Because of You I Want to Dream - Nadine Kerger - E-Book

Because of You I Want to Dream E-Book

Nadine Kerger

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Beschreibung

Seit Liv und Jacob sich auf Martha’s Vineyard das erste Mal über den Weg gelaufen sind, sind die beiden wie Feuer und Wasser. Jacob, Spross der alteingesessenen Sullivans und Mitbesitzer des Jachtklubs, ist ein unverschämt gutaussehender Bad Boy, und seine unbedachte Sprüche gehen Liv ziemlich auf die Nerven. Dumm nur, dass ihre besten Freundinnen Josie und Hannah eng mit ihm und seinen beiden Brüdern befreundet sind und Liv deshalb mehr Zeit in Jacobs Nähe verbringen muss, als ihr lieb ist. Schlimmer noch: Liv, die in der Seehundauffangstation jobbt, soll Jacob beraten, wie er mit der neuen Jetski-Flotte des Segelklubs umweltverträgliche Touren anbieten kann. Doch während ihrer Zusammenarbeit bemerkt Liv, dass Jacob durchaus eine einfühlsame Seite hat – und auf einmal löst jede Begegnung mit ihm ein Kribbeln in ihr aus …

Dieses Buch gibt es in zwei Versionen: mit und ohne farbigem Buchschnitt. Es wird je nach Verfügbarkeit geliefert.

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Seitenzahl: 449

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Buch

Seit die Meeresbiologin Liv den letzten Sommer mit ihren besten Freundinnen Josie und Hannah auf Martha’s Vineyard verbracht hat, ist sie verliebt in die Insel. Deshalb ergreift sie die Gelegenheit, nach ihrem Studium in Boston zurückzukehren und wieder in der Seehundauffangstation zu arbeiten. Alles wäre perfekt, gäbe es da nicht Jacob, Spross der alteingesessenen Sullivans und Mitbesitzer des Jachtclubs. Jacob ist ein unverschämt gut aussehender Bad Boy, und mit seinen unbedachten Sprüchen geht er Liv ziemlich auf die Nerven. Dumm nur, dass Josie und Hannah eng mit ihm und seinen beiden Brüdern befreundet sind und Liv deshalb mehr Zeit in Jacobs Nähe verbringen muss, als ihr lieb ist. Schlimmer noch: Liv soll Jacob dabei beraten, wie er mit der neuen Jetski-Flotte des Segelclubs umweltverträgliche Touren anbieten kann. Doch während ihrer Zusammenarbeit bemerkt Liv, dass Jacob durchaus eine einfühlsame Seite hat – und auf einmal löst jede Begegnung mit ihm ein Kribbeln in ihr aus …

Weitere Informationen zu Nadine Kerger

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

Nadine Kerger

Because of you I want to dream

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe Juni 2024

Copyright © by Nadine Kerger 2024

Copyright © dieser Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Covermotiv: shutterstock / Konstanttin, letovsegda, Tori Art, MiOli, PROSKURINSERHII, lavendertime

Redaktion: Beate De Salve

ES · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31392-0V002

www.goldmann-verlag.de

Für L.

Meinen kleinen Schatz

1

»Wusstest du, dass beim Schach schon nach nur einem Zug vierhundert verschiedene Stellungen möglich sind?« Ethan beugt sich vor Begeisterung über den Tisch und kommt dabei seinem Longdrink-Glas gefährlich nah. »Bereits nach nur drei Zügen sind es schon unfassbare neun Millionen Möglichkeiten. Neun Millionen, Liv! Das geht immer so weiter, was in schier unendlichen Positionierungsvarianten resultiert!«

Ich ringe mir ein Lächeln ab und versuche gleichzeitig, ein Gähnen zu unterdrücken, was schwieriger ist, als man meinen könnte. Sehnsüchtig blicke ich aus dem Fenster nach draußen. Wir sind die Einzigen, die im Gastraum des Lobsterville Grill sitzen, das eigentlich mein absolutes Lieblingsrestaurant auf ­Martha’s Vineyard ist. Alle anderen Gäste – Touristen wie Einheimische – haben sich einen Platz an den Tischen vor dem Restaurant gesucht und beobachten die Menschen, die auf der Harbor Street in Richtung Strand flanieren, oder die Boote, die in den Hafen einfahren. Natürlich würde auch ich lieber draußen sitzen und die wärmenden Strahlen der langsam untergehenden Sonne genießen, aber Ethan hat darauf bestanden, drinnen zu sitzen wegen seines Heuschnupfens, der ihn im Frühsommer offenbar besonders quält.

»Nein, das wusste ich nicht«, erwidere ich und stelle sicherheitshalber sein Glas ein Stück zur Seite, so wie ich es früher immer bei meiner kleinen Schwester Amy gemacht habe.

Sie ist jetzt dreizehn und gestikuliert immer noch sehr temperamentvoll, wenn sie Geschichten erzählt. Amys Erzählungen sind allerdings deutlich interessanter als Ethans. Sie will Astronautin werden und weiß verrückte Dinge, zum Beispiel, dass das Weltall einen ganz eigenen Geruch hat – leicht verbrannt und metallisch, ein bisschen wie Wunderkerzen. Unglaublich, oder? Wer weiß denn so was mit dreizehn? Ich wusste es nicht, zumindest nicht, bevor sie es mir gesagt hat, und ich bin sechsundzwanzig.

Leider scheint Ethan durch mein höflich gemeintes Lächeln weiter angespornt zu werden, denn er fährt fort: »Und wusstest du, dass im Jahr 1125 das klappbare Schachbrett erfunden wurde?«

Ich schüttele den Kopf und schiele unauffällig auf meine Armbanduhr. O Gott. Erst eine halbe Stunde dieses Date-from-Hell ist um, und wir haben nicht mal das Essen bestellt, weil Ethan mit einem Aperitif starten wollte! Wie soll ich das nur den Rest des Abends ertragen?

Ethan und ich haben uns im letzten Jahr zufällig im St. Francis Seal Rescue Center kennengelernt. Damals war ich Doktorandin der Meeresbiologie an der Boston University und habe in den Semesterferien in der Seehundauffangstation gearbeitet. Ethan ist Grundschullehrer in Edgartown, der größten Stadt der Insel, und hat uns damals mit seiner Klasse besucht, um sich mit den Kindern unsere Robben und Seehunde anzusehen.

Ich bin erst seit einer Woche zurück auf der Insel, um für vier weitere Monate in der Station zu arbeiten, und Ethan und ich sind uns vor ein paar Tagen zufällig im Supermarkt über den Weg gelaufen. Erst habe ich ihn gar nicht erkannt, aber er hat sich an mich erinnert und mich angesprochen. Wir kamen ins Gespräch, und ich habe zugestimmt, als er fragte, ob ich mit ihm zum Dinner in den Lobsterville Grill gehen würde.

»Wusstest du …«, beginnt Ethan wieder, und ich unterdrücke nur mit Mühe ein Stöhnen »… dass der Begriff ›Schachmatt‹ aus dem Persischen kommt und Der König ist hilflos bedeutet?«

»Nein, das wusste ich nicht«, sage ich und fühle mich plötzlich auch sehr hilflos. »Hast du vielleicht …«

… noch irgendwelche anderen Interessen außer Schach?, will ich fragen, aber da fährt Ethan schon fort: »Und wusstest du …«

Kurz habe ich das Gefühl, Sternchen zu sehen. Wenn ich noch einmal die Worte »Wusstest du …« höre, läuft mir ganz sicher das Blut aus den Ohren. Das ist doch Irrsinn!

Ohne dass ich weiß, warum, kommt mir etwas in den Sinn, das Amy mir letzte Woche am Telefon erzählt hat.

»Wusstest du, dass man im Weltall pupsen, aber nicht rülpsen kann?«, platzt es aus mir heraus. »Also das finde ich wirklich interessant.«

Nicht nur Ethan, sondern auch Wendy, die sechzigjährige Inhaberin des Restaurants, die genau diesen Moment gewählt hat, um an unseren Tisch zu treten und die Bestellung aufzunehmen, starrt mich mit aufgerissenen Augen an. Und das will etwas heißen, denn Wendy, die früher einmal Regisseurin am Broadway war, erschüttert so schnell nichts.

Sie stützt ihre Hände in die Seiten und schüttelt so heftig den Kopf, dass die Creolen, die heute Abend leuchtend gelb sind und in einem scharfen Kontrast zu ihrem dunkelroten Lippenstift und der pinken Schlangenmuster-Bluse stehen, nur so hin und her fliegen. Wendy hat eine Schwäche für kräftige Farben und Tierprint-Oberteile. Und für toupierte Haare.

»Liv, Schätzchen, manchmal mache ich mir ernsthaft Sorgen um dich …«, sagt sie mit ihrer donnernden Stimme und schaut von mir zu Ethan und wieder zurück. »… und um die Dinge, die in deinem Gehirn so vor sich gehen.«

»Musst du nicht, Wendy«, versuche ich sie zu beruhigen. »Wir tauschen nur Funfacts aus.«

Ich schiebe meine Brille nach oben, die wie üblich auf meiner Nase nach unten gerutscht ist. Ich könnte sie enger stellen lassen, aber von zu engen Bügeln bekomme ich Kopfschmerzen, also lasse ich es.

»Und da ist dir nichts anderes eingefallen als Körperfunktionen im Weltall?«, gibt Wendy fassungslos zurück.

Ich muss zugeben, dass der Punkt an sie geht, allerdings finde ich, dass mein Beitrag immer noch interessanter war als die Not-so-Funfacts über Schach, mit denen Ethan mich jetzt lange genug gequält hat.

»Ich lasse euch noch ein paar Minuten, um euer Essen auszuwählen«, fügt Wendy kopfschüttelnd hinzu und flüchtet von unserem Tisch.

»Ich habe das Gefühl, du nimmst dieses Date nicht sonderlich ernst«, stellt Ethan fest und schiebt beleidigt die Unterlippe vor.

Ob er sich das Schmollen von seinen Grundschülern abgeguckt hat?

»Das kann man so nicht sagen«, verteidige ich mich und trinke den letzten Schluck aus meinem Glas. Wendys Mai Tai schmeckt wie immer hervorragend. »Aber du hast bisher ausschließlich über Schach gesprochen, und … ich spiele kein Schach.«

»Würdest du es denn gerne lernen?«, fragt er mit einem erwartungsvollen Schimmern in den Augen. »Ich könnte es dir beibringen.«

Ich könnte mir aber auch eine Stricknadel ins Knie rammen.

»Ähm … nein. Eigentlich nicht«, erwidere ich, und ein winziger Funken Hoffnung glimmt in mir auf. Können wir jetzt vielleicht endlich das Thema wechseln? »Aber ich lese wahnsinnig gerne«, wage ich einen Versuch. »Pro Woche mindestens zwei Bücher. Romance, historische Romane, Biografien, Fantasy … Und du?«

Er verzieht das Gesicht, als würde ihm allein der Gedanke daran körperliche Schmerzen bereiten. »Ich habe in meinem Job so viel mit Büchern zu tun, dass ich froh bin, wenn ich in meiner Freizeit keins aufschlagen muss.«

»Oh … verstehe. Schade«, sage ich und krame in meinem Gehirn verzweifelt nach anderen möglichen Gesprächsthemen. »Hast du sonst noch irgendwelche Hobbys? Treibst du Sport?«

»Schach ist Sport!«, sagt er, und es klingt fast ein bisschen empört. »Schach ist sogar vom Internationalen Olympischen Komitee als Sportart anerkannt, wusstest du das?«

»Nein, das wusste ich nicht«, erwidere ich bemüht geduldig. »Und … hast du vielleicht eine Lieblingsfernsehserie?«

Langsam muss ich wirklich verzweifelt wirken. Gleich fange ich an, über das Wetter zu sprechen.

»Ich habe keinen Fernseher«, sagt er und zieht die Mundwinkel nach unten. »Da läuft doch sowieso nur Mist.«

Was tue ich hier eigentlich?

»Wusstest du, dass es sogar eine Schachpartie gibt, die im Weltall gespielt wurde?«, fragt er nach einer kurzen Pause. »Sie war hart umkämpft und ging unentschieden …«

»Ethan«, sage ich und hebe eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Ich glaube, das bringt nichts.«

»Wie meinst du das?«, gibt er zurück und saugt an seinem Strohhalm. »Was bringt nichts?«

Ich gestikuliere mit den Händen zwischen uns beiden hin und her.

»Das hier«, erkläre ich und atme tief durch. »Ich meine damit: Wir passen kein bisschen zueinander, das ist doch offensichtlich.«

Ich schenke ihm ein Lächeln, um meinen Worten die Schärfe zu nehmen, dabei finde ich es tatsächlich schon schlimm genug, dass ich hier mehr als eine halbe Stunde meiner Lebenszeit verplempert habe. Statt hier zu sitzen, hätte ich lieber Fenster geputzt. Oder unter dem Bett gestaubsaugt. Ich meine es wirklich nicht böse mit Ethan, er ist ein anständiger Kerl, und sicher wird er irgendwann eine Frau finden, die an seinen Lippen hängt, wenn er berichtet, dass das längste Schachspiel der WM-Geschichte acht Stunden dauerte. Aber diese Frau werde definitiv nicht ich sein.

Ich stehe auf und lege einen Zwanzigdollarschein auf den Tisch, was für mein Getränk und das Trinkgeld reichen sollte.

»Es war wirklich nett, dich kennenzulernen, Ethan«, sage ich und nehme meine Tasche. »Und ich wünsche dir von Herzen alles Gute. Aber ich befürchte, mit uns wird das nichts.«

Er öffnet den Mund und schließt ihn wieder, bevor er hervorpresst: »Okay …«

Ich nehme nicht an, dass er sich noch für meine Ehrlichkeit bedanken will – oder dafür, dass ich uns beiden Stunden wertvoller Lebenszeit erspare, indem ich an dieser Stelle abbreche –, also schenke ich ihm nur noch ein aufmunterndes Lächeln, bevor ich Wendy hinter der Bar zuwinke und dann gehe.

Als die Tür des Restaurants hinter mir zuschlägt, bleibe ich auf der obersten Treppenstufe stehen und nehme mir die Zeit, einmal tief durchzuatmen. Es ist noch hell, und einige Touristen spazieren an mir vorbei, in den Händen Tüten von Kathleen’s Deli oder vom Pick & Carry-Supermarkt. Die meisten von ihnen haben sich vermutlich Bier und Sandwiches gekauft und sind auf dem Weg zum Strand. Menemsha zählt zu den Orten auf der Insel, an denen man am besten die untergehende Sonne beobachten kann. Das wissen nicht nur die Sommertouristen, sondern auch die Einheimischen, für die Feierabenddrinks am Strand so etwas wie eine Institution sind.

Und es scheint, als würde es heute einen wunderschönen Sonnenuntergang geben. Am Nachmittag hat es geregnet, und die Wolkendecke ist gerade wieder aufgerissen. Das Licht wird so viel spektakulärer aussehen, als wenn der Himmel völlig wolkenlos wäre.

Kurz spiele ich mit dem Gedanken, zurück ins Cottage zu gehen. Das Seaside Cottage, in dem ich auch dieses Jahr wieder mit meiner besten Freundin Josie wohne, gehört unserer Freundin Hannah und ihrer Großmutter Louise. Schon im letzten Sommer haben wir zu viert in dem traumhaften Haus direkt hinter den Dünen gelebt.

Josie und ich haben uns damals sofort mit Hannah angefreundet, deren Plan es ist, aus dem Cottage ein Bed & Breakfast zu machen. Sehr viel weiter ist sie mit der Umsetzung ihrer Idee allerdings noch nicht gekommen, weil Teile des Cottage einem Brand zum Opfer gefallen sind. Mit vereinten Kräften haben wir das Haus allerdings wieder instand gesetzt, so gut es ging. Bis sie ihren Traum vom eigenen Hotel verwirklichen kann, verdient Hannah sich ihren Lebensunterhalt, indem sie köstliche Kuchen, Muffins und Torten verkauft.

Nachdenklich blicke ich mich um. Der Gedanke, es mir mit einem Buch auf dem Sofa gemütlich zu machen, ist wirklich verlockend. Aber es ist Samstagabend, und die halbe Insel scheint auf den Beinen zu sein. Kurz entschlossen hole ich mein Handy aus der Handtasche und tippe eine Nachricht an Hannah und Josie in den Seaside-Girls-Chat. Der Name stammt noch aus dem letzten Sommer, als Josie und ich zum ersten Mal auf Martha’s Vine­yard waren. Ich habe damals den Ferienjob in der Seehundauffangstation angenommen, um meinen Lebenslauf etwas aufzupeppen. Und nachdem Josie von ihrem damaligen Freund verlassen worden und fast vor Liebeskummer vergangen ist, konnte ich sie unmöglich den Sommer über allein in Boston zurücklassen, also habe ich sie kurzerhand überredet, mitzukommen und die Ferien mit mir auf der Insel zu verbringen.

Weil ich mit meinen beiden besten Freundinnen ohnehin dauernd im Austausch bin, ist es unnötig, sich mit Grußformeln oder Anreden aufzuhalten. Also tippe ich kurz und knapp:

»Wo seid ihr? x«

Wie erwartet erhalte ich innerhalb von wenigen Sekunden eine Antwort von Josie:

»Warum schreibst du uns Nachrichten, während du ein Date hast???«

Fast gleichzeitig kommt eine Nachricht von Hannah:

»Wir sind im Jachtclub auf der Terrasse und trinken Flynns teuren Weißwein! Umsonst!! Komm vorbei!!! xx«

Der Jachtclub gehört den drei Sullivan-Brüdern, die den Familienbetrieb nach dem frühen Tod ihres Vaters bereits in jungen Jahren übernommen haben. Flynn ist der mittlere, Koch des Club-Restaurants und Hannahs bester Freund. Blake, der älteste, ist für die Buchhaltung zuständig und außerdem Josies fester Freund. Die beiden haben sich letztes Jahr während des Sommers kennengelernt, und seitdem lebt auch Josie dauerhaft auf der Insel. Neben den beiden gibt es noch Jacob, den jüngsten Bruder. Er ist für die Boote und die Segelausflüge zuständig und eine richtige Nervensäge.

Bevor ich mich in Bewegung setzen kann, ploppt schon die nächste Nachricht von Josie auf:

»Sie kann nicht kommen! Sie hat ein DATE!!!«

Und Hannah schreibt zurück:

»Anscheinend ist das DATE nicht sonderlich toll, sonst würde sie uns ja nicht fragen, wo wir sind. Also kann sie ebenso gut vorbeikommen und mit uns Wein trinken.«

Ich lache auf, als ich Josies nächste Nachricht lese:

»Warum schreibst du mir überhaupt Nachrichten? Ich sitze NEBENDIR!!!!!«

Hannah antwortet:

»Du schreibst mir doch auch! Hör auf, mir zu schreiben!«

Schlagartig hebt sich meine Laune. Mit einem Lächeln auf den Lippen hole ich mein Fahrrad aus dem Ständer neben dem Restauranteingang und schiebe es über die Harbor Street in Richtung Jachtclub.

Menemsha besteht nur aus wenigen Straßen und ein paar zusammengewürfelten Häusern und Geschäften. Aber in den Sommermonaten tummeln sich in der Straße, die direkt am Hafen­becken mit den zahlreichen Fischereibooten entlangführt, die Fußgänger und Fahrradfahrer. Der am Ende der Straße liegende Newport Yachtclub der Sullivan-Brüder besteht aus einer Marina, in der sowohl die reichen Sommergäste als auch die Einheimischen ihre Boote und Jachten liegen haben, und einem Clubhaus mit Restaurant.

Gut gelaunt schiebe ich mein Fahrrad an dem kleinen Parkplatz vorbei, bis zu meiner Rechten das Hafenbecken der Marina beginnt. Ein Segelschiff fährt gerade ein und legt am Anleger an. Einige der Eigner sind noch auf ihren Booten, putzen das Deck oder genießen einfach die letzten Sonnenstrahlen und trinken einen Sundowner. Ihr Geplauder und Lachen dringt zu mir herüber.

Das Hauptgebäude des Clubs, ein weiß gestrichener Bau im Kolonialstil, liegt gegenüber der Marina. Davor erstreckt sich eine perfekt gepflegte Rasenfläche, auf der an zwei Fahnenmasten die amerikanische Flagge und die Flagge von Massachusetts in der Abendbrise flattern. Im ersten Stock des Hauses liegt die Wohnung der drei Sullivan-Brüder.

Ich schiebe mein Fahrrad in den Fahrradständer links vom Haus, wo ich zwischen ein paar anderen auch die Räder von Hannah und Josie entdecke. Dann umrunde ich die Rückseite des ­Gebäudes und laufe durch den Garten in Richtung der Restaurantterrasse.

Direkt hinter einer Befestigungsmauer beginnt der endlose und dunkelblaue Ozean, der in der Abendsonne glitzert. Es duftet nach Meer, feuchtem Boden und den Blüten der üppigen Jasminsträucher am Rand des Gartens. Ich muss mich ducken, um unter einigen tief hängenden Ästen der alten Eiche hindurchzuschlüpfen, die den Mittelpunkt des Gartens bildet.

Dann springe ich die Stufen zur Restaurantterrasse hoch und entdecke meine Freundinnen an unserem Lieblingstisch direkt an der weiß getünchten Brüstung. Die Sonnensegel, die sich normalerweise im Wind bauschen und die Terrasse vor der Sommersonne schützen sollen, sind bereits eingerollt. Josie und Hannah sind die einzigen Gäste, die draußen sitzen. Den anderen Restaurantbesuchern scheint es zu frisch zu sein, was wahrscheinlich an dem Regen heute Nachmittag und dem leichten Wind liegt, der aufgekommen ist.

»Da bist du ja endlich!«, begrüßt mich Hannah und schiebt mir einen Stuhl hin.

Ich umarme die beiden kurz und setze mich dann mit einem glücklichen Seufzen zu ihnen. Sofort geht hinter mir die Tür zum Restaurant auf, und als ich mich umdrehe, sehe ich, dass Blake herauskommt. Auf Josies Gesicht breitet sich ein Strahlen aus, und wie jedes Mal, wenn ich sie so sehe, bin ich froh, dass sich die beiden letztes Jahr hier gefunden haben. Es hat etwas gedauert, bis sie zusammengekommen sind, aber dafür ist die Liebe jetzt umso größer. Sie haben das Pine House in unmittelbarer Nachbarschaft des Seaside Cottage gekauft und sind dabei, es zu renovieren.

Blake gibt mir zur Begrüßung einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange, bevor er ein frisches Weinglas vor mir abstellt und jeder von uns eine Fleecedecke mit dem eingestickten Logo des Jachtclubs – dem Schriftzug Newport Yachtclub & Marina und einer kleinen Möwe darunter – reicht.

»Ich dachte, euch könnte kalt werden«, sagt er und legt eine Hand auf Josies Schulter.

Versonnen lächele ich die beiden an. Sie sind immer noch so wundervoll verliebt und können einfach nicht die Hände vonein­ander lassen. Ich weiß nicht, ob es ihnen selbst auffällt, aber immer, wenn sie nebeneinanderstehen oder auch nur aneinander vorbeigehen, berühren sie sich beiläufig.

»Danke, Blake, du bist ein echter Schatz«, sage ich und lege mir die Decke über die Beine.

»Mein Schatz«, sagt Josie grinsend und zieht ihren Freund zu sich herunter, damit er ihr einen Kuss geben kann.

Hannah verdreht in Anbetracht von so viel Romantik die ­Augen, und ich kann nicht anders, als Josie ein wenig aufzuziehen.

»Das ist nicht zu übersehen …«, sage ich lachend und füge dann mit verstellter Stimme hinzu: »Gollum …«

Hannah lacht und beugt sich vor, um mir ein Glas Wein aus der Flasche einzuschenken.

»Was trinken wir?«, frage ich interessiert.

»Chardonnay, Napa Valley, 2018er Jahrgang«, antwortet Blake.

»Ich mag Chardonnay«, erwidere ich. »Auch wenn ich dir nicht sagen könnte, ob es ein guter Jahrgang ist oder nicht.«

»Es ist ein guter Jahrgang«, sagt Blake mit einem Augenzwinkern. »Etwas anderes würde Flynn euch doch niemals kredenzen.«

Ich schnuppere an meinem Glas. Der Wein riecht blumig und ein wenig nach Apfel und Melone. Lecker.

»Wie geht es denn mit der Renovierung von Pine House voran?«, frage ich, nachdem ich den ersten Schluck getrunken habe. Der Wein schmeckt genauso gut, wie er riecht.

»Über die Baustelle können wir später reden«, sagt Josie und beugt sich ein Stück vor. »Erst will ich alles über dein Date wissen, Liv!«

»Dann verabschiede ich mich mal«, sagt Blake und räuspert sich. »Ich will euren Mädelsabend nicht weiter stören. Aber lasst es mich wissen, wenn ihr irgendetwas braucht.«

Nach einem letzten Kuss für Josie verlässt Blake die Terrasse und schiebt die Glastür hinter sich zu.

»Also?«, fragt Josie neugierig. »Was ist passiert?«

»Nichts ist passiert.« Ich seufze, denn eigentlich möchte ich den ersten Teil des Abends einfach nur vergessen. »Er hat die ganze Zeit nur langweilige Sachen erzählt.«

»Vielleicht war er aufgeregt«, sagt Josie, die immer nur das Gute im Menschen sieht.

»Ja, vielleicht«, räume ich ein. »Aber er ließ sich einfach nicht davon abbringen. Nach einer halben Stunde Monolog hatte ich genug und bin gegangen.«

Ich lehne mich zurück und trinke noch einen Schluck kühlen Weißwein. Er schmeckt wirklich hervorragend. Fruchtig, aber nicht zu süß, erfrischend, aber nicht sauer.

»Ich hatte schon befürchtet, dass das Date nicht sonderlich berauschend wird«, sagt Hannah und nimmt sich eine Erdnuss aus dem kleinen Schälchen vor ihr. »Lass mich raten – er hat die ganze Zeit nur über Schach gesprochen?«

»Warte – du kennst Ethan?«, frage ich fassungslos.

»Ich hatte auch mal ein Date mit ihm«, antwortet sie kauend, als wäre es das Normalste von der Welt. »Vor ein oder zwei Jahren, glaube ich. Da hatte er gerade die Schach-AG an seiner Schule übernommen, und schon damals konnte er über nichts anderes sprechen.«

Ich beuge mich über den Tisch und greife nach ihrem Arm. »Und du hast mich nicht gewarnt? Wenn ich gewusst hätte, dass er so schräg drauf ist, hätte ich einem Date mit ihm nie zugestimmt!«

Hannah zuckt mit den Schultern. »Er ist ja nicht wirklich schräg. Nur … sehr fokussiert auf sein Hobby. Wenn ich dir vorher davon erzählt hätte, dann hättest du das Date wahrscheinlich abgesagt oder von Anfang an Vorbehalte gegen ihn gehabt. Das wäre doch unfair gewesen. Ich wollte, dass du der Liebe eine Chance gibst!«

Ich schnaube und schiebe meine Brille hoch. »Der Liebe zwischen mir und diesem Möchtegern-Schachweltmeister?«

Josie schaut belustigt zwischen uns beiden hin und her. »Also, ich finde es gut, dass Hannah dir nichts gesagt hat. Immerhin hättest du genauso gut deine Begeisterung für Schach entdecken können. Dann hättet ihr euch nächtelang erbittert über dem Spielbrett bekriegt, um dann leidenschaftlich übereinander herzufallen …«

Die Tür zum Restaurant geht auf, und ich drehe mich um. Als ich sehe, wer auf uns zuschlendert, entfährt mir unwillkürlich ein Stöhnen.

Jacob Sullivan.

Ausgerechnet.

Und gerade dachte ich, dass der Abend richtig nett werden könnte.

»Hey, Jacob, was bringst du uns da Leckeres?«, fragt Hannah, die mit Jacob – genauso wie mit seinen Brüdern – schon seit ihrer Kindheit befreundet ist.

»Das soll ich euch von Flynn geben, mit schönen Grüßen aus der Küche, damit ihr den Wein nicht ohne Grundlage trinkt«, erwidert er und stellt eine Platte mit Süßkartoffelpommes und Sour-Cream-Dip vor uns ab.

»Hat er etwa Angst, dass wir uns betrinken und seine Gäste vergraulen?«, scherzt Hannah. »Wir versuchen uns zu benehmen, versprochen.«

Begeistert stürzen Josie und Hannah sich auf die Pommes, und auch ich nehme mir eine. Es hat durchaus Vorteile, mit einem der besten Köche der Insel befreundet zu sein. Knusprige und perfekt gewürzte Süßkartoffelpommes sind dabei eine von Flynns leichtesten Übungen. Und wir bekommen sie auch noch völlig umsonst! Wenn sich Jacob wieder so schnell wie möglich verziehen würde, wäre der Abend perfekt.

Doch statt meinen Wunsch zu erfüllen, lässt er sich auf den letzten freien Stuhl an unserem Tisch fallen, als hätten wir ihn dazu eingeladen. Mit einem wohligen Seufzen streckt er die langen Beine so weit aus, dass seine Füße fast meine berühren. Eigentlich sollte es mich nicht überraschen, dass er nicht das Feingefühl seines großen Bruders Blake besitzt, der wenigstens erkennt, wenn er bei einem Frauengespräch stört. Wir reden hier schließlich über Jacob Sullivan. Und der ist und bleibt einfach ein unsensibler Klotz.

»Also, Edwards?«, wendet er sich an mich und schnappt sich eine Pommes. »Wer fällt über wen her?«

Ernsthaft? Jetzt will er auch noch mitreden?

»Keine Ahnung, was du meinst, Sullivan. Wir sprachen gerade über hoch intellektuelle Dinge wie … Schachstrategien«, improvisiere ich und ziehe meine Beine zurück, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen.

»Nie und nimmer habt ihr über Schach gesprochen«, erwidert er und setzt sein schiefes Grinsen auf.

Bei den meisten Frauen bewirkt dieses Grinsen, bei dem er den rechten Mundwinkel hochzieht – und zwar immer den rechten, nie den linken –, dass sie weiche Knie bekommen. Ein anatomisch einzigartiges Phänomen, das sie direkt in sein Bett fallen lässt.

Rein objektiv gesehen ist er gut aussehend. Wirklich, wirklich gut aussehend. Er hat helle Augen und blonde Haare, die so lang sind, dass sie ihm immer wieder in die Augen fallen. Er hat ein männliches Kinn und schöne Lippen. Seine Augenbrauen sind dicht, und seine Nase ist gerade. Und figurmäßig … Nun ja, niemand wird sich über eine Größe von eins neunzig, breite Schultern, schmale Hüften und einen ausgeprägten Bizeps beschweren. Genau wie seine Brüder ist Jacob verdammt attraktiv, das sehe ich auch, ich bin ja nicht blind. Aber das gute Aussehen kann doch niemanden darüber hinwegtäuschen, dass er ein arroganter, eingebildeter, oberflächlicher Sprücheklopfer ist, der zu allem Überfluss auch noch blöde Witze zum falschen Zeitpunkt macht. Häufig auf meine Kosten. Manchmal erscheint es fast so, als würde es ihm einen Heidenspaß machen, exklusiv mir auf die Nerven zu gehen. Hat der arme Kerl denn keine anderen Hobbys?

Er fixiert mich und fährt mit seiner Befragung fort. »Hattest du heute Abend ein Date, Liv?«

»Woher weißt du das denn jetzt schon wieder?«, gebe ich genervt zurück.

Er legt einen Finger an die Unterlippe, als würde er angestrengt nachdenken.

»Vielleicht erkenne ich es daran, dass du heute dieses herzallerliebste Blümchenkleid trägst, hohe Schuhe anhast, in denen du kaum laufen kannst, und ausnahmsweise mal geschminkt bist. Außerdem trägst du die Haare offen.«

Ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird. Ob vor Scham oder vor Wut, weiß ich in diesem Moment selbst nicht. Davon abgesehen, dass er es mal wieder schafft, in einem Satz all seinen Spott und seine offensichtliche Abneigung gegen mich zusammenzufassen – und das, ohne sich dafür sonderlich anstrengen zu müssen –, hat er nämlich absolut recht mit seiner Behauptung. Ich habe mich für das Date nett angezogen, mir die Haare geföhnt und mich geschminkt.

Eigentlich bin ich eher der natürliche Typ und trage fast nie Make-up. Mein Lieblingsoutfit sind Jeans oder kurze Hosen und T-Shirt, und meistens bin ich entweder barfuß unterwegs oder in Turnschuhen. Häufig natürlich auch in Gummistiefeln, denn ­alles andere wäre in meinem Job in der Seehundauffangstation einfach unpraktisch.

»Was dir nicht alles auffällt, Jacob«, gebe ich betont spöttisch zurück, um mir nicht anmerken zu lassen, dass er voll ins Schwarze getroffen hat. »Du scheinst mich ja sehr genau zu beobachten, wenn dir solche Kleinigkeiten auffallen. Sag Bescheid, wenn du darüber reden möchtest.«

Er zuckt gelangweilt mit den Schultern und schiebt sich eine weitere Pommes in den Mund, bevor er sich ein Stück zu mir ­herüberbeugt. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen.

Sein Gesicht ist direkt vor meinem, und seine Stimme trieft vor Spott, als er erwidert: »Entweder das, oder ich habe dich vor einer Stunde mit Ethan Skidmore in den Lobsterville Grill gehen sehen.« Er zieht eine Augenbraue hoch. »Ich wusste gar nicht, dass du auf den langweiligen Lehrertyp stehst.«

»Hey, Lehrer sind doch nicht langweilig!«, ereifert sich Josie, die beim CCS – dem Center for Coastal Studies – selbst kleine Kinder unterrichtet.

»Na ja«, sagt Hannah gedehnt. »Ethan Skidmore ist in der Tat ein bisschen langweilig, um ehrlich zu sein.«

Jacob und ich beachten sie gar nicht. Dafür sind wir viel zu sehr darauf konzentriert, uns gegenseitig mit Blicken zu töten.

»Ist also nicht so gut gelaufen?«, hakt Jacob nach und lehnt sich wieder zurück.

»Warum denkst du das?«, entgegne ich hitzig. »Wir hatten ­einen sehr netten Abend und äußerst … interessante Gespräche.«

Jacob lacht laut auf und schaut mit einer umständlichen Bewegung auf seine Armbanduhr. »Und der nette Abend war um Viertel nach acht zu Ende?«

Wieder hat er absolut recht mit seiner Beobachtung, was die Sache nicht gerade besser macht. Jacob weiß, dass er das Wort­duell gewonnen hat, und ein selbstgefälliges Grinsen erscheint auf seinem Gesicht. O Gott, dieser Mann geht mir so auf die Nerven! Wahrscheinlich ist er nur auf die Terrasse gekommen, um mich zu quälen.

»Können wir bitte das Thema wechseln?«, zische ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Ich glaube nicht, dass dich mein Liebesleben auch nur im Entferntesten etwas angeht.«

»Liebesleben?« Mit einem breiten Grinsen steht er auf. »Ich überlasse dich mal deiner Traumwelt, Cinderella. Schönen Abend noch, Ladys.«

Lässig läuft er zurück zur Tür und verschwindet im Restaurant.

»Ladys, Ladys …«, äffe ich seine Stimme nach, als er die Tür zugeschoben hat. »Heyho Ladys, was geht ab? Yo, hier kommt der coole Jacob, los, lasst alle eure Höschen fallen.«

Mit zusammengezogenen Augenbrauen trinke ich einen großen Schluck Wein. Ohne dass ich mir erklären kann, woran das liegt, schmeckt er plötzlich bitter. Angewidert stelle ich das Glas zurück auf den Tisch.

»Dass ihr euch nicht mal fünf Minuten vertragen könnt«, murmelt Josie und nimmt sich die letzte Pommes von der Platte.

»Ich habe nicht angefangen«, erwidere ich angesäuert und schiebe meine Brille hoch, die schon wieder ins Rutschen geraten ist. »Ich fange nie an!«

»Aber du bist auch nicht gerade … freundlich«, sagt Josie und zieht die Nase kraus.

»Warum sollte ich freundlich sein?«, gebe ich zurück. »Er ist doch derjenige, der immer stichelt und dumme Sprüche klopft.«

»Schon gut, schon gut«, sagt Josie beschwichtigend. »Lassen wir das Thema Jacob, bevor du noch ein Magengeschwür bekommst.«

»Pfft«, mache ich verächtlich. »Für ein Magengeschwür ist er mir viel zu unwichtig. Was er sagt, denkt oder macht, ist mir völlig egal.«

Josie lacht laut auf. »Ja, ist klar, Liv …« Ich werfe ihr einen bösen Blick zu, und sie fügt schnell hinzu: »Wein und Pommes sind leer, wollen wir langsam nach Hause gehen? Wir könnten Popcorn machen und einen Film schauen. Oder einen Serienmarathon starten!«

»Au ja, und wir könnten Ethan Skidmore einladen!«, schlägt Hannah grinsend vor. »Wenn ich mich richtig erinnere, hat er keinen Fernseher.«

»Tolle Idee«, fügt Josie hinzu und prustet schon los, bevor sie den Satz überhaupt vollendet hat. »Wir könnten mit ihm Das Damengambit schauen! Dann könntet ihr euer interessantes Fachgespräch von heute Abend fortsetzen.«

»Ich rufe ihn an«, sagt Hannah kichernd und zieht ihr Handy aus der Tasche.

»Wer euch als Freundinnen hat, braucht keine Feinde mehr«, sage ich kopfschüttelnd und nehme Hannah das Handy aus der Hand, bevor sie irgendeine Dummheit machen kann.

»Ach Quatsch«, sagt Josie und drückt mir beim Aufstehen einen Kuss auf die Wange. »Ohne uns könntest du doch gar nicht leben.«

Sie hakt sich links bei mir unter, während Hannah meinen rechten Arm nimmt, und gemeinsam laufen wir über den Rasen in Richtung der Fahrräder.

2

An meinem ersten Arbeitstag im St. Francis Seal Rescue Center bin ich schon vor dem Weckerklingeln hellwach und voller Vorfreude. Ich bleibe noch etwas liegen und genieße die frische, klare Luft, die durch das Fenster hereinströmt und den Vorhang bauscht. Die Vögel zwitschern im Garten vor meinem Zimmer, und es duftet nach Blumen und Meer. Aus der Küche höre ich Geschirrklappern, und ich weiß, dass Hannah und Louise schon in den Tag gestartet sind.

Gut gelaunt schwinge ich die Beine über die Bettkante und dusche ausgiebig, bevor ich mir eine kurze Hose und ein T-Shirt anziehe und nach unten gehe. Wie ich es erwartet habe, finde ich in der Küche das vertraute Bild vor: Hannah und Louise backen, ­Josie sitzt mit angezogenen Beinen auf der Eckbank und trinkt den ersten Kaffee des Morgens.

Mein Gott, wie habe ich unsere kleine Gemeinschaft im Seaside Cottage vermisst! Der gemeinsame erste Kaffee morgens, wenn Josie und ich – manchmal noch verschlafen und ungeduscht – in die Küche kommen, aber Hannah und Louise schon fleißig am Backen sind. Der Duft von Kuchen und Gebäck und der Anblick ihrer kunstvollen Torten, die jede freie Stellfläche belegen. Der Start in den Tag ist hier genauso magisch wie das Nachhausekommen nach einem anstrengenden Arbeitstag, die gemeinsamen Abende im verwunschenen Garten unter Apfel- und Kirschbäumen und die Lagerfeuer am Strand. Hannahs helles Lachen, ihre unbeschwerte Art, Louises liebevolle Ratschläge in allen Lebenslagen …

Als ich vor nicht einmal zwei Wochen auf die Insel zurückgekehrt und für den Sommer wieder mein altes Zimmer im Seaside Cottage bezogen habe, hat sich sofort alles genauso angefühlt wie früher. Auch wenn ich weiß, dass Josie, sobald die Renovierung von Pine House abgeschlossen ist, ausziehen wird, ist es ein Trost, dass sie nur ein paar Minuten Fußweg von uns entfernt wohnen wird.

»Musst du heute nicht arbeiten?«, frage ich sie, nachdem ich allen einen guten Morgen gewünscht habe, und schenke mir ebenfalls Kaffee ein. Stark und schwarz, wie ich ihn am liebsten mag.

»Doch«, antwortet sie und streicht sich die verstrubbelten braunen Haare aus den Augen, die fast denselben Farbton haben wie meine. »Um neun machen wir einen Ausflug mit einer Schulklasse.«

»Und du bist noch nicht fertig?«, frage ich und nehme mir die Cornflakes-Packung aus dem Küchenschrank. »Willst du nicht langsam mal duschen?«

»Ich gehe ja schon, Mami«, brummt meine Freundin und steht auf. »Bis gleich.«

»Morgenmuffel«, necke ich sie, und sie streckt mir die Zunge heraus, was mich zum Lachen bringt.

Natürlich weiß ich, dass sie in Wirklichkeit alles andere als ein Morgenmuffel ist. Manchmal steht sie in aller Herrgottsfrühe auf, um eine Stunde im Meer zu schwimmen. Sie ist eine hervorragende Athletin und hatte an der Boston University sogar ein Sportstipendium.

Louise ist gerade fertig damit, ein großes Muffinblech mit Teig zu befüllen, und schaut auf, als ich mir einen Löffel Frühstücksflocken in den Mund schiebe. Sie ist eine topfit wirkende Siebzigjährige mit langen, zu einem Dutt zusammengebundenen grauen Haaren, die die meiste Zeit ohne Schuhe, dafür aber mit rot ­lackierten Fußnägeln herumläuft.

»Hast du heute deinen ersten Arbeitstag?«, erkundigt sie sich, und als ich nicke, fügt sie hinzu: »Bist du ein bisschen aufgeregt?«

Während ich kaue, denke ich über die Frage nach.

»Nein, eigentlich nicht«, antworte ich dann. »Ich kenne die Station und meinen Chef ja schon vom letzten Jahr. Vielleicht gibt es ein paar neue Mitarbeiter, aber ansonsten hat sich bestimmt nicht so viel verändert.«

»Und den kleinen Frodo?«, fragt Hannah. »Wirst du ihn auch wiedersehen?«

»Nein, Frodo nicht«, erwidere ich, und plötzlich bin ich ein bisschen traurig, als ich an meinen Lieblingsheuler aus dem letzten Sommer denke. »Der ist schon lange wieder ausgewildert und hoffentlich groß, stark, frei und glücklich.«

»Ich könnte das nicht.« Hannah seufzt. »Wenn man sein Herz so an ein Tier hängt und sich dann wieder von ihm trennen muss …«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß, was du meinst, aber das ist nun mal unser Job. Wir retten Seehunde und Robben, päppeln sie wieder auf, ohne sie zu sehr an uns zu gewöhnen, und wenn alles gut läuft, werden sie kräftig und gesund wieder in die Freiheit entlassen.«

Natürlich ist das manchmal mit Herzschmerz bei den Pflegern verbunden, aber das ist wohl nur menschlich. Im Grunde wissen wir alle, dass die Tiere wild sind und in den Ozean gehören.

Ich schiebe mir den letzten Löffel Cornflakes in den Mund, bevor ich aufstehe, meinen Kaffee austrinke und mein Geschirr in die Spülmaschine räume.

»Sehen wir uns heute Abend?«, frage ich Hannah, als ich mich wieder aufrichte und die Tür der Spülmaschine mit dem Fuß schließe. »Wir könnten uns um acht im Lobsterville Grill treffen und was essen.«

Hannah ist schon wieder voll darauf konzentriert, eine Torte mit perfekten kleinen Häubchen zu verzieren, und nickt nur geistesabwesend.

»Gut, ich sage Josie Bescheid. Bis später!«, rufe ich und umarme Louise kurz, bevor ich mir meine Tasche schnappe und das Haus verlasse.

Mein Fahrrad schiebe ich das kurze Stück durch den verwilderten Vorgarten. Der Himmel erstreckt sich wolkenlos und strahlend blau über mir, und es verspricht, ein warmer, sommerlicher Tag zu werden. Vermutlich wird es einer dieser Tage, für die die Touristen Urlaub auf Martha’s Vineyard machen. Sie kommen auf die Insel, um bei bestem Wetter Fahrrad- oder Bootstouren zu unternehmen, den Nachmittag am Strand zu verbringen, abends Lobster Roll zu essen, kalten Weißwein zu trinken und am Ende eines perfekten Tages den perfekten Sonnenuntergang zu beobachten.

Als ich am Gartentörchen ankomme, drehe ich mich noch ­einmal um und werfe einen Blick zurück. Ich entdecke Josie am offenen Badezimmerfenster im Obergeschoss, und wir winken uns zu.

Das Seaside Cottage ist ein hübsches, zweistöckiges Steinhaus mit Sprossenfenstern und blauen Fensterläden, das fast zur Hälfte von kleinen weißen Kletterrosen überwuchert wird. Die großen Hortensienbüsche rechts und links der Eingangstür tragen Knospen, die gerade dabei sind, sich zu öffnen, genau wie die farbenprächtigen Wildblumen, die vollständig vom Vorgarten Besitz ergriffen haben. Bienen, Schmetterlinge und andere Insekten fliegen und flattern emsig umher. Die Atmosphäre ist so schön und friedlich, dass ich mir kurz die Zeit nehme, den Anblick in mich aufzunehmen und den Duft von Meer und Dünengras einzuatmen, bevor ich mich auf den Sattel meines Fahrrads schwinge und losradele.

Der Weg nach Menemsha dauert nur wenige Minuten, und ich genieße es, wie mir der Fahrtwind in die offenen Haare fährt. Anstatt rechts in die Harbor Street einzubiegen, die in Richtung des Lobsterville Grill, der Geschäfte und schließlich zum Jachtclub führt, fahre ich weiter geradeaus zum kleinen Fischereihafen. Dort, wo die Fischer ihren frischen Fang verkaufen, steige ich ab, denn ich muss auf die kleine Fahrradfähre warten.

Um in den westlichen Teil der Insel zu gelangen – also nach Aquinnah, zu den Weststränden, den berühmten Klippen und dem Leuchtturm von Gay Head –, müssen die Autofahrer zwei große, vom Meer gespeiste Seen umfahren. Das bedeutet einen Umweg von fast sechs Meilen, den man sich als Fußgänger und Fahrradfahrer sparen kann, wenn man in Menemsha die Fähre nimmt. Die Überfahrt dauert nur zwei oder drei Minuten, sodass sogar ich sie locker überstehe, obwohl ich schrecklich schnell seekrank werde. Schon unzählige Male bin ich mit dem Pontonboot gefahren, das nur ein paar Meter lang ist und höchstens sechs Fahrräder mitnehmen kann.

Auch heute werde ich freundlich und mit Handschlag von Clayton, dem Kapitän, begrüßt, als ich mein Rad auf die kleine Fähre schiebe. Wir plaudern ein wenig über das Wetter, aber heute geht die Überfahrt, dank ein wenig Rückenwind, besonders schnell, sodass wir innerhalb von wenigen Minuten zu der kleinen Anlegestelle West Basin übergesetzt haben.

Ich schiebe mein Fahrrad vom Boot und die kurze Steigung hin­auf, bevor ich wieder aufsitze und weiterradele. Mein Weg führt durch Heidelandschaft und Salzwiesen, zu meiner Rechten immer der dunkelblaue Ozean, der sich spiegelglatt bis zum Horizont erstreckt.

Das St. Francis Seal Rescue Center liegt direkt hinter dem Parkplatz des Lobsterville Beach. Und obwohl ich auf Louises Frage beim Frühstück geantwortet habe, dass ich nicht aufgeregt bin, schlägt mein Herz ein wenig schneller, als ich die breiten Stufen zum Hauptgebäude der Seehundstation hinauflaufe und die Glastür zum Eingangsportal aufstoße. Sofort umfängt mich der vertraute Geruch von Fisch und Salz sowie Reinigungs- und Desinfektionsmitteln.

»Liv, da bist du ja endlich!«, schallt es mir entgegen, und ich stoße einen Schrei der Begeisterung aus, als ich meinen Lieblingskollegen Ji-Min sehe, der mir mit offenen Armen entgegenkommt.

Ji-Min ist der Veterinär der Seehundauffangstation, und im letzten Jahr war er derjenige, mit dem ich mich mit Abstand am besten verstanden habe. Seit acht Monaten habe ich ihn nicht mehr gesehen, aber er scheint sich genauso zu freuen wie ich, dass wir wieder zusammenarbeiten.

»Herr Doktor!«, rufe ich mit einem Lachen, als er mich in die Arme zieht.

»Selbst Frau Doktor«, erwidert er. »Herzlichen Glückwunsch übrigens.«

»Danke«, sage ich, als wir uns voneinander losmachen. »Ich kann es kaum glauben und zucke noch jedes Mal zusammen, wenn mich jemand so anspricht.«

»Ach was«, gibt er zurück und schiebt sich eine Strähne seines schwarzen Haares aus den Augen. »Kein Grund für falsche Bescheidenheit. Du hast dir diesen Titel hart erarbeitet.«

»Danke«, sage ich noch einmal und schultere meine Tasche, die bei unserer Umarmung zu Boden gerutscht ist. »Aber in den nächsten Monaten heißt es wieder kleinere Brötchen backen. Da bin ich die Ferienaushilfe hier, genau wie im letzten Jahr.«

»Warum hast du denn wieder einen Aushilfsjob angenommen?«, will Ji-Min wissen, während wir zusammen in Richtung des Besprechungsraums laufen, wo sich morgens immer alle versammeln. »Immerhin bist du jetzt promovierte Meeresbiologin und könntest dir einen viel besseren Job suchen.«

»Du hörst dich schon an wie meine Freundin Josie«, gebe ich zurück und drücke die Tür auf, die den Mitarbeiterbereich der Station von dem für die Touristen zugänglichen Areal trennt. »Aber ich bin mir einfach noch nicht sicher, was ich machen möchte. Eine Professorin an der BU hatte mir im letzten Jahr einen Job angeboten, aber ich war mir nicht sicher, ob mich das auch dauerhaft glücklich machen würde.«

»Und darum bist du zu mir zurückgekehrt?«, fragt er und wackelt mit den Augenbrauen. »Weil nur ich dich glücklich machen kann?«

Ich lache und boxe ihm leicht mit der Faust auf die Schulter. »So ähnlich. Du und die Heuler.«

Er stimmt in mein Lachen mit ein, und seine braunen Augen blitzen auf.

»Um ehrlich zu sein, möchte ich mir einfach noch ein wenig Zeit nehmen, um mir darüber klar zu werden, wohin es für mich beruflich gehen soll«, sage ich etwas ernster. »Und es gibt Schlimmeres, als einen weiteren Sommer hier zu verbringen – vor allem, weil meine Freundin Josie jetzt dauerhaft hier lebt.«

Als wir an der kleinen Kaffeeküche der Mitarbeiter vorbeikommen, stoßen wir beinah mit unserem Chef Andrew zusammen, der sie gerade verlässt. In der linken Hand hält er einen dampfenden Becher, und als er mich sieht, grinst er breit und streckt mir seine riesige Rechte hin. Sein fester Händedruck passt zu seiner donnernden Stimme und seinem rauen Aussehen.

»Na, Liv, wieder an Bord?«, fragt er, und ich nicke.

Andrew ist im letzten Jahr fünfzig geworden, fast zwei Meter groß, hat flammend rote Haare und einen ebenso roten und dichten Bart, der mal mehr, mal weniger ordentlich gestutzt ist. Mit seinem Aussehen könnte er ohne Weiteres in einer Verfilmung von Moby Dick oder bei Fluch der Karibik mitspielen. Er ist manchmal etwas ungeduldig, und zuweilen kann er einen etwas ruppigen Ton anschlagen, aber im Grunde ist er ein guter Chef.

Die anderen Mitarbeiter sind bereits in seinem Büro versammelt. Die meisten von ihnen kenne ich vom letzten Jahr, unter anderem die Tierpfleger Oliver, Catalina und Greg, von denen ich herzlich begrüßt werde. Die drei jungen Praktikantinnen sind neu – was nicht unüblich ist, denn meist bleiben die Studenten nur für eine gewisse Zeit in den Semesterferien –, doch auch sie wirken offen und nett. Ich selbst bin als Meeresbiologin in der Hierarchie zwar über den Studenten angesiedelt, dennoch bin ich eine Aushilfskraft. Daher muss ich nicht nur Andrews Anweisungen folgen, sondern auch denen der anderen Festangestellten, was aber zumindest im letzten Jahr völlig in Ordnung war, weil alle – insbesondere Ji-Min – immer gerne meine Meinung eingeholt und meine Expertise bei den Seehunden und Robben geschätzt haben.

Ich habe kaum Zeit, mir selbst einen Kaffee aus der Küche zu holen, da beginnt Andrew schon mit der Einteilung der Arbeiten für die Woche. Wie üblich gibt es viel zu tun. So viel, dass wir ­locker noch ein paar weitere Tierpfleger und Helfer einstellen könnten, nur wäre das leider zu teuer für die Station, die sich neben den wenigen Fördergeldern hauptsächlich durch Spenden und den Ticketverkauf finanziert.

Doch auch von dem enormen Arbeitspensum lasse ich mir nicht die Laune verderben. Mit einem glücklichen Lächeln lehne ich mich auf meinem Stuhl zurück, lausche Andrews Ausführungen und nippe an meinem herrlich heißen und bitteren Kaffee. Hier in der Station zu sein, fühlt sich ein wenig so an, wie wieder im Seaside Cottage zu wohnen.

Es ist, als würde ich nach Hause kommen.

Die Sonne steht schon tief am Horizont, als Hannah, Josie und ich am frühen Abend zu Fuß vom Cottage in Richtung Menemsha laufen. Im Lobsterville Grill setzen wir uns an einen der freien Tische vor dem Restaurant, und keine Minute später erscheint Wendy, um uns die Speisekarten zu bringen.

»Wir wissen schon, was wir nehmen!«, sagt Josie gut gelaunt, bevor ich die Seite mit den vegetarischen Speisen aufschlagen kann, und grinst Wendy an. »Eine Flasche Wasser, eine Flasche Pinot Grigio, einmal die Muscheln für mich, einmal die Hummer-Ravioli für Hannah und einmal den Veggie Burger mit Avocado und extra Käse für Liv.«

»Bist du etwa unter die Hellseher gegangen?«, frage ich und reiche Wendy die Karte zurück, denn Josie hat tatsächlich genau das bestellt, was ich essen wollte.

»Das muss ich gar nicht«, antwortet meine Freundin. »Wir nehmen doch ohnehin immer das Gleiche.«

»Also, ich hatte auch schon mal den Wassermelonen-Feta-Salat«, verteidige ich mich.

»Das war in dieser einen Woche letzten Sommer, in der du dir eingeredet hast, dass du abnehmen musst«, kontert Josie. »Das war eine einmalige Verwirrung und kam danach nie wieder vor.«

Ich blicke zu Wendy, die unser Gespräch mit einem Lächeln verfolgt. »Dann hätten wir gerne Muscheln, Ravioli und Burger, Wendy.«

»Kommt sofort.« Während sie mit einem ausladenden Hüftschwung zurück ins Restaurant marschiert, ruft sie über die Schulter hinweg: »Und redet euch nie ein, dass ihr abnehmen müsst. Ihr seid perfekt, so wie ihr seid, Mädels.«

»Wir werden es uns merken«, erwidert Hannah lachend und winkt jemandem hinter meinem Rücken zu. »Hey, da kommen Blake und Jacob.«

Ich drehe mich um und sehe die beiden über die Harbor Street auf uns zukommen, Blakes Hündin Harley dicht an seiner Seite. Blake trägt eine lange dunkelblaue Hose und das weiße Club-Polo, also scheint er direkt von der Arbeit zu kommen. Jacob hingegen hat sich für eine verwaschene Jeans und ein weißes Leinenhemd entschieden, dessen Ärmel hochgekrempelt sind.

Wahrscheinlich, um der Welt seine braun gebrannten und muskulösen Unterarme zu präsentieren, schießt es mir durch den Kopf. Gleichzeitig frage ich mich, warum mir überhaupt auffällt, dass er braun gebrannte und muskulöse Unterarme hat.

»Hey!«, ruft Josie, als die beiden sich unserem Tisch nähern. »Was für ein schöner Zufall! Ihr könnt mit uns essen.«

Natürlich habe ich keine Lust, Jacob zu sehen, geschweige denn, den Abend mit ihm zu verbringen, aber ich presse die Lippen zusammen und verkneife mir einen Kommentar. Offensichtlich freut sich Josie, dass Blake uns beim Essen Gesellschaft leistet, und Hannah versteht sich mit allen drei Sullivan-Brüdern sehr gut. Auf keinen Fall will ich irgendjemandem den Abend vermiesen, also werde ich versuchen, mich zusammenzureißen. Denn seien wir ehrlich: Ob ich will oder nicht, Jacob ist Bestandteil meines Lebens hier auf Martha’s Vineyard, und er wird es wohl oder übel auch bleiben.

Außer natürlich, er beschließt spontan, nach Australien aus­zuwandern. Oder besser noch … auf den Mond. Werden nicht sogar noch Teilnehmer für diese Raumfahrtmission zum Mars ­gesucht? Wegen mir bräuchten sie ihn auch gar nicht mehr zurückzuholen …

»Warum lächelst du so versonnen?«, fragt Jacob und lässt sich ausgerechnet auf den freien Stuhl neben mir fallen. »Freust du dich so sehr, mich zu sehen?«

»Klar«, antworte ich und beuge mich nach unten, um Harley über den Kopf zu streicheln, die mir schwanzwedelnd die Hand leckt. »Highlight meines Tages.«

»Dachte ich mir«, erwidert Jacob trocken und begrüßt dann Wendy, die gerade unsere Weinflasche und drei Gläser auf den Tisch stellt. »Könnten wir zwei Bier bekommen, Wendy?«

»Kommt sofort«, antwortet sie. »Wollt ihr auch was essen, Jungs?«

»Für mich nichts«, lehnt Jacob ab. »Ich muss gleich wieder los und noch etwas arbeiten.«

»Für mich den Burger«, sagt Blake. »Medium. Mit Pommes und Salat.«

»Ist Flynn noch im Restaurant?«, fragt Hannah, als Wendy sich wieder vom Tisch entfernt hat.

»Ja, noch kein Feierabend in Sicht«, antwortet Blake und beugt sich vor, um uns dreien Wein einzuschenken. »Aber das ist wohl das Los der meisten Köche: unmögliche Arbeitszeiten.«

»Frag mal nach den Arbeitszeiten einer Bäckerin«, erwidert Hannah mit einem Seufzen.

»Gut, dass ihr kein Paar seid«, sagt Jacob, und ich sehe, wie sich Hannahs Körperhaltung verändert.

»Wie meinst du das?«, fragt sie und blinzelt zweimal.

Josie und ich wechseln einen raschen Blick, denn wir vermuten schon länger, dass Hannah eine kleine Schwäche für ihren besten Freund Flynn hat. Nicht dass sie das jemals zugeben würde. Und natürlich sprechen wir sie auch nicht darauf an, schon gar nicht vor seinen Brüdern.

Aber Jacob hat nicht unser Feingefühl.

»Na ja, wenn Flynn irgendwann um Mitternacht ins Bett geht und dann erst mal ausschlafen kann, müsstest du in aller Herrgottsfrühe aufstehen und mit dem Backen beginnen«, erklärt er schulterzuckend. »Und wenn du deine Kuchen ausgeliefert hättest und Feierabend machen könntest, müsste Flynn schon wieder anfangen zu arbeiten. Ihr würdet euch praktisch nie sehen.«

»Tja …«, sagt Hannah gedehnt und trinkt zwei große Schlucke Wein, ohne irgendjemanden am Tisch anzusehen, bevor sie hinzufügt: »Wie gut, dass wir nur befreundet sind.«

»Da kommt Wendy mit eurem Bier!«, ruft Josie ein wenig zu laut, und ich weiß, dass sie das nur tut, um Hannah aus der unangenehmen Situation zu befreien.

Wendy stellt zwei Flaschen Coors Light vor die Männer, und wir stoßen an.

»Und, was gibt es bei euch so Neues? Läuft die Saison gut an?«, frage ich Blake, nachdem ich den ersten Schluck des herrlich eiskalten Weißweins getrunken habe.

»Die Marina ist komplett ausgebucht, und wir haben eine ziemlich lange Warteliste für die Liegeplätze«, antwortet er und wischt mit einem Finger das Kondenswasser von der Flasche. »Die Leute würden am liebsten jetzt schon einen Platz für das Jahr 2035 reservieren, nur um sicherzugehen, dass sie einen bekommen. Wir könnten doppelt so viele Plätze vermieten, wenn wir sie hätten.«

»Ich finde es schön, dass die Marina so klein ist«, sagt Josie. ­»Jeder kennt jeden. Das mag ich.«

»Ich auch«, sagt Blake und nickt seinem Bruder zu. »Wobei es durchaus Expansionspläne gibt, aber davon soll Jacob euch er­zählen.«

Jacobs Kopf ruckt herum, und es scheint, als würde er uns erst jetzt wieder wahrnehmen. Ich schaue in die Richtung, in die er zuvor geblickt hat, und erkenne den Grund dafür, dass er abgelenkt war. Eine Gruppe junger Frauen hat sich an einen der freien Tische direkt an der Hauswand gesetzt. Sie scheinen Touristinnen zu sein, denn Insulaner sieht man hier eher selten in kurzen Pailletten-Minikleidern und Killer-Stilettos, auf denen ich mir wahrscheinlich nach zwei Schritten den Hals brechen würde. Offensichtlich haben sie etwas zu feiern, denn sie sind ziemlich aufgedreht und laut.

»Was?« Jacob schaut seinen Bruder verwirrt an.

Instinktiv will ich die Augen verdrehen, doch dann verkneife ich es mir.

»Ich habe gesagt, dass du Neuigkeiten hast, von denen du ­vielleicht selbst berichten möchtest?«, sagt Blake, und nicht zum ersten Mal bewundere ich die Geduld, die er mit seinem Bruder hat.

Ich kann Jacob ja kaum ertragen, wenn ich ihn ein- oder zweimal die Woche sehe. Da will ich mir gar nicht vorstellen, wie es gewesen sein muss, mit ihm aufzuwachsen. Oder wie es ist, mit ihm dauerhaft unter einem Dach zu wohnen.

Als Hannah, Josie und ich im letzten Jahr ein paar Wochen mit den Jungs zusammenleben mussten, weil es im Seaside Cottage gebrannt hatte, habe ich ihn die meiste Zeit ignoriert. Das war besser so. Für alle.

»Ah«, macht Jacob und trinkt einen Schluck Bier aus der Flasche, bevor er sagt: »Ich bin gerade dabei, mit einem Investor zu verhandeln, damit wir unser Ausflugsangebot erweitern können.«

»Oh, wow«, sagt Josie. »Das hört sich toll an!«

»Wollt ihr das denn?« Hannah runzelt die Stirn. »Also, einen fremden Investor im Unternehmen?«

Der Newport Yachtclub & Marina ist seit drei Generationen im Besitz der Sullivans. Der Großvater der drei Brüder hat das Land in den 1950er-Jahren erworben und den Club und die ­Marina aufgebaut. Als sein Sohn dann sehr früh verstarb, haben seine Enkel die Verantwortung für das Familienunternehmen übernommen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass der Club, die Marina und das Restaurant das Leben der drei Brüder sind. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie sich in die Geschäfte hi­neinquatschen lassen wollen, so verlockend es auch sein mag, dass fremdes Geld investiert wird.

Jacobs Blick flackert wieder zu der Gruppe der jungen Frauen hinüber, bevor er antwortet: »Die Investition betrifft nur die Ausflugsboote, nicht den Club oder das Restaurant.«

»Und was genau planst du?«, hakt Josie nach.

»Ich will zwei weitere Whale-Watching-Boote anschaffen, außerdem eine Jetski-Flotte«, erwidert Jacob.

»Du willst was?«, frage ich ungläubig. Einen Moment habe ich das Gefühl, mich verhört zu haben. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

Wieder schaut Jacob zu den Frauen hinüber, die gerade Tequila hinunterkippen und dann quietschend und mit viel Gekreische in ihre Zitronen beißen.

»Hallo? Erde an Jacob«, rufe ich und fuchtele mit einer Hand vor seinem Gesicht herum. »Kannst du dich mal für zwei Minuten auf uns konzentrieren anstatt auf die Ladys da hinten?«

Sein Gesichtsausdruck ist leicht gelangweilt, als er sich wieder mir zuwendet. Niemand beherrscht es so gut wie er, mir ohne große Mühe das Gefühl von absoluter Bedeutungslosigkeit zu geben.

»Stört dich das etwa?«, fragt er und zieht eine Augenbraue hoch.

Ich schnaube ungehalten. »Träum weiter, Jacob. Das Einzige, was mich stört, ist, dass du diesen wunderschönen Teil der Insel mit deinen schrecklichen, lärmenden Jetski-Monstern verschandeln willst.«

»Jetzt tu doch nicht so, als würden wir ein unberührtes Stück Natur zerstören«, sagt Jacob und zuckt mit den Schultern. »In Oak Bluffs und Edgartown werden schon seit Jahren Jetskis zum Verleih angeboten.«

»Das weiß ich«, gebe ich ungeduldig zurück. »Und ich finde es dort genauso schrecklich. Aber im Osten der Insel gibt es ohnehin den Fährverkehr und dadurch viel Lärm und leider auch Dreck. Hier an der Küste vor Menemsha und rund um die Kliffe ist die Natur noch einigermaßen unberührt. Weißt du eigentlich, was diese Teile anrichten?«

Jacob schließt kurz die Augen, als wäre es seine größte Qual, mich zu ertragen. »Nein, aber ich bin mir sicher, dass du es mir gleich ausführlich erklären wirst.«

»Und ob ich das werde! Die Dinger schaden Fischen und Wildvögeln erheblich. Der Lärm stört sie in ihrem Verhalten und ihrer Lebensweise. Zunächst flüchten sie, und dann meiden sie das betroffene Gebiet völlig. Brut-, Nahrungs- und Rückzugsplätze gehen verloren. Außerdem werden Laute, die sie zum Anlocken eines Partners, zur Revierabgrenzung und zur Warnung vor Fressfeinden ausstoßen, durch den Lärm überdeckt. Auch Delfine werden durch den Unterwasserschall belastet, und zwar über Kilo­meter hinweg! Der Wellenschlag beschädigt das Ufer …« Ich hole Luft und fixiere Jacob mit meinem Blick. »Willst du noch mehr hören?«

Jacob hebt abwehrend die Hände. »O Gott, bitte nicht.«