelt haben, die Karla und ich?“
Poseidon geht um die Ecke zum großen Esstisch und denkt, es trifft ihn der Hammerschlag: Klebetuben, Buntpapierschnipsel, Perlen, Glitzersteine, Glitzerpulver in allen Farben, Schalen zerbrochener ausgeblasener Eier, Moosgummi …
„Wir haben eine alte Plastikdecke daruntergelegt, damit der schöne Tisch nicht verklebt.“
„Gut, dass ihr daran gedacht habt“, versucht Poseidon seinen gedachten Meckeranfall in ein Lob umzumünzen.
„Wer räumt das auf?“
„Wir“, entgegnet Phil, „aber erst morgen! Karla hat gesagt, wenn wir morgen weiterbasteln, lohnt sich das Aufräumen nicht.“
„Recht hat sie“, beruhigt sich Plumpernickel. „Wo wollen wir nachher zu Abend essen?“
„Na auf dem Sofa, vor dem Fernseher! Da haben wir auch schon Mittag gegessen.“
„Aha! Was gab es denn?“
„Pizza!“
„Mist!“, denkt Poseidon, denn genau das wollte er gerade vorschlagen. „Was wollen wir denn gleich vertilgen, mein Phili-Boy?“
„Rührei! Was sonst? Wir haben mindestens zwölf Eier ausgeblasen!“
Poseidon testet seinen Jungen. „Weißt du denn, wie Rührei geht?“
„Ach Papa, du nimmst ein Ei und rührst es um – Rühr–Ei, verstehst du?“
„Das habe ich mir fast gedacht. Na gut! Warum nicht? So ein leckeres Rührei am Abend ist etwas Feines! Was meinst du, wollen wir gleich die Eier umrühren und essen? Ich muss mit Schnuff nämlich dringend noch raus! Das kann länger dauern.“
Phil ahnt: „Soll er für dich wieder die Arbeit erledigen?“
„Sozusagen,“ lächelt Poseidon. „Wozu sonst kriegt er täglich sein delikates Hundefutter?“
„Und seine Wurmkur“, ergänzt Phil.
„Richtig, die auch! Da kann er sein Gassi-Gehen mit einem kleinen Schnüffel-Spiel verbinden.“
„Hast du deswegen diese moderne Schlafanzughose mitgebracht? Ich dachte schon, du kriegst heute Damenbesuch!“
Plumpernickel schüttelt den Kopf. „Keine Dame in Sicht!“
„Auch nicht die Preiselbeere?“, grinst Phil.
„Du musst wissen, Phil, mein Junge, Dienst ist Dienst und …“
„Schnaps ist Schnaps, heißt es doch“, weiß Phil, „und nicht Dame ist Dame!“
„Das ist nicht so einfach mit den Frauen! Wer weiß, vielleicht kann ich Paula einmal überreden, mitzukommen.“
„Hast du sie schonmal gefragt?“
„Was?“
„Na ob sie uns besuchen will!“
„Nö!“
„Warum?“
„Schluss! Wir braten uns jetzt ein deftiges Rührei mit Schnittlauch und Schinkenwürfeln. Das ist fast vegetarisch! Nur ein Quadratzentimeter Tier ist dran!“
„Es wird Zeit Papa, dass du auf die Tiere im Essen ganz verzichtest. Du weißt doch, wie sie leiden müssen.“
„Ja, ich leide auch immer, wenn es nach Bratwurst riecht.“
„Da bricht jedes Mal der Tyrannosaurus Rex in dir los. Stimmts?“
„So ungefähr“, lacht Poseidon und rührt ein köstliches Rührei in einer großen Pfanne zusammen. Phil und Poseidon genießen vor dem Fernseher die Eierspeise und finden, dass es Ostern ruhig fünfmal im Jahr geben sollte.
Während sich Phil einen Kinderfilm ansieht, sucht Poseidon seine Sachen zusammen. Weil er nicht weiß, wohin ihn Schnuffs Spürnase gleich führt und wie lange der Ausflug dauert, zieht er den dick gefütterten grünen Parka mit den vielen Seitentaschen an. Da hinein steckt er eine Taschenlampe, eine Handvoll Hundefutter, eine Flasche Wasser und eine Packung Vitaminbonbons. Flatterband und Tüten für verdächtige Stellen und etwaige Fundstücke hat er sowieso dabei. Zum Schluss legt er seine Dienstwaffe an. „Vorsicht ist die Mutter der Polizeipiste“, weiß Poseidon.
Schnuff, der die ganze Zeit im Wintergarten gedöst hat, kommt nun schwanzwedelnd und winselnd in den Flur getappt, weil er weiß, dass Herrchen gleich mit ihm Gassi geht.
„Wir machen unseren Abendspaziergang heute in Schlittenbach, mein Schöner. Da spielen wir wieder ´Such den Duft`!“
Poseidon greift nach der Hundeleine, öffnet die Haustür, lässt Schnuff hinaus und öffnet von Ferne den Kofferraum. Schnuff weiß Bescheid und hopst mit einem Satz in den Transportkäfig. Plumpernickel lobt seinen vierbeinigen Freund, klappt die Heckklappe herunter, setzt sich ebenfalls ins Auto und ab geht’s nach Schlittenbach.
Nach einer knappen halben Stunde hält Plumpernickel an der Brockenstraße, genau auf dem Gästeparkplatz des Nobelhotels „First Förster“.
„O ha, es ist schon halb sieben, Schnuffischnuff! In einer Stunde geht die Sonne unter. Da müssen wir Gas geben, Hundi! Hier habe ich einen stinkigen Schlafanzug für dich. Schnuppere mal! Riecht der nicht muffelig? Ei! Nun such fein das Mufflon! Such! Such Schnuff! Auf!“ Plumpernickel lässt seinem Mischling freien Lauf.
Der spurtet zielstrebig in Richtung Hoteleingang.
„Ja, mein Guter! Das ist schon richtig! Nun suche weiter!“ Wieder hält ihm Plumpernickel die Schlafanzughose vor die Schnauze.
Schnuff rennt um das Gasthaus herum, setzt an jeder Ecke seine Marke und bellt und bellt. Dann wirbelt er wieder um das gesamte Gebäude, setzt einen Haufen direkt vor das Kellerloch und blickt seinem Herrchen treu in die Augen, rennt wieder los und bellt.
Ein älteres Ehepaar tritt ans Fenster. „Ja kann man hier nicht mal seine Ruhe haben? Halten Sie gefälligst ihren Köter im Zaum, sonst hole ich die Polizei!“
„Tun Sie das!“, ruft Plumpernickel entnervt nach oben, zieht einen Hundekackbeutel aus der Tasche und grapscht nach dem warmen Stinkhaufen. Er hasst das. Deswegen geht er lieber mit Schnuff in den Wald. „Dass er ausgerechnet hier, am Hotel …!“, barmt Poseidon und wirft die Tüte in den Hundeklo-Eimer an der Straße. Als sich Poseidon umsieht, ist Schnuff verschwunden. Plumpernickel läuft um das ganze Gebäude – kein Hund.
„Da ist er, ihr Kack-Köter!“, schreit der ältere Herr von oben und zeigt auf die Brockenstraße.
„Danke!“, versucht Plumpernickel zu lächeln.
Schon sprintet ein fetter weißer Pudel mit rosa Schleifchen an ihm vorüber, hinterher hetzt sein Schnuff.
Noch bevor Poseidon irgendetwas unternehmen kann, pöbelt ihn eine weißblonde Dame in weißer Steppjacke an: „Ja nehmen Sie Ihren ordinären Kläffer doch an die Leine, wenn er sich nicht beherrschen kann!“
Plumpernickel schreit: „Aus! Platz Schnuff!“
Augenblicklich stoppt Schnuff ab und setzt sich mitten auf die Straße, während der weiße Pudel stürmisch um die parkenden Autos wuselt und auf den Bürgersteig macht.
„Mein Schnuff braucht keine Leine. Er gehorcht aufs Wort! Nur manchmal geht der Trieb mit ihm durch. Daran arbeiten wir noch“, erwidert Plumpernickel, legt seinem Hund die Leine an und spaziert weiter die Brockenstraße herunter.
Hinter ihm hört er, wie die Frau im weißen Anorak verhalten „Mischlings-Pöbel“ ruft.
„Echt rassistisch, diese Dämlichkeit“, denkt sich Poseidon, dreht sich aber nicht um. Stattdessen wendet er sich an seinen Hund: „Für dein Bellkonzert verdienst du kein Leckerli. Aber du hast erschnüffelt, dass unser Schlafanzughosenträger offensichtlich sehr intensiv im „First Förster“ unterwegs war, dafür gibt es natürlich Happahappa“, erklärt Poseidon, fasst in seine Hundefuttertüte und fingert einige leckere Stückchen heraus. Dann greift er nochmals zu Unterschädels Schlafhose. „Magst du noch einmal schnuffeln? Ist doch nur noch ein Spiel! Hier Schnuffi-Schnuff, fein am Schlafanzug riechen und ab geht die Post! Wenigstens war das Wetter heute im Ort stabil – kein Sturm, kein Regen. Nur oben am Gelben Brink war es zugig, wie immer.“
Schnuff schnüffelt, dreht sich und läuft plötzlich zielstrebig am Straßenrand entlang, mit den Pfoten immer leicht auf dem Grünen. Plumpernickel freut sich und hält seinen Hund an der Leine. So hat er sich das Gassi-Suchen vorgestellt. Der Rundlauf um das „First Förster“ und der Vorfall mit der Pudeldame haben ihn viel Zeit gekostet. „In einer guten halben Stunde wird es dunkel“, weiß Plumpernickel. „Wenn mich Schnuff in den Wald hineinführt, dann brennt da keine einzige Lampe! Egal! Jetzt schwirren noch feinste Duftmoleküle von Unterschädel durch den Harz. Schon morgen kann es regnen und die zarten Duftteilchen lösen sich quasi in Luft auf“, geht es dem Ermittler durch den Kopf.
Schmunzelnd greift sich Plumpernickel an seine Jackentasche, in der eine licht-starke LED-Lampe auf ihren Einsatz wartet. Er denkt an die klobigen Lampen von früher, die fast ein halbes Kilo gewogen haben. Die Lichtausbeute seiner Minilampe ist extrem gut. „Ein Glück, dass ich kein armes Rehlein bin, das mitten im Wald von grellen Taschenlampen im Dunkeln heimgesucht wird“, denkt Poseidon und stapft seinem Hund hinterher.
Inzwischen haben sie die Brockenstraße längst verlassen. Dennoch laufen beide auf einem gut befahrbaren Weg gen Nordosten. „Fein Schnuff! Nochmal schnuppern, hier!“ Weiter führt die Fährte immer bergauf und immer gen Norden.
Poseidon schwitzt. Hier an einem kleinen Plateau gönnt er sich eine Pause. Schnuff erntet ein Leckerli und Poseidon schiebt sich ein Vitaminbonbon in den Mund. „Die Sonne geht unter, Hundi! Schau! Ist das nicht romantisch hier oben?“
Poseidon atmet durch und genießt! Sein Blick wird magisch angezogen vom orange-gelb-leuchtenden Himmelsspektakel. Die gelb-rote Sonne schiebt sich majestätisch hinter den König der Harzer Berge, den Brocken. Wie ein mächtiger schwarzer Riese thront er zwischen den intakten, gefallenen und in Stümpfen aufragenden Fichten, die das kunstvolle Bild bizarr umrahmen. „Wahnsinn“, durchfährt Poseidon ein wohliger Schauer. Für einen Augenblick lässt er sich fasziniert verzaubern.
„Krach!“
Poseidon fährt zusammen.
Schnuff steht wie angewurzelt und spitzt die Ohren.