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Smink, Sön, Hajen und Frieda entdecken im Hohen Tannenwald eine schwarze Wolke und wollen erforschen, was es damit auf sich hat. Frieda wird dabei auf den Glasfelsen entführt, zum Giftmischer Eisenhut. Hajen und Smink werden von der schönen Sahrine ihrer Lebensjahre beraubt und ziehen als Greise zum Hohen Tannenwald, wo der Herrscher von Finsterburg, Lanzo, sein Unwesen treibt. Er besitzt die Weiße Muschel, die über die Zauberkräfte des Einhorns verfügt. Bei der Jagd nach der Muschel verliert die Sahrine ihre Uhr, mit der sie die Lebensjahre anderer stehlen kann, um ihre eigene Jugendlichkeit und Schönheit zu bewahren. Schüler, Lehrer, Tiere und Hexen nehmen große Gefahren auf sich, um die Sahrine zu bezwingen und zu dem Mädchen werden zu lassen, das sie einst war.
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Seitenzahl: 326
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Eisenhut
Finsterburg
Das Hologramm
Pling
Wolke vor dem Schualleh
Aufbruch
Einhornwiesen
Die Weiße Muschel
Gustavos Fang
Wasserhexe Moorella
Der Herrscher von Finsterburg
Vergebliche Suche
Frieda bei Eisenhut
Hexe Stummelzahn kommt an
Bei Professor Grünzimus
Die Sahrinenfee
Maskerade auf Finsterburg
Moorella und die unbekannte Nixe
Muschel in Gefahr
Vom Holzscheit fast erschlagen
Der Gang der Wahrheit
Verräterischer Wirbelsturm
Miezi auf Abwegen
Grünzimus´ Wassergarten
Alles unter Kontrolle
Unsichtbarer Besuch
Gustavo überbringt Neuigkeiten
Die grünen Blasenfeen
Abflug in den Wasserbottich
Miezi in Kuh-Größe
Grünzimus´ Villa voller Lehrer
Wiedersehen im Hohen Tannenwald
Stummelzahn lernt schwimmen
Die gefangene Muschel
Nacht auf Finsterburg
Die Geister der Ameise Amikon
Die Sahrine erwacht
Morgenrot auf Finsterburg
Die belauschte Sahrine
Die grüne Wolke
Quaks, der Superfrosch
Zwei Hexen im Seekuh-Anzug
Die violette Katzenkopftasche
Moorella steckt fest
Lanzos Erwachen im Schaumgummi
Quallen-Frau mit Tentakeln
Baby an Bord
Stummelzahn wird grün
Katzenkopftasche mit Inhalt
Die verzauberten Männer
Frau Holle auf Finsterburg
Stummelzahn friert
Stummelzahns Zauberkünste
Babygeschrei am Schwarzen Strand
Sön und der große schwarze Vogel
Das fliegende Quarkbällchen
Lüs dunkles Gefängnis
Muschel um Muschel
Mit Periskop im Geheimzimmer
Die vereiste Badewanne
Unheimliche Drohungen
Lichtkegel über Unterland
Eisenhuts Kette
Baby auf Blütenstaub
Grüne Hagelkörner
Imaginäres Feuer
Frau Holles Eis-Blitz
Der Zauber der Weißen Muschel
Die Geschichte der Sahrine
„Klare Sicht heute“, brummte Eisenhut. Der Greis ließ seinen Blick über den Glasfelsen gleiten. Er vernahm das Plätschern des roten Eisenbachs, der sich wie Himbeersaft um den durchsichtigen Berg schlängelte. Von seiner blauen Hütte am Berggipfel konnte der hagere Mann halb Unterland überblicken. „Fast windstill“, murmelte er und warf einen kurzen Blick über den Klaren See, Richtung Pling, zu den rauen Spitzen des Kahlbergs am östlichen Seeufer und auf den Hohen Tannenwald im Norden. Der Alte bekam eine Gänsehaut beim Anblick des düsteren Walds und schloss die Haustür. Er wankte zurück zum Arbeitstisch, schnappte sich das inzwischen abgekühlte Glasröhrchen mit der zähflüssigen Masse und zog sich einen Holzstuhl heran.
Eisenhuts dürre Hände zitterten ein wenig, als er sich die leuchtend blaue Tinktur über den Arm strich. „Sonnentaukleber – vielleicht ist er das Wundermittel, das alles löst? Ja, sogar mich! Ha, ha! Wenn ich die Unsichtbarkeits-Tinktur erst gefunden habe, werde ich es der Kreatur heimzahlen, der ich meine schändliche Gestalt zu verdanken habe – ein alter Greis mit überdimensionalen Ohrläppchen! Oh, wie mich die Leute nach meinem Unglück verabscheut und erniedrigt haben, nur weil mein Gesicht mit tiefen Falten durchzogen ist und meine Ohren wie zwei rote Lappen herunterhängen! Ah, mir wird schon wieder schwindlig! Ich darf mich nicht aufregen! Ich muss mich konzentrieren. Wer weiß, vielleicht fehlt nur noch eine winzige Zutat in der Mixtur?“
Eisenhut beobachtete seinen Arm. Der wurde klatschmohnrot, schwoll in Sekundenschnelle an wie ein Luftballon und brannte wie Chilisoße. Jammernd schleppte sich der alte Mann zum Waschbecken und versuchte, die klebrige Masse von seiner runzligen Haut zu waschen. Seine entzündeten Augen blitzten wütend auf, als er in den Rasierspiegel blickte und ihm mindestens 13 kleine Fliegenpilze um die Nase herum gewachsen waren. Eisenhuts Gesicht mit den hohen Wangenknochen, das sonst jedermann Angst einflößte, sah jetzt schrecklich komisch aus.
„Verfluchtes Gebräu! Ferrohutzium!“, fluchte der Giftmischer und raufte sich seine schlohweißen Haare, die ihm bis auf die Schultern hingen. Der Fluch ließ die rote Flüssigkeit in seinem Kettenanhänger brodeln. Verzweifelt starrte Eisenhut zum Fenster.
„Gustavo, ich habe dich schon längst entdeckt! Was gibt’s? Liegen keine Knochen mehr im Abfall? Oder sind dir wieder ein paar Federn ausgegangen?“
Der Geier räusperte sich: „Nein, mein Maestro, ich habe sie gesehen!“
„Wen hast du gesehen?“
„Na sie, die grünen Blasenfeen, es waren mindestens siebeneinhalb!“
„Blasenfeen? Nein! Dann auch noch siebeneinhalb? Ich habe noch nie eine halbe Fee zu Gesicht bekommen!“
„Ja gut, vielleicht hat sich eine Fee gebückt oder eine Kniebeuge gemacht!“
„Es war sehr klug von dir, mir Bescheid zu geben, mein Freund! Blasenfeen sind sehr mächtig. Sie zeigen sich nur selten der Öffentlichkeit. Du bist eingeladen für heute Abend, zum Schneckengulasch. Kommst du?“
Gustavo verdrehte seine schwarzen Augen, die rechts und links neben seinem kräftigen Schnabel prangten und von seinem roten Hals abstachen. „Ich bin doch kein Weichtier-Ei!“
Dann hüpfte der ein Meter große Vogel auf das lange Fensterbrett, breitete seine schwarzen Flügel aus und schwang sich vom Glasfelsen herab. Er liebte diesen durchsichtigen, scharfkantigen Berg aus purem Glas, unter dem bizarr anmutende Pflanzen versiegelt lagen. Der Himmel spiegelte sich mal grau, mal blau im Glasberg. Bei Sonnenschein war es manchmal unmöglich, einen Blick auf den Felsen zu werfen. Er reflektierte das Sonnenlicht wie ein gigantisch großer Spiegel. Die kegelförmige, blaue Hütte des Eisenhuts war deshalb nicht immer zu sehen. Sie saß wie eine viel zu klein geratene Zipfelmütze auf dem kahlen Glasfelsen und wurde deshalb „Blauer Hut“ genannt.
Gustavo brauchte nicht weit zu fliegen. Schon nach einer halben Stunde hatte er die schwarze Zone im Hohen Tannenwald erreicht. Er zögerte kurz. Sein Gefieder sträubte sich, als er mit geschlossenen Augen in die schwarze Wolke hineinflog, die ihn kalt durchströmte. Er hatte das Gefühl, als würden seine Gedanken von einem Strom aus Eis gescannt werden. Schließlich ließ ihn das Dunkel ungeschoren passieren.
Nun lag es vor ihm, das finstere Gemäuer aus schwarzem Basalt – die Finsterburg. Majestätisch und gespenstisch erhob sie sich weit in den grau-lilafarbenen Himmel. Ihre Mauern schluckten beinahe jeden Lichtstrahl, der auf sie fiel. Nur hier und da war das Gemäuer mit roten und violetten Steinen versehen, damit es nicht alles Licht aus dem Terrain verschlang. Die unzähligen kantigen Türme, die mit ovalen Fenstern versehen waren, formten ein unübersichtliches Gebilde. Um die Burg herum kreisten schwarze Geier, die Gustavo sofort erspähten. Eilig flogen sie heran und geleiteten ihn in den Burghof. Sie hüpften um den Ankömmling herum und wiesen ihn an, auf der schwarzen Stange über dem kleineren der beiden Brunnen Platz zu nehmen.
Gustavo äugte vorsichtig nach unten und zog unwillkürlich seinen Kopf ein, denn aus dem Brunnenloch unter ihm wirbelte ein eisiger Wind. Aus dem Abgrund klang ein schauriger, tiefer Ton, der bedrohlich an- und abschwoll. Einen Augenblick lang war alles still. Gustavo wunderte sich und schaute sich um. Dann ergriff ihn ein heftiger, eiskalter Sog. Dem Geier war es wieder, als würde die Kälte sein Gehirn durchfluten. Mit einem heftigen Schwung landete er unsanft in einem mit schwarzen Federn ausgepolsterten Glaskasten. Mit saurer Miene richtete sich Gustavo auf und sah durch das Glas hindurch. Sein Schnabel blieb ihm offen stehen, als er eine Schar schwarzer, lebloser Geier erblickte, deren Augen wie rote Rubine leuchteten und deren Krallen mit silberner Leuchtfarbe bestrichen waren. Gustavo ergriff panische Angst, die er aber nicht zeigen durfte, auf keinen Fall! Sonst würde er sofort ausgestopft werden, wie seine Artgenossen vor ihm, die ihn mit leeren Augen anstierten.
„Was willst du in meiner Burg?“, dröhnte es aus der Finsternis der Höhle. „Lass mich raten“, tönte es blechern, „du bringst mir Nachrichten vom alten Eisenhut, der es immer noch nicht geschafft hat, seinen Unsichtbarkeitstrank zu brauen. Dieser Narr! Als könne er mich damit übertrumpfen, mich, den Herrscher von Finsterburg!“ Ein hämisches Gelächter erfüllte den Raum und wurde durch die kahlen Höhlenwände zum unerträglichen Echo.
„Gut, dass der Glaskasten um mich herum ist“, dachte Gustavo. Doch just in diesem Moment fuhr die vordere Glaswand nach oben. Der Vogel kippte beinahe nach vorn. Wieder ertönte gehässiges Lachen. Als Gustavo gerade fliehen wollte, stürzte die Glaswand in Blitzesschnelle wieder von der Decke herab. Es war ein Glück, dass sie dem verängstigten Geier nicht auf die Füße fiel. Dann rauschte und wirbelte es um Gustavo herum. Nach wenigen Minuten fand er sich auf einer hohen, dunkelgrünen Tanne am Rande der schwarzen Wolke wieder, hinter der die Finsterburg lag.
Gustavo atmete tief durch. Noch nie war er dem Herrscher von Finsterburg so nahe gewesen. Dennoch hatte er ihn auch heute nicht zu Gesicht bekommen. Der schwarze Geier verspürte Angst vor dem unsichtbaren Wesen. Es beschlich ihn das Gefühl, es wisse immer ganz genau, was er, Gustavo, gerade dachte. Aber wie sollte er jemals wieder seinem Bann entkommen? Den Dienst quittieren? Nein! Der verborgene Herr hatte ihm heute nicht umsonst seine Ex-Kollegen präsentiert, ausgestopft und bemalt. So würde er enden, wenn er ihm den Rücken kehren würde. Pah! Der Vogel stöhnte. Also würde er weiterhin Eisenhut beobachten müssen, wie schon seit Jahren. Dabei mochte er Eisenhut gern – den alten Einfaltspinsel mit seinem Kräuterlabor und seinen Selbstversuchen, sich unsichtbar zu machen. Gustavo ließ einen letzten Blick zur Burg schweifen, dann breitete er seine Schwingen aus und ließ sich vom Wind bis zum Glasfelsen treiben, um dort einen Moment lang seine Ruhe zu finden.
Sön fläzte sich in seine Ecke aus grauen Lederkissen und zog den Diodenhelm über seinen Kopf. Dann schaltete er das Programm „Transvotanisch“ ein und drückte auf „Go“. Schon erschienen die Vokabeln der Lektion 5 vor seinen Augen, immer wieder, bis alle Wörter in seinem Gedächtnis verankert waren. Sön wippte gelangweilt mit den Füßen und nahm den Helm ab. Er kramte die Spielkonsole unter dem Gummitisch hervor und ließ eine virtuelle Welt aus schillernden Blasen, fliegenden Gesteinsbrocken und stachligen Kugelamyphen um sich herum entstehen. Mit viel Geschick wich Sön allen gefährlichen Kugeln aus, bis ein großer Hummelstein in seiner Flugbahn landete und er von vorn beginnen musste. Ab und zu schaute Jönga vorbei, brachte Sön einen Cocktail aus Apfel- und Möhrensaft und ein Brot mit lachsfarbener Fischcreme.
Normalerweise spielte Sön stundenlang. Heute war das anders. Er warf die Spielkonsole auf den Tisch, schob sich ein halbes Fischcremebrot in den Mund und sah nervös zum Fenster. „Wann kommen die endlich? Smink und Hajen wollten doch längst hier sein!“ Schließlich rumpelte es vor der Glastür. Hajen rammte beim Sprung von Sminks Flugboard die blau leuchtende Eingangssäule.
Smink dagegen drehte eine elegante Schraube und sprang mit einem Satz auf den Türöffner. „Spät, ich weiß! Aber mein Diodenhelm hatte einen Wackelkontakt und ich durfte nicht eher los, bis ich mir die Matheformeln reingezogen hatte. Du weißt ja, meine Mutter ist da sehr streng.“
Sön grinste, ging zu Hajen und Smink in den Eingangsbereich, drückte beide Schleusentüren zu und stellte die Absauganlage ein. Die Jungs lachten und ließen sich auf höchster Stufe durchpusten, so dass ihre Haare am Ende in alle Richtungen abstanden. Sogar Söns lange, schwarze Haare waren völlig zerzaust. Die roten Locken von Hajen kräuselten sich ohnehin nach allen Seiten. Smink blinzelte belustigt durch seine blau-grünumrandete Brille, seine weißblonden, dünnen Haare waren mit einem Handstreich schnell wieder frisiert.
Sön öffnete mit einem Knopfdruck das Wohnzimmer, ging zum Telereporter und drückte so lange auf die rote Auswahltaste, bis ein deckenhohes Hologramm im Raum stand. Es zeigte einen hoch aufragenden Tannenwald mit dunkelgrünen Baumwipfeln, die bis in den blauen Himmel ragten. Eine Schar Krähen flog aufgescheucht zwischen den Tannen umher, ab und zu segelte ein Geier durch das Bild. Aber was war das? Mitten im Bild war – nichts, schwarz, ein Fleck, auf dem nichts zu erkennen war, Dunkelheit am helllichten Tage.
Smink nahm Sön den Telereporter aus der Hand, drückte nach rechts und links. Einmal erschien die Vergessene Stadt im Hügelwiesenland mit alten Fachwerkhäusern am Marktplatz. Ein weiterer Knopfdruck und ein Hologramm mit blauen Glockenblumenbäumen aus dem Blauen Land öffnete sich. Schließlich flimmerte ein Bild im Raum mit einem Einhorn, das friedlich auf einer Wiese graste. „Nichts kaputt! Am Telereporter liegt es jedenfalls nicht!“
„Gib mal her!“, raunte Hajen, hielt die Konsole über seinen dicken Bauch und drehte sie in alle Richtungen. Dann nahm er die Batterie heraus, ersetzte sie durch eine neue aus seiner Hosentasche und zappte, bis er den Hohen Tannenwald wieder gefunden hatte. „Da ist sie wieder! Die schwarze Stelle ist immer noch da. Seht genau hin! Das dunkle Etwas wabert hin und her, es ist nicht starr!“
Smink stellte sich mitten in den finsteren Fleck hinein. „Ja, richtig! Das Dingsda schwingt ein wenig, wie ein Wackelpudding!“
„Dort, guckt mal“, rief Sön, „ein Geier fliegt in die schwarze Stelle hinein, einfach so!“ Sön klatschte sich auf die Oberschenkel: „Ihr seht, dass ich Recht hatte. Mit dem Tannenwald stimmt etwas nicht!“
„Ja, Sön, das ist wirklich eine krasse Entdeckung! Wenn ich das meinem Vater berichte, wird er mir etwas von technischen Defekten an Telereportern erzählen. Kein Wort wird er mir glauben. Leider haben wir zu Hause keinen Hologrammstrahler“, bedauerte Smink.
Sön zeigte auf den dunklen Fleck im Raum: „Wir müssen herausfinden, was das ist! Seid ihr dabei?“
„Klar doch, bin dabei!“, rief Hajen und streckte seine Hand aus.
„Unbedingt!“, schlug auch Smink ein.
Die drei Jungs standen noch eine gute halbe Stunde vor dem Hologramm. Sie sahen sich die Gegend ganz genau an, damit sie später im Wald die unheimliche Stelle wiederfinden würden. Dann verabredeten sie sich für Sonntagmorgen, hier an Söns Haus.
Am östlichsten Zipfel des Klaren Sees lag Pling, die älteste Stadt in Unterland. Sie war ein beliebter Treffpunkt für gesellige Unterländer. Hier konnten sie Geschäfte tätigen, einkaufen oder sich die Zeit bei Wein und Spiel vertreiben. Eng stehende, zweigeschossige Lehmhäuser mit grünen, roten und blauen Fenstern säumten schmale Gassen, die mit roten Pflastersteinen befestigt waren. Unzählige Geschäfte und Gaststuben reihten sich aneinander. Vor jedes Schaufenster waren himmelblaue Markisen gespannt, unter denen die Händler selbst bei Regen ihre Waren anbieten konnten: Früchte, Brezeln, Kräuter, Tücher, Hüte, Ketten, Stiefel, Handpuppen, Spielkonsolen, Flugboards, Diodenhelme, Bücher, … Es gab einfach alles. Vor jedem Haus hing ein selbst gefertigtes Windspiel aus Holz- oder Metallröhren, die schon beim kleinsten Windstoß zu klingen begannen – daher hatte die Stadt ihren Namen. Die Tonhöhen waren für jedes Stadtviertel genau vorgeschrieben, sodass die Töne bei Wind harmonisch zueinander passten und keine Missklänge die Gäste und Einwohner störten, denn vom Klaren See her wehte meist eine leichte Brise.
Am Stadtrand, wo der steil aufragende, schroffe Kahlberg an den Klaren See grenzte, lag das Schualleh, die Schule aller Lehren. Sie hieß so, weil hier neben den üblichen Fächern wie Mathematik und Sprachen auch Kräuterkunde, Gedankentransformation und Selbstheilung unterrichtet wurden. Für besonders Talentierte gab es Kurse wie Flugboarden, Denkbewegen und Teilchenanalyse. Das Schualleh war mitten in den Fels hineingebaut. Zum schmiedeeisernen, zweiflügligen Eingangstor konnte man entweder über die Felstreppe gelangen oder durch einen Tunnel, der unter den Felsen hindurch auf die andere Bergseite führte. Doch auf die andere Seite des Bergmassivs durften die Schüler nicht. Mitten im Tunnel gab es eine automatische Kontrollschleuse, die nur erfahrene Professoren der Schule oder Plinguaner mit Sondererlaubnis passieren durften.
„Hey, Sön, heute schon gekämmt?“, lachte Frieda und schoss mit ihrem violett-grünen Flugboard so dicht an Söns langen Haaren entlang, dass sie sich an Friedas Schultasche statisch aufluden und in alle Richtungen abstanden.
„Nicht meine Haare!“, protestierte Sön, konnte aber nichts dagegen unternehmen. Bis Smink mit seinem Board von hinten kam, seinen Mit-Skater Hajen herunterschubste, Sön mitriss und mit ihm, hinter Frieda her, bis zum Schultor flog.
Hajen raufte sich seine roten Locken, denn er musste bis zur Treppe und dann hundert Stufen zu Fuß nach oben stiefeln. „Oh Mann, und das mit vier Schokowaffeln im Bauch, eine echte Zumutung! Das alles nur wegen Frieda!“
Hajen mochte Frieda sehr gern: ihre braunen geflochtenen Zöpfe, in denen mindestens zehn bunte Haargummis steckten, ihre rot karierten Schnürstiefel, die fast bis zu den Knien reichten, ihre grünen Augen, ihre blassen Lippen und die gepunkteten Wangen, die sich immer rot färbten, wenn Hajen sie ansah.
Hajen war so tief in Gedanken versunken, dass er sie zu spät bemerkte, die summende Wolke aus schwarzen Staubteilchen. Die Wolke war dermaßen dicht, dass Hajen nicht hindurchsehen konnte. Er rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, in Richtung Felstreppe. Aber die Wolke war schneller als er und umhüllte ihn. Hajen spürte, wie ihm klirrende Kälte durch alle Glieder und durch seinen Kopf fuhr. Er hatte das Gefühl, sein Gehirn würde zu Eis erstarren, begleitet von einem unerträglich tiefen Summen. Hajen wollte laut schreien, brachte aber keinen einzigen Ton heraus. Erst als die Wolke eilig wieder davonflog und Hajen wie ein nasser Sack auf die Knie sank, flüsterte er heiser: „Hilfe!“, und fiel dann leblos zu Boden.
Als er seine Augen aufschlug, lag er im Biologiesaal unter einer hellen Lampe mit fünf Strahlern, aus denen grünliches Licht leuchtete. Professor Grünzimus hatte seine zentimeterdicke Vergrößerungsbrille auf die Stirn geschoben und lächelte Hajen freundlich zu. Um ihn herum stand der gesamte Gedankenlesekurs und ganz vorn Frieda. Mit ihren grünen Augen sah sie Hajen erleichtert an und schmunzelte: „Hajen, wach auf!“ Sie trat an ihn heran, strich ihm die roten Locken aus den Augen und hielt ihm eine Schokoladenkugel unter die Nase. „Endlich, ich dachte schon, ich muss alle Schokokugeln alleine vernaschen!“
„Musst du nicht, mein Magen fühlt sich topfit an!“, grinste Hajen und schob sich die Schokolade in den Mund. „Aber was ist eigentlich los? Warum liege ich hier? Habt ihr mich seziert oder durchleuchtet? Bin ich zum Schokoladenhasen mutiert?“
Professor Grünzimus lachte. Dann sah er Hajen ernst ins Gesicht und erklärte: „Deine Freunde haben gesehen, wie du von einer dicken, schwarzen Wolke erfasst wurdest, die gebrummt hat, wie du danach auf den Boden gefallen und ohnmächtig geworden bist. Smink hat dich mit seinem Board in den Biologiesaal geflogen. Hier haben wir dich in die Metaröhre geschoben, um zu sehen, ob dir etwas fehlt.“
„Fehlt etwas? Hängt noch alles dran?“
„Keine Sorge, Hajen, du bist vollständig, dir fehlt nichts!“
Und doch hatte Hajen das Gefühl, dass ihm etwas fehlte oder dass er etwas preisgegeben hatte, er wusste nur nicht, was.
Sön hatte seiner Mutter am Sonntagmorgen erzählt, dass er mit seinen Freunden einen Ausflug zum Seebad machen würde. Bis spätestens um sieben Uhr abends würden sie wieder zurück sein. Zur Bekräftigung seiner Worte hatte er ein Badehandtuch, seine Taucherbrille und seine grüne Badehose in den Rucksack gepackt, heimlich auch ein Fernglas, eine Taschenlampe und ein Glas frisch gekochte Blaubeermarmelade.
Sön lehnte an der Haustür und guckte nervös auf sein bunt schimmerndes Allglas am linken Arm. Ein Allglas hatte inzwischen fast jeder im Schualleh. Es war einfach praktisch. Es zeigte genau an, wo man gerade war, was als Nächstes auf dem Unterrichtsplan stand, welches Wetter in den nächsten Minuten sein würde, und es konnte fremde Sprachen verstehen, sogar die der Tiere. Aber vor allem diente es dazu, andere Leute zu sehen und mit ihnen zu reden. „Hajen und Smink müssten in zwei Minuten kommen“, murmelte Sön, als ihm ein Kienapfel fast auf seine Nase flog. „Hey, was soll das?“
„Wo bin ich? Siehst du mich denn nicht?“
Sön blickte sich um, ging auf den Rasen und sah nichts, bis ihn wieder ein Kienapfel traf, diesmal in den Nacken. „Lass das! Wer war das?“
Hinter ihm lachte jemand. Ja, jetzt erkannte er die Stimme. „Frieda, was machst du denn hier? Wo bist du überhaupt?“ Frieda kicherte und zog sich die Kapuze vom Kopf. „Hier, mein neuer Tarnmantel! Den hat mir Opa zum Geburtstag geschenkt. Er hat ihn extra für mich entwickelt. Du weißt ja, Opa ist ein alter Tüftler. Seit er nicht mehr arbeiten muss, denkt er sich in seiner Werkstatt immer neue Sachen aus. Das schnickelt, oder?“
„Hajen und Smink kommen gleich, wir wollen, äh, zum Seebad.“
„Zum Seebad? Ich dachte, ihr fliegt in den Finsterwald, die Wolke auskundschaften!“
„Pst! Nicht so laut! Woher weißt du das?“
„Von Hajen, er hat es mir nach der Schule verraten. Ich glaube, er wollte, dass ich mitkomme.“
„Oh, das kann aber gefährlich werden! Wer weiß, vielleicht kommen wir ja niemals wieder?“, erwiderte Sön und musste dabei ein wenig schmunzeln, weil er das selbst zu übertrieben fand.
Ehe Frieda antworten konnte, grätschte eine weiße, dünne Wade zwischen ihre Füße und weit entfernt ertönte ein leises „Autsch“.
„Smink, krieg dich wieder ein“, lachte Sön und schätzte, dass Sminks Bein mindestens zwanzig Meter lang sein musste.
„Au, lass das, Smink!“, rief Frieda, als ihr Smink mit seinem ebenso lang ausgestreckten Arm plump durch die Zöpfe strich, denn am Feingefühl musste er noch arbeiten, wenn er seine Arme und Beine wie ein Teleskop ausfuhr.
„Ich wollte mich nur noch einmal ausprobieren, für den Ernstfall!“, rief Smink aus der Ferne. Vorsichtig fuhr er sein Bein und seinen Arm bis auf Normalgröße zurück, damit er sich wieder auf sein Flugboard stellen konnte. „Da hinten kommt Hajen!“
Hajen schleppte eine prall gefüllte Umhängetasche.
„Hajen, wie viele Wochen willst du verreisen?“, lachte Frieda.
„Ach, du meinst meine dicke Tasche! Da ist die neueste Gummikaukäferkollektion in zehn Geschmacksvarianten drin. Die kam gerade per Post. Ich dachte mir, ein wenig Verpflegung für unterwegs stärkt das Durchhaltevermögen.“
„Na dann, gib Gummi, Hajen! Smink, hast du wieder alle Arme und Beine beisammen? Ihr habt doch sicher nichts dagegen, dass Frieda mitkommt, oder?“, fragte Sön in die Runde und alle suchten Frieda. Die hatte sich blitzschnell unter ihren Tarnmantel gekauert und hockte nun feixend zu ihren Füßen im Gras.
„Trara!“, tönte sie und zog ihren Tarnmantel von ihren Schultern.
„Donnerwetter Frieda, fast wäre ich auf dich draufgetreten!“, staunte Smink und knetete sein vom Schrumpfen knallrot gefärbtes Knie.
Sön tippte auf den Telereporter an der Haustür und erklärte auf einer Landkarte, wohin es gehen sollte. „Hier haben wir den schwarzen Fleck beobachtet, mitten im Hohen Tannenwald, dort, wo die allerhöchsten Tannen des Waldes wachsen. Wir haben zwei Möglichkeiten, um dorthin zu gelangen. Entweder wir boarden erst zum Schualleh und dann über den Kahlberg oder wir bewegen uns über die Einhornwiesen, am Glasfelsen vorbei.“
„Oder wir fliegen direkt über den Klaren See bis zum Wald“, ergänzte Frieda.
„Wenn unser Flugboard den Geist aufgibt, schwimmen wir 30 Kilometer bis an Land!“, spottete Hajen und stopfte sich einen grünen Blasenkaugummi in den Mund.
Smink nickte: „Das wäre eine neue Tüftelaufgabe für deinen Opa, Frieda. Er könnte aus unserem Flugboard ein Flug- und Surfboard basteln. Dann könnten wir fliegen und im Notfall auch damit schwimmen. Bis dahin hat Hajen Recht. Es ist zu gefährlich, so weite Strecken über Wasser zu fliegen. Das könnte schief gehen.“
„Über den Kahlfelsen kommen wir nicht, der ist zu hoch. Hinter dem Kahlfelsen liegt das verbotene Land, von dem wir nur wissen, dass wir dort nichts verloren haben“, stellte Sön fest.
„Dann bleiben uns nur noch die Einhornwiesen mit dem Glasfelsen am Weg“, schmatzte Hajen und blies zur Bekräftigung eine mindestens zehn Zentimeter große Blase, die ihm über die Nasenspitze hinweg knallte.
Smink klappte sein Flugboard auseinander. Er zog vier Drahtseile senkrecht nach oben aus dem Brett und verankerte sie am Mittelstrang, sodass Frieda, Hajen, Sön und er selbst genug Platz und Halt fanden. Dann stellte er das eingebaute Navigationssystem auf „Einhornwiesen“, kontrollierte die Solarmodulstreifen an den Seiten, ließ den lautlosen Motor an und schaltete die Rundumbeleuchtung ein.
„Es kann losgehen! Passt auf, dass ihr sicher in den Fußrastern steckt! Schnallt euch an den Halteseilen fest! Mit vier Mann Besatzung bin ich noch nie geflogen!“
„Noch nie? Hast du eben noch nie gesagt?“ Hajen wurde ein wenig blass um die Nase. „Meinst du, mein Gewicht hält das Flug-Teil aus? Soll ich nicht lieber …?“
„Angst, Hajen?“, lachte Frieda und guckte ihn durchdringend an.
Hajen vergaß sofort all seine Bedenken, strich sich seine roten Locken aus dem Gesicht und zog den Tragegurt seiner dicken Umhängetasche fest. „Nein, ich dachte nur, ich müsse meine Gummikäfer hierlassen.“
„Wenn alle Käfer an Bord sind, können wir starten!“, rief Smink und drückte behutsam den Geschwindigkeitshebel nach vorn.
Hinter Smink stand Sön, danach kam Frieda. Ganz am Ende hielt sich Hajen an der Halterung fest und blinzelte verwirrt nach vorn, denn Frieda trug ihren Tarnmantel, hatte aber ihre Kapuze abgesetzt. So sah es für Hajen aus, als stünde das Unterteil von Sön vor ihm, mit Friedas Kopf auf den Schultern.
–
Die Stadt Pling hatten die vier längst hinter sich gelassen. Sie flogen über saftige Wiesen, auf denen gelbe, weiße und violette Blumen blühten. Auf der rechten Seite zog sich in einiger Entfernung der Klare See wie ein spiegelndes, blaues Band entlang, denn auch der Himmel war strahlend blau. Bald wurde das Gras meterhoch. Wie ein Meer wogten seine Rispen im kühlen Morgenwind.
Plötzlich plumpste etwas dumpf auf den Erdboden.
Hajen, der schon ganz benommen war von dem Gras-Meer unter ihm, merkte erst nach einigen Minuten, dass Sön plötzlich Söns Hinterkopf trug, ganz ohne Zöpfe. „He, Sön, wieso sehe ich deinen Kopf?“
„Weil er zufällig an mir festgewachsen ist?“
„Nein, du verstehst nicht, ich müsste doch Friedas Zöpfe sehen, aber die sind weg!“
„Was?!“, tönten Smink und Sön gleichzeitig.
Smink riss den Steuerungsknüppel herum, sodass die drei Jungs Mühe hatten, sich festzuhalten. Dann landete er das Flugboard mitten im hohen Gras. „Wo ist Frieda?“
„Sag ich ja“, jammerte Hajen und fing fast an zu heulen.
„Sie war auf einmal weg! Ich glaube, sie ist abgekippt. Seht mal! Sie muss durch den Gurt gerutscht sein, einfach so!“
„Das kann doch nicht wahr sein! Mädchen eben, haben keine Kondition!“
„Ich muss sagen, dass auch mir nach einer halben Stunde Stehen die Beine schwer geworden sind“, gestand Sön.
Smink verdrehte die Augen. „Ich steige allein aufs Board und versuche, Frieda zu finden.“
„Vergiss nicht, Smink, sie trägt ihren Tarnmantel! Ich glaube, das kannst du vergessen“, fürchtete Sön.
Smink schoss es durch den Kopf: „Richtig, der Tarnmantel! Hoffentlich findet sie allein wieder den Weg nach Pling!“
„Was denn, du willst sie hier sitzen lassen? Vielleicht ist ihr etwas passiert? Sie könnte auf einen Stein gefallen sein und verletzt im Gras liegen“, ereiferte sich Hajen. Er setzte sich, zog seine Umhängetasche in Richtung Bauch und eine offene Tüte Käfergummis rutschte auf seine Hose.
„He? Wieso ist die Nasch-Tüte offen? Ich hatte doch noch gar nichts probiert!“, sagte Hajen und blickte dabei vorwurfsvoll in die Runde.
„Also ich habe mich nicht über deinen Vorrat hergemacht“, verkündete Smink und zeigte erschrocken in seine Blickrichtung.
„Hollo Jungs! Eure Käfer schmecken lecker, vor ollem die mit dem Woldmeistergeschmock. Ich hobe ein poor für Perd mitgenommen, der knobbert gern mol etwos Süßes.“
Die drei Jungs hielten den Atem an. Sie starrten wie versteinert auf das weiße Tier mit seiner silbernen Mähne. Zwischen seinen blauen Augen trug es ein stattliches Horn, auf dem mindestens zehn bunte Gummikäfer stachen.
„Das Einhorn!“, rief Hajen wie vom Donner gerührt. „Das ist das Einhorn!“
„Gut erkonnt! Ich wollte unbedingt die duftende Gummileckerei probieren, sonst zeige ich mich nicht.“
„Warum nicht?“, wollte Sön wissen.
„Jo, stellt euch mol vor, ihr geht als letztes Einhorn eurer Gottung in einen Lebensmittelloden und sogt: ,Eine Tüte Gummikäfer bitte!´ Ein Drittel der Leute will ein Foto mit dir mochen, ein Drittel schreit um Hilfe und dos restliche Drittel will dich für Forschungszwecke einfongen. Nein donke! Do bleibe ich lieber auf meiner Wiese, verstecke mich und fresse longweiliges Gros. Ich könnte jo auch den Bringe-Dienst onrufen und sogen: ,Fünf Tüten Gummikäfer bitte, ich bezohle mit Heubollen!´ Jo, woher soll ich denn die Münzen nehmen, wenn ich mich nicht mit onderen fotogrofieren losse? Vielleicht könnte ich mich als Noshorn verkleiden und herumerzählen, doss meine Nose ausnohmsweise auf der Stirn sitzt. Dos klingt olles nicht logisch.“
„Ja, aber die Leute wissen doch, dass du hier lebst. Die Wiesen heißen doch nicht umsonst Einhornwiesen“, erwiderte Sön.
„Donn posst mol auf!“, sagte Einhorn und holte tief Luft, so tief, dass die Jungs Sorge hatten, es könne gleich platzen. Dann staunten sie, als das Einhorn schwarze und graue Flecken bekam und das Horn unsichtbar wurde. Nun sah das Tier wie ein ganz normales weißes Pferd aus, wie ein Schimmel. Kurz darauf schüttelte es dreimal seine Mähne. Die Flecken auf dem Fell verschwanden und das Horn prangte wieder sichtbar auf seiner Stirn.
„Donnerwetter!“, applaudierte Hajen. „Wo hast du das gelernt?“
„Dos hot mir die olte Stummelzohn beigebrocht. Sie ist eine sehr schusslige Hexe aus dem Hügelwiesenlond. Ob und zu kommt sie hierher, um Urlaub zu mochen mit ihrer Kotze Miezi. Dann steigt sie in einer kleinen Holzhütte hinterm Glosfelsen ob und erholt sich. Eigentlich wollte sie aus mir einen stottlichen, schworzen Roppen mochen, ober do hot sie wohl schworz und weiß verwechselt. So ist sie, die Stummelzohn. Ober ich bin ihr sehr donkbor. Ohne den Trick, mich in einen Schimmel zu verwondeln, würde ich schon längst ausgestopft in irgendeiner Vitrine stehen.“
Als Smink gerade das Einhorn um Hilfe bitten wollte, Frieda zu suchen, verdunkelte sich schlagartig der Himmel. Eisige Kälte kroch den Kindern durch die Kleidung. Das Einhorn zitterte am ganzen Körper. Seine Augen verdrehten sich in alle Richtungen und es fiel benommen ins Gras. Aus seinem weißen Fell stiegen kleine Kristalle in Richtung Himmel auf. Nur sieben Meter über ihnen schwebte ein dürrer Mann auf einer fliegenden Luftmatratze. Er war nicht größer als anderthalb Meter. Um seine spiegelnde Glatze reihte sich ein gelblicher Haarkranz. Der Mann kicherte mit seiner hellen Stimme. In seinen knochigen Fingern hielt er eine weiße Muschel. Langsam öffnete er sie und es ertönte eine wunderschöne Melodie. Die glitzernden Kristalle schienen nach den Klängen der Muschel zu tanzen. Sie wirbelten im Kreis durch die Luft und endeten letztendlich alle in der singenden Muschel. Das hagere Männchen stand wie ein Dirigent auf der Luftmatratze. Es schwang einen schimmernden Stab aus winzigen, grünen Blasen durch die kalte Luft. Dazu wiegte es sich wild im Takt hin und her, sodass seine Flugmatratze fast umkippte. Als auch der letzte Kristall in der Muschel gefangen war, klappte das Männchen die Muschelschalen vorsichtig zu und hielt sie fest in seiner Hand. Dann schob es den Geschwindigkeits-Hebel seiner Flugmatratze nach vorn und sauste blitzschnell davon. Mit ihm verschwanden sogleich Dunkelheit und Kälte.
„Nein! Oh nein! Bitte nicht!“ Smink kniete sich neben das Einhorn. Die Angst stand dem Jungen ins Gesicht geschrieben.
Auch Hajen und Sön erschraken. Ihnen wurde flau in der Magengegend. Das weiße Einhorn hatte sich in ein schwarzes Tier verwandelt. Es trug zwar noch ein Horn, aber das war grau und stumpf.
„Einhorn, wach auf“, flehte Sön das im Gras liegende Tier an.
„Komm Einhorn, Frühstück gefällig?“, fragte Hajen. Sanft streichelte er die schwarze Mähne des Tieres und steckte ihm einen Gummikäfer zwischen die Zähne. Dann herrschte Stille – bedrückende Stille.
„Wos denn, nur einen Käfer? Wie soll ich denn do sott werden, Kinder?“
„Einhorn, du lebst!“, jubelte Hajen und stopfte ihm gleich eine Hand voller Gummitiere ins Maul.
„Jo, gerode noch! Ober seht mich doch an, wie ich aussehe! Wenn das Perd sieht, kriegt er einen mordsmäßigen Schreck! Die olte Stummelzohn wird denken, ihre Verwondlung in einen schworzen Roppen hätte doch noch gekloppt!“
„Ist es denn schlimm für dich, dass du nicht mehr weiß bist?“
Einhorn legte traurig seinen Kopf zur Seite und sprach: „Jo, Jungs, jetzt hobe ich keine Zauberkroft mehr. Die steckte nämlich in meiner schönen weißen Forbe. Desholb wurden olle onderen Einhörner gefongen, nur ich bin übriggeblieben. Derjenige, der die weißen Kristolle gestohlen hot, konn domit nun schlimme Dinge onrichten, denn er hot jetzt meine Zauberkroft. Bei meinem Horn, dos ist eine echte Kotostrophe!“
„Hast du eine Ahnung, wer dir das angetan haben könnte?“
„Ich konnte nichts sehen, weil ich umgekippt bin. Ober ihr müsst es doch beobochtet hoben!“
„Es war ein mickriges Männchen auf einer fliegenden Luftmatratze“, erinnerte sich Smink.
„Ja, es hatte fast eine Glatze und hat ziemlich dämlich gelacht“, ergänzte Hajen.
„Es trug eine singende Muschel bei sich, mit der es die weißen Kristalle aus deinem Fell angelockt und eingefangen hat“, setzte Sön hinzu.
„Einen hogeren Monn kenne ich nicht. Ober wenn er eine Muschel bei sich trug, die meine Zauberkroft eingeflötet hot, donn könnte uns vielleicht die Wosserhexe Moorello helfen. Sie kennt sich mit ollen Wosserwesen bestens aus! Ober sie ist nicht immer gut auf uns Londlebewesen zu sprechen. Wir müssten gonz vorsichtig sein!“
„Von der Wasserhexe Moorella habe ich noch nie etwas gehört“, gestand Hajen. „Ach, wenn Frieda hier wäre, könnte sie uns bestimmt einen Rat geben. Sie kennt sich mit Hexen richtig gut aus.“
„Wo ist denn eure Friedo?“
„Ja“, druckste Smink herum, „das wollten wir dir schon die ganze Zeit erzählen. Frieda ist mit uns auf dem Flugboard über die Wiesen geflogen und leider abgestürzt.“
„Da sie einen Tarnmantel trägt, wird es schwer werden, sie zu finden“, befürchtete Sön.
Niemand bemerkte die fliegende Luftmatratze, die eher auf einen Badesee zu gehören schien, als durch die Luft zu sausen. Sie war hellblau an ihrer Unterseite und hob sich kaum vom wolkenlosen Morgenhimmel ab. Der hagere Mann hatte sich flach auf die Luftpolsterung gelegt, sich mit einem breiten Gurt festgeschnallt und kicherte leise. In der linken Hand umklammerte er seinen grün glänzenden Stab aus schimmernden Blasen. In der rechten Hand presste er fest die Weiße Muschel an sich, die sagenumwobene Zaubermuschel aus Unterland.
Die Muschel zitterte noch immer wegen dem, was sie hatte tun müssen für dieses erbärmliche Geschöpf, von dem sie gerade zusammengepresst wurde. Sie schämte sich für das, was dem Einhorn passiert war. In ihren Gedanken hatte sie das Bild vor Augen, wie sie der dürre Alte über heißen Wasserdampf hielt, wie er ihr gedroht hatte, dass er sie gleich ins siedende Wasser werfen würde, wenn sie ihm nicht gehorchte. Gelähmt vor Schreck fiel der Muschel in diesem Augenblick kein Zauber ein, der sie hätte befreien können. So kam es, dass sie dem Unhold versprach, ihm bei etwas zu helfen, ohne zu wissen, worum es sich eigentlich handelte.
„Das arme Einhorn“, dachte die Muschel. „Es war das letzte Einhorn in Unterland! Nun hat es keine Zauberkraft mehr und ist schwarz wie die Nacht. Genauso schwarz wie der Ort, zu dem mich dieses Monster neben mir jetzt bringt.“
Wie ein schrecklicher Film erschienen der Muschel die Szenen der vergangenen Tage: „Als armseliger Fischer hatte sich der hagere Glatzkopf verkleidet, als er auf den Klaren See herausfuhr, um mich zu fangen. Er muss gewusst haben, wo ich wohnte. Denn er hielt genau über meinem Sandhügel an, setzte sich auf den Rand seines Boots und begann, laut zu erzählen. Er behauptete, seine liebe Tochter hätte Geburtstag. Und er würde kein Geld besitzen, um ihr etwas zu schenken. Weil seine angebliche Tochter so arm und so überaus herzlich zu allen Leuten war, wollte er für sie die schönste Muschel aus dem See angeln. Da bekam ich Mitleid mit ihm und ließ mich mitnehmen, einfach so. Ich wusste, dass ich als Zaubermuschel an Land weiterleben konnte. Ich dachte, ich würde fortan einem armen Mädchen helfen, den Alltag mit meinen kleinen Zauberkunststücken ein wenig zu versüßen. Kaum hatte mich dieser Unhold in der Hand, steckte er mich in einen schmuddeligen Sack. Es wurde finster um mich herum. Als ich wieder erwachte, lag ich in einem Regal zwischen eingeweckten Fischköpfen und ausgestopften Vögeln. Um mich herum war alles düster, sodass ich kaum den Rest des Raums erkennen konnte. Dahin wird er mich wieder bringen, dieser Bösewicht! Das Schlimmste ist, durch mich besitzt dieser Kerl die Zauberkraft des Einhorns. Ja, durch mich! Wer weiß, welches Unheil er damit anstellen wird! Oh nein! Wenn ich nur etwas dagegen tun könnte!“
Da kam der Muschel spontan eine Idee. Die Zaubermuschel konzentrierte sich und erhöhte die Temperatur ihrer Schalen. Die waren bald so heiß, dass dem Mann die knochige Hand zu schwitzen begann. Er musste seinen Griff unwillkürlich etwas lockern. Das nutzte die Muschel aus und öffnete sich einen Spaltbreit, sodass ein glitzernder Kristall aus ihr entwich und davonflog – ein Kristall vom Einhorn. Der Mann auf der Matratze gab Gas. Er wusste, dass er so schnell wie möglich nach Hause fliegen musste. Doch bis zu dem Ort, wo der Glasfelsen bis an das Ufer des Klaren Sees reichte, hatten sich die Muschelschalen so sehr aufgeheizt, dass sie rot glühten wie Kohlen im Feuer. Mit einem Aufschrei öffnete der Glatzenmann seine schmerzende Knochenhand, und die Muschel ließ sich mit dem Fahrtwind in den See fallen.
Wie von Sinnen starrte das dürre Männchen auf seine leere Hand. Es dauerte einige Sekunden, bis es begriff, was gerade passiert war. Aufgeregt kippte es den Steuerungshebel seiner Flugmatratze nach rechts, um eine Kurve zu fliegen und zu landen. Aber unter ihm waren nur Wasser und die Ausläufer des Glasfelsens, die bis in den Klaren See reichten. Wie sollte es da die Muschel finden?
„Wozu habe ich eine Luftmatratze“, grinste das Männchen und landete mit Schwung auf dem Wasser. Hilflos spähte es auf die Wasseroberfläche. Es wusste genau, hier konnte es die Muschel nur wiederfinden, wenn es tauchen würde. Aber das Männchen mochte kein Wasser. Es konnte einige Meter schwimmen, aber an Untertauchen war nicht zu denken. So blieb es auf seiner Matratze, äugte mühsam in die Tiefe des Sees und ruderte ziellos über die flachen Wellen.
Erst sehr spät bemerkte der dürre Mann, dass seine Matratze nach und nach von üppigen Seerosen und Schlingpflanzen eingekreist wurde. Die grünen Wasserpflanzen bildeten ein dichtes Gestrüpp. Die lachsfarbenen Seerosen wurden immer größer. In letzter Sekunde begriff er, dass das eine Falle war. Er warf seinen Flugmotor an und befreite sein Gefährt hektisch von den grünen Schlingen, die alles festhielten, was ihnen in die Quere kam. Mit einem Ruck gelang es dem Mann, die Matratze aus den grünen Fängen zu lösen und nach oben zu fliegen. Sobald er in der Luft war, ertönte ein tiefes Lachen aus dem See. Die Pflanzen waren schon nach kurzer Zeit nicht mehr zu sehen.
„Dir wird das Lachen bald vergehen, Moorella!“, fluchte das dürre Männchen und drehte ab in Richtung Finsterburg.
Als Frieda von ihrem Flugboard-Absturz erwachte, lag sie bäuchlings neben einem runden Felsstein, mitten im Gras.
Mühsam strich sie sich mit der Hand über ihre schmerzende Stirn, auf der sich eine dicke Beule gebildet hatte. Der Tarnmantel war Frieda von den Schultern gerutscht und hing locker von ihren Ellenbogen herab. Wohlige, wärmende Sonnenstrahlen durchströmten das Mädchen und erweckten ihre Sinne zum Leben. Frieda verspürte fürchterlichen Durst. Sie wollte gerade aufstehen, um sich umzusehen, als über ihren Kopf ein dunkler Schatten zog. Ehe Frieda begriff, was los war, wurde sie an den Armen und Beinen von je zwei Krallen gepackt. Obwohl das Mädchen strampelte und mit seinen Armen wackelte, konnte es sich nicht von den scharfen Geierkrallen losreißen. Die schwarzen Riesenvögel schleiften es mit dem Tarnmantel erst über den Wiesengrund und hoben dann fast geräuschlos ab. Der Wind trieb die vier Geier mit ihrer kostbaren Fracht immer weiter gen Himmel. Frieda sah von oben herab auf die Wiesenlandschaft und versuchte, ihre Freunde zu entdecken. Da waren sie! Sie hockten neben einem schwarzen Pferd und stierten auf den Boden. Bevor Frieda laut schreien konnte, schob ihr einer der gefiederten Entführer einen halben Apfel in den Mund. Frieda würgte und es gelang ihr schließlich, das Apfelstück wieder auszuspucken. Aber da war sie schon zu weit von Sön, Smink und Hajen entfernt.
„Reicht es jetzt endlich“, stöhnte Schrappnella nach einer halben Flugstunde, riss an Friedas linkem Arm und schlug heftig mit den Flügeln. „Ich brauche dringend einen Schinkenknochen, sonst klappert mein Schnabel gleich wie bei einem Storch, wirklich peinlich. Warum, bei der Schwanzfeder meines Eierlegers, müssen wir dieses schwere Menschenkind mit uns herumschleppen? Kann es nicht selber laufen? Wo zum albernen Kuckuck fliegen wir eigentlich hin?“