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Eine nicht zu bändigende Schlingpflanze überwuchert die Vergessene Stadt. Falsche Uhrengeister lassen aus Kindern Erwachsene und aus Greisen Babys werden. Aus purer Lust an Schokolade verwandelt Zauberer Sinnso gedankenlos die Kohleflöze in Orangenschokolade, sodass die Unterwelt des Berggeistes Groll einzustürzen droht. Fürchterliche Zahnschmerzen bringen die verzweifelte Hexe Stummelzahn dazu, einen Pakt mit dem Schwarzen König von Zlatonien abzuschließen. Mit Mut und Klugheit bewahren Knelch und seine Freunde das Hügelwiesenland vor den Folgen zweifelhafter Zauberkünste. Auf den schlauen, grauen Seiten erzählt Knelch Wissenswertes über Pflanzen, die Zeit, elektrischen Strom und Zähne. Band 2 beinhaltet die Zauberkrimis: Der Baumwürger, Der Uhrengeist, Strom mit Schokoladensoße, Hexe Stummelzahn.
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Seitenzahl: 250
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Der Baumwürger
Der Uhrengeist
Strom mit Schokoladensoße
Hexe Stummelzahn
Am östlichen Ende der Vergessenen Stadt wehte der kühle Morgenwind über die Langgraswiesen. Er wiegte die grünen, meterhohen Gräser in sanften Wellen wie ein Meer auf und ab.
Im Gegensatz zu gewöhnlichen Gräsern standen sie das ganze Jahr über in voller Blüte. Ihre Rispen waren verzaubert. Sie vermittelten jeden Tag den Eindruck, als wäre es Sommer. Hier im Hügelwiesenland, dem Land der Menschen, Zauberer, Hexen und Geister, geschah viel Mysteriöses.
Die Langgraswiesen waren keineswegs ein einsamer Ort. Viele Vögel, Insekten, Hasen und andere Tiere hatten hier ihr Zuhause.
Hexe Ohje liebte Tiere und Pflanzen. Deshalb hatte sie sich in den Wiesen ihr eigenes Holzhäuschen gebaut, genau da, wo die alte Steinerne Brücke über den Blauen Fluss führte. Der Blaue Fluss war in den Langgraswiesen klein wie ein Bach und schlängelte sich fröhlich plätschernd durch das hügelige Land.
Rosa blühende Kirschbäume, im Wind bimmelnde Glockenblumen, weithin duftende Narzissen und Tulpen in allen Farben ließen das Herz der kleinen Hexe Ohje höher schlagen, als sie an diesem Morgen zum Briefkasten ging, um ihre Zeitung herauszuholen.
Ihr Puls jedoch schlug wahre Purzelbäume, als sie neben der Morgenzeitung auch einen Brief in ihrem Postkasten fand, einen Brief von ihrem heimlich geliebten Knorzelfuß. Aufgeregt eilte Ohje zurück in ihre Kräuterküche, setzte sich auf die Ofenbank und riss ungeduldig den Umschlag auf.
Mit bebender Stimme las sie vor, was auf dem rot gefärbten Pergament in grüner Schrift geschrieben stand:
„Liebschreckwürdigste Ohje, ich lade dich herzlich zum Frühlingsendball auf den Langgraswiesen ein. Dein Knorzelfuß”
Die kleine Hexe Ohje bekam rote Wangen vor Freude. „Oh”, stöhnte Ohje, „dein Knorzelfuß, hat er geschrieben! Oh, wie bin ich aufgeregt! Er lädt mich zum Frühlingsendball ein!
Auf den Langgraswiesen ist das Frühlingsfest immer besonders schön. Das hohe Gras, die Heuschreckenmusik, die Spinnenbeinartisten kommen bestimmt auch! Oh, wie wunderschrecklich schön! Frühlingsendball!”
Ohje schnappte ihren Besen und tanzte mit ihm eine Runde durch die Küche.
Plötzlich blieb sie stehen, kratzte sich am Kopf und überlegte. „Wann ist eigentlich Frühlingsendball? Wo ist nur mein Kalender? Irgendwo zwischen den Hexenbüchern? Oder, nein, bei den Kartenlesekarten – auch nicht!
Oje, oje, Ohje, ein bisschen Ordnung wäre von Vorteil, schlumperdiwutsch! Hui, beinahe wäre ich auf den Gurkenschalen ausgerutscht. Ha, da ist er ja, mein Kalender! Ich möchte nur wissen, wer ihn in meiner Gemüseschale versteckt hat!
Am besten, ich sehe gleich nach: Januar, Februar, März, April, Mai, Juni – hier steht es: Frühlingsendball. Aber das ist ja heute! Schlumperdiwutsch, heute ist der Ball! Ich habe mich noch gar nicht vorbereitet!
Gerade heute, wo ich so viel zu tun habe! Heute wird die Pflanze zur Begrünung meines Häuschens geliefert. Die muss ich sofort einpflanzen, sonst verwelkt sie.
Ich mag Grünes! Ich liebe meinen Garten, die Bäume, die Kräuter, die Blumen, die Büsche! Er ist so romantisch, so gespenstisch, undurchdringlich grün, einfach zauberhaft! Deshalb wird mich nichts davon abhalten, das kleine Pflänzchen in die Erde zu setzen, bevor ich mich für den Ball ausstaffiere.
Oje, Ohje, was ziehe ich nur an? Das feuerrote Klatschmohnkleid oder den Blutpflaumenrock oder doch lieber den giftgrünen Blätterrock? Welches Make-up soll ich auftragen, das gelbe oder besser das grüne? Ob ich vorher noch eine Schlammmaske auflege?
Auf jeden Fall muss ich mir ein Haarwuchstonikum brauen. Meine Haare sind viel zu kurz. Ich will sie heute etwas länger tragen, für meinen Knorzelfuß. Oje, oje, Ohje, es gibt so viel zu tun!“
Es war weder zu heiß noch zu kalt. Es war genau das richtige Wetter, um den Garten in Ordnung zu bringen. Knelch, Bocke, Timbo und Lina liebten den Aufenthalt im Grünen, an der frischen Luft. Viele Stunden verbrachten sie mit Hacken, Harken, Pflanzen und Gießen, so auch heute. Während Knelch mit einer Hacke und Bocke mit ihrem Schnabel den Boden auflockerten, entfernten Lina und Timbo das Unkraut.
„Gartenarbeit ist keine leichte Arbeit, aber sie macht Freude”, lachte Knelch und grinste dem Hühnchen zu.
„Wenn es nur um Würmerhacken ginge, hätte ich mehr Spaß daran. So wird mein gelber, glänzender Schnabel ganz umsonst dreckig!”
Timbo entgegnete: „Wieso umsonst? Den Boden aufzulockern, gehört nun mal zur Gartenarbeit, genauso wie Pflanzen, Säen und Gießen.”
Lina hielt kurz inne und staunte. „Schaut nur, die schönen Grasnelken mit ihren hübschen rosaroten Blüten und die vielen Bäume mit ihren hellgrünen, dunkelgrünen und rötlichen Blättern ringsherum. Ohne die Pflanzen würde mir etwas fehlen!”
Knelch entfernte einen großen Löwenzahn. „Nicht nur dir, Lina, ohne Pflanzen würde es uns alle nicht geben. In ihren grünen Blättern entstehen bei Sonnenlicht aus dem Kohlendioxid in der Luft und aus dem Wasser, das aus dem Boden oder aus der Luft kommt, Sauerstoff und Traubenzucker.
Den Sauerstoff brauchen wir zum Atmen. Den Traubenzucker benötigen die Pflanzen, zusammen mit Mineralien aus dem Boden, zum Wachsen.
Pflanzen sind ein wichtiger Bestandteil unserer Ernährung. Auch Tiere, die nur Fleisch fressen, brauchen die Pflanzen, denn die Beutetiere ernähren sich von ihnen.”
Timbo fielen sofort die Heilkräuter ein. „In der Apotheke gibt es vieles aus Pflanzen.”
Lina sammelte das herausgezogene Unkraut auf und brachte es zum Komposthaufen. „Bestimmte Pflanzen haben in der richtigen Dosierung heilende Wirkung. Außerdem werden Pflanzen zur Herstellung von Kleidung verwendet.”
Bocke zog ihren Schnabel aus der Erde. „Soll ich dir ein paar Rhabarberblätter für den nächsten Rock pflücken?”
Lina kicherte: „Quatsch, Bocke! Ich meine, dass Pflanzen wichtige Rohstoffe für die Herstellung von Kleidung sind.”
Bocke putzte ihren Schnabel an Timbos Gartenhandschuh ab. „Ah, du meinst, dass ich mir aus Gras einen Graspullover stricken kann?”
„Nein, nicht aus Gras, viele Textilien werden zum Beispiel aus Baumwolle hergestellt.”
Timbo stemmte einen dicken Ast in die Höhe. „Wie wäre es mit Holzschuhen aus echtem Holz?”
„Holzschuhe gibt es tatsächlich!”, rief Lina.
Timbo legte den Ast auf einen Haufen aus Holzresten. „Aus Holz werden auch Möbel hergestellt. Sogar ganze Holzhäuser kann man aus Holz bauen. Unsere Gartenlaube ist zum Beispiel aus Holz.”
Knelch stützte sich auf seine Hacke. „Da seht ihr, wie wichtig Pflanzen für uns sind. Nachher erzähle ich euch noch ein bisschen mehr über den Zusammenhang von Pflanzen- und Tierwelt. Aber nun kommt erst einmal herein, die Kartoffelsuppe ist bestimmt schon gar!” Knelch ging in die Küche. „Oh, das duftet herrlich!”
Er wusch eine Hand voll Petersilie ab, schnitt sie in kleine Stückchen und streute sie über die Kartoffelsuppe. „Petersilie schmeckt und ist gesund. Mittagspause! Lasst uns essen!“
Die Hobbygärtner zogen ihre schmutzigen Schuhe aus, gingen ins Badezimmer und wuschen sich die Hände.
Bocke duschte ihren Schnabel und flog hungrig in die wohnliche Küche. „Wo nur unser Postbote, Herr Brieflein, bleibt? Sonst bringt er die Post schon zehn Uhr vormittags. Jetzt ist es gleich zwölf Uhr!”
Timbo schob die mit kleinen roten Blumen bestickte Küchengardine zur Seite und lugte aus dem Fenster. „Da kommt er schon mit dem Fahrrad!”
Knelch trabte zur Haustür. „Hallo, Herr Brieflein! Sie hatten wohl eine Radpanne?”
Der nette Briefträger mit dem grauen Vollbart stöhnte und stieg vom Rad. „Radpanne? Nein, nein, Knelch, mein Fahrrad ist in Ordnung. Ohne mein Fahrrad wäre ich heute ganz schön hilflos gewesen!”
Lina gesellte sich zu Knelch an die Haustür. „Ihr Fahrrad hilft Ihnen doch immer, die viele Post zu transportieren.”
„Ja, Lina, aber heute musste ich große Umwege fahren. Hu, ich bin noch ganz außer Atem!”
Timbo öffnete das Küchenfenster und winkte dem Briefträger zu. „Dann kommen Sie doch kurz herein und essen einen Teller Suppe mit uns! Sie haben bestimmt noch keine Mittagspause eingelegt.”
„Warum nicht, Timbo! Einen Happen Essen könnte ich jetzt wirklich gut vertragen.”
Während alle am runden Esstisch Platz nahmen und den in der Mitte stehenden Topf mit der heißen, dampfenden Kartoffelsuppe betrachteten, wandte sich Knelch an Herrn Brieflein. „Nun erzählen Sie doch bitte, warum Sie heute so große Umwege fahren mussten! Wird an der Hauptstraße wieder gebaut? Gab es einen Wasserrohrbruch in der Stadtstraße?”
„Nein, nein!”, antwortete Herr Brieflein und schüttete sich eine Kelle Suppe auf seinen Teller. „Die Stadt sieht heute ganz besonders, ja, idyllisch aus. Aber die Wege sind zum Teil überwuchert.”
„Überwuchert?” Knelch war überrascht.
„Ja, zugewachsen, ich konnte keine hundert Meter fahren, ohne dass ich absteigen und über eine Art Schlingpflanze klettern musste. Manche Hauseingänge und Fenster waren so berankt, dass die Feuerwehr anrückte, um die Bewohner zu befreien!”
Timbo verschluckte sich fast. „Das gibt es ja gar nicht!”
„Doch – und nicht nur das! Einige kleinere Bäume sind von der Schlingpflanze geradezu erdrückt worden.”
Knelch konnte es kaum fassen. „Erdrosselte Bäume!”
Der Postbote berichtete weiter. „Eine Brücke über den Blauen Fluss musste gesperrt werden, weil sie drohte, von der Last der sich an ihr hochrankenden Pflanzenmassen zusammenzubrechen.”
Bocke reckte ihren gelben Schnabel nach vorn. „Wer fliegen kann, ist deutlich im Vorteil!”
Knelch zerkaute gerade ein Würstchen. „Was unternehmen die Leute in der Stadt gegen die Pflanze?”
„Die Gärtner versuchen, sie mit Motorsägen in den Griff zu bekommen, bislang vergeblich. Die Pflanze wächst in Minutenschnelle wieder nach. Inzwischen tagt der Stadtrat und berät, was weiter unternommen werden soll.”
Knelch löffelte den letzten Rest von seinem Teller. „Wir müssen sofort in die Stadt und uns diese wuchernde Schlingpflanze ansehen!”
Der Postbote erhob sich. „Ich werde wieder an meine Arbeit gehen. Meine Posttasche ist nicht mehr schwer. Drei Straßen noch, dann ist mein Job für heute erledigt. Schönen Dank für die Kartoffelsuppe, die war wirklich lecker!”
Lina begleitete den Gast zur Tür. „Keine Ursache, Herr Brieflein! Bis morgen!”
Knelch überlegte kurz. „Bocke, nimm bitte unsere Minikamera mit! Du kannst von oben Fotos schießen.”
„Die schwersten Sachen lasten immer auf mir. Hoffentlich hält mein zarter Hühnerhals das aus!”
„Am besten, wir gehen zu Fuß”, schlug Timbo vor. „So können wir leichter über die merkwürdige Schlingpflanze klettern. Bis zur Stadt ist es ja nicht weit!”
Zu Fuß machten sich Knelch und seine Freunde auf den Weg in die Stadt. Sie marschierten über den grauen Pflasterweg, der von knorrigen alten Eichen gesäumt war, und freuten sich an den mit Frühlingsblumen übersäten Hügelwiesen.
Lina entdeckte die wundersame Schlingpflanze zuerst. „Seht mal, die Stadtmauer ist wunderschön begrünt. Ich kann das Mauerwerk kaum noch erkennen.”
„Das wird der Riesenschlinger sein”, vermutete Timbo. Knelch bangte: „Hoffentlich kommen wir noch durch das Stadttor!”
„Ihr habt doch euer Hühnchen”, bemerkte Bocke. „Ich könnte zur Not über das Tor hinwegfliegen.”
*
Endlich hatten sie den Eingang zur Vergessenen Stadt erreicht. Das Stadttor war über und über mit hellgrünen, eiförmigen, handgroßen Blättern bedeckt, die ständig raschelten und wackelten, denn ihre Stängel wuchsen zum Zugucken schnell. Sie schoben sich unaufhörlich weiter über das Gemäuer hinweg, wie lange grüne Schlangen.
Knelch mahnte zur Eile. „Schnell, lasst uns weitergehen, bevor die Ranken uns den Weg versperren!”
Lina verschlug es fast die Sprache. „Das sieht wie in einem botanischen Garten aus – überall Pflanzen!”
„Ja!”, nickte Timbo. „Nur dass es sich hier um eine einzige Pflanzenart handelt!”
Bockes Schnabel blieb vor Staunen offen stehen. „Ist das die grüne Hölle?”
Knelch war nicht weniger überrascht. „Nein Bocke, das ist ganz sicher Zauberei!”
„Wenn das hier Rosen wären, würde ich denken, wir wären am Schloss von Dornröschen angelangt”, staunte Lina.
Timbo verdrehte die Augen. „Typisch Mädchen, alles ist romantisch!”
Knelch pflückte sich einige Blätter von der Wucherpflanze ab und machte sich ergänzende Notizen auf seinem kleinen Schreibblock. Bocke schoss Fotos aus der Luft. Dann gingen die vier eilends zurück nach Hause.
In der Gartenlaube machten sich Knelch und seine Freunde sofort an die Arbeit. Knelch nahm sich ein großes Pflanzenlexikon zur Hand und versuchte herauszufinden, um welche wuchernde Pflanze es sich handelte. Timbo und Lina schauten sich zusammen mit Bocke die Fotos auf der digitalen Kamera an.
Knelch blätterte in seinem großen Pflanzenbuch und murmelte vor sich hin.
„Was es alles für Pflanzen gibt! Algen, Laubmoose, Farne, Samenpflanzen ...
Samenpflanzen sind in Wurzel, Sprossachse und Blätter gegliedert. Es gibt etwa 360.000 Pflanzenarten. Ihr Grundbaustein ist die Zelle ...
Hier steht es, Pflanzenbestimmung ... Kletterpflanzen, Schlingpflanzen...
Richtig! Nein, der Stängel ist nicht rot! Hier, die Blätter könnten passen, Laub eiförmig, zehn Zentimeter lang, hellgrün.
Was steht dazu geschrieben? Raschwüchsiger Schlinger, der junge Bäume zum Absterben bringen kann. Hohes Gewicht und Druck können bei zu dünnen Kletterhilfen problematisch werden, in allen Teilen giftig.
Ja, das muss er sein. Es handelt sich offensichtlich um einen Gemeinen Baumwürger.
Der Pflanzenname klingt erschreckend. Die Pflanze ist aber nicht mehr und nicht weniger gefährlich als viele andere Kletterpflanzen auch, wenn man sie an die richtige Stelle pflanzt.
Sie wird gern zur Begrünung von Pergolen und Mauerwänden verwendet. Es gibt männliche und weibliche Pflanzen. Im Herbst trägt sie rote Früchte, die zwar sehr dekorativ, aber leider auch giftig sind ... so wie viele Früchte in der Natur.”
Lina nahm sich einen Apfel aus der Obstschale und biss hinein. „Deshalb dürfen wir nur solche Beeren kosten, von denen wir ganz genau wissen, dass sie ungiftig sind, zum Beispiel Stachelbeeren oder Johannisbeeren aus dem Garten oder vom Markt.”
Timbo nahm sich auch einen Apfel. „Was soll ich eigentlich anstellen, wenn ich aus Versehen eine unbekannte, vielleicht giftige Beere genascht habe?”
„Du musst sofort ganz viel Wasser, Tee oder Saft trinken”, antwortete Lina, „die Giftinformationszentrale oder einen Arzt anrufen und eine Beere mitnehmen, damit der Arzt zweifelsfrei ermitteln kann, um welches Gift es sich handelt, das du da verschluckt hast.”
„Du bist ein schlaues Mädchen, Lina”, lobte Knelch. „Aber auch du kannst mir sicher nicht verraten, warum eine ganz normale Kletterpflanze plötzlich mit einer abnormen Geschwindigkeit unaufhörlich wächst. Der Gemeine Baumwürger wird, nach Angabe meines Pflanzenlexikons, maximal zehn Meter lang.”
Lina zuckte mit den Schultern. „Da bin ich überfragt.”
Timbo machte einen Vorschlag. „Bestimmt sind wir schlauer, wenn wir den Ursprung, das heißt die Wurzel der Pflanze, entdeckt haben.”
„Kluger Gedanke!”, sagte Knelch. „Können uns Bockes Fotos dabei helfen?”
Timbo tippte ein Foto nach dem anderen auf der Kamera an. „Auf den meisten Bildern sieht man nur grünes Gestrüpp, das an einem Bildrand anfängt und am anderen aufhört. Nur einmal muss Bocke ganz weit nach oben geflogen sein ...”
„Wie ein Adler!”, schwärmte das Huhn.
Timbo zeigte Knelch den Apparat. „Siehst du, da bildet die Pflanze eine Art Berg. Das ist auf den Langgraswiesen, am östlichen Ende der Stadt. Mehr ist nicht zu erkennen.” Knelch sah nachdenklich aus dem Küchenfenster. „Die Langgraswiesen – die Gegend ist manchmal unheimlich, besonders im Herbst, bei Nebel.”
Lina bekam eine Gänsehaut. „Wohnen dort Gespenster?”
Bocke wurde es flau in der Magengegend. „Hühnergespenster?”
Timbo kicherte: „Gespenster? Quatsch! Aber eine alles überwuchernde Pflanze hat dort vermutlich ihre Wurzel. Irgendwann hat der Baumwürger auch unsere schöne Gartenlaube erreicht. Wenn wir nicht sofort handeln, brechen womöglich unsere kleinen Kirschbäume von der Last einer verrückt gewordenen Pflanze zusammen!”
„Stimmt, Timbo!”, brummte Knelch. „Lasst uns am besten gleich zu den Langgraswiesen aufbrechen. Packt bitte die notwendigsten Sachen und etwas Verpflegung in eure Taschen!”
Rosella blickte entsetzt in Richtung Kakteenhain. Selbst ihre stachlige Vorhut konnte die rasend schnell wachsende Schlingpflanze nicht aufhalten. Was für Menschen und ungebetene Gäste immer ein wirkungsvolles Hindernis darstellte, wurde jetzt vom Gemeinen Baumwürger geschwind überwuchert. Bald würde Rosellas Garten von einer einzigen grünen Masse überdeckt werden.
Der Garten war Rosellas Lebenswerk. Hier wuchsen die einzigartigsten Blumen der Erde. Rosella mochte alle Blumen gerne. Aber die hier waren etwas ganz Besonderes. Es waren Namensblumen.
Namensblumen gab es nur im Hügelwiesenland. Sie hießen deshalb Namensblumen, weil jede Blume die Fähigkeit hatte, das zu tun, was ihrem Namen entsprach.
Der Klatschmohn zum Beispiel bekam hier besonders kräftige grüne Blätter, mit denen er saftige Ohrfeigen verteilen konnte. Die Sonnenblumen strahlten mit ihren gelben Blütenblättern eine fast unerträgliche Hitze aus. Jede Berührung führte zu einer leichten Verbrennung. Die Glockenblumen bimmelten schon bei leichtem Wind den ganzen Tag lang. Diese und noch viele andere Blumen bezauberten Rosella immer wieder. Sie waren ihr Ein und Alles.
Im Zaubergarten blühten die Blumen das ganze Jahr über, im Herbst und Winter genauso wie im Frühling und Sommer. Außerdem wurden sie durch Rosellas Wachstumsdünger mindestens fünfmal so groß wie ihre normalwüchsigen Verwandten. Ein Tausendschönchen wurde hier fast einen Meter hoch, Rosen erreichten die Größe von ungefähr vier Metern, und Sonnenblumen konnten fast fünf Meter lang werden.
Rosellas rosige Wangen waren knallrot wie der Klatschmohn in ihrem Garten. Schon seit Stunden wälzte sie ihr Blumenzauberbuch, machte sich Notizen und testete an kleinen Gänseblümchen die Wirkung des einen oder anderen Spruchs.
„Humus Blumus, Blumen meine, macht euch auf zwei Stängelbeine!”
Schon sprossen dem Gänseblümchen zwei dünne Beinchen, die jedoch tief im Erdboden festsaßen.
„Mir gelingt aber auch gar nichts!”, fluchte Rosella, schwang ihren rosaroten Zauberstab und rief: „Rückeldiputz!”, und das Gänseblümchen sah wieder genauso aus wie die anderen auf der Wiese.
Rosella blätterte in ihrem Blumenzauberbuch, hielt inne, stellte sich erneut breitbeinig vor das Blümchen, richtete ihren Zauberstab in die Höhe und säuselte:
„Humus Blumus, Blütenblatt, jede Blüte Beine hat!”
Rosella fiel auf die Knie und starrte das Blümchen an, das nun an jedem Blütenblatt ein kleines Beinchen hatte, mindestens fünfzehn Stück.
„Rückeldiputz!”, stöhnte Rosella erneut und das Gänseblümchen hatte seine alte Gestalt wieder.
Rosella war verzweifelt. Sie schnäuzte in ihr blütenweißes Taschentuch, wobei ihr Blick auf den großen Sandsteinblock fiel, der wie ein Findling vor ihrer großen Villa lag.
Rosella stand auf, ordnete ihr Haar, klemmte ihr Zauberbuch unter den Arm und ging auf den mannshohen Stein zu.
Langsam legte die Zauberin ihr Blumenzauberbuch auf den gelblichen Sandstein, stellte sich kerzengerade neben ihn, schloss die Augen, hob ihren rosaroten Stab in die Höhe und murmelte vor sich hin.
Zack! Da zischten feuerrote Blitze aus dem Zauberstab. Sie zuckten bis in den Himmel hinauf. Rosella bebte vor Angst. Ein Wind kam auf, ein kleiner Wirbelwind, genau da, wo das Zauberbuch auf dem Felsblock lag. Rosella stand fest wie eine steinerne Säule auf dem Boden und rührte sich nicht. Erst nach fünf Minuten, als sich der Wirbelsturm wieder gelegt hatte, wagte sie es, ihren Arm wieder nach unten zu nehmen und ihren Kopf zu bewegen.
Vorsichtig blinzelte sie in Richtung Zauberbuch, das noch immer auf dem Felsblock lag. Als sie ein Rosenblatt erblickte, das mit einem Stachel auf einer aufgeschlagenen Buchseite stach, kehrte das Lächeln in Rosellas Gesicht zurück. „Danke, Windrose!”, rief sie gen Himmel, verbeugte sich und vernahm den kleinen roten, zuckenden Blitz am Horizont.
Rosella nahm vorsichtig das dicke Zauberbuch vom Stein und entfernte den Rosenstachel aus der Seite 2049. Dann lief sie geschwind zum Gänseblümchen zurück, kniete sich nieder und las laut den Spruch auf Seite 2049.
„Humus Blumus, Blütenschnee, Blümchen, grab dich aus und geh!”
Das kleine Gänseblümchen neigte sich nach vorn, wackelte und zog an seinem Stängel, bis es, zupf, sich von der Erde erhob und auf zwei hübschen grünen Beinen auf dem Gartenweg stand.
„Komm her, Gänseblümchen!”, rief Rosella und breitete ihre Arme aus.
Da lief das Blümchen erst langsam und dann immer schneller, bis es in Rosellas Armen lag. Rosella lachte!
Dann guckte sie und guckte noch einmal. „Gänseblümchen, du hast ja einen Mund! Na klar! Wie sonst soll das Blümchen jetzt trinken!”, kicherte die Zauberin, rollte schnell ein kleines Salatblatt zu einem Trichter zusammen und reichte der Gänseblume ein paar Tropfen Wasser.
Siegesgewiss schaute Rosella zum Kakteenhain, der bald gänzlich von der wuchernden Schlingpflanze bedeckt war.
„Auf, ihr Namensblumen, wir müssen uns beeilen!” Mit den Worten ergriff die Zauberin den Zauberstab und ging zuerst zu den Löwenmäulern.
Ohje hatte mit Knorzelfuß fast die ganze Nacht getanzt. Erst als die Glühwürmchenbeleuchtung wegen fehlender Dunkelheit ausgeschaltet wurde, als die Spinnen bei ihren akrobatischen Künsten einschliefen und sich die Nachtigall wegen Heiserkeit einen Salbeitee bestellte und die Musik verklang, war der Frühlingsendball auf den Langgraswiesen beendet. Ohje und Knorzelfuß taumelten glücklich über den Wiesenweg zurück nach Hause.
Knorzelfuß versprach Ohje, ihr noch einen kleinen Morgenimbiss zu reichen. Er bewohnte ein Häuschen, das ganz aus Wurzeln gebaut war und deshalb unter der Erde lag. Ohje liebte gutes Essen, vor allem nach einer durchtanzten Nacht. Knorzelfuß hatte für sie beide ein deftiges Frühstück mit gekochten Krokodileiern und Quittenmarmelade zubereitet. Die zwei Verliebten aßen und plauderten noch lange über dies und das.
Doch nun, als die Mittagszeit schon längst vorbei war, wurde die Hexe Ohje müde, sehr müde. Die Augen fielen ihr zu und ihr Kopf sackte des Öfteren zur Seite. Sie wollte nur noch eins, nach Hause in ihr kuscheliges Federbett und schlafen, tief schlafen.
Ohje verabschiedete sich mit einem dicken Schmatzer von Knorzelfuß und machte sich auf den Weg zu ihrem Haus. Nach einem fünfzehnminütigen Spaziergang durch hohes Gras und buschige Sträucher am Blauen Fluss entlang kam sie endlich an.
„Hu, bin ich müde! Vor lauter Müdigkeit kann ich mein Haus gar nicht mehr erkennen. He? Hier stand doch ... Ich wohne doch ... Bin ich verrückt geworden? Oje, oje, Ohje, jetzt finde ich vor lauter Schusseligkeit mein eigenes Haus nicht mehr. Hier ist die Steinerne Brücke über den Blauen Fluss, da steht die hohle Eiche und da, au, verflixt, ach – mein Po!
Die verdammte Schlingpflanze. Wo kommt die nur her, mitten auf dem Weg? Moment, die sieht aus wie ... genau, so eine Pflanze habe ich gestern Mittag an mein Haus gepflanzt. Gemeiner Baumwürger heißt sie. Der Name ist doch würdig für ein romantisches Hexenhaus wie meines, oder?
Das ist, nein, das kann doch nicht möglich sein! Der Baumwürger hat mein ganzes Haus in einen grünen Urwald verwandelt, mein Haus! Du gemeine Pflanze! Bist du etwa ein Hauswürger? Oje, oje, Ohje, das ist ein Albtraum!
Wo ist nur mein Zauberstab? Im Haus natürlich, wo sonst. Wenigstens habe ich mein großes Taschenmesser bei mir.
Schnipp und schnapp, weg mit dir, du Hausvernichter! Noch ein Schnitt und – oh weh, oh weh, die abgeschnittenen Ranken werden lebendig! Sie kriechen an meinen Beinen hoch! Au, meine Haare, meine Arme! Hilfe! Ich werde gefesselt! Hilfe! Hört mich denn niemand?”
Die kleine Hexe Ohje hing verzweifelt in den Schlingen ihrer eigenen Pflanze fest. Obwohl Ohje sehr müde war, hörte sie ein feines, dünnes Stimmchen inmitten des Blätterwirrwarrs:
„Hier ist der Grünwicht, dich hört niemand nicht!”
So klang es immer wieder. „Was warst du auch so unvorsichtig, Hexlein? Du hast mir alles zur Selbstbedienung überlassen: dein wundervolles Haarwuchsmittel und deinen frisch gepflanzten Baumwürger ...
von der allerfeinsten Sorte! Ei, da fehlen dir die Worte!”
Die Hexe Ohje war stumm vor Schreck. Wer sprach da zu ihr? Was war passiert? Was hatte sie falsch gemacht? Atemlos lauschte sie weiter.
„Nicht du bist die Schuldige, nein!”, plärrte die quiekende Stimme. „Die Menschen sind´s, die alles betonieren. Schau dir die Vergessene Stadt doch an!
Sie ist ein einziger, nach Autoabgasen stinkender, grauer Betonklotz, ohne Flair, ohne ein bisschen Grün. Die Stadt ist tot! Auf meiner letzten Schmetterlingswiese in der Langen Straße hat der Bürgermeister einen Supermarkt bauen lassen, den fünften in der Stadt. Insekten und Vögel sind längst verschwunden aus dem Häuserlabyrinth, bis auf ein paar Krähen, die die vergammelten, fettigen Brötchen aus den Papierkörben fressen.
Der Bürgermeister ist so armselig! Ein wenig Grünes wird ihm gut tun. Warum soll die Flora, die Welt der Pflanzen, immer nur nach seiner ehrenwerten Nase tanzen?
Jetzt, wo die rasend schnell wachsende Pflanze die tristen Mauern der Stadt überzieht, haben die armen Stadtkinder auch einmal etwas Grünes vor den Augen. Ein bisschen zusätzlicher Sauerstoff wird die Kleinen nicht umbringen, sondern eher glücklich machen!
Wahrscheinlich hat der Herr Bürgermeister noch nie etwas von Fotosynthese gehört! Ein wenig Nachhilfe in Biologie hätte er bitter nötig!
Doch egal ob er die Natur versteht oder nicht, wenn er meine Forderungen nicht erfüllt, wird ihn meine wilde Wucherpflanze umschlingen und ihn nie mehr loslassen, hi, hi!”
Die Hexe Ohje konnte es kaum glauben. Der Grünwicht, der Herr der Flora, hatte es sich unter ihrem Haus bequem gemacht. War das eine Ehre oder eine Frechheit?
„Oje, oje, Ohje!”, jammerte die gefesselte Hexe. „Wahrscheinlich hat sich der Grünwicht die ganze Zeit recht wohl bei mir gefühlt. Schließlich ist mein Garten mit seinen Blumen und den vielen Kräutern ein kleines Paradies. Keine Frage, es ist eine Ehre für mich, dass ein Grünwicht unter meinem Haus lebt!
Aber es ist und bleibt eine Frechheit, dass er sich meines Zaubergebräus und meiner Pflanze bedient hat, ohne mich zu fragen!
Der Herrscher der Pflanzenwelt ist sauer auf die Menschen, die alles zubetonieren, aber ich sitze in der verzauberten Pflanze fest und bin ganz unschuldig! Der grüne Lümmel könnte mich aus Dankbarkeit für meine ungewollte Unterstützung wenigstens aus meiner eigenen Pflanze befreien! Was mache ich nur?”
Ohje blieb nichts anderes übrig, als auf fremde Hilfe zu hoffen. Allein konnte sie sich aus den Fängen der Schlingpflanze nicht lösen.
Knelch und seine Freunde ließen keine unnötige Zeit verstreichen. Auf dem Foto, welches Bocke aus der Luft geschossen hatte, war ein verdächtig großer Pflanzenberg zu erkennen. Er lag in den Langgraswiesen, nahe der Steinernen Brücke. Dort vermuteten Knelch und seine Freunde die Wurzeln des Gemeinen Baumwürgers.
In der Hoffnung, hier die Lösung der abnorm wachsenden Pflanze zu finden, machten sich die vier Abenteurer reisefertig.
Mit ein wenig Proviant in ihren Taschen marschierten sie los. Ihr Weg führte sie quer durch die hügelige Landschaft bis zu den Langgraswiesen. Bald reichte den Puppenkindern das Gras bis zum Bauchnabel. Irgendwann wurden Lina und Timbo von Grashalmen überragt, sodass sie auf Knelchs Rücken steigen mussten. Bocke flog stets voran und erkundete den Reisepfad.
Nach zwei Stunden hatten die Wanderer die Steinerne Brücke erreicht, die über den Blauen Fluss führte.
Lina reckte ihren Kopf in die Höhe und schaute sich um. „Der Pflanzenberg auf dem Foto war ganz in der Nähe dieser Steinbrücke.”
Timbo zeigte auf eine undurchdringliche Blätterwand unweit der Brücke. „Seht ihr den Schlingpflanzenberg da drüben? Das muss die Stelle sein, die wir auf dem Foto gesehen haben.”
Auch Bocke kam angeflattert und rief aufgeregt: „Alles anhalten! Wir sind da!”
Knelch blieb abrupt stehen. „Pst, Bocke! Ich höre jemanden jammern. Es klingt wie die Stimme einer jungen Frau. Aber ich sehe nichts!”
Timbo zog die Stirn kraus. „Ich höre nichts und sehe nur noch Schlingpflanzen.”
Lina näherte sich vorsichtig dem Pflanzengewirr. „Das ist kein Berg! Unter den Pflanzen steht ein Haus. Seht ihr dort oben den Schornstein?”
Timbo besah sich den vermeintlichen Pflanzenberg etwas genauer. „Tatsächlich, ein überwuchertes Haus!”
„Ha!” Bocke sauste in die Höhe. „Dort bewegt sich etwas! Die Blätter wackeln!”
Lina bekam eine Gänsehaut. „Hu, ist das gruselig!”
Knelch wiegte beruhigend seinen Kopf zur Seite. „Keine Angst, Lina! Da hinten liegt eine Frau. Offensichtlich hängt sie in der Pflanze fest.”
Timbo, Lina, Knelch und Bocke bahnten sich Schritt für Schritt einen Weg durch das Dickicht der Wucherpflanze.
Endlich sahen sie die Gestalt deutlich vor sich, eine kleine Hexe mit freundlichem Gesicht und mit sehr langen orangeroten Haaren. Da sie einen giftgrünen Blätterrock und eine braune Bluse mit gelben Punkten trug, war sie inmitten der grünen Schlingpflanze kaum zu sehen. Die Pflanze hatte ihr nicht nur die Arme und Beine gefesselt, auch ihre schönen langen Haare waren fest von kräftigen Stängeln und Blättern umschlungen. Als sie die beiden Puppen, den Elch und das Huhn erspähte, stöhnte sie erleichtert auf.
„Oje, oje, Ohje, es kommt Hilfe. Hier bin ich! Ich bin gefesselt von meiner eigenen Pflanze! Ich heiße übrigens Ohje.”
Knelch lachte herzlich. „Wir sind Lina, Timbo, Bocke und ich bin Knelch. Wir kommen aus der Schrebergartenkolonie, um zu sehen, was hier draußen los ist. Warten Sie, Ohje, noch etwa fünf Meter, dann sind wir bei Ihnen. Ich hole gleich mein Messer aus der Tasche. Damit kann ich Sie von den pflanzlichen Fesseln befreien.”
„Nein, nicht mit dem Messer!”, widersprach Ohje hastig. „Dann wird alles noch schlimmer! Ich wollte mir vorhin mit einem Taschenmesser Zugang zu meinem Haus verschaffen. Dabei hat sich jeder durchgeschnittene Stängel wie ein Strick um meine Arme, Beine und um meine langen Haare gelegt.”
Timbo machte einen anderen Vorschlag. „Wir werden versuchen, die Fesseln von Ihnen abzustreifen. Aber erst müssen wir uns durch das Grünzeug bis zu Ihnen vorarbeiten.”
„Setzt euch am besten auf meinen Rücken!”, sagte Knelch. „Dichtes Gestrüpp ist für Elche kein Hindernis.”
„Toll Knelch, wir reiten durch den Dschungel!”, riefen Timbo und Lina und stiegen auf den Rücken ihres Freunds. Bocke hockte sich auf sein Geweih.
Knelch schritt mutig voran. „Gleich sind wir da! Nur noch ein paar ... Ah! Hilfe! Wir fallen!”
Nach wenigen Sekunden standen Lina, Timbo, Bocke und Knelch im Dunkeln.
„Notlandung geglückt!”, sprach Knelch. „Das ist ganz sicher eine Falle oder genauer gesagt eine Fallgrube!”
Lina rutschte ängstlich von Knelchs Rücken. „Es fragt sich nur, wer uns gefangen hat?”
Bocke drehte ihren Kopf nach allen Seiten. „Hier ist es dunkler als im Hühnerstall.”
Auch Timbo sah sich um. „Dunkel ist es schon, aber mir scheint, als würde hier irgendwo ein mattes grünes Licht leuchten.”
„Bei Grün kannst du gehen!”, gackerte Bocke.
Lina überlegte: „Wo gibt es grüne Höhlen?”
Knelch lachte: „Schaut, da drüben steht eine Bank aus grünem Moos. Die ist sicher für die Besucher der Fallgrube gedacht!”
„Vielleicht sind wir im Wartezimmer eines Regenwurmarztes gelandet!”, kicherte das Hühnchen.
Timbo setzte sich auf die weiche Moosbank. „Ohne Moos nichts los!”
Lina war etwas skeptischer. „Mir scheint vielmehr, dass hier auch mit viel Moos nichts los ist!”
Knelch war plötzlich ganz still und flüsterte: „Pst, ich höre jemanden reden, mit einer ganz piepsigen Stimme. Es könnte ein Zwerg sein.”
„Ein Gartenzwerg?”, witzelte Bocke. „So ein langweiliger Zipfelmützenträger mit einer Angel oder einem Pilz in der Hand?”
„Nein”, wisperte Knelch, „ein lebendiger Zwerg!”
„Zwerge, Zwerge, ich bin kein Zwerg!”, keifte eine quiekende Stimme ganz aus der Nähe.
Knelch und seine Freunde starrten gespannt in das Dunkel.
Bald trippelte ein kleines grünes Männlein, nicht größer als ein mittlerer Gartenzwerg, vor ihre Füße, stellte sich breitbeinig hin und stemmte seine sehnigen Arme in die schmalen Hüften. Seine schwarzen Augen funkelten böse. Seine Nase sah aus wie ein abgeschnittener Kohlrabi. Der breite Mund reichte von einem blättrigen Ohr zum anderen. Auf seinen borstigen Haaren trug das Kerlchen einen spitzen Hut. Unter seiner Kleidung, die aus einer Baumwollweste und einem Rock aus Pampasgrasrispen bestand, lugten muskulöse Arme und Beine hervor.