Befreiung von der Neurose - Dieter Schwarz - E-Book

Befreiung von der Neurose E-Book

Dieter Schwarz

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Beschreibung

Die revolutionierenden Möglichkeiten der Verhaltensmodifikation eröffneten nicht nur für die Behandlung schwerer klinischer Störungen (Phobien, Zwang) neue Wege, sondern auch bei der Bewältigung alltäglicher Konflikte. Neurosen als bestimmte erlernte Verhaltensweisen zu entdecken, die man nach den experimentellen Ergebnissen der Lerntheorie wieder verlernen kann – das bedeutete eine völlige Neuorientierung des therapeutischen Denkens. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Dieter Schwarz | Elisabeth Sedlmayr

Befreiung von der Neurose

Methoden der Verhaltenstherapie

FISCHER Digital

Inhalt

Neurose – ein Mißverständnis?Lernen von VerhaltensweisenLernprinzipienNeurosen werden verlerntPhobienZwangSexuelle AbweichungenInteraktionsstörungenVerhaltensstörungen bei KindernPsychoanalyse contra VerhaltenstherapieVerhaltenstherapie in unserer GesellschaftLiteraturverzeichnisPersonen- und Sachregister

Neurose – ein Mißverständnis?

Als der schottische Arzt W. Cullen 1776 den Begriff der Neurose prägte, ahnte er sicher nicht, welche Ausweitung dieser Begriff später erfahren sollte. Cullen verstand unter Neurose »funktionelle Krankheit ohne organischen Befund«. Eine Reihe von Erkrankungen aber, die damals unter diese Kategorie fielen, haben sich als organisch verursacht erwiesen, etwa die Epilepsie, die Parkinsonsche Krankheit, die durch eine Störung der Nebenschilddrüse verursachte Tetanie. Sie wurden im 19. Jahrhundert (von Pinel, von Grasset) zu den Neurosen gezählt, auch aus der Verlegenheit heraus, daß man bei diesen nervösen Leiden noch keine organischen Schädigungen nachweisen konnte. Seitdem hat sich in der Forschung der Bereich neurotischer Phänomene einerseits verringert, andererseits dank der Fortschritte in der medizinischen Psychologie, erheblich erweitert – indem man nämlich, von der Definition her, »den Bereich des Somatischen verließ und nun Symptome wie die Zwangsvorstellungen, die Phobien und die Charakterstörungen eingliederte« (Maurice Dongier).

Heute gehört das Wort Neurose zum Vokabular jedes Zeitungslesers. Nicht nur psychogene Erkrankungen, bestimmte Verhaltensabweichungen bei Tieren, kriminelle Handlungen, familiäre Probleme und gesellschaftliche Konflikte werden mit dem Beiwort »neurotisch« belegt. Im Plädoyer des Strafverteidigers, in manchem Rentenanspruch, aber auch, wenn ein Ehepartner das Verhalten des anderen zu benennen sucht, greift man gern zu diesem Wort. Kulturkritiker haben den unübertrefflichen Ausdruck »Normalneurose« gefunden, sie gebrauchen ihn, um bestimmte Gleichgewichtsstörungen in unserer Gesellschaft, vor allem das Verhalten in der Großstadtzivilisation, generalisierend zu kennzeichnen.

Cullen war Arzt, und er dachte an Krankheit in medizinischem Sinne, auch dort, wo er organische Grundlagen nicht finden konnte. Die Vorstellung von der Neurose als einer Krankheit reicht bis ins 20. Jahrhundert. Im Handbuch der Inneren Medizin von 1926 werden die meisten der unter diesem Begriff zusammengefaßten Störungen unter dem Thema ›psychopathische Reaktionen und Konstitutionen‹ abgehandelt. In einem psychiatrischen Lehrbuch von 1963 wird die Neurose zwar deutlich abgegrenzt von der organischen Erkrankung, dann heißt es aber: »Es ist doch das Entscheidende, … daß er nicht eine Neurose hat … sondern daß er ein Neurotiker ist.«

Auch die psychoanalytische Neurosenlehre ging bis in die Gegenwart hinein von einem Begriff aus, der Neurosen ursächlich wie organische Krankheiten voneinander abgrenzt. Sigmund Freud unterschied zwischen Aktualneurosen (Schreckneurose, Angstneurose) und Psychoneurosen (Hysterie, Phobie, Zwangsneurose). In psychoanalytischer Sicht war die Neurose Folge eines Konflikts zwischen Ich und Es, Unbewußtem und Bewußtsein. Eine Fülle verschiedener Begriffe wie Verdrängung, Isolierung, Regression, Projektion, Verschiebung und andere sollten die Mechanismen kennzeichnen, durch die sich das Ich mit dem Trieb auseinandersetzte. Frühkindliche Traumata wie Kastrationsandrohung, zu kurze, aber auch zu lange Stillzeit, zu strenge, aber auch zu laxe Sauberkeitserziehung wurden als Ursache der Neurose angelastet. Die Verallgemeinerung von Einzelbeobachtungen zu einer ausgebauten Theorie und die Anwendung eben dieser Theorie auf das Normalverhalten hat dazu geführt, daß heute Eltern angstvoll in jeder auch nur geringfügig abweichenden Reaktion ihres Kindes den Anfang einer Neurose-Krankheit sehen, und ebenso, daß Jugendliche ihre Eltern mit Begriffen aus der Neurosenlehre unter Druck setzen. W. Bräutigam schreibt: »Ein Zehntel, ja nach anderen Autoren ein Drittel oder die Hälfte der Menschheit werden zu den Neurotikern und Psychotherapiebedürftigen gezählt. Es besteht bei manchem Psychotherapeuten die Tendenz, schon alles bloß Konflikthafte und Problematische, jedes sozial unangepaßte Verhalten als neurotisch zu werten.«

Dennoch: Die Anfang des Jahrhunderts einsetzende psychoanalytische Forschung stellte einen ersten Schritt in der systematischen Behandlung von Störungen dar, die sich nicht ohne weiteres dem medizinischen Krankheitsbegriff einordnen ließen. Aber die therapeutischen Möglichkeiten der Psychoanalyse haben sich als langwierig, kostspielig und exklusiv erwiesen. Ihre theoretischen Vorstellungen waren zwar aus der Erfahrung abgeleitet, führten aber allzu rasch zu einem abgeschlossenen und oft genug spekulativen System, einem System, das zu immer weiteren Schlußfolgerungen führte, Schlußfolgerungen, die z.T. ihrem Wesen nach nicht kontrollierbar sind. Der Abgeschlossenheit psychoanalytischer Theorie und Praxis stehen die offenen Systeme der experimentellen Verhaltenswissenschaften gegenüber. Wenn von Verhalten gesprochen wird, denkt man heute zumeist an die vergleichende Verhaltensforschung (Ethologie), die durch Fernsehen, Rundfunk und Veröffentlichungen von Konrad Lorenz, Eibl-Eibesfeldt und anderen allgemeine Aufmerksamkeit gewonnen hat. Sie richtet sich vor allem auf die Untersuchung spontan auftretender angeborener Verhaltensweisen und Lerndispositionen. Weniger bekannt, aber ebenso wie die vergleichende Verhaltensforschung auf die Beobachtung von Verhaltensvariablen und ihre gesetzmäßige Beschreibung gegründet ist die systematische Verhaltensmodifikation oder Verhaltenstherapie.

Diese aus der Lernpsychologie erwachsene Therapie hat begonnen, an Umfang und Bedeutung die Psychoanalyse zu überflügeln. Sie hat neue Möglichkeiten der Erforschung und Behandlung menschlicher Problemsituationen eröffnet. Sie richtet sich nicht nur auf die Behandlung schwererer klinischer Störungen, sondern auch alltäglicher Konfliktsituationen. Ihre Anwendungsmöglichkeiten sind nicht auf den einzelnen beschränkt, sondern erfassen auch Störungen im Verhalten kleinerer oder größerer sozialer Gruppen. Der ständige Rückbezug auf beobachtbare Verhaltensweisen ermöglicht eine experimentelle Untersuchung aller Methoden, durch die unser Verhalten modifiziert wird. Die Verhaltenstherapie bezieht sich nicht auf einen unscharfen theoretischen Begriff wie den der Neurose und sie bedarf nicht eines ganzen Vokabulars naturwissenschaftlich nicht überprüfbarer Konstruktionen wie Verdrängung, Regression usw. Sie verwendet kein Neurose-Konzept, das sichtbare Störungen lediglich als Zeichen verborgener psychischer Konflikte nimmt. Ihre direkte Orientierung an sichtbaren Verhaltensweisen bringt es mit sich, daß in der Verhaltenstherapie eine Störung nicht als »Neurose«, sondern als erlernte Fehlanpassung betrachtet wird.

Wenn wir von einer im Gegensatz zur Psychoanalyse offenen Wissenschaft sprachen, so meint das auch offen für den Patienten, der wissen soll, was mit ihm geschieht, offen für die Gesellschaft, die Möglichkeiten und Auswirkungen wissenschaftlicher Forschung unter Kontrolle halten soll. Diesem Ziel dient auch unser Buch: Es versucht Möglichkeiten und Probleme der Verhaltenstherapie einer breiteren Öffentlichkeit nahezubringen. Menschen, die mit bestimmten Problemen zu tun haben, die sie vielleicht bisher für unbeeinflußbar hielten, gibt es Informationen über neue Behandlungsmöglichkeiten und versucht zugleich, sie vor unzureichenden oder dilettantischen Behandlungsversuchen zu schützen. Durch Einblick in die neuen Möglichkeiten der Verhaltenskontrolle soll es zugleich die Überwachung dieser Möglichkeiten durch die Gesellschaft fördern. Dem Mißbrauch der aufgezeigten Methoden für inhumane Zwecke kann nur dort gesteuert werden, wo eine breitere Öffentlichkeit genügend Information erhält, um sich mit dieser Gefahr auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung sollte aber gleichzeitig dazu dienen, positive und immer dringlicher werdende Aufgaben, die sich der neuen Wissenschaft stellen, zu fördern. Herzoperationen und Krebsforschung erlangen sehr leicht allgemeines Interesse und öffentliche Förderung. Man sollte aber nicht vergessen, daß die Häufigkeit seelischer Störungen schon im Kindes- und Jugendalter heute für das Schicksal unserer Gesellschaft und für die Zukunft jedes einzelnen von lebenserhaltender Bedeutung sein kann.

Befreiung von der Neurose, das heißt zweierlei: sich frei zu machen von einem Begriff, der allzu unscharf ist, um darauf eine moderne Behandlung aufzubauen, allzu undurchsichtig, um dem Postulat der freien Entscheidung des einzelnen gerecht zu werden. Befreiung von der Neurose soll aber auch heißen: Frei zu werden von Verhaltensstörungen, die die Freiheit des Einzelnen wie die seiner Mitmenschen einengen oder auch bedrohen.

Lernen von Verhaltensweisen

Als Aldous Huxley 1932 in seinem Roman ›Schöne neue Welt‹ schilderte, wie Menschen bereits in der Embryonalentwicklung auf ihren künftigen Beruf vorbereitet werden, hielten das die meisten Leser für dichterische Phantasie. Aber schon 1925 hatte ein Wissenschaftler, John B. Watson, gesagt: »Geben Sie mir ein Dutzend gesunder wohlgestalteter Kinder und meine eigene besondere Welt, in der ich sie erziehe. Ich garantiere Ihnen, daß ich blindlings eines davon auswähle und es zum Vertreter irgendeines Berufes erziehe, wie Arzt, Richter, Künstler, Kaufmann oder auch Bettler, ohne Rücksicht auf seine Eignungen, Fähigkeiten, Anlagen oder Vorfahren.« Und Watson meinte das im Ernst. Denn er konnte sich auf eigene Untersuchungen berufen, in denen es ihm gelungen war, bei einem einjährigen Kind heftige Angstreaktionen gegenüber Tieren zu erzeugen. Zwar konnte er selbst die experimentell hervorgerufene Störung nicht mehr beseitigen, da das Kind aus dem Krankenhaus genommen wurde; er war aber davon überzeugt, daß er die Störung durch eine entsprechende Maßnahme wieder hätte beheben können.

Darin behielt er recht: Schon kurze Zeit nach der Veröffentlichung seiner Experimente wurden Methoden zur Beseitigung solcher und ähnlicher kindlicher Ängste beschrieben. Methoden, die auf demselben Prinzip basierten, das Watson zur Erzeugung solcher Störungen verwandt hatte: dem Prinzip der klassischen Konditionierung, auf dem zahlreiche Lernvorgänge beruhen.

Inzwischen sind 50 Jahre vergangen. Aus einzelnen Experimenten haben sich Behandlungsmethoden entwickelt, die heute erfolgreich in der Therapie zahlreicher Störungen eingesetzt werden. Sie werden unter dem Namen »Verhaltenstherapie« zusammengefaßt. Die Verhaltenstherapie ist dadurch gekennzeichnet, daß sie – anders als die Psychoanalyse – auf kontrollierten wissenschaftlichen Experimenten aufbaut und daß ihre Ergebnisse durch eine entsprechende Methodik ständig überprüft werden können. Sie bezieht sich nicht auf hypothetische Konstruktionen, wie »Krankheit«, »Konflikt«, »Unbewußtes«, »Komplex« usw., sondern zielt auf sichtbare und meßbare Verhaltensweisen. Die Ursachen, die zu einer Störung führen, sind dabei von zweitrangigem Interesse. Ihre Kenntnis ist nicht Voraussetzung für eine Behandlung. Entscheidend für die Anwendung dieser Therapie ist die Erkenntnis, daß Verhaltensweisen erlernt und verlernt werden können.

Lernprozesse haben in den letzten Jahren zunehmendes öffentliches Interesse gefunden, so sehr, daß man von »lebenslangem Lernen« und von »unserer Lerngesellschaft« gesprochen hat. Wenn vom Lernen die Rede ist, so denkt man zuerst an Erwerb von Wissen oder Fähigkeiten. Wir lernen Rechnen oder wir lernen eine Sprache, wir lernen Fahrradfahren oder Maschinenschreiben. Wenn dagegen das Kind dem Ruf seiner Mutter folgt, wenn Leute, die sich begegnen, einander grüßen oder sich die Hände schütteln, halten wir das für selbstverständlich. Ein Student, der unter Prüfungsangst leidet, oder ein Angestellter, der zu schwitzen beginnt, wenn er dem Chef begegnet, nimmt das als lästig, aber unvermeidlich hin. Wenn ein junger Mann unfähig ist, Kontakt zum anderen Geschlecht aufzunehmen, wenn jemand unter einer »hysterischen Lähmung« leidet oder über häufig auftretende Angstzustände klagt, sprechen wir bereits von einer »Neurose«. Alle diese Verhaltensweisen, ob »normal« oder pathologisch, scheinen mit Vorgängen, die beim Wissenserwerb eine Rolle spielen, nichts zu tun zu haben.

Und doch hat die seit Anfang des Jahrhunderts entwickelte Lernpsychologie schon früh gezeigt, daß nicht nur Wissenserwerb, sondern auch unser normales Verhalten und zahlreiche Verhaltensstörungen als Ergebnis eines Lernprozesses angesehen werden können. Das überrascht zunächst, denn wir sind gewohnt, im Lernen einen Vorgang zu sehen, der bewußt vom Lehrenden oder Lernenden herbeigeführt wird. Aber schon wenn wir kleine Kinder beobachten, so wird uns auffallen, daß sie weit mehr gelernt haben, als wir ihnen beibringen wollten. Kinder sprechen mit ihren Puppen oder Stofftieren in derselben Weise wie wir mit ihnen. Sie haben, ohne daß sie es wollten, unsere Sprechweise angenommen. Sie »bestrafen« ihr Spielzeug in der gleichen Weise, wie sie von uns bestraft werden. Häufig beginnt dieser Lernprozeß schon zu einer Zeit, zu der wir noch gar nicht mit ihm rechnen. Untersuchungen haben gezeigt, daß einfache Lernvorgänge sogar schon vor der Geburt im Mutterleib stattfinden können.

Vögel lernen fliegen. So sagen wir jedenfalls. Und unsere Beobachtung scheint das zu bestätigen. Wir sehen, wie die Jungvögel zunächst am Nestrand stehen und mit den Flügeln zu schlagen beginnen, wie sie später, immer noch ans Nest gebunden, kurz auffliegen, dann nach einiger Zeit vielleicht einen nahen Zweig ansteuern. Doch 1939 berichtet J. Grohmann über ein interessantes Experiment. Er sperrte junge Tauben in einen Käfig, so daß sie ihre Flügel nicht bewegen konnten. Wenn nun eine gleichaltrige Gruppe junger Vögel, die ohne Einengung und sozusagen unter elterlicher Belehrung aufgewachsen zu fliegen begann, ließ er die eingezwängten Tauben aus dem Käfig heraus. Es zeigte sich, daß die Tiere, obwohl sie keine Möglichkeit zum Lernen gehabt hatten, praktisch genauso gut fliegen konnten wie die Kontrollgruppe. Offenbar war das Fliegen gar nicht Ergebnis eines Lernvorganges, sondern stellte eine angeborene Reaktion dar, die im Laufe des Reifungsprozesses von selbst in Gang kam.

Die vergleichende Verhaltensforschung hat gezeigt, daß zahlreiche Verhaltensweisen artspezifisch angeboren sind. Noch bevor der Säugling erste Erfahrungen mit der Mutterbrust gemacht hat, können wir an ihm Suchbewegungen beobachten. Isoliert aufgezogene Tiere zeigen auf bestimmte Reize gezielte Reaktionen. Sie betteln um Futter, wenn bestimmte Reizbedingungen gegeben sind.

Häufig genügen dazu schon Attrappen, die in Form und Farbe nur entfernte Ähnlichkeit mit dem normalerweise fütternden Elterntier haben. Sosehr wir also einerseits dazu neigen, bestimmte Verhaltensweisen als Charaktereigenschaften, also als angeboren zu betrachten, so sehr neigen wir auf der anderen Seite dazu, bestimmte genetisch festgelegte Verhaltensweisen, die erst im Laufe eines Reifungsprozesses zu Tage treten, als erworben anzusehen.

Warum lernen wir überhaupt? Oder, wenn wir die Frage etwas theoretischer fassen, welche Motive haben wir für unser Handeln? Betrachten wir ein Neugeborenes: Es hat noch nichts gelernt. Aber ohne äußerlich sichtbaren Anlaß bewegt es Arme und Beine, wendet den Kopf hin und her. Sobald es Hunger oder Durst hat, wird es unruhig, es schreit und veranlaßt durch dieses Verhalten seine Umgebung dazu, seine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Schon die erste Aktion, die wir überhaupt beobachten, sobald das Kind den Mutterleib verlassen hat, der erste Schrei, dient dazu, ein primäres Bedürfnis zu erfüllen, nämlich das nach Sauerstoff. Diese primären Bedürfnisse dienen offenbar der Selbsterhaltung.

Andere Artikulationen wie das Verlangen nach geschlechtlicher Aktivität und Pflegeverhalten scheinen mehr der Arterhaltung zu dienen. Aber kehren wir zum Säugling zurück. Wir sehen, daß das Kind, noch bevor es etwas lernt, eine ganze Reihe von Verhaltensweisen beherrscht. Es schreit, wenn es Hunger oder Durst hat, es bewegt die Glieder, es reagiert auf verschiedenartige äußere Reize. Nimmt die Mutter das Kind zu sich, so bewegt es den Kopf hin und her, und sobald es mit dem Mund auf die Mutterbrust trifft, beginnt es zu saugen. Diese Suchbewegungen sind zunächst ungezielt und werden, wie man bei Affen beobachten konnte, durch bestimmte Hautreize, nämlich den Übergang von behaarten zu unbehaarten Hautstellen, gesteuert. Aber bereits hier setzt ein Lernvorgang ein. Die Greifbewegungen, wobei zunächst der Mund als Greiforgan dient, werden von Mal zu Mal zielgerichteter und treffsicherer. In einer späteren Reifungsphase können wir beobachten, daß die Greiffunktion mehr und mehr von den Händen übernommen wird, aber auch hier gehen dem Lernvorgang reflektorische Greifbewegungen voraus: Angeborenes Verhalten und Lernvorgänge greifen ineinander. So sind auch die Reaktionen auf ein nahes Geräusch angeboren; das Kind muß aber ein gewisses Reifungsstadium erreicht haben, bevor es sich einem Geräusch, das ihm die Nähe von Nahrung ankündigt, zuwenden kann. Hat es einmal dieses Reifungsstadium erreicht, so gewinnen die Konsequenzen einer Reaktion an Bedeutung. Das Kind lernt um so rascher, je häufiger seine Reaktion mit einer Bedürfnisbefriedigung verknüpft ist.

In Lernexperimenten an Tieren hat man sich diese Beobachtung zunutze gemacht. Wir werden später noch sehen, daß bei Lernexperimenten Tieren häufig zunächst Futter und Wasser entzogen wurde, um die Bedürfnisstärke zu erhöhen und damit die Bedürfnisbefriedigung als einen das Lernen in Gang setzenden oder fördernden Reiz zu nutzen. Der bekannte Lerntheoretiker C. Hull hat darauf seine »Trieb-Reduktions-Theorie« aufgebaut. Lernvorgänge werden demnach in Gang gesetzt, wenn das Bedürfnis des Körpers nach Nahrung befriedigt wird, aber auch, wenn die durch eine Gefahr hervorgerufene Spannung durch Flucht oder Vermeidung reduziert wird. Diese Vorstellung hat große Ähnlichkeit mit dem von Freud postulierten »Lust-Unlust-Prinzip«. Daß die Verhältnisse nicht immer so einfach liegen, haben neuere Untersuchungen mit der Methode der sog. Selbstreizung gezeigt. Dabei werden Tieren in bestimmte Hirnregionen Elektroden eingeführt. Die Tiere können durch geeignete Reaktionen (z.B. Betätigung eines Schalters) einen elektrischen Reiz in ihrem eigenen Gehirn auslösen. Unter bestimmten Bedingungen ist der »Lusteffekt« dieses Reizes für die Tiere größer als die Befriedigung natürlicher Bedürfnisse wie Hunger oder Durst. Es gibt also offenbar innere Reize – und daran ist kein Zweifel, daß solche Reize auch spontan auftreten –, die ein Verhalten in Gang setzen und Lernen ermöglichen. So ist etwa die Aktivität von weiblichen Ratten in einem Laufrad nicht nur von Lernprozessen abhängig, sondern zeigt erhebliche spontane Schwankungen, die dem Sexualzyklus folgen. Biochemische Veränderungen können unabhängig davon, ob sie auf einem angeborenen Stoffwechseldefekt beruhen oder durch äußere Einwirkungen verursacht werden, das Verhalten von Lebewesen beeinflussen. Neben Lernvorgängen haben also zahlreiche andere Faktoren Einfluß auf das Verhalten eines Lebewesens. Angeborenes, chemisch bzw. hormonell induziertes und erlerntes Verhalten greifen dabei eng ineinander. Wenn später in diesem Buch hauptsächlich von Lernvorgängen die Rede ist, so darf doch die Bedeutung der anderen Faktoren nicht vergessen werden.

Bedürfnisse führen, wie wir gesehen haben, zu bestimmten Verhaltensäußerungen, zunächst in einer noch verhältnismäßig allgemeinen und ungerichteten Form. Umgekehrt führen bestimmte Verhaltensweisen einen erwünschten Zustand, z.B. Sättigung herbei oder wehren einen unerwünschten Zustand (z.B. Schmerzreiz) ab. Auch komplexere Verhaltensweisen zielen offenbar darauf ab, einen gegebenen Zustand zu verändern. Zahlreiche individuelle und gesellschaftliche Verhaltensweisen lassen sich in dieser Weise interpretieren. So dient unsere Kleidung zunächst der Abwehr klimabedingter Reize. (Der biologische Sinn von Miniröcken und hot pants reicht allerdings über primäre Bedürfnisse hinaus und weist schon auf komplexere Bedürfnisstrukturen hin). Kommt es zu Störungen in der natürlichen Bedürfnisregulierung, so werden Anpassungs-Maßnahmen erforderlich. Das gilt bereits auf der biologischen Ebene, z.B. bei körperlichen Erkrankungen wie etwa der Zuckerkrankheit, bei der die Bauchspeicheldrüse nicht ausreichende Mengen des für den Zuckerstoffwechsel wichtigen Insulins produziert. Im Lauf der Jahrhunderte hat die Menschheit immer bessere Methoden entwickelt, um die gestörte Anpassung des Organismus zu beheben; angefangen bei Diätmaßnahmen bis hin zur Entdeckung und industriellen Erzeugung des Insulins. Die Bemühungen, Störungen der Anpassung des Menschen an innere oder äußere Gegebenheiten zu beheben, haben recht eigentlich zur Entwicklung der medizinischen Wissenschaft und ihres heutigen hohen technischen Standards geführt.

Zahlreiche Anpassungsstörungen spielen sich aber nicht primär im biologischen Bereich ab, sondern betreffen psychische Verhaltensweisen. Auch das ist altes menschliches Erfahrungsgut. Die Religions- und Philosophiegeschichte stellt ein wahres Kompendium von Ratschlägen dar, die helfen sollen, mit psychischen Verhaltensstörungen fertig zu werden. Die Empfehlungen zielen teils auf den einzelnen, teils auf die Gesellschaft. Theologen und Philosophen, Ärzte und Psychologen haben über Jahrhunderte hinweg Anweisungen für eine bessere Anpassung menschlicher Bedürfnisse an die Umweltbedingungen und für die Behebung von Anpassungsstörungen gegeben (etwa E. von Feuchterslebens 1838 verfaßte ›Diätetik der Seele‹). Eine gezielte und methodisch der Biologie oder Medizin vergleichbare Wissenschaft hat aber erst in diesem Jahrhundert ihren Anfang genommen. Das ist um so erstaunlicher, als schon in der Kindeserziehung zahlreiche Methoden gebräuchlich sind, mit denen man Verhaltensweisen in eine erwünschte Richtung zu lenken sucht.

Wir wollen einige dieser Methoden einer »Alltags-Verhaltensmodifikation«, sprich Erziehungsmaßnahmen, an einem Beispiel deutlich machen: Ein sechsjähriges Kind, das unter Bettnässen leidet. Es wird nicht ausbleiben, daß sich die Eltern bemühen, auf diese Störung Einfluß zu nehmen. Dabei werden sie sich verschiedener Methoden bedienen. Dem Kind werden gute Ratschläge gegeben, es wird belohnt, wenn es trocken bleibt; bestraft, wenn es erneut eingenäßt hat. Das Kind erhält vorbeugend am Abend nur feste Nahrung, es wird nachts wiederholt geweckt. Diese Liste von Erziehungsmaßnahmen ist sicher nicht vollständig. Immerhin zeigt sie, daß wir bereits über eine Reihe von »selbstverständlichen« Techniken verfügen, um zumindest kindliches Verhalten in einer erwünschten Richtung zu beeinflussen. Welche dieser Maßnahmen jeweils angewandt wird, hängt zum Teil von der Verhaltensweise ab, die man beeinflussen will; zum Teil und vielleicht sogar überwiegend von gewissen Erziehungsgewohnheiten, die in einer Familie manchmal über Generationen »vererbt« werden. Es wäre falsch, diese Methoden ohne weiteres abzutun, steckt in ihnen doch viel Erfahrung. Deshalb ist es auch kein Zufall, wenn wir in der Verhaltenstherapie viele der geschilderten Methoden wieder antreffen.

Dennoch ist die Verhaltenstherapie alles andere als eine Sammlung von Erziehungsmaßnahmen. Vielmehr stellt sie eine experimentell begründete Wissenschaft dar und erfüllt damit die von Wilhelm Wundt geforderten Kriterien der Willkürlichkeit, Variierbarkeit und Wiederholbarkeit. Darin unterscheidet sie sich auch deutlich von der Psychoanalyse. Sie bezieht sich, wie auch andere naturwissenschaftliche Disziplinen, auf meßbare Beobachtungen. Einer der ersten Schritte in der Verhaltensdiagnose ist deshalb die genaue und vorurteilsfreie Registrierung der Häufigkeit und Intensität von Verhaltensweisen. Ausgangspunkt der Verhaltenstherapie sind also nicht allgemeine Konstruktionen wie die Frage, ob das bettnässende Kind unter einem »Ödipuskonflikt« leide, sondern Feststellungen, die die Häufigkeit des Bettnässens und die unmittelbare Reaktion der Eltern usw. betreffen. Ein weiterer Schritt besteht darin, die beobachteten Verhaltensweisen miteinander und mit den Bedingungen, unter denen sie auftreten, in Beziehung zu setzen. Daß diese Beziehungen genauen Gesetzen folgen, hat die Lernpsychologie in zahlreichen Experimenten, meist an Tieren, aufgezeigt.

Lernprinzipien

Zum fünften Male innerhalb weniger Tage mußte sich der Patient einem kleinen chirurgischen Eingriff unterziehen. Wie bei den früheren Operationen schob der Chirurg die Kanüle in die Armvene und begann langsam das Narkosemittel zu injizieren. Der Patient berichtete von seinen Beschwerden, dann wurde seine Sprache allmählich undeutlich und verschwommen, die Augen fielen ihm zu, der Arm, bisher angespannt, sank schlaff herunter. Noch einige Kubikzentimeter des Narkotikums, dann zog der Arzt die Spritze heraus, schlüpfte in die von der Schwester bereitgehaltenen Gummihandschuhe und ließ sich das Skalpell reichen. In demselben Augenblick erwachte der Patient. Was war geschehen? Warum sprach die Narkose nicht an? – Es stellte sich heraus, daß die Schwester vergessen hatte, das pulverförmige Narkosemittel aufzulösen und der Arzt daher lediglich eine harmlose Kochsalzlösung injiziert hatte. Dennoch hatte der Patient alle Zeichen der eintretenden Narkosewirkung gezeigt. Seine Sprache war undeutlich geworden, schließlich verstummt, die Augen waren ihm zugefallen, der Arm schlaff heruntergesunken. Alles war bis zu diesem Augenblick genauso verlaufen wie bei den vier vorausgehenden Eingriffen. Aber anstelle der chemischen Narkose waren nur die Vorbereitungen abgelaufen, die bisher unmittelbar der eigentlichen Narkose vorausgingen. Eine Vorbereitungshandlung und die Narkose waren wiederholt eng miteinander verknüpft, d.h., beide waren assoziiert worden.

Der von dem englischen Philosophen John Locke 1690 geprägte Begriff der Assoziation wurde zum Schlüsselwort der sogenannten Assoziationspsychologie. Ursprünglich nur auf die Verknüpfung von seelischen Inhalten wie Vorstellungen und Gefühlen bezogen, wurde der Begriff erst später in der psychologischen Lerntheorie auch auf die gelernte Verbindung von Reizen und Reaktionen angewandt. Die weitverbreitete Gewohnheit, sich durch einen Knoten im Taschentuch an etwas Wichtiges zu erinnern, beruht auf einem solchen Assoziationsprozeß. Nach Ansicht der Assoziationspsychologen kommen diese Verbindungen am häufigsten zustande, wenn zwei Vorstellungen in zeitlicher und räumlicher Nachbarschaft bestehen. So werden etwa sinnlose Silben wie »tuck«, »lap«, wenn sie nacheinander dargeboten werden, auf Grund von Assoziationsgesetzen behalten. Ähnlichen Gesetzen folgt offenbar die Verbindung von Reizen und Reaktionen. Wenn wir hungrig sind, können bereits Küchengeräusche eine Reaktion auslösen, die wir normalerweise erst bei der Nahrungsaufnahme beobachten: Das Wasser läuft uns im Munde zusammen. Bereits 1763 machte Whytt diese Beobachtung und beschrieb sie als »psychische Sekretion«. Heute wird dieser Vorgang als »klassisches Bedingen« (Konditionierung) bezeichnet. Nahrungsaufnahme führt normalerweise zu einer spontanen Speichelabsonderung. Derartige auf einen Reiz regelmäßig und spontan eintretende Reaktionen werden auch Reflexe genannt. In diesem Falle führt also ein natürlicher Reiz (Essen) automatisch zu einer Reaktion (Speichelabsonderung). Die häufig erlebte Verbindung von Geräusch, nachfolgender Nahrungsaufnahme und Speichelreaktion bedingt schließlich, daß schon das Geräusch allein die Speichelreaktion hervorruft. Das Geräusch wird deshalb auch als bedingter Reiz, die darauffolgende Speichelabsonderung als bedingte Reaktion bezeichnet.

Wenn diese Beobachtungen auch schon seit langem vorliegen, so erbrachte doch erst der russische Physiologe Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936) den experimentellen Nachweis, daß derartige Reflexe erlernt bzw. konditioniert werden konnten. Als Versuchstiere nahm Pawlow Hunde, die durch einen operativen Eingriff so vorbereitet waren, daß man den Speichel durch eine Kanüle nach außen ableiten und seine Menge genau festlegen konnte. Wenn man einem dieser Hunde ein Stück Fleisch anbietet, tritt sofort eine deutliche Speichelabsonderung ein. Auf einen Ton- oder Lichtreiz wird normalerweise natürlich kein Speichel abgesondert. Pawlow ließ nun jedes Mal kurz vor der Fütterung oder während der Fütterung ein Glockenzeichen ertönen. Und er beobachtete, daß schließlich auch dann eine Speichelsekretion eintrat, wenn überhaupt kein Futter mehr gereicht wurde. Jetzt genügte der Ton allein, um die Speichelsekretion auszulösen. Anstelle des Futters, des unbedingten Reizes, war der Ton als bedingter Reiz getreten. Der Hund hatte gelernt, auf den Ton zu reagieren. Pawlow hat sich in der Folgezeit in zahlreichen Experimenten mit dem Vorgang des klassischen Konditionierens beschäftigt und eine Reihe von Gesetzen gefunden, die in unserem heutigen Verständnis von Lernvorgängen eine große Rolle spielen. Inzwischen wissen wir, daß nicht nur die Speichelsekretion, sondern auch zahlreiche Reflexe wie z.B. die Pupillenkontraktion, Gefäßreaktionen, Atemfrequenz und andere konditioniert werden können. Auch die Reize, die solche bedingten Reaktionen auslösen, können variieren.

Beobachten wir einen Hund, der eine solche konditionierte Reaktion erlernt hat, noch etwas weiter. Wir sehen, daß jedes Mal, wenn das Glockensignal ertönt, vermehrt Speichel abgesondert wird. Aber nach einiger Zeit beginnt die Speichelmenge abzunehmen, und schließlich vermag der Ton keine entsprechende Reaktion mehr auszulösen. Es ist zur Löschung gekommen. Erst wenn wir dem Hund wieder Nahrung und Glockenzeichen gemeinsam angeboten haben, zeigt sich erneut eine Speichelabsonderung.

Die klassische Konditionierung stellt ein erstes wichtiges Lernprinzip dar. Entscheidend ist daran, daß einer natürlich auftretenden Reiz-Reaktions-Verbindung ein anderer Reiz in kurzem zeitlichem Abstand voraufgeht. Er löst dann seinerseits die ursprüngliche Reaktion aus, eine unbedingte Reaktion wird zur bedingten Reaktion.

Die Vorstellung, daß man bestimmte Verhaltenseigenheiten löschen kann, hat schon früher in der Behandlung von Suchtkranken eine Rolle gespielt. Die Entziehungskuren alten Stils bestanden im wesentlichen darin, daß man den Kranken die Möglichkeit nahm, an das Suchtmittel heranzukommen. Der Erfolg solcher Kuren war allerdings enttäuschend. Meist fielen die Patienten kurze Zeit nach der Entlassung wieder in ihre süchtige Abhängigkeit zurück. Offenbar spielten bei der Aufrechterhaltung dieser Störungen noch andere Momente eine wesentliche Rolle. Wir werden darauf zurückkommen. Den- noch hat die Erforschung der Konditionierungsgesetze neue Möglichkeiten in der Behandlung der Sucht und anderer Störungen eröffnet. Wenn es möglich war, bestimmte Reaktionen durch Konditionierung hervorzurufen, so mußte es auch möglich sein, diesen Vorgang umzukehren, um solche Handlungen zu blockieren. Wenn man z.B. wiederholt die Zufuhr von Alkohol mit einem unangenehmen Reiz wie Erbrechen oder einem elektrischen Schock verknüpfte, dann war zu erwarten, daß schließlich die Alkoholaufnahme allein Erbrechen hervorrufen würde. In der Tat ist aus dieser Überlegung heraus eine Reihe von Behandlungsmethoden entstanden (siehe Kapitel »Sexuelle Abweichungen«).

Ein Patient hatte auf ein bestimmtes Medikament wiederholt mit Übelkeit reagiert. Als man ihm nunmehr eine gleichaussehende, aber lediglich Milchzucker enthaltende Tablette gab, wurde ihm erneut übel. Offenbar war hier spontan eine aversive Konditionierung eingetreten. Die »Krankheit«, in diesem Falle Übelkeit nach Zufuhr eines unwirksamen Mittels, war gewissermaßen erlernt worden. Sollten auch andere Krankheiten erlernt sein? Ein Hund wird zur Fütterungszeit in einen Käfig gebracht. Ertönt ein heller Ton, so findet er hinter einer Klappe ein Stück Fleisch, ist der Ton tiefer, erhält er, sobald er mit der Schnauze die Klappe berührt, einen elektrischen Schlag. Nach kurzer Zeit lernt der Hund zwischen den beiden Tönen zu unterscheiden und berührt die Klappe nur noch nach dem hohen Ton. Nun werden die beiden Töne einander schrittweise genähert, bis sie kaum noch zu unterscheiden sind. Jetzt sehen wir, daß das Verhalten des Tieres sich plötzlich ändert. Der bisher ruhige Hund beginnt zu jaulen, läuft unruhig im Käfig hin und her, bellt und verbeißt sich in die Holzumrandung der Klappe. Bei späteren Versuchen ist er, obwohl hungrig, nur mit Mühe in den Käfig zu bringen. Das zuvor normale Tier ist offenbar unter der überfordernden Entscheidungs- oder Diskriminationsaufgabe »neurotisch« geworden. Pawlow und spätere Untersucher haben noch eine Reihe weiterer Bedingungen wie z.B. auch starke Schreckreize beobachten können, unter denen entsprechende Verhaltensabweichungen bei Tieren auftreten. Wir werden später sehen, daß ähnliche Störungen auch beim Menschen »erzielt« werden können. Sie äußern sich nicht nur im Verhalten, sondern auch in zahlreichen körperlichen Störungen: Ein Affe wurde allein in einen Käfig gesperrt, von dem aus er eine Gruppe seiner Artgenossen beobachten konnte. Von Anfang an war er stark erregt. Wenn aber die Affengruppe früher gefüttert wurde, nahm seine Aufregung noch weiter zu. Im Laufe der Zeit begann sein Blutdruck zu steigen, er entwickelte eine Hochdruckkrankheit. Eine genauere Untersuchung zeigte Durchblutungsstörungen in den Herzkranzgefäßen. Eines Morgens fand man den Affen tot im Käfig. Er war an einem Herzinfarkt gestorben.

Vorübergehende Veränderungen von Pulsfrequenz und Blutdruck können auch beim Menschen experimentell erzeugt werden. Lassen wir auf einen Ton jedesmal einen schmerzhaften, aber ungefährlichen Elektroschock folgen, so können wir schon vor dem Schock ein Ansteigen von Puls und Blutdruck beobachten. Wenn wir nach einer Reihe solcher Versuche den elektrischen Schock weglassen, so erfolgt bereits auf den Ton hin eine Puls- und Blutdruckerhöhung. Die Möglichkeit, durch einen Lernvorgang körperliche Funktionen zu verändern, hat in der letzten Zeit zu zahlreichen Untersuchungen geführt und wird vielleicht eines Tages in der Behandlung mancher Krankheiten wie Bluthochdruck eine Rolle spielen.

Die experimentell-neurotisierten Hunde, der von seinen Artgenossen isolierte Affe, sie alle zeigten Reaktionen, wie wir sie auch von uns selbst kennen, wenn wir aufgeregt oder verärgert sind. Sollte es möglich sein, nicht nur vegetative und motorische Reflexe zu konditionieren, d.h. zu erlernen, sondern auch Gefühlsreaktionen? Der schon erwähnte amerikanische Psychologe Watson, Begründer des sog. Behaviorismus (Lehre vom Verhalten), hatte in den zwanziger Jahren die Untersuchungen der Pawlowschen Schule mit Begeisterung aufgenommen. In seinem Laboratorium experimentierte er vor allem mit weißen Ratten, Tieren, die sich auch später als besonders geeignet für Lernversuche erwiesen. 1920 veröffentlichte er zusammen mit seiner Frau ein Experiment mit einem 11 Monate alten gesunden Kind. Schon vorher hatte er festgestellt, daß »Albert« alle Zeichen von Angst zeigte, wenn hinter ihm mit einem Hammer auf eine Eisenstange geschlagen wurde. Er gewöhnte nun den kleinen Albert an eine weiße Ratte. Nachdem das Kind schon wochenlang mit dem Tier gespielt hatte, ließ er wieder einen Hammerschlag ertönen, gerade als Albert die Ratte berühren wollte. Schon nach 6 Wiederholungen dieses Versuches hatte sich eine bedingte Furchtreaktion ausgebildet. Das Laborprotokoll berichtet: »Im selben Augenblick, als die Ratte gezeigt wurde, begann das Kind zu schreien. Es drehte sich gleichzeitig nach links, fiel um, richtete sich selbst auf allen vieren wieder auf und begann so schnell davonzulaufen, daß es nur mit Mühe aufgehalten werden konnte, bevor es die Tischkante erreichte.« Als der Versuch 5