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Das Buch Harzkrimis umfasst fünf spannende, amüsante Kriminalfälle für Kinder ab neun Jahre. Der Harz ist ein Gebirge, durch das sich die Bode sprudelnd ihren Weg durch die Bergwelt bahnt. Hier zwischen dunklen Wäldern und Felsen tummeln sich inmitten der Bewohner und Wanderer auch Schurken und Ganoven. Sie zu fangen, hat sich Polizeihauptmeister Poseidon Plumpernickel auf die Fahne geschrieben. Wenn Kinder in die Fänge von Verbrechern geraten, sieht er Rot! Poseidon ist schließlich selber Papa. Gleich fünf Kriminalfälle löst er mit viel Bauchgefühl und Witz. Seine Kollegin Paula Preisel und sein Spürhund Schnuff helfen ihm bei der Jagd nach den Schurken. Das Brockengespenst: Kai verliert beim Aufstieg auf den Brocken im dichten Nebel seine Familie. Er begegnet dem Brockengespenst und dem Wetterwart Willi Wolkenberg. Kais Familie schwebt in Gefahr, denn ein gemeiner Räuber treibt sein Unwesen. Der Bär in der Tannenhöhle: Brando folgt einem geisterhaften Wesen, das nahe der Schule lauert. Seine Fährte führt durch den Wald in eine Höhle. Karli und Theo wollen Brando aus den Klauen des mutmaßlichen Entführers befreien und geraten dabei selbst in Gefahr. Hahnenschrei an der Teufelsmauer: Für das alljährliche Teufelsmauerspiel an der Teufelsmauer braucht Lehrer Lockenkamm einen zufälligen Hahnenschrei. Die Kinder sind gefordert. Ein echter Hahn wäre die passende Lösung. Doch der grantige Hühnerzüchter Schäler, der Müll-Müller und der Hähnchenverkäufer sind nicht erbaut von diesem Vorhaben. Tobi gerät bei seiner Suche in eine lebensbedrohliche Notlage. Spuk in der Bussardburg: Vier Kinder verschwinden während eines Museumsbesuchs auf dem Gelände der Bussardburg. Die Kinder können sich selbst befreien. Die Verbrecherbande braucht neue unschuldige Kinder, denn die sollen einen sagenumwobenen Schatz aus einer Höhle im Selketal bergen. Nebel auf der Harzbodebrücke: Der Edelsteinschleifer Jakob Jost kommt zufällig in den Besitz eines der größten rosafarbenen Diamanten der Welt. Er schleift daraus einen wundervollen Stein Rosen-Herz. Seine Tochter Jette erhält ihn zu ihrem achtzehnten Geburtstag. Jette bindet sich die funkelnde Herz-Kette sofort um den Hals. Mit ihren Freundinnen betritt sie bei dichtem Nebel die Harzbodebrücke, die hundert Meter über dem Tal schwingt. Als ihre Freundinnen die andere Seite der Brücke erreichen, ist Jette spurlos verschwunden.
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Seitenzahl: 369
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Das Brockengespenst
Der Bär in der Tannenhöhle
Hahnenschrei an der Teufelsmauer
Spuk in der Bussardburg
Nebel auf der Harzbodebrücke
Clara wirft sich auf ihre rosafarbene Einhorn-Decke, um schnell noch Brummi in den grünen Rucksack zu stecken. „Mist, jetzt kriege ich ihn nicht mehr zu!“, jammert sie und lässt Brummi mit dem Kopf herausgucken.
„Na, Clärchen Kükenhagen? Gibt es Dinge, die du nicht eingepackt hast?“, unkt Kai und kickt seinen schwarz-gelb gepunkteten Rollkoffer durch den Flur. Denke dran, wir haben Oktober und nicht Winter! Deine Gitarre kannst du ruhig zu Hause lassen.“
„Als ob ich meine Gitarre in den Rucksack stopfen würde, pah! Achtjährige brauchen eben mehr Spielzeug als Zehnjährige!“, weiß Clara und schiebt noch eine Rolle Traubenzucker in die Seitentasche. „Außerdem ist es kalt auf dem Berg!“
Vater Steffen grinst: „Ihr tut so, als würden wir zwei Wochen zelten! Dabei geht es nur fürs Wochenende zum Opa.“ Steffen wirft einen skeptischen Blick auf die fette Reisetasche seiner Frau.
Sonja ahnt eine im Raum schwebende überflüssige Bemerkung ihres Mannes und beugt vor: „Die halbe Tasche ist voll mit Allgemeinheits-Krempel. Am Ende heißt es nämlich: ´Mama hast du mal dies oder gib mal das!` Außerdem kann ich endlich meine schöne neue Steppjacke einweihen – weiß mit rotem Reißverschluss, das trägt nicht jeder!“ Sonja verteidigt sich, ohne richtig bei der Sache zu sein, denn im Radio wird der neueste Stand zum Raub im Schloss Schönrode berichtet. Sonja dreht das Radio lauter:
„Hinsichtlich des Kunstraubs in Schönrode tappt die Polizei immer noch im Dunkeln. Gestohlen wurde die mit Diamanten besetzte Spieluhr des Grafen Ludwig zu Bimsberg-Schönrode. Die Spieluhr zeigt den Harzer Brocken, in den ein kleiner Geist aus geschliffenem Glas eingearbeitet ist, weswegen das Kunstobjekt auch als ´Brockengeist` bezeichnet wird.“
„Aber es heißt doch Brocken gespenst!“, ruft Clara aus ihrem Zimmer.
Steffen schüttelt den Kopf. „Das ist etwas anderes. Lass dir das am besten von Opa erklären, der kennt sich damit aus.“
Sonja holt tief Luft. „Man ist sich seines Lebens nicht mehr sicher! Na ja, wir fahren nur zu Opa, da ist nichts Wertvolles zu holen. Mit Gaunern und Dieben werden wir es dort sicherlich nicht zu tun bekommen.“
Steffen findet: „Du hast den Beruf verfehlt! Aus dir wäre bestimmt eine gute Kriminalistin oder Detektivin geworden. Nun wird es aber Zeit, dass wir endlich loskommen, egal mit wie viel Gepäck, Hauptsache raus hier!“ Steffen verstaut die Taschen und Koffer im Auto. „Alles einsteigen bitte! Die Kutsche fährt in drei Minuten ab.“
„Oh, eine Kutsche!“, flötet Clara. „Dann wollen wir den Kutscher nicht länger warten lassen. Ist Kai, der alte Gaul, schon eingespannt?“
Kai wiehert: „Nein, meine Lady! Der Hengst setzt sich neben die holde Dämlichkeit auf den Rücksitz!“
Sonja witzelt: „Dann schwinge ich mich nach vorn zum Kutscher auf den Bock. Lasst uns lostraben! Alles anschnallen bitte!“
Steffen startet den Wagen.
Rasch geht die Fahrt hinaus aus der Stadt, rein in den Wald, links, rechts, bergauf, bergab und wieder hinauf, noch höher, vorbei an kleinen bunten Holzhäusern bis zu einem schwarzen, schiefen Holzhaus mit grünen Fensterläden am Rande von Schierke.
Sonja steigt aus dem Wagen. „Wow, diese Ruhe! Die Waldluft! Die Aussicht auf den Wald! Ich liebe es!“ Sie läuft durch das kleine Tor nach hinten in den Garten. Das ist ihr Zuhause! Sie genießt den Blick auf die Bäume, das Vogelgezwitscher und den Duft nach Wald und Holz. Sie saugt die frische Luft ein und lächelt – hier hat sie so lange gewohnt.
Opa Bruno tritt aus der Haustür. „Ja wer kommt denn da in meine Arme gelaufen?“, juchzt er und schwingt seine kleine Enkeltochter durch die Luft.
„Darf ich auch mal?“, fragt Kai, nimmt Anlauf, stoppt aber rechtzeitig vor Opa ab, umarmt und begrüßt ihn.
„Tag, mein Oberindianer!“, lacht Bruno. „Wie geht es dir? Du meine Güte, du bist ja bald so groß wie ich! Was gibt dir denn deine Mutter zu essen, ´Wachs`-Bohnen?“
„Klar!“, lacht Clara. „Die solltest du auch essen, denn Opas schrumpfen sonst wieder ein!“
Steffen wirft seiner Tochter einen scharfen Blick zu. „Clara!“
„Wo sie recht hat, hat sie recht“, schmunzelt Opa. „Mit alten Leuten ist es so wie mit einem Baumwollpullover im Kochwaschgang, sie gehen ein. Aber geistig, meine Lieben, bin ich noch voll auf der Höhe! Da müsst ihr erst mal an mich rankommen!“
„Dafür kann ich besser mit dem Handy umgehen als du“, stichelt Clara.
„Aber ich bin schneller im Kopfrechnen“, kontert Opa. „Nun aber ab ins Haus, denn ich habe extra für euch einen Marmorkuchen gebacken.“
„Ist der so hart wie Marmor?“, erkundigt sich Kai.
Clara saust in die Küche. „Lecker! Wie das duftet! Du kannst deinen Marmor gerne an mich abtreten, ich mag Schoko-Vanille-Steine!“
Kai protestiert: „Vergiss es! Das kann ich dir nicht zumuten, Schwesterherz. Mein Stück übernehme ich lieber selber.“
Familie Kükenhagen setzt sich an den gedeckten Kaffeetisch. Zum Kuchen gibt es Kaffee, Kakao und aufgeschnittene frische Äpfel.
„Ihr wollt jetzt gleich auf den Brocken wandern?“ Opa schneidet den Marmorkuchen an und legt jedem ein großes Stück auf den Teller.
„Klaro!“, nickt Kai und schmatzt. „Mit Schokoglasur – extrem lecker, Opa! Da muss ich ordentlich reinhauen, damit ich es bis nach oben schaffe.“
Sonja lacht: „Wir werden dich an die Leine nehmen müssen, damit du uns nicht abhaust!“
Clara erlaubt: „Du kannst mich gern ziehen.“
Steffen schnappt sich ein Stück Apfel. „Wenn wir jetzt losgehen, sind wir rechtzeitig zum Abendessen wieder hier.“
„Kommst du mit, Opa?“, fragt Clara und zwinkert ihrem Opa zu.
„Na klar! Ich wandere jede Woche hoch zum Gipfel. Das hält mich fit! Runter fahre ich meist mit der Brockenbahn.“
„Opa dampft ab“, albert Clara.
„Ja, Dampflokfahren ist heutzutage etwas ganz Besonderes!“, betont Opa Bruno. „Wer weiß, vielleicht fahren bald nur noch Dieselloks?“
Sonja leckt die letzten Krümel vom Teller und steht als Erste auf. „Lasst uns alles einstecken, was wir mit auf die Wanderung nehmen wollen!“
Steffen zählt auf: „Wasser, Proviant … Clara, nimmst du deinen kleinen Rucksack mit?“
„Ja, mit Powerriegel, Taschenlampe, Wasser, Steppjacke und Schal!“, ruft Clara. „Papa! Kai geht ohne alles!“
Kai spielt lässig auf seinem Handy und murmelt: „Brauche nichts, auf dem Berg hole ich mir einen Kakao und eine Bockwurst. Geld habe ich in der Hosentasche.“
Sonja ist genervt. „Mach was du willst, aber glotze beim Wandern nicht permanent auf dein Handy!“
„Es wird dich überraschen, aber ich lasse mein bestes Stück sogar hier! Sonst fällt es mir aus der Hosentasche, zack auf einen Stein und bis Weihnachten ist es eine halbe Ewigkeit! Wie weit ist es eigentlich bis ganz nach oben?“
Bruno weiß es genau. „Über fünf Kilometer sportlicher Anstieg! Steckt unbedingt warme Jacken ein!“
Kai protestiert: „Mann Opa, hier sind fast fünfzehn Grad Celsius, da brauche ich doch keine Winterjacke! Schau hier, mein blauer Hoodie!“
Opa versteht nicht. „Was für ein Huti, ein Hut?“
„Ein Sweatshirt mit Kapuze, Opa – ein Pullover mit Hut dran“, erklärt Kai.
Opa versucht, Kai zu überreden. „Junge, auf dem Brocken ist es richtig eisig. Heute werden da oben maximal sieben Grad erwartet. Dazu weht auf dem Gipfel immer ein frischer Wind, der zieht durch jede Ritze!“
„Ene mene Mitze, der Wind weht durch die Ritze“, blödelt Kai und lässt sich in die Sofakissen fallen.
Sonja erinnert sich „Oh ja, auf dem Brocken habe ich schon oft gefroren, obwohl es hier unten knackig warm war. Weißt du noch, als ich Mama angebettelt habe, weil ich Kniestrümpfe anziehen wollte? Sie hat geredet und geredet und dann habe ich es trotzdem durchgezogen – Kniestrümpfe!“
Bruno erinnert sich. „Oben hast du gezittert wie ein Zitteraal. Deine Lippen waren blaugefroren, als wärst du eine Stunde lang im kalten See gewesen.“
„Mama hat mich gerettet, mit einer dicken Trainingshose und einem Anorak. Mama war eben ein Goldstück!“
„Das war sie“, lächelt Bruno. „Seid ihr fertig?“
Die Familie verlässt das gemütliche alte Holzhaus.
Bruno klemmt sich seinen Wanderstock unter den Arm und schließt die Haustür ab.
„Oh Opa, du hast ja einen Edelstein mit einer goldenen Plakette auf deinem Stock!“, wundert sich Clara.
„Da staunst du! Tja, ich bin ein Harzer Wanderkönig!“
Clara ist begeistert. „Mein Opa ist ein König! Dann bin ich doch automatisch eine Prinzessin?“
Opa schmunzelt: „Noch nicht! Aber wenn du dir an elf Harzer Wanderzielen einen Stempel abholst, kannst du den Pin einer Wanderprinzessin samt Urkunde erwerben.“
„Toll! Wie viele Stempel braucht ein Wanderkönig?“
„Fünfzig!“
„Das ist ganz schön viel“, findet Clara.
„Richtig, mein Kind!“, lacht Opa.
Sonja geht zum Gartenzaun und wirft einen Blick auf das Nachbargrundstück. „Was ist eigentlich mit deiner Nachbarin Luise? Ist sie immer noch …? Hat man sie noch nicht …?“
Bruno schüttelt den Kopf, als ein vornehmer alter Herr mit strengem Blick einen Müllsack in die schwarze Tonne steckt.
„Morgen Dagobert“, grüßt Bruno seinen Nachbarn.
„Guten Morgen, Bruno Kükenhagen!“, grüßt er zurück, kommt an den Gartenzaun und reicht eine volle Tüte Vitaminbonbons herüber.
„Nanu, so spendabel heute?“, fragt Opa skeptisch, denn Dagobert hat ihm noch nie etwas geschenkt.
„Ist gut für die Wanderung, ein optimaler Mix aus frischen Vitaminen und Halsberuhigung, probiere mal!“
„Hört sich gut an! Danke!“, erwidert Opa und steckt die Tüte in seine Jackentasche.
Eilig verschwindet Dagobert wieder in seinem gelben Holzhaus, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.
Bruno raunt: „Seit Luise spurlos verschwunden ist, benimmt er sich noch komischer als vorher. Wahrscheinlich wäre ich auch komisch drauf, wenn meine Else vermisst wäre. Nun ist sie schon seit Jahren im Himmel. Wie ich sie kenne, hängt sie ab auf Wolke Sieben, mit einem Blutorangen-Cocktail in der Hand und einem fulminanten Lächeln im Gesicht.“
Kai schiebt Opa auf den Fußweg. „Ganz bestimmt, Opa! Sie sagt gerade: ´Nun aber los, ihr Brockengespenster!` Was ist, wandern wir wieder übers Meckerloch?“
Clara zeigt ihrem Bruder einen Vogel. „Bäckerloch? Ist da ein Stand mit Zuckerschnecken, die den Berg hochkriechen?“
Kai ergänzt: „Richtig, mit Berlinern und Amerikanern, die den Brocken hochstiefeln!“
„Dann ist es wohl eher ein Leckerloch“, findet Sonja.
„Eckerloch“, korrigiert Steffen. „Leider ist da kein Bäcker und gemeckert wird auch nicht!“
Die Familie setzt sich in Bewegung. „Opa!“ Clara drängelt sich an Opas Seite. „Gibt es wirklich Brockengespenster?“
„Na klar!“, antwortet Opa und grinst. „Vielleicht bekommen wir ja heute eins zu Gesicht.“
„Ehrlich?“
„Wir werden sehen“, lächelt Opa und zwinkert.
Kai lacht. „Lass dich nicht von Opa aufs Glatteis führen!“
„Eis? Ist es so kalt da oben?“, fragt Clara ungläubig.
„Eine Schneeballschlacht können wir wohl vergessen“, schätzt Opa. „Aber vielleicht treffen wir auf Eis am Stiel oder Eis im Becher!“
Steffen kickt einen Tannenzapfen zur Seite. „Bruno, wie kannst du jetzt schon wieder ans Essen denken? Mein Bauch ist noch schwer vom Marmorkuchen.“
Sonja schlingt ihren Arm um Steffens Taille. „Eigentlich hättest du einen Granitkuchen backen sollen, passend zum Brocken.“
„Wenn ihr einen guten Zahnarzt kennt, …“, scherzt Opa. Er hat Mühe, mit den jungen Leuten Schritt zu halten. „Wisst ihr was, geht nur voraus und lasst euch nicht von eurem alten Großvater aufhalten! Wir treffen uns oben an der Bahnstation. Zurück gönnen wir uns eine Fahrt mit der Brockenbahn. Wenn es kalt ist, könnt ihr am Ticketschalter warten, da steht eine Bank.“
„Ich gehe mit Opa!“, meldet sich Clara, als wäre sie in der Schule.
Kai schwingt sich auf Opas linke Seite. „Dito, wenn ich schonmal bei Opa bin, dann gehe ich auch mit Opa den Berg hoch. Wenn er nicht mehr kann, dann trage ich ihn rauf!“
„Über achtzig Kilo?“, lacht Bruno. „Da braucht es wohl eher einen Schwerlasttransport!“
Sonja schmunzelt: „Nun gib mal nicht so an! Für dein Alter bist du ziemlich sportlich. Außerdem kletterst du jede Woche hier rauf. Am Ende wirst du wohl eher die Kinder schleppen als umgekehrt.“
Steffen und Sonja marschieren mit schnellen Schritten davon, winken noch einige Male und sind bald im tiefen Wald verschwunden. Sie wandern über Waldwege mit dicken Wurzeln, klettern über Gehölz. Es geht über kleine und große Steine, dann wieder über gemütlichen Waldboden. Links und rechts erheben sich intakte Nadelbäume, neben abgebrochenen kahlen Fichtenstämmen. Tote helle Stämme ragen gespenstisch in die Höhe, wie ein Mahnmal an die Wanderer, ein Zeichen, dass Wasser eine echte Kostbarkeit ist.
„Das Wasser des Lebens“, sagt Sonja zu ihrem Mann, „hier gibt es offensichtlich zu wenig davon.“
„Nicht nur hier“, findet Steffen. „Es wird Zeit, dass alle Menschen vernünftig werden.“
Sonja flucht: „Die Unvernünftigen sollten hier spazieren gehen, dann würde ihnen ein Licht aufgehen.“
Steffen klettert auf einen großen Felsstein und hilft Sonja hinauf. „Was ist eigentlich mit Brunos Nachbarin Luise, dieser Krankenschwester aus dem Harzklinikum? Ist sie ausgezogen?“
Sonja zuckt mit den Schultern. „Ausgezogen, getürmt, entführt, verunglückt – keiner weiß das so genau. Sie ist am 1. April einfach verschwunden!“
„Genau am 1. April?“
„Ja, die Polizei dachte zunächst an einen Aprilscherz.“
„Hat sie nach ihr gesucht?“
„Halbherzig, weil Luise eine Nachricht hinterlassen hat.“
Steffen vermutet: „Einen Abschiedsbrief?“
Sonja erinnert sich. „Keinen Brief, einen Vers! Er stand in der Zeitung und ging so:
Ich finde den Spruch so romantisch, da habe ich ihn behalten.“ Sonja ist stolz auf ihr gutes Gedächtnis.
„Interessant!“, murmelt Steffen.
Sonja ergänzt: „Neben dem Gedicht stach eine getrocknete rote Rose.“
Steffen versteht nicht: „Stach? Mit einem Stachel?“
„Nein, sie war auf dem Tisch festgenagelt.“
„Das nenne ich einen coolen Abgang!“, schnauft Steffen und klettert über den nächsten Felsen.
Sonja folgt ihm mit leichtfüßigen Schritten. „Das ist noch nicht alles. Der Brief war mit Blut besprenkelt.“
Steffen stoppt. „War es Luises Blut?“
„Ja, das hat man damals gleich untersucht“, sagt Sonja und steigt auf denselben großen Stein. Sie hält nach Bruno und den Kindern Ausschau, kann sie aber nicht mehr entdecken.
Steffen beruhigt sie. „Dein Vater kennt den Weg wie seine eigene Westentasche, der wird sich bestimmt nicht verirren.“
„Das stimmt, aber er ist noch nie allein mit den Kindern aufgestiegen.“
Steffen lacht: „Dann wird es Zeit! Die Kinder lieben ihren Opa und werden uns ganz sicher nicht vermissen.“
So wandern Sonja und Steffen immer weiter nach oben durch gespenstisch anmutenden Wald, über romantische Pfade, immer in Richtung Brockenplateau.
Opa Bruno, Clara und Kai kommen nur langsam voran. Der Weg ist voller kleiner und großer Steine.
Clara hat Mühe, mit Kai und Opa mitzuhalten. „Opa, es ist doch klar, dass es hier Gespenster geben muss, so, wie der Wald aussieht! Ehrlich, das ist gar kein richtiger Wald. Das ist ein Gespensterwald, mit den vielen umgeknickten, kahlen Bäumen!“
Kai weiß: „Das waren Borkenkäfer. Die überfallen Bäume und zerfressen sie.“
Clara ist empört. „So schöne große Bäume? Warum wehren sie sich nicht gegen die winzigen Pups-Käfer?“
Opa erklärt: „Wenn es einem Baum gut geht, verteidigt er sich. Kommt ein Borkenkäfer und bohrt sich in den Baum hinein, dann produziert der Baum Harz und wehrt den Käfer ab.“
Kai weiß: „Harz ist eine klebrige durchsichtige gelb-rote Flüssigkeit, die aus dem Baum kommt.“
„Richtig“, bestätigt Opa. „In den vergangenen Jahren war es viel zu trocken. Wenn Bäume zu wenig Wasser haben, sind sie anfällig und können nicht mehr so viel Harz produzieren.“
„Zu wenig Harz im Harz“, schlussfolgert Clara.
Opa nickt. „So kann man es sagen. Zudem bewirkt die Trockenheit, dass sich die Borkenkäfer massenhaft vermehren. Wenn über zweihundert Käfer einen Baum befallen, dann hat er keine Chance mehr, selbst wenn er gesund ist.“
Zwei sportliche Wanderer mit dunkelblauen Kapuzenjacken stiefeln locker und beschwingt an Kai, Clara und Bruno vorbei.
Clara staunt: „Die haben es aber eilig!“
Opa wirft einen Blick in die Wolken. „Wir sollten auch ein wenig Gas geben, denn die ersten Zirren ziehen auf.“
Clara schaut nach oben. „Heißt das, die Sonne ist bald weg?“
Opa runzelt die Stirn. „Nicht nur das! Hier am Brocken ändert sich das Wetter manchmal rasant schnell. Du gehst bei Sonnenschein los und kommst auf dem Berg bei kaltem Regen und stürmischen Wind an.“
Kai betrachtet kritisch seinen Pullover. „Dann auf, wer als Erster da hinten am fetten Baumstamm ist!“
Die drei Kükenhagener traben los.
„Erste!“, jubelt Clara. „Jetzt, wer zuerst den großen Stein an der Ecke berührt hat!“
Wieder geben die drei Gas.
„Juhu, der Punkt geht an mich!“, jubelt Kai. „Seht ihr den Wegweiser da hinten? Wer zuerst den Wegweiser angefasst hat!“
Die Kinder rennen um die Wette, immer bergauf. Opa ist jetzt schon völlig geschafft, will sich aber nicht ohne Weiteres geschlagen geben.
Clara winkt: „Meine Runde! Jetzt geht es da hinten um die Ecke, wer als Erster die Kurve gekriegt hat!“
Kai und Clara spurten los und wirbeln über den steinigen Waldweg.
Opa lacht, wirft einen Blick ins Gebüsch: „Nein! Ausgeschlossen!“
Kai und Clara sind längst hinter der Kurve verschwunden. Clara wartet. „Ich glaube, Opa kommt nicht hinterher. Wir tun jetzt so, als würden wir eine Pause brauchen!“
„Okay!“, findet Kai. „Aber so langsam müsste er doch hier sein! Ich gehe ihm entgegen.“
„Ich auch!“
Doch als die Kinder um die Ecke biegen und den Berg hinabschauen, ist niemand zu sehen.
Clara und Kai gehen zurück bis zum Wegweiser. „Opa? Opa! Opa, wo bist du? Opa, hör auf mit dem Quatsch! Ooooopaaaaa! Opa Brunooooo! Opa komm raus aus dem Gebüsch! Opa, das ist jetzt nicht mehr witzig! Opa!“
Kai reicht es: „Wir müssen ihn suchen!“
Clara schwitzt vor Aufregung. „Du links vom Weg, ich rechts! Los!“
Clara klettert. Auf den ersten Metern am Weg lagern abgeknickte Bäume, dicke vertrocknete Äste, kahles Gestrüpp. Immer wieder rutscht sie ab und landet schmerzhaft zwischen dicken und dünnen Holztrümmern. Halbe Stämme wirken wie ein Meer aus glatten toten Pfählen. Hier und da stehen vereinzelte lebende Fichten, wie kleine Naturwunder inmitten des Gespensterwalds. „Opa?“ Der Irrgarten aus kahlen Stämmen und ersten neuen Baumtrieben wird dichter. „Opa, bist du hier?“ Clara schlägt sich noch einige Meter durch den halb toten Dschungel. Dann bleibt sie stehen, denn sie fürchtet, dass sie hier nie wieder herausfindet. „Opa?“ Clara stockt. „Kai? Kai, ich kehre um! Hier ist niemand! Kai, ich komme!“ Clara dreht sich um. „Kai?“ Wo muss sie lang? Wo ist der Weg? „Kai? Kai!“ Clara bleibt wie versteinert stehen. Ihr Atem stockt. Vor ihr steckt ein schwarzes Ding, ein Stock, ein Wanderstock – Opas Stock! „Kai komm her! Kai hier! Wo bist du?“ Clara weint. In Tränen aufgelöst steht sie mitten im Wald. Da raschelt etwas hinter ihr.
„Mann Clara! Du hast dich aber gut versteckt!“, keucht Kai. „Ich habe Opa nicht gefunden.“
Wortlos zeigt Clara auf den Wanderstock, der zwischen zwei Baumstämmen klemmt. „Da!“
„Oh, ein Wanderstock! Weißt du, Wanderstöcke gibt es viele, Clara!“
„Aber sieh´ doch, der Edelstein! Der Wanderkönig-Edelstein! Den haben nur ganz, ganz wenige!“
Kai wirft einen Blick auf die Vorderseite des Stocks. „Stimmt Clara! Das ist wirklich Opas Stock! Und ich Idiot habe mein Handy im Haus gelassen! Jetzt kann ich nicht einmal Mama und Papa anrufen.“
„Dann laufen wir eben hoch auf den Brocken. Wir werden das schon schaffen! Immer dem Weg nach.“ Clara ist fest entschlossen.
Kai fällt auch nichts Besseres ein.
„Warte!“ Clara setzt den Rucksack ab und kramt ihren rosa-rot-karierten Schal hervor. Sie bindet ihn fest um einen abgeknickten Baum. „Damit wir wissen, wo wir Opas Wanderstock gefunden haben.“
„Prima Idee“, findet Kai und zieht Opas Wanderstock aus dem Gehölz. „Dann nichts wie weg hier! Die Wolken verdichten sich immer mehr. Es wird bestimmt bald regnen.“
„Regnen? Mir ist, als steigen wir gerade in den Himmel auf!“ Clara reißt die Augen weit auf, denn der herabfallende Nebel ist ihr unheimlich.
Kai fröstelt: „Keine Ahnung, warum die Leute alle so heiß auf ´Wolke Sieben` sind. Das ist doch eher eine undurchsichtige Sache!“
Clara niest. „Ja, was für ein Quatsch ´Auf-Wolken-Schweben`, hier schwebt gar nichts. Hier läuft eher etwas, nämlich meine Nase.“
„Meine erst“, schnupft Kai. Warte mal, ich brauche ein Taschentuch. Wo habe ich es denn hingesteckt? Ich hatte doch eins in der Hosentasche. Ach hier! Hatschi! Oh, die Suppe wird immer dicker! Clara? Clara bist du noch da? Sag mal Piep oder Pups! Clara?“
„Kai!“, tönt es von weiter vorne.
Kai geht in Richtung Claras Stimme, doch er stolpert mehr als er geht. Der Nebel ist inzwischen so dicht, dass er seine eigene Hand kaum mehr sehen kann, wenn er sie ausstreckt. „Clara?“ Doch um Kai herum ist alles wie weiche, stille Watte. Weiß, weich und still steht er inmitten eines undurchsichtigen Schleiers. Nach einigen Minuten hat er sogar Schwierigkeiten zu wissen, wo oben und unten ist. „Nur ruhig bleiben, ganz ruhig!“, wispert er zu sich selbst. „Das wird schon wieder, irgendwann. Da unten, das sind meine Füße. Ich stehe. So ist es gut, ich stehe. Wenn ich nach oben will, muss ich bergauf, also muss ich doch einfach nur hochgehen. Au nein, hier sind Hindernisse. Auf dem Weg gibt es keine Baumstämme, also hier entlang. Ja, schon besser! Steine! Die Steine gehen hoch, sie zeigen mir den Weg, die Steine. Super mache ich das! Schritt für Schritt!“
„Kai? Kai, wo bist du? Kai? Kai, bitte sag etwas! Kai!“ Clara tappt ziellos über den Waldboden. „Wo ist vorn? Bin ich hier richtig? Kai?“
„Krach!“, stößt sie mit zwei Paar Wanderstiefeln zusammen.
„Oh! Vorsicht! Was ist das?“, stoppt eine tiefe Stimme von oben.
Wie aus dem Nichts tauchen eine rote Nase und eine pinkfarbene Zipfelmütze vor Claras Gesicht auf. „Es ist ein kleines Mädchen!“, sagt eine helle Frauenstimme verwundert.
„Ein Mädchen?“, fragt der Brummbass.
„Ein kleines Mädchen“, antwortet die Frau.
„Ich bin Clara! Ich bin schon acht, also nicht mehr klein!“
„Also ein großes Mädchen!“, säuselt die hohe Stimme.
„Raschel!“ Vor Claras Gesicht erscheinen: eine dicke Knollnase, ein breiter lächelnder Mund, ein grauer Stoppelbart und eine blaue Wollmütze. „Hallo Clara! Bist du allein?“
Clara überlegt. Sie soll vorsichtig sein gegenüber Fremden. Andererseits weiß sie nicht, wie sie hier weitergehen soll. „Ja und nein!“
Nun tauchen pinke Zipfelmütze und blaue Wollmütze gleichzeitig vor ihr auf. Clara schweigt, denn sie will sich auf keinen Fall irgendwelchen Leuten anvertrauen. Das hat ihr die Mama ausdrücklich, immer wieder verboten.
Knollnase kommt wieder vor ihr Gesicht. „Wir marschieren nach unten zum Gasthaus. Magst du mitkommen oder willst du hierbleiben?“
Clara denkt nach. „Könnt ihr nicht meinen Opa anrufen oder meine Mama?“
Zipfelmütze zieht ihr Handy aus der Tasche und bückt sich zu Clara runter. „Klaro, wie lautet die Telefonnummer?“
„Mist, die weiß ich nicht auswendig“, ärgert sich Clara. „Der Opa steht auf meinem Telefon immer auf der Nummer Drei, die Mama auf der Eins. Toll! Was für eine blöde Erfindung!“, flucht Clara innerlich. „Oh, ist das peinlich“, denkt sie sich und zuckt mit den Schultern.
„Wie heißen denn dein Opa oder deine Mama?“
„Bruno und Sonja Kükenhagen“, antwortet Clara.
„Prima! Dann rufe ich einfach die Auskunft an.“ Zipfelmütze wählt die Nummer der Auskunft.
Clara hört nur undeutlich, was die Dame in der Telefonhotline fragt. „Mit CK oder nur mit K, mit Ü oder UE, Kükenlaken, Tütensagen, ah ich hab` s: Blütenplagen oder Wütenkragen, nein hier: Hütetragen, Mückenplagen? Was ist das für ein blöder Name? Tut mir leid, ich finde dazu keinen Eintrag. Auf Wiederhören!“
Knollnase und rote Nase tuscheln. „Für die Polizei ist es noch zu früh. Die lachen uns ja aus! Stimmt! Bei Nebel können die ohnehin nichts tun. Am besten, wir nehmen das Mädchen mit!“
Clara zittert bei dem Gedanken, mitgenommen zu werden. Doch hier im dichten Nebel hockenbleiben, will sie auch nicht. „Also gut, ich komme mit“, flüstert Clara kleinlaut und senkt ihren Kopf.
Auf dem Weg hinab guckt Clara nach links und rechts, um ihren Schal wiederzusehen, die Stelle, an der sie Opas Wanderstock gefunden hat. Doch der Nebel ist zu dicht, um bis zum Waldrand zu schauen.
Sonja mobilisiert ihre letzten Kräfte. „Einen besseren Tag hätten wir uns wirklich nicht zum Wandern aussuchen können! Null Aussicht! Ich bin froh, dass ich wenigstens noch meine Füße erkenne. Nicht einmal der Fernsehturm ist zu sehen!“
Steffen ist verzückt. „Wir beide durchschreiten den Himmel auf Erden“, flüstert er in Sonjas Ohr.
Doch Sonja friert. „Der Himmel ist ganz schön kalt und ungemütlich! Ein Glück, dass Opa ein erfahrener Wanderer ist, sonst hätte ich glatt Angst um unsere Kinder!“
Steffen sieht das auch so. „Unseren Harzer Wanderkönig wird eine Nebelwolke nicht umhauen. Fast geschafft! Das letzte Stück geht gemütlich auf der Straße entlang, eine echte Erholung! Die Bahnstation ist gleich hier vorn.“
Nach wenigen Minuten haben Sonja und Steffen das Ziel erreicht: die Endstation der Brockenbahn.
Sonja zieht fröstelnd an Steffens Arm. „Komm, wir warten im Fahrkartenhäuschen, so wie vereinbart!“
So kuscheln sich Steffen und Sonja auf die Bank am Fahrkartenschalter und warten, warten, warten …
Es vergeht über eine Stunde, bis Steffen das Wartehäuschen verlässt und hektisch auf und ab geht. „Wo bleibt nur Bruno mit den Kindern?“ Steffen ruft Opa an, doch der geht nicht an sein Handy.
Auch Sonja hält es nicht mehr aus auf der Bank. Sie braucht frische Luft. Der Nebel hat sich noch immer nicht gelichtet. Ihr wird flau in der Magengegend, als plötzlich ein alter Mann auf sie zukommt. „Sonja? Sonja bist du es?“
„Herr Düsenschmied? Dagobert Düsenschmied? Ich habe Sie kaum erkannt! Steffen, schau mal!“
Steffen kommt angerannt. „Ist etwas mit den Kindern?“
„Die sind alle bei mir!“, brummt der Mann im grauen Anorak mit steinerner Miene. „Ich bin mit dem Auto hier und fahre Sie runter.“
Steffen und Sonja sehen sich fragend an.
Steffen rafft sich auf: „Die Kinder sind bei Ihnen! Aha! Clara und Kai haben den armen Bruno sicher voll beschäftigt. Da hat es ihm vermutlich gereicht und sie sind umgekehrt. Mit Kindern ist alles etwas anstrengender, erst recht eine Wanderung auf den Brocken!“
Sonja willigt ein: „Na gut, die Brockenbahn fährt erst in einer halben Stunde. Warum sollen wir Ihren Service da nicht nutzen? Danke, Herr Düsenschmied!“
Wortlos schiebt Dagobert die Tür des weißen Kastenwagens auf. Sonja und Steffen setzen sich auf die Rückbank. Dagobert startet den Motor und fährt los. Der Nebel ist dicht, die Straße kaum zu sehen. Steffen und Sonja erkennen nicht, wo sie sich gerade befinden. Es rumpelt und holpert, als führen sie über unwegsames Gelände.
Sonja denkt: „Eigenartig, die Straße zum Brocken ist doch eigentlich ganz glatt!“
Sie fahren und fahren. Erst als nach einer halben Stunde noch kein Licht eines Hauses oder einer Straßenlaterne auftaucht, schwant den Fahrgästen, dass hier etwas faul sein muss.
Kai stapft mutig und entschlossen den Pfad nach oben. Sein Pullover ist nass vom Nebel. Der Junge flucht vor sich hin, dass er weder sein Telefon noch seine warme Steppjacke mitgenommen hat. Noch schlimmer bedrückt ihn jedoch sein schlechtes Gewissen. Er hat Clara im Stich gelassen! Er hat sie einfach nicht wiedergefunden. Unheimlich, dass erst Opa verschwunden ist und dann Clara! Jetzt will Kai einfach nur auf den Berg. Mit ein wenig Glück wird er oben seine Eltern treffen, an der Bahnstation. Sie werden ihn gehörig ausschimpfen! Dann werden sie gemeinsam wieder nach unten wandern, um erst Clara und dann Opa aufzugabeln. Heute Abend werden sie sich alle etwas Abenteuerliches zu erzählen haben.
Mit diesen Gedanken steigt er immer höher und höher. Endlich merkt er, dass der Anstieg flacher wird. Zudem hat er das Gefühl, dass sich die Sonne ihren Platz am Himmel langsam zurückerobert. Er spürt die Sonnenstrahlen auf seinem kalten Rücken und genießt jedes Fünkchen Wärme. Kai stoppt abrupt. „Ah! Hilfe! Bitte nicht!“
Ein schwarzer Geist erscheint wie aus dem Nichts mitten auf dem Weg. Er wackelt leicht. Als Kai die Arme hochreißt, hebt auch der schwarze Geist seine Arme. Er scheint ihm zuzuwinken. Mit jedem Winken erstrahlt um ihn herum ein Kranz aus farbigen Lichtern.
„Das Brockengespenst!“, stammelt Kai und ist fasziniert von der schwarzen Gestalt.
So stehen sich der Geist und Kai eine Weile gegenüber.
„Weißt du, wo Opa ist? Hast du meine Schwester gesehen?“, fragt Kai den Geist und geht seinen Weg ein Stückweit nach rechts. Da verschwindet das Brockengespenst, als wäre es nie dagewesen.
„Suchst du jemanden?“, hört Kai eine Männerstimme sagen und erblickt einen drahtigen Mann im grünen Parka, mit bunter Wollmütze und einem wilden grauen Bart.
„Ja, meine Familie!“, zittert Kai, der vor lauter Schrecken vergessen hat, dass ihm bitterkalt ist.
Der Mann stiefelt zwischen einigen Stangen und Drähten hin und her und scheint etwas abzulesen oder nachzuschauen. „Hat dir niemand gesagt, dass es hier oben kalt und windig ist?“
Kai fröstelt: „Doch, mein Opa!“
Der Mann lacht: „Wo ist dein Opa? Bist du ihm vorausgeeilt?“
Kai schüttelt den Kopf. „Er ist verschwunden! Nur sein Krückstock ist noch da.“
Der Mützenmann stutzt. „Zeig mal her! Oh, der Stock eines Harzer Wanderkönigs! Dann kennt sich dein Opa ja sehr gut aus hier in der Gegend. Ist er gestürzt?“
Kai zuckt mit den Schultern. „Keine Ahnung! Meine Schwester und ich haben ihn nicht gefunden, nur seinen Stock.“
Kai beobachtet, wie der Mann mit der bunten Mütze immer unruhiger wird. „Wo ist deine Schwester?“
„Weiß nicht, wir haben uns im Nebel verloren, etwa auf dem halben Weg zum Gipfel. Sie war auf einmal weg, einfach weg!“ Kai rollen Tränen übers Gesicht.
Der Mann fasst einen Entschluss. „Am besten, du kommst zu mir auf die Station, Junge! Ich bin Willi Wolkenberg, der Wetterwart. Wir regeln das mit deiner Familie, wir beide. Okay? Außerdem brauchst du dringend etwas Warmes zum Anziehen, du holst dir sonst eine handfeste Erkältung!“
„Okay!“ Kai trottet hinter dem Wetterwart her. Der Nebel lichtet sich immer mehr. Kai erkennt: die Sonne, Licht, kleine Gesteinsbrocken, einige Holzhütten, eine mächtige weiß-rote Antenne, einen hohen schwarzen, eckigen Holzturm – in den gehen sie hinein.
„Hereinspaziert in die gute Stube“, schmunzelt der bärtige Mann und hängt seine rote Steppjacke an einen Haken. „Wie heißt du eigentlich?“
„Kai Kükenhagen!“
Willi rückt für Kai einen Stuhl zurecht und setzt sich selbst an einen großen grauen Schreibtisch. „Mach es dir gemütlich!“
Akribisch notiert Willi Wolkenberg seine abgelesenen Daten in einem Buch und in einem Computerprogramm. „Fertig! Wie wäre es mit einer Wolldecke und einer heißen Trinkschokolade?“
„Hört sich gut an!“ Kai kommt das erste Schmunzeln über die Lippen, seitdem er ohne Clara und Opa den Berg bestiegen hat. Willi reicht ihm eine blau-rot karierte Wolldecke mit bunten Fransen. Langsam durchströmt Wärme Kais Pullover. Kai fröstelt. Seine Knochen fühlen sich an wie eine Tiefkühlpizza, die frisch aus dem Gefrierschrank kommt.
Der Wetterwart geht zu einem Waschbecken, füllt einen Wasserkocher, schaltet ihn ein, kippt Schokoladenstückchen in zwei große Tassen und gießt zwei heiße Schokoladen auf. „So, noch einen Schwupp kalte Milch dazu, sonst verbrennen wir uns den Mund“, lächelt er. „Nun erzähl am besten ganz von vorn, was dir passiert ist, damit ich weiß, was wir beide unternehmen können.“
Kai trinkt einen Schluck. Warm und süß – das ist momentan die einzig richtige Kombination, die ihn wieder aufmuntert. „Mein Opa wohnt in Schierke. Heute früh sind wir zu ihm gefahren, um zusammen den Brocken zu besteigen. Wir, also Mama, Papa, meine Schwester Clara, Opa Bruno und ich sind nach dem Frühstück gleich losgelaufen. Von Schierke aus führt der Weg übers Eckerloch. Das weiß ich so genau, weil wir uns über den Namen lustig gemacht haben.“
„Wann habt ich euch getrennt?“
„Mama und Papa sind schneller zu Fuß. Opa hat gemeint, sie sollen schon vorgehen. An der Bahnstation wollten wir uns wieder treffen.“
„Aber Clara und du, ihr seid bei Opa geblieben“, vermutet Willi.
„Stimmt! Denn Opa ist ein richtig guter Wanderer. Er besteigt jede Woche den Brocken. Er kennt den Berg wie seine Hosentasche!“
Willi klopft auf den Tisch. „Klar Mann, sonst hätte er nicht das Abzeichen vom Harzer Wanderkönig auf seinem Wanderstock. Offensichtlich muss deinem Opa etwas passiert sein, sonst hätte er seinen Wanderstock mit dem Ehrenabzeichen nicht einfach so steckenlassen. Du sagtest vorhin, ihr habt Opas Stock entdeckt. Wie habt ihr Opa verloren und den Stock gefunden?“
„Wir sind um die Wette gelaufen. Der Weg ging um eine Kurve. Clara und ich sind um die Ecke geflitzt und haben dort gewartet, doch Opa kam nicht. Wir sind um die Kurve zurückgegangen und haben den Berg hinabgeschaut, da war Opa verschwunden, einfach weg!“
„Dann habt ihr ihn sicher gesucht“, nimmt Willi an.
„Klar, wir haben gerufen, geschrien und haben die Gegend durchforstet. Clara ist über den abgeholzten Rand hinaus, einige Meter in den dichten Wald vorgedrungen.
Da hat sie Opas Stock entdeckt. Er stach zwischen zwei Baumstämmen.“
„Weißt du noch, wo das in etwa war?“, fragt Willi Wolkenberg.
„Na ja, so genau kann ich das nicht sagen. Aber Clara hat ihren roten Schal um einen Baumstamm gebunden, als Zeichen.“
„Coole Idee!“, findet der Wetterwart.
„Dann wollten wir raus aus dem Gestrüpp. Doch weit sind wir nicht gekommen. Urplötzlich zog fetter Nebel auf. Ich konnte nicht einmal mehr meine Hand vor Augen sehen! Meine Nase lief. Ich habe mein Taschentuch in der Hosentasche gesucht, mich um meine Nase gekümmert, habe aufgeschaut und Clara war weg. Stellen Sie sich vor, sie war einfach weg! Genauso wie Opa! Wie vom Erdboden verschluckt! Ich habe sie gerufen. Sie hat sogar geantwortet, von irgendwo weiter vorn. Ich bin der Stimme gefolgt, habe aber nichts mehr gesehen. Ich habe sie nicht gefunden, meine Clara!“ Kai weint, er schluchzt. „Ich habe sie im Stich gelassen! Ich, ihr großer Bruder!“
Willi Wolkenberg schaut Kai tief in die Augen: „Du hast sie nicht im Stich gelassen, Kai. Der Brocken hat sie versteckt. Wir werden Clara finden, versprochen! Unsere Suche beginnt jetzt.“
Kai sieht Willi mit wässrigen Augen an. Er spürt, dass Willi recht hat und will sofort loslegen mit irgendetwas Nützlichem, um Clara zu helfen.
„Willi schnippst mit den Fingern. „Ganz simpel, wir rufen deine Eltern an! Hier ist mein Telefon.“
Kai nimmt Willis Handy und gibt Papas Nummer ein.
Es klingelt. „Der Teilnehmer ist nicht erreichbar!“, tönt es aus dem Lautsprecher.
Willi strubbelt durch seine Haare. „Hast du nicht gesagt, dass ihr eure Eltern hier am Brockenbahnhof treffen wolltet?“
„Richtig! Vielleicht sind sie ja ganz in der Nähe!“ Kai würde am liebsten gleich loslaufen und nachsehen.
Willi frohlockt: „Ich kenne Moni vom Fahrkartenschalter, die rufe ich jetzt an. Vielleicht haben wir ja Glück! Wie sehen denn deine Eltern aus?“
Kai überlegt: „Meine Mama hat rötliche schulterlange Haare, sie trägt eine weiße Steppjacke mit einem roten Reißverschluss. Mein Papa ist etwas größer als Mama, er hat braune Haare. Seine Jacke ist blau.“
Willi wählt die Nummer vom Fahrkartenschalter. „Hallo Moni! Ist euch vielleicht ein Pärchen aufgefallen? Die Frau hat eine weiße Steppjacke mit einem roten Reißverschluss an.“
Moni antwortet: „Tatsächlich, ja! Die Frau mit ihrer auffälligen Jacke saß hier ewig auf der Bank mit einem Mann. Vor einer ganzen Weile sind sie beide rausgegangen. Keine Ahnung, wo sie hin sind, das kann ich von hieraus nicht erkennen.“
„Alles klar, danke dir!“ Willi legt auf. „Deine Eltern haben wohl lange auf der Bank vor dem Fahrkartenschalter gewartet, haben dann aber beide das Fahrkartenhäuschen verlassen. Wo sie jetzt sind, weiß die Verkäuferin nicht. Moment! Eine Idee habe ich noch. Ich rufe Hannes an, meinen Kollegen, der ist bestimmt schon auf dem Berg. Vielleicht ist ihm die weiße Jacke mit dem roten Reißverschluss aufgefallen. Hannes löst mich bald hier oben ab.“ Willi wählt die Nummer von Hannes: „Hallo Hannes!“
Hannes grüßt zurück: „Hallo Willi! Was gibt’s, Kollege? Fällt der Dienst heute aus wegen gefährlicher Wolkenlöcher?“
Willi schmunzelt: „Nein, der Himmel ist in Ordnung! Aber ich habe einen Gast vor mir sitzen, der sucht seine Eltern. Seine Mutter trägt eine weiße Jacke mit einem roten Reißverschluss. Die Vermissten wurden zuletzt im Fahrkartenhäuschen gesehen. Ist dir zufällig so eine Jacke aufgefallen?“
Hannes antwortet, ohne zu überlegen: „Klar! Am Bahnhof! Die weiße Jacke mit dem roten Reißverschluss habe ich tatsächlich gesehen. Sie, also die Frau, ist in ein Auto eingestiegen. Mehr weiß ich nicht.“
„Danke Hannes, du hast uns echt geholfen! Bis gleich!“, sagt Willi und legt auf. „Deine Eltern sind offensichtlich schon mit dem Auto weggefahren!“
Kai versteht das nicht. „Da stimmt was nicht!“, ahnt er. „Mama und Papa würden niemals ohne uns, also ohne Clara und mich, irgendwohin fahren.“
Der Mann mit der blauen Wollmütze, der Knollnase und dem grauen Stoppelbart und die Frau mit der pinkfarbenen Zipfelmütze und der roten Nase haben Clara in die Mitte genommen. Sie reden nicht viel beim Abstieg vom Berg. Sie konzentrieren sich auf den Weg, denn der Nebel verharrt hier unten gespenstisch und leise.
Zipfelmütze sagt: „Bald sind wir unten. Am besten, wir bringen dich gleich nach Hause, Clara. Was meinst du?“
Clara überlegt: „Ja, vielleicht ist mein Opa inzwischen zu Hause oder Kai. Ach nein, der hat ja keinen Hausschlüssel.“
Blaue Wollmütze brummelt: „Und deine Eltern?“
Clara seufzt: „Keine Ahnung, ob die noch oben auf dem Brocken sind oder ob sie schon die Brockenbahn genommen haben. Ich weiß es einfach nicht.“
Rotnasige Zipfelmütze fragt: „Weißt du denn, wo du wohnst?“ Sie erwischt Claras finsteren Blick. „Stimmt, hatte ich ganz vergessen. Du bist ja schon acht! Verrate uns doch praktischerweise die Adresse, dann gehen wir jetzt gemeinsam dahin.“
„Feuersteinweg zwei“, antwortet Clara. Sie hat immer noch ein mulmiges Gefühl in der Magengegend.
Blaue Wollmütze streicht sich über den Stoppelbart. „Feuersteinweg zwei? Ist das nicht neben dem Haus, wo die Frau verschwunden ist, diese Düsenlied?“
„Düsenschmied! Das sind Opas Nachbarn, Dagobert und Luise“, bestätigt Clara.
Zipfelmütze hakt ein: „Du wohnst also gar nicht in Schierke, sondern dein Opa?“
„Ja! Meine Oma wohnt im Himmel.“
Blaue Mütze beugt sich zu Clara hinunter. „Dann werden wir deinem Opa gleich eine Riesenüberraschung bereiten, wenn wir dich bei ihm abliefern!“
Clara erwidert den freundlichen Blick, fürchtet aber eher, dass es eine böse Überraschung geben könnte. „Opa ist bestimmt noch im Wald“, denkt sie, will es aber nicht aussprechen.
Die Wanderer haben den im Nebel liegenden Ort erreicht. Statt steinigem Untergrund verwöhnt glatte Straße ihre Füße. Weit oben lässt sich die Sonne erahnen, die tapfer gegen die Nebelwolken ankämpft. Clara führt ihre beiden Begleiter an, die sich ihre Mützen abgesetzt haben. Unter der pinkfarbenen Zipfelmütze kommt ein dicker brauner Zopf zum Vorschein und die blaue Wollmütze macht Platz für kurze graue Haare.
„Wie heißt ihr eigentlich?“, fragt Clara etwas mutiger als noch vor einer halben Stunde.
„Moni und Micha“, lachen beide und schwenken fröhlich ihre Mützen durch die Luft.
„Gleich sind wir da!“, verkündet Clara. „Das schwarze Holzhaus mit den grünen Fensterläden! Da wohnt mein Opa!“, ruft Clara und rennt voraus. Sie klingelt und stürmt sogleich durch die kleine Gartenpforte. Enttäuscht dreht sie sich zu Moni und Michi um. „Keiner da!“ Ihre Enttäuschung ist so groß, dass sie fast anfängt zu weinen.
Doch Micha nimmt das Mädchen kurz in die Arme. „Solange bis der Opa wieder hier ist, essen wir eine Kleinigkeit. Ich habe nämlich einen Bärenhunger. Früher gab es hier Bären, weißt du das?“
„Klar!“, sagt Clara. „Heute leben hier noch Luchse und Wildkatzen. Ich habe aber noch nie eine Wildkatze beim Wandern entdeckt.“
Moni schmunzelt: „Aber die haben ganz bestimmt dich schon gesehen, wie du durch den Wald spaziert bist.“
„Kann sein“, murmelt Clara und wirft beim Gehen einen Blick auf das Nachbargrundstück. „Gespenstisch ist es hier, seit Luise weg ist“, findet sie.
Sonja und Steffen sehen angestrengt aus den Fenstern des Kleintransporters. Doch außer dichtem Nebel und einer Silhouette aus Bäumen und Gestrüpp ist nichts zu erkennen. Sie ahnen, dass Dagobert etwas im Schilde führt, denn sie hätten schon längst am Ziel sein müssen, an Opas Haus beziehungsweise am benachbarten Haus der Düsenschmieds. In der letzten halben Stunde fuhren sie nur über holprige Wege. Es ging nicht nur bergab, sondern wieder bergauf!
Steffen hält die Spannung nicht mehr aus. „Herr Düsenschmied, Sie wollten uns doch zu Ihrem Haus bringen nach Schierke, zu unseren Kindern. Wir hätten doch längst da sein müssen! Wo fahren Sie eigentlich lang? Die Straße ist doch vollkommen glatt bis zum Opa!“
Dagobert nuschelt: „Sind gleich da!“
Das Fahrzeug wackelt und rumpelt dermaßen, dass Sonja befürchtet, der Wagen könnte umkippen. „Bloß nicht einen Abhang hinunterrutschen“, betet Sonja.
Düsenschmied fährt das Autofenster eine Spaltbreit hinunter, stoppt das Fahrzeug, schnappt sich einen Ge genstand aus der Fahrertür, reißt sie auf, knallt sie wieder zu und schließt ab.
Steffen und Sonja schauen sich entsetzt an. Sonja hämmert an die Seitentür. „Aufmachen! Sofort aufmachen! Düsenschmied!“
Das Letzte, was sie hören, ist ein leises Zischen. Es kommt von vorn, von der Fahrerseite. Doch ehe sie begreifen, was passiert, fallen Steffen und Sonja in einen tiefen Schlaf.
Kai sieht dem Wetterwart Willi Wolkenberg erwartungsvoll in die Augen. Willi schaut auf die Uhr, schlägt sich auf die Oberschenkel und klatscht in die Hände. „Auf jetzt! Feierabend! Mein Kollege Hannes löst mich gleich ab. Sag mal Kai, kannst du abschätzen, von wo aus du allein weitergewandert bist?“
„Es muss etwa die Hälfte der Strecke gewesen sein.“
„Prima! Dann fahren wir das erste Stück mit dem Auto und gehen dann zu Fuß weiter, genau auf demselben Weg, den du raufgeklettert bist. Zuerst suchen wir den rot karierten Schal deiner Schwester. Wenn uns nichts auffällt, gehen wir weiter bis zum Haus deines Großvaters. Vielleicht hat sich deine Familie dort schon versammelt und wartet verzweifelt auf dich.“
„Schön wäre es“, entgegnet Kai und legt die karierte Wolldecke ab, die ihn gut durchgewärmt hat.
Da rappelt es an der Tür und Willis Kollege Hannes spaziert herein. „Guten Mittag, Willi! Oh, das ist dein Gast! Richtig?“
Willi zwinkert Kai zu. „Ein einsamer Wanderer …, das erzähle ich dir später. Wir müssen dringend los!“ Willi kramt aus einem großen Blechschrank eine schwarze alte Steppjacke. „Hier, bis wir in wärmere Gefilde hinabsteigen!“
„Danke!“ Kai zieht die große Jacke über und krempelt die Ärmel um, bis seine Hände herausgucken.
Willi setzt seine bunte Wollmütze auf, streift sich seinen gefütterten grünen Parka über, hängt sich ein Fernglas um den Hals und schnappt sich die Autoschlüssel aus der Schublade. “Los geht’s, Kai! Bis morgen, Hannes!“
„Mach´s gut, Willi!“, verabschiedet sich Hannes.
Willi Wolkenberg und Kai verlassen den hölzernen Wetterturm.
Kai kneift unwillkürlich die Augen zusammen, denn die Sonne erstrahlt hell. „Wow!“, ruft er begeistert. „Willi, wir sind ja über den Wolken! Wie im Flugzeug! Ringsum riesige Wattehaufen!“ Kai öffnet den Reißverschluss der geborgten Jacke und reimt:
„Der Wettergucker Wolkenberg ist unterwegs mit Kai, dem Zwerg!“
Willi schmunzelt: „Wie romantisch! Da sitze ich nun tagtäglich in meiner Warte, aber Gedichte fallen mir nie dabei ein. Ja, hier oben sieht das Wetter ausnahmsweise freundlicher aus als weiter unten: hier Sonne und unten fette Wolken. Meist ist es andersherum. Da steht mein Auto, bitte einsteigen!“
Kai klettert in den grünen Geländewagen. Willi schaltet den Motor ein. Los geht die Fahrt über die Brockenstraße, an zahlreichen Wanderern vorbei, immer bergab. An einer kleinen Einbuchtung stoppt Willi und parkt an einem Wegweiser. Kai und Willi steigen aus.
„Schierke“, liest Kai auf dem Pfeil, der genau in den Wald hineinzeigt. Der Junge zieht den Reißverschluss der schwarzen Steppjacke zu, denn hier hängen die Wolken fest und umhüllen alles mit feinen Wasser-Tröpfchen. „Gespenstisch, wie beim Aufstieg“, denkt Kai und folgt Willi über Steine, Baumstümpfe und Nadelboden durch den Wald. Kai schreitet aufmerksam voran und lenkt seine Blicke mal nach links, mal nach rechts.
„Wenn dir irgendetwas auffällt, gib mir sofort Bescheid!“
„In Ordnung!“, nickt Kai. Angestrengt sucht er nach Claras rotem Schal. „Mist! Hier sieht alles so gleich aus. Bäume, Baumstümpfe, Gestrüpp, Steine …“
Eine Viertelstunde sind sie schon zu Fuß unterwegs. Kai blinzelt müde zum angrenzenden Wald. „Es muss links vom Weg sein“, sagt er sich und erblickt einen schwachen roten Punkt mitten im Wald. „Da!“, schreit Kai. „Da hinten im Wald! Ist da nicht etwas Rotes?“ Kai hält den Atem an.
Willi bleibt schlagartig stehen. „Moment!“ Vorsichtig holt er das Fernglas aus der Lederhülle und hält es sich vor die Augen. Mit einem Rädchen stellt er die Schärfe ein, um den Waldrand abzusuchen. „Ein Männlein steht im Walde …“, singt er und nimmt das Fernglas wieder herunter.
„Ein Männlein? Mein Opa?“, zittert Kai.
Willi schüttelt mitleidig den Kopf. „Nur ein Hagebuttenstrauch! Gut, dass ich den Feldstecher dabeihabe!“
Still stapfen sie weiter. „Schon wieder Hagebutten“, denkt Kai, als er die Augen auf den Waldrand richtet. Doch da raschelt etwas im dichten Gebüsch.
Auch Willi ist das Geräusch nicht entgangen. „Sicher ein Reh“, vermutet er und setzt das Fernglas an. „Mir scheint, ein wildes Tier wollte sich wohl gerade …“ Willi legt eine Sprechpause ein und sieht Kai in die Augen, „einen warmen roten Schal für den Winter abpflücken!“ Willi grinst.
„Nee, oder?“, ruft Kai und bahnt sich im Eiltempo einen Weg durch das Dickicht. „Das ist er, Claras Schal!“, ruft er voller Enthusiasmus. „Hier!“ Kai zeigt auf den Baumstamm, der dekorativ mit Claras hübschem rosa-rot-karierten Schal verziert ist. Als Kai den Schal abbinden will, hält ihn Willi zurück. „Lass ihn besser dran. Wer weiß, warum? Es ist der einzige Hinweis auf die Stelle, wo dein Opa verschwunden ist.
„Meine Schwester ist auch hier in der Nähe abgedriftet!“, ergänzt Kai.