Beherzte Freiheit - Paul Kirchhof - E-Book

Beherzte Freiheit E-Book

Paul Kirchhof

0,0

Beschreibung

Paul Kirchhof plädiert für eine neue Kultur der Freiheit. An zahlreichen Beispielen zeigt er, wie uns Recht und Politik aus falschem Wohlmeinen einschränken und wie wir uns dem fügen, wie uns Globalisierung und Digitalisierung von handelnden Subjekten zu lenkbaren Objekten machen. Wenn wir die Sorge für die Freiheit allein dem Staat überlassen, verkümmert die innere Kraft zur Freiheit. Wir müssen wieder unterscheiden zwischen dem, was ein demokratischer Staat zur Gewährleistung der Freiheit tun kann, und dem, was wir selbst dazu beitragen müssen. Echte Freiheit, so zeigt Kirchhof, lässt sich in einer an Gütern, Chancen und Informationen übervollen Gesellschaft nicht allein durch Verbesserung unserer äußeren Lebensbedingungen gewinnen. Die Menschen brauchen wieder Mut zur Freiheit, aber auch Gleichmut gegen sich selbst. Das Buch weist einen neuen Weg zu einer beherzten und verantworteten Freiheit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 549

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Paul Kirchhof

Beherzte Freiheit

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2018

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Gestaltungssaal Rosenheim

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN E-Book: 978-3-451-81140-1

ISBN Print: 978-3-451-38178-2

Inhalt

Ein einführendes Wort

I.: Freiheit von Fremdbestimmung und Herrschaft über sich selbst

1. Beherzt denken

2. Freiheit und Staat

a. Von der Freiheit der Wölfe zur Freiheit der Vernünftigen

b. Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit

3. Die innere Kraft zur Freiheit

a. Freiheit als Wagnis

b. Freiheitsrecht und Freiheitsethos

c. Verstand und Unvernunft

4. Freiheit und Grenzen

a. Freiheit als begrenztes Recht

b. Freiheit und Staatsgrenzen

c. Flucht und Zuflucht

d. Aufbau freiheitsgerechter Lebensbedingungen

5. Reichtum des Armen und Armut des Reichen

6. Geregelte, gelenkte und selbstbestimmte Freiheit

a. Gesetz, Anreiz, Eigenmotiv

b. Individuelle Freiheit und gesamtwirtschaftliche Daten

c. Der goldene Zügel: das anstrengungslose Einkommen

d. Nähe und Distanz von Staat und Wirtschaft

7. Freiheit als Gemeinschaftskultur und individueller Auftrag

II.: Gelassenheit befreit

1. Der Tanz auf dem Seil

2. Idealisierte Freiheit: Selbstlosigkeit und Selbstvergessenheit

3. Distanz zum Alltäglichen und Harmonie unter Freunden

4. Gelassenheit in Jugend und Alter

5. Aufmerksam für das Ungewisse

6. Muße

a. Einstimmung auf Aufgaben in Staat und Gesellschaft

b. Muße und Müßiggang

c. Spielerische Muße

d. Arbeit und Muße

7. Gelassenheit stärkt Freiheit

III.: Die Kraft der Freiheitsidee in der Entwicklung zum Verfassungsstaat

1. Der Philosoph arbeitet auf Papier, die Zarin auf menschlicher Haut

2. Gelassene Freiheit in der Antike

a. Sokratische Mäßigung

b. Epikureische Ausgeglichenheit

c. Stoische Gelassenheit

d. Rom: Gelassenheit im Recht

3. Das Wiederaufleben der autonomen Persönlichkeit

a. Wiedergeburt des Schöpferischen, Aufbruch des idealisierenden Menschen

b. Die »reine Lehre« unmittelbarer Gottesbeziehung

c. Vernunftbestimmter Neuanfang

d. Der späte Blick auf den Untergang Roms

4. Diktat der Vernunft und Hoffnung auf vernünftige Freiheit

5. Das Fanal einer neuen Zeit in Deutschland

a. »So viel Anfang war nie«

b. Die Kraft einer Nation ohne Staat

c. Erlösung im Untergang

6. Freiheit in staatlicher Einheit

a. Die Reichsverfassung vom 16. April 1871

b. Die Weimarer Verfassung

7. Der Nationalsozialismus

8. Aus schier auswegloser Lage zu Wertordnung und Wirtschaftswunder

9. Der Rechtsstaat wagt allgemeines Freiheitsvertrauen

10. Der Fall der Mauer

11. Der rechtliche Umbruch braucht den Mut zur Freiheit

IV.: Der freie Mensch muss Ungewissheiten ertragen

1. Fragen an das Orakel

2. Der Mensch muss fragen, aber Unbegreifbares ertragen

3. Wesentliche Fragen bleiben offen

4. Hoffen und Vertrauen

5. Vergessen und Erinnern

6. Das Bilden von Werten ohne die Frage nach dem Warum

7. Freiheit in der Selbstbescheidung

V.: Freiheit, Gleichheit, Sicherheit

1. Das schwankende Boot

2. Brüderlichkeit, Solidarität, Sicherheit

3. Freund und Feind: Frieden

4. Vom Freiheitsaufbruch zum Freiheitsalltag

a. Der Staat gestaltet Freiheitsvoraussetzungen und ist rechtlich gebunden

b. Freiheit ins Ungewisse

c. Freiheit heißt, sich unterscheiden zu dürfen

d. Freiheit ist notwendig, nicht geboten

e. Freiheit fordert die Kraft zur Bindung

f. Freiheit verlangt Mut

5. Gleichheit fordert Unterscheidungen

a. Das Gesetz als Instrument des Unterscheidens

b. Rechtfertigung gesetzlicher Unterscheidungen

c. Unterscheidung nach Ziel der Regelung

d. Generelle Norm und individuelle Billigkeit

6. Der Staat gewährt Sicherheit, nicht Glück

7. Zusammenklang von Freiheit, Gleichheit, Sicherheit

a. Abwehr von Freiheitseingriffen und Schutz vor Freiheitsgefahren

b. Freiheit entlastet und beansprucht den Staat

c. Freiheitsgerechte Abstufung der Sicherheit

VI.: Frei sein in guter Verfassung

1. Der Prager Fenstersturz und andere Traditionen

2. Staatsverfassung und persönliche Verfassung

3. Vertraute Regeln und Gesetzgebungsautorität

4. Die Verfassung: Unveränderlicher Kern und stete Erneuerung

5. Verlässlichkeit der Urkunde

a. Sicherheit im Text

b. Europarechtliche Labilität der Urkunde

6. Rationalität des Sprachlichen

7. Das Menschenbild der Verfassung

8. Keine Verfassung garantiert sich selbst

9. Das Staatsvolk garantiert die Verfassung

VII.: Gesetzmäßigkeiten der Natur und Gesetze des Menschen

1. Die Kräfte der Natur

2. Freiheit naturwissenschaftlich widerlegt?

3. Recht im Einklang mit der Natur

4. Entmutigung und Aufbruch

5. Erfahrung und Einsicht

a. Beobachten nach Erfahrung und Plan

b. Vier Naturfreunde, vier Natursichten

6. Lebenskunst und historische Erfahrung

a. Gemeinsinn und Spiel

b. Gegenwart im Spiegel des Vergangenen und im Licht der Zukunft

7. Der Mensch wird sich in Freiheit vertragen

8. Handeln nach Maßstab und Mehrheit: »Naturrecht«

a. Disziplinierte Einfalt und guter Rat

b. Stetiges Recht, ähnlich den Naturgesetzmäßigkeiten überzeitlich wirksam

c. Volksentscheide

9. Der Mensch liest nicht im Buch der Natur

VIII.: Quellen der Freiheit

1. Mensch ohne mitmenschliche Begegnung?

2. Herkunft und Zugehörigkeit

a. Maßstabsbildung in geordneter Gemeinschaft

b. Gebundenheit in Natur, Familie, Gemeinschaft

3. Das unbekümmerte Sprechen

4. Zugänge zur realen Welt

a. Sehen, Hören, Lesen, Vertrauen

b. Die unsichtbare Welt wird im Gleichnis sichtbar

c. Vergangenheit wird in historischen Zeichen gegenwärtig

5. Ideale, Leitgedanken, Autorität

6. Erkennen und Verstehen

7. Vermuten, Einschätzen, Werten

8. Freiheit wurzelt in Gemeinschaft, entfaltet sich in eigenständiger Distanz

IX.: Kulturerfahrungen als Freiheitshilfen

1. Die begrenzte Aufnahmefähigkeit des Magens

2. Die heile Welt

3. Das gute Leben

a. Das Wahre, Schöne, Gute

b. Freiheit von »banausischer Arbeit«

c. Schlichtes Leben

d. Erfassen der ungekünstelten Wirklichkeit

e. Aufmerksamkeit für das Sinnhafte, das Wesentliche

f. Die moderne Verheißung der Einfachheit: der PC

g. Nur das einfache ist gerechtes Recht: das Steuerrecht

4. Sich von der Welt ansprechen lassen

a. Vollkommenheit, Harmonie, Glanz

b. Schimmer des Ungreifbaren und des Erhabenen

c. Schönheitsideale im Wandel der Zeit

d. Schein und Sein

5. Sich verzaubern lassen

6. Verheißungsvolle Ziele

X.: Der Mensch muss sich zur Freiheit qualifizieren

1. Die Kultur des Maßes

2. Freiheit lernen

a. Freiheit wird in der Persönlichkeit gebildet

b. Freiheit muss verantwortet werden

c. Im Wettbewerb fair bleiben: Wirtschaft, Politik, Sport

d. Den Ich-Maßstab durch den Wir-Maßstab ersetzen

e. In Eigenständigkeit »Mechanismen« begegnen

f. Im Forscherdrang den Irrtum bedenken

3. Andere sind mitbetroffen

a. Die Summe individueller Freiheitswahrnehmungen schafft Gemeinwohl

b. Arbeiten für andere

c. Sichtbare Begegnung, privates Geheimnis

4. Der Staat gestaltet, ermöglicht und begrenzt Freiheit

5. Der Freie wehrt Fremdbestimmung ab und gewinnt Kraft zur Selbstbestimmung

XI.: Freiheitliche Mitgestaltung der Demokratie

1. Zum Einklang mit dem Staatsvolk beitragen

2. Freiheit in der Kultur des eigenen Staates

a. Das Staatsvolk verhält sich zum Staat wie die Hand zum Handschuh

b. Demokratische Eigenständigkeiten und internationale Gemeinsamkeiten

c. Sinnstiftende Eigenheiten ohne Eigensinn

d. Alltagsgepflogenheiten

3. Freiheitsgefährdung durch Verschuldung

a. Entwicklung der Verschuldungsmaßstäbe

b. Die betroffenen Freiheitsberechtigten

c. Armut des Staates ist Armut der Bürger

4. Freiheit garantiert der Staat, nicht die Parteien

a. Übertragene Herrschaft

b. Der Gesetzgeber lässt den Freiheitsraum offen

c. Parteien organisieren den Staat

d. Das Recht setzt auf die einzelne Person

5. Verständlichkeit des politischen Lebens

a. Verheißung einer »guten, alten Zeit«

b. Die Reaktion: »Alternativlosigkeit« der eigenen Vorstellungen

c. Wiederherstellung der Verfassungsstruktur

6. Freiheit bestimmt die Demokratie und Demokratie befreit

XII.: Neue Freiheitsräume in einer technisch veränderten Welt

1. Werde 100 Jahre alt!

2. Technik als Stütze und als Bedrohung der Freiheit

3. Freiheitliche Distanz zur Technik

4. Gezählte Ordnung und erzählte Vielfalt

a. Die Teilrationalität des Zählens

b. Messen und Ermessen

c. Messtechniken und nicht zählbare Realität

d. Sicherheit in Programmvorgaben

5. Menschliche Erfahrung und Algorithmen

a. Selbstbestimmung und Fremdsteuerung: die formatierte Freiheit

b. Künstliche Intelligenz?

c. Systeme vollziehen den Willen von Menschen

6. Die moderne Technik als Akt der Befreiung

a. Ein klassisches Freiheitsideal wird erstmals erfüllbar

b. Die Chance ideeller Freiheit

c. Arbeit für alle und Einkommen für jeden

7. Freiheit als Macht zur Selbstbestimmung

Abkürzungsverzeichnis

Über den Autor

Ein einführendes Wort

Wir fühlen uns frei, sind stolz auf unsere Freiheit und wehren uns sensibel gegen jede Bedrohung der freien Gesellschaft. Doch wenn wir müde, enttäuscht oder krank sind, wenn sich eine Stimmung von Angst, Unsicherheit oder Bedrohung verbreitet, gelingt es uns nicht immer, entschlossen und tatendurstig dieser Entwicklung entgegen zu treten. Beherzte Freiheit will errungen sein. Sie ist nicht jedermanns Sache.

Menschen müssen immer wieder auf die Idee der Freiheit eingestimmt, können aber auch umgestimmt werden. Die Werbung sucht sie zu veranlassen, auch etwas zu kaufen, was sie nicht brauchen. Parteistrategen wollen ihnen eine bestimmte politische Auffassung unmerklich vermitteln. Die »sozialen« Medien führen sie in Echokammern, in denen verstärkt das widerhallt, was sie schon immer empfunden, gewusst und gedacht haben. In diesem Umfeld bewahrt der Mensch Freiheit nur bei hinreichender Gelassenheit. Er gewinnt Distanz zu sich, seinem Ehrgeiz, seinem Erwerbsstreben und Machtwillen, entfaltet ein Selbstbewusstsein, unterscheidet zwischen Muße und Gedankenlosigkeit. Er gewinnt Ausgeglichenheit, die vor dem Charakterfehler bewahrt, »keinen Gefallen an sich selbst zu haben« (Seneca). Der Gelassene traut sich etwas zu, denkt und handelt beherzt, tritt bedacht und zeitbewusst in eine Welt, in der er auch einmal von sich selbst und allen Dingen lassen, eigene Interessen preisgeben kann, die Frage nach dem Warum nicht beantworten muß. Gelassenheit gibt Halt in existenziellen Krisen, richtete den Enttäuschten auf, öffnet in schier ausweglos erscheinenden Lagen einen Weg. Am Ende dieses Weges drängt Gelassenheit zu beherztem Handeln.

Traditionell beansprucht der Mensch Freiheitsrechte, um sich gegen willkürliche Verhaftung und übermäßige Steuern, gegen Feudalstrukturen und Verachtung zu wehren. Das Freiheitsanliegen weist die Obrigkeit in Distanz und unterbindet deren Willkür durch Recht. Doch heute legt der Staat das Instrumentarium des Rechts oft aus der Hand und führt den Bürger fast unmerklich als wohlwollender Partner in staatlich erwünschte Verhaltensweisen. Er nutzt den »goldenen Zügel«, um mit Verlockungen und Drohungen zu lenken. Er bietet bei einer umweltfreundlichen Bauweise ­eine Subvention an, erhöht die Steuern für Genussmittel und schädliche Gebrauchsgüter. Der Bürger folgt den staatlichen Finanzanreizen, verliert Distanz zum Staat und Bürgerstolz. Der Staat setzt auch Fakten, die der Bürger als unausweichlich erlebt. Er erschließt eine Region und vernachlässigt die andere. Er lässt einer Wirtschaftsbranche ihre Freiheit und bedrängt die andere mit bürokratischen Auflagen. Er schafft Forschungseinrichtungen für den technischen Fortschritt, vernachlässigt aber das entsprechende Fortschreiten in Recht, Ethik und Kulturerfahrung.

Zunehmend spricht der Staat den Menschen nicht mehr individuell an, sondern steuert ihn als Teil eines Kollektivs – der Konsumenten, der Anleger, der Alterskohorten, der Sozialversicherten. Er verändert die Bedingungen für Geld und Kredit, so dass der Sparer keine Zinsen mehr erhält, die Aktienkurse aber steigen. Er richtet den Markt allein auf »Gewinn­optimierung« aus, drängt alle Beteiligten zu einem stetigen Wachstum, und damit in die Maßstablosigkeit und Maßlosigkeit. »Mechanismen« gefestigter Gewohnheiten werden zu Systemen der Globalsteuerung ausgestaltet, in denen der Mensch als lenkbares Objekt behandelt wird. Der Einzelne wehrt sich nicht, sondern fühlt sich wohl versorgt und wohlmeinend umarmt. Doch er sollte gelegentlich aus diesem System heraustreten, den Freiheitsverlust eines in diesem Mechanismus eingebetteten Bürgers kritisch bedenken und ihm beherzt entgegentreten.

Freiheit braucht Sicherheit. Diese Staatsaufgabe steht vor neuen, freiheits­sensiblen Fragen, wenn die Menschen durch suizidbereite Terroristen bedroht werden, die das Recht mit seinen herkömmlichen Mitteln, selbst mit der Androhung der Todesstrafe, nicht erreicht. Die Sicherheit im Geld, Fundament unserer Wirtschaft, wird durch die Überforderung des Staates, die überhöhte Staatsverschuldung, substanziell gefährdet. Die Staatsgrenze markiert den Raum für Freiheit und Sicherheit der Staatsbürger, bestimmt aber auch das Ziel, in dem sich Menschen, die in ihrem Heimatland verfolgt werden, Zuflucht erhoffen. Die eigene Sicherheit gerät in eine weitere Abhängigkeit von der Sicherheit in der Welt.

Freiheit ist stets ein Wagnis, das der Freie verantwortet. Er steht mit seiner Person und seinem Namen für das, was er tut. Diese verantwortliche Freiheit wird von privaten Mächten gefährdet. »Soziale Medien« gestatten den Menschen, aus der Anonymität heraus einen Lehrer, einen Richter oder einen Konkurrenten mit Hass und Häme zu überschütten, ohne dafür zur Verantwortung gezogen werden zu können. Wer sein Geld in einem Fonds anlegt, erfährt nicht, ob er seinen Kapitalgewinn durch die Produktion von Weizen oder von Waffen erzielt. In anonymen Kapitalgesellschaften gibt es kaum noch verantwortliche Unternehmer, nur noch »leitende Angestellte«, die selbst dann nicht persönlich haften, wenn sie fehlerhafte Produkte liefern oder trotz Schlechtleistungen Boni empfangen.

In einer Demokratie wird das Gesetz in öffentlicher Debatte beschlossen. Jeder weiß, wer das Gesetz verantwortet und in Zukunft vielleicht auch wieder ändert. Der Algorithmus hingegen ist die Regel aus der Maschine, die ihre Herkunft verschweigt und im Anspruch auf »Künstliche Intelligenz« keinen Widerspruch duldet, dem Nutzer nur noch eine formatierte Freiheit erschließt. Das Gesetz droht durch die Maschine verdrängt zu werden.

Wenn die Technik der Gegenwart mit ihren Computern, Robotern und Drohnen unser Alltagsleben grundlegend verändert, wird dies vielfach als Bedrohung empfunden. Diese Verunsicherung müssen wir ernst nehmen. Doch bietet diese Technik auch eine faszinierende Chance zur Überwindung unserer strikt auf Erwerbsarbeit ausgerichteten Lebensweise. Die Griechen und Römer haben ihre Freiheit als Freiheit von der »banausischen« Arbeit des Handwerks und des Handels verstanden. Wir sehen diese Idee nicht als Vorbild, bereiten uns aber auf eine neue Freiheit vor, in der die Erwerbsarbeit an Bedeutung verliert, der Mensch für Familie, Freundschaft, Kultur, Ehrenamt und Gemeinwohl frei ist.

Freiheit braucht Vertrauen. Ein Leben in Freiheit wird nur gelingen, wenn der Mensch anständig handelt, der Kaufmann ehrbar wirtschaftet, Erklärungen nach bestem Wissen und Gewissen abgegeben werden. Freiheit von Fremdherrschaft und Herrschaft über sich selbst sind Teil desselben Gedankens. Die Fähigkeit zur Freiheit stützt sich auf Begabung und Charakter, wird in Familie, Schule und einer uns leitenden Kultur entfaltet, muss aber vor allem durch innere Qualifikation zur Freiheit errungen und erneuert werden. Der Mensch bildet sein Gewissen – die selbstkritische Vergewisserung über eigenes Verhalten und dessen Wirkungen. Er handelt beherzt – mit Mut und Gelassenheit. Er sucht in »Gegenseitigkeit« das Verständnis beim anderen, findet so auch Gefallen an sich selbst. Er unterscheidet zwischen dem Willen des Gesetzgebers und gesetzlicher Willkür. Er weiß, dass mit wachsendem Wissen die Unruhe zunimmt. Er kann mit Ungewissem leben, das Unbegreifbare ertragen.

Freiheit entfaltet sich in Vernunft und Rationalität, aber auch im Fühlen und Empfinden, im künstlerischen Gestalten und Spielen, in Lieben, Hoffen, Glauben, auch in einer Welt leichten Sinnes. Deshalb lebt der Mensch seine Freiheit mit all seinen Fähigkeiten. Er ist in Vernunft angespannt, in Unvernunft entspannt. Er erfährt die Welt in der Subjektivität seiner Sinne. Kamille im Botanischen Garten ist ein Heilkraut, im Rosenbeet ein Unkraut. Die Ordnung eines Wettbewerbs in Wirtschaft, Sport und Politik folgt teilrationalen Eigensystemen, aus denen sich der freie Mensch zu lösen vermag. Die Verfassung bietet dem Menschen Freiheitsrechte, berechtigt ihn mit seinem Verstand und seinem Willen, seinen Tugenden und Schwächen, bindet ihn in einer Rechtsordnung, die dem anderen Menschen gleiche Rechte gibt und die Rechtsgemeinschaft mit Aufgaben betraut und mit Befugnissen ausstattet.

Das Grundgesetz gibt als die Verfassung unseres Landes der Freiheit Maß und Maßstab, nimmt die Erfahrung der Französischen Revolution auf, die aus der Stimmung von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« das Recht von »Freiheit, Gleichheit, Sicherheit« gemacht hat. Der Staat ist freiheitsverpflichtet, nicht freiheitsberechtigt. Er darf in den Schulen Kindern nicht seine Freiheitsvorstellungen aufdrängen, sondern bringt deren eigene Freiheit zur Entfaltung. In seinen Kultureinrichtungen bietet er Entfaltungsräume für Kunst und Bildung, für sportliche Fitness und Fairness an. In großen Fragen des Lebens – Glauben und Weltanschauungen – schweigt der Staat und überlässt es anderen, diese Grundsatzfragen des Menschlichen individuell und öffentlich zu beantworten. Staat und Gesellschaft ergänzen sich. Soweit Freiheit herrscht, ist der einzelne Mensch mächtig, der Staat ohnmächtig.

Dieses Buch will den Menschen in seiner Vernunft und seiner Logik, aber auch in seinen Sinnen und Empfindungen ansprechen. Es wird zählen und erzählen. Freiheit ist unantastbar und unveräußerlich, vielfach auch unzählbar.

I. Freiheit von Fremdbestimmung und Herrschaft über sich selbst

1. Beherzt denken

Die verheerenden Wirkungen des Siebenjährigen Krieges1 waren nach dreißig Jahren noch spürbar. Die Ideale von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« der Französischen Revolution erstickten am Gegensatz von »Bruder« und »Vaterlandsverräter«, hatten zu Guillotine, Diktatur und Krieg geführt. Da erscheint Immanuel Kants Schrift »Zum ewigen Frieden«.2 Der Wille zum Frieden war allgemeine Hoffnung.3 Ewiger Friede aber blieb unerreichbarer Menschheitstraum. Doch Kant dachte radikal und kategorisch. Seine Schrift machte diesen Frieden zur Utopie – unmöglich mit einem Hauch von Hoffnung. Die Idee des Weltfriedens ist letztlich darauf angelegt, lang ersehnt und doch unverhofft verwirklicht zu werden.

Kant denkt beherzt: Er löst sich zielstrebig und selbstbewusst von herkömmlichen Kriegserfahrungen und Friedensverträgen, entwickelt eine dem Menschen zugetane Freiheitsidee, die alle Menschen in einer Form weltweiten friedlichen Zusammenhalts einen will. Er vertraut der Vernunft des Menschen, ermutigt jeden Menschen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen, erwartet von jedem Menschen Entschlusskraft und Selbstbewusstsein, um der Gewohnheit, der Bequemlichkeit und Ängstlichkeit zu entrinnen und der Natur des Menschen nach seinem Verstand zu folgen. Kant denkt sich aus der Enge seiner Gegenwart heraus in eine bessere Zukunft, in der alle Menschen als Glieder einer Gesellschaft frei sind, sie sich der Verbindlichkeit einer einzigen gemeinsamen Gesetzgebung unterwerfen und nach dem Gesetz der Gleichheit in einer für alle Staatsbürger gestifteten Verfassung leben.4

Wie die Menschen in einem »Gesellschaftsvertrag« ihre wilde – gesetzlose – Freiheit aufgeben und einen Staat gründen, sich öffentlichen Gesetzen unterwerfen und so den Frieden für ein Leben in Freiheit und Gleichheit finden, so fordert Kant einen weltweiten Friedensvertrag, der aber, da die souveränen Staaten keine Herrschaft über sich dulden, eher einem permanenten Staatenkongress nahekommt.5 Es sei Pflicht, zugleich »gegründete Hoffnung«, »den Zustand eines öffentlichen Rechts, obgleich nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung, wirklich zu machen«: den ewigen Frieden, der keine leere Idee sei, sondern eine Aufgabe, die, »nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele beständig näher kommt«.6

In diese Zeit, die durch mehr Vernunft allgemeinen Frieden und individuelle Freiheit sichern will, gibt Adam Smith einen gleichermaßen beherzten, aber grundsätzlich anderen Impuls: die Freiheit aus gegenseitiger Wertschätzung.7 Wenn der eigene Bruder auf der Folterbank liegt, treten wir in unserer Fantasie gleichsam in seinen Körper ein, nehmen seine Qualen in uns auf, tauschen mit dem Leidenden in der Fantasie den Platz. Wenn wir ein Buch schon so oft gelesen haben, dass wir kein Vergnügen mehr empfinden, es nochmals zu lesen, macht es uns aber Freude, dieses Buch einem Gefährten vorzulesen, nehmen wir so an der Überraschung und Bewunderung teil, die das Buch naturgemäß in ihm erweckt. Wir »teilen« Freud und Leid mit anderen, wollen dem Glücklichen unsere Glückwünsche aussprechen, den Betrübten unseres Beileids versichern. Wir blicken in den Spiegel ihrer Mienen und ihres Betragens, um ihren Tadel und ihren Beifall zu erleben, ihre Beurteilung unseres Charakters und unseres Verhaltens zu erfahren, um die Wirkung unseres Auftretens auf sie zu beobachten. Diese Sympathie, die Fähigkeit, das Schicksal des anderen mit seinen Augen zu sehen und die Sicht des anderen auf das eigene Schicksal zu verspüren, schafft so viel Übereinstimmung unter den Menschen, als für die Harmonie der Gesellschaft ausreichend ist.8

Wenn die Menschen sich immer wieder wechselseitig mit den Augen des anderen sehen, entsteht jener »kühle Gleichmut«, der vor Unbedachtsamkeit, Zorn und Krieg bewahrt. Wenn wir uns in Gesellschaft eines Freundes mit dessen Sympathie betrachtet sehen, entsteht eine gewisse Ruhe und Gelassenheit, »wird unser Herz besänftigt und beruhigt«. In dieser Ruhe entwickelt der Mensch ein mitfühlendes Herz für den anderen, will aber auch selbst liebenswert erscheinen. Die für Frieden und allgemeine Freiheit notwendige Harmonie der Empfindungen bringt der Mensch allerdings nur hervor, wenn er die Tugenden der Selbstbeherrschung, der Selbstverleugnung, der Herrschaft über seine Affekte entwickelt. Neben das Gesetz der Nächstenliebe tritt das »Gebot der Natur, uns selbst nur so zu lieben, wie wir unseren Nächsten lieben, oder, was auf das Gleiche herauskommt, wie unser Nächster fähig ist, uns zu lieben«.9 Diese Freiheit ist die Freiheit der Begegnung, der Anteilnahme, des Blicks in den Spiegel der Gesellschaft und des Gesprächs, der Herrschaft über sich selbst, der Gelassenheit.

Freiheit ist ein Ideal. Der Mensch soll selbstbestimmt, unbedrängt von fremden Mächten, sein Leben gestalten und sein Handeln verantworten. Dieses Ideal greift über das in der Wirklichkeit Mögliche hinaus, setzt ein Ziel, das stetig verfolgt, aber nie gänzlich erreicht wird. Die Freiheit wird den Menschen nicht vor Krankheit und Gebrechlichkeit bewahren, nicht Krieg und Hunger fernhalten, nicht gegen Hass und Häme abschirmen. Doch gibt das Freiheitsideal dem Menschen täglich den Impuls, sich seiner selbst und seiner Verantwortung anzunehmen.

Dieses Ideal des freiheitsfähigen und freiheitsbereiten Menschen formt die Freiheitsidee, die dem Menschen Rechte gibt. Die Freiheitsidee drängt das Freiheitsideal in die Verbindlichkeit, überlässt damit dem Berechtigten die Einschätzung, wie er sein Leben gestalten will. Er verantwortet die gegenwärtigen und die langfristigen Folgen seiner Entscheidungen. Wer sich heute berauscht, hat ein Erlebnis, morgen aber einen Kater. Wer heute einen überhöhten Kredit aufnimmt, gewinnt Liquidität, riskiert aber, später zahlungsunfähig zu werden. Wer heute hohe Emissionen seines Betriebes verursacht, verbilligt seine Produktion, zerstört aber morgen die rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen seines Betriebes. Wer heute durch Werbung, Präsentation und Selbstdarstellung die Menschen täuscht, gewinnt vorübergehend Aufmerksamkeit und Nachfragebereitschaft, verliert aber morgen seine Glaubwürdigkeit. Dieses zu sehen und daraus Folgerungen zu ziehen, ist Freiheit.

Im Alltag gewinnt der Mensch Freiheit, wenn er seinem Denken ein Ideal, seinem Handeln eine Idee gibt. Er fragt nach dem Wesentlichen und richtet seinen Blick über Einzelgeschehnisse hinaus auf Struktur und Sinn. Würden wir eine Stadt nur als die Summe von Häusern, Straßen, Menschen und einem Fluss definieren, entginge uns, was sie für das Leben der Bürger bedeutet. Ohne gediegene Alltagsversorgung würden wir in der Stadt verhungern, ohne Straßenverkehrsordnung im Stau zusammenbrechen, ohne die Herrschaft des Rechts von Gewalttätigkeit, Raub und Mord bedrängt werden. Die Stadt ist die Realität der Straßen und Häuser, vor allem aber die praktizierte Idee eines guten Gemeinwesens.

Wenn sich auf dem Sportplatz zwei Mannschaften versammeln, elf im roten und elf im blauen Trikot, und zwischen ihnen ein Ball liegt, entwickelt sich noch nicht ein sportlicher Wettkampf, der den Körper trainiert und die Sinne begeistert. Die Sportler brauchen eine Spielidee, nach der sie in Fairness kämpfen wollen, möglichst auch einen Schiedsrichter, der die Sportregeln unmittelbar einfordert.

Wir zerlegen unser Leben nicht in Einzelteile, verfallen nicht in quälende Selbstanalyse, sondern fügen unser Leben zusammen, geben ihm Sinn und Ziel. Würden wir das Leben nur als Abfolge von Schlafen und Wachen, von Essen und Trinken, von Bewegung und Stillstand, von Arbeit und Ruhezeit verstehen, wäre unser Dasein schlicht und öde. Der Mensch braucht ein Ideal: Wie will er sich in seinem Erleben, seinem Denken, seinen Zugehörigkeiten entwickeln? An welchem Werk will er mitwirken? Zu welchen Festen will er einladen, zu welcher Kultur beitragen? Der freie Mensch denkt über die sichtbare Welt hinaus, fragt nicht nur nach den Kausalitäten der Natur und dem Kalkül des Wirtschaftlichen, sondern folgt den nicht sichtbaren, nicht körperlich greifbaren Impulsen seines Handelns: Er hofft, vertraut, liebt, sucht nach Gerechtigkeit. So gewinnt er innere Ruhe, fällt weder anderen noch sich zur Last.

Wer den Lebenslauf eines anderen beobachtet, macht die Erfahrung, dass die Begabungen, Lebenschancen und Freiheitserfolge unter den Menschen verschieden sind. Jeder ist im Vergleich zum anderen in einer Sichtweise bessergestellt. Der andere ist jünger, sportlicher, schöner, begabter, gebildeter, reicher, scheint in Beruf, in Ehe und Familie, in Haus und Freundeskreis bevorzugt. Diese Unterschiede sind Folge der Individualität und der Freiheit des Menschen. Der Mensch wird sie verringern, aber nicht ausgleichen können. Er wird in seiner Lebensbilanz kein Gleichgewicht erreichen, wohl aber einen Ausgangspunkt individueller Zufriedenheit finden, die das, was ist, so sein lässt, wie es ist. Dieses Zulassen von dem, was ist, das Ablassen von dem, was unerreichbar ist, nennen wir Gelassenheit. Der Gelassene beherrscht sich und sein Leben, gewinnt dadurch Freiheit und Lebensmut.

Eine existenzielle Gelassenheit braucht der Mensch, wenn er durch einen Schicksalsschlag erschüttert, in seinem elementaren Lebensglück enttäuscht ist. Wer Krankheit und Tod erlebt, durch enttäuschte Liebe das Glück von Ehe und Familie schwinden sieht, durch einen Examensmisserfolg den Zugang zu dem erhofften Beruf versperrt findet, Rache oder Hass erduldet, braucht Lebensmut, um Leiden und Leidenschaft zu mindern. Das klassische Beispiel für eine in Gelassenheit mündende Freiheit bietet der zum Tod verurteilte Sokrates. Er nahm den Giftbecher, erklärte im Gespräch mit seinen verzweifelten Freunden, dass seine Seele nun aus dem Käfig des Leibes befreit und auf dem Weg zum reinen Wissen sei. Er hatte sich vom Irdischen gelöst und sah seiner Zukunft jenseits des Irdischen entgegen.10 Wir werden und sollen diese sokratische Gelöstheit nicht erreichen, weil wir am Leben hängen, ein Unrechtsurteil nicht klaglos hinnehmen, die Selbst- und Weltabgewandtheit nicht zum Prinzip einer freiheitlichen Gesellschaft machen wollen. Wir setzen auf die beherzt gegen Obrigkeit und Umfeld wirkende Freiheit. Doch ein Stück sokratischer Gelassenheit braucht jeder Mensch. Er lebt in unberechenbaren Risiken und erfährt die Begrenztheit seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten täglich. Er sieht sich als selbstbestimmtes Individuum mit Freiheitsmut, aber auch als einen Menschen, der das Schicksal aller Menschen in ihrer Zeitlichkeit, Bedingtheit, Fremdbestimmtheit teilt und in freier Gelassenheit bewältigt.

Die Menschen sind täglich gemeinsamen Einflüssen, Bedrohungen und Gefahren ausgesetzt. Kriege und Umweltkatastrophen zerstören Lebensgrundlagen. Weltweit tätige Unternehmen bestimmen, was wir essen, wie wir uns kleiden, welche Techniken wir in Verkehr und Kommunikation nutzen, was wir wissen und wollen sollen. Dabei beanspruchen ökonomische Gewalten eine entgrenzte Freiheit. Rechtsstaaten werden von den Leistungserwartungen ihrer Bürger überfordert, weichen deshalb in die Staatsverschuldung aus, die der Gegenwart mehr gibt, als ihr gebührt, die nachfolgende Generation unmäßig belastet. Moderne Gesellschaften drängen die Menschen im Bemühen um Erwerb und Wirtschaftswachstum aus den Familien in die Erwerbsstätten, entwurzeln auch Arbeitsuchende und nehmen ihnen ein Stück ihrer Heimat.

Diese Bedrängnisse sind oft noch nicht gegenwärtig, kaum bewusst, in Wohlstand und Freiheitsgarantie nur sanft spürbar. Doch sie kommen näher und belasten auch den Menschen, der in öffentlicher Sicherheit und individueller Freiheit lebt. Er braucht einen wachen Geist, um diese Gefahren und Bedrohungen zu erkennen und an der Gegenwehr mit seinen Kräften mitzuwirken. Er versteht sich nicht als ohnmächtiges Mitglied einer Schicksalsgemeinschaft, sondern als verantwortlicher Mitgestalter einer freiheitsmutigen Gesellschaft. Er mag das Weltgeschehen den Weltmächten und Weltorganisationen überlassen, leistet aber in seinem Staat und seiner Gemeinde einen demokratischen Beitrag zu Frieden, Recht und Werteordnung. Er lässt ein Mosaiksteinchen von Weltfrieden und Weltgerechtigkeit vor seiner Haustür glänzen. Dieser Mut vor Ort gestaltet das Mosaik einer freien Gesellschaft.

2. Freiheit und Staat

Die Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens zum Staat wird vom Verständnis des Menschen über seine Freiheits- und Friedensfähigkeit bestimmt. Bekämpfen sich die Menschen, muss eine öffentliche Hand herrschen und Sicherheit gewährleisten.11 Wird der Herrscher zur Bedrohung individueller Freiheit, entwickeln die Menschen ein Regierungssystem der Gewaltenteilung.12 Traut der Staat den Menschen zu, ihre Konflikte letztlich ohne Gewalt – ohne Faust und Fehde – zu lösen, organisiert er eine Gerichtsbarkeit, die in allein sprachlicher Auseinandersetzung Streit schlichtet und Frieden schafft. Wir kämpfen mit Worten, nicht mit Waffen. Der Weg zur Freiheit wird stets bestimmt von beherzten Idealen und Ideen. Menschen entwickeln hinreichend Mut, Charisma und Sympathie für andere Menschen, um Unterdrückung zu überwinden, Ketten zu sprengen, im Aufruf zu mehr Freiheit zu begeistern. Dieser Blick auf den anderen führt zum Recht. Erst wenn Menschen sich verstehen, werden zwischenmenschliche Beziehungen verbindlich geregelt.

a. Von der Freiheit der Wölfe zur Freiheit der Vernünftigen

Das Anliegen der Freiheit wehrt eine Bedrohung durch andere Menschen, durch Naturgewalten, durch Unterwerfung oder durch existenzielle Not ab. Diese Freiheit kämpft um den freiheitlichen Staat.13 Solange die Menschen sich wie Wölfe untereinander in einem ständigen Kriegszustand bekämpfen, braucht der schutzsuchende Mensch einen Staat, der seine Untertanen vorbehaltlos beherrscht und ihnen dadurch die erhoffte Sicherheit bietet. Zweck des Staates ist die Selbsterhaltung des Menschen, seine Organisationsform die absolute Herrschaft dessen, der diese Sicherheit gewährt.14 Doch der absolute Herrscher kann seinerseits Krieg gegen seine Untertanen führen, sie unterdrücken, entrechten und töten. Deshalb zielt die Freiheit nicht nur auf den Schutz des einen Wolfes vor dem anderen, sondern garantiert das Recht, dass auch die Obrigkeit einem Menschen nicht das ihm Eigene – sein Leben, seine Freiheit und sein Vermögen – nehmen und ihm keinen Schaden zufügen darf.15 In dieser Berechtigung sind alle Menschen im Staat gleich und von der Obrigkeit unabhängig.

Diese Freiheit tritt aus einer Geborgenheit im Kollektiv16 heraus und stützt sich auf die Idee des selbstbestimmten, zur Freiheit fähigen Menschen. Die Griechen und Römer fühlten sich Göttern unterworfen, die streiten, zürnen und rächen, vor denen sich der Mensch fürchtet. Er war nicht frei. Demgegenüber verehrt das Christentum einen Gott, der dem Menschen unmittelbar begegnet und ihn erleuchtet. Damit beginnt eine Kultur, die den Menschen lehrt, sich für die Erleuchtung zu öffnen, selbstbewusst, frei zu werden. Der Mensch übt sich in Freiheitsmut, prüft seine Lebensführung anhaltend in Selbstbeobachtungen, schult seinen Willen zur Herrschaft über sich selbst, sucht in sozialer Fürsorge und Gemeinwohlprogrammen die Welt zu verändern und beansprucht für diesen Auftrag Universalität. Erst der Verzicht ermöglicht Freiheit. In der Aufklärung wird dann aus der Erleuchtung durch Glauben eine Erleuchtung durch Vernunft. Beide Erleuchtungen führen den Menschen zu sich selbst – die christliche eher zur Selbstlosigkeit, die Aufklärung eher zur Selbstverwirklichung.

Freiheitsgarantien klingen immer zusammen mit Freiheitsfähigkeit und Freiheitsverantwortung. Die innere Freiheit in Sittlichkeit, das Handeln nach verallgemeinerungsfähigen Maßstäben,17 erwächst in der Moderne aus Vernunft. Der Staat wird zur Selbstorganisation der in vernünftiger Freiheit Gleichen.18 Das Grundgesetz versteht die Freiheit des mit Würde begabten Menschen nicht als Freiheit eines »isolierten und selbstherrlichen«, sondern als die eines »gemeinschaftsbezogenen und gemeinschaftsgebundenen« Individuums,19 das im demokratischen Verfahren auf den Staat lenkend und legitimierend einwirkt. Der Mensch ist frei, aber selbstdiszipliniert. Er regelt seine eigenen Angelegenheiten selbstbestimmt, ist aber in seinen Staat rechtlich eingebunden, mit der ihn umgebenden Gesellschaft alltäglich verbunden. Er bietet dem Staat ein Stück Vernünftigkeit des Denkens und Wollens, ist dann aber dem Recht dieses Staates unterworfen. Die Sicherheit im Recht schafft eine rechtlich gesicherte Distanz zwischen Bürger und Obrigkeit. Diese Freiheit verheißt ein Leben in gelassener Eigenständigkeit.

b. Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit

Die Freiheit zur Selbstgestaltung des eigenen Lebens hat je nach Lebenssituation und persönlichen Zielsetzungen einen unterschiedlichen Inhalt. Als die Deutschen 1945 hungerten, nicht wussten, ob sie den nächsten Winter überleben und ob Krankheiten und Seuchen sie vernichten werden, begehrten sie Befreiung aus existenzieller Not. Sie kämpften für die Normalität einer Mahlzeit, eines Mantels, eines Dachs über dem Kopf. Vorher waren sie ständig von einer Geheimen Staatspolizei und von Bombenangriffen bedroht, sehnten sich nach einer Freiheit von Angst. Sind diese elementaren Bedürfnisse befriedigt, beginnt der Kampf um politische Freiheiten, der sich gegen Tyrannei und Sklaverei wendet, eine Freiheit von Unterdrückung fordert. Ist diese gesellschaftliche Freiheit erreicht, sucht der Freie individuell Einfluss auf das Gemeinwesen zu gewinnen, beansprucht das Recht, zu wählen und gewählt werden zu können, also die mitgestaltende Freiheit im Staat. Diese Freiheit im Staat ist Freiheit in besonderer Verantwortung. Wer sich als Kandidat um ein staatliches Amt bewirbt, beansprucht die Freiheit, Macht auszuüben, oder die Freiheit, sich auszuzeichnen, Ruhm und Ehre zu erringen. Diese klassische Alternative von schlechter und guter Regierung regelt der Verfassungsstaat mit der Idee des »Amtes«. Der Amtsträger ist der Freiheit der anderen verpflichtet, bei Ausübung des Amtes nicht selbst freiheitsberechtigt.

In einer rechtlich eng strukturierten, vernetzten und wirtschaftsbestimmten Welt gewinnt die Freiheit, für sich zu sein, besonderes Gewicht. Der Freie will zeitweilig nicht beobachtet sein, weder vom Staat noch von digitalen Mächten. Er möchte sich eine Privatsphäre der Vertraulichkeit, der eigenen Wohnung und der Selbstdarstellung bewahren. Er will über Inhalt, Adressaten und Zeitpunkt seiner Äußerungen und Verlautbarungen selbst bestimmen, nicht zu Äußerungen gedrängt, nicht abgehört werden, seine Daten bei der Nutzung technischer Medien nicht aufgezeichnet wissen. Dieser Freiraum des Privatlebens, der selbstbestimmten Begegnungen, des Geheimnisses schützt gegen Eingriffe staatlicher und wirtschaftlicher Macht. In der Gegenwart mächtiger Weltunternehmen, steuernder digitaler Systeme und allpräsenter Medien wachsen die Gefahren einer Freiheitsbedrohung auch durch freiheitsberechtigte Mächte. Freiheit steht gegen Freiheit. Der Staat muss erneut den Freien gegen Dritte schützen. Er ist Garant der Freiheit, bleibt dabei aber auch in der Rolle eines potenziellen Gegners der Freiheit.

3. Die innere Kraft zur Freiheit

a. Freiheit als Wagnis

Unsere Verfassung versteht den Menschen als freie, selbstbestimmte Person, die ihr Leben eigenverantwortlich in die Hand nimmt, ihre Lebensbedingungen selbstbewusst zum Guten gestaltet. Der Bürger sucht zusammen mit Mitbürgern sein Gemeinwohl im gemeinsamen Freiheitserfolg, gehört einer lebenswerten, ihr Glück suchenden Gesellschaft an. Dabei ist Freiheit stets Wagnis. Der Freie kommt täglich an Wegscheiden, bei denen er sich für den Weg geradeaus, rechts oder links entscheiden muss. Er wählt einen Beruf, schließt eine Ehe, wird Vater oder Mutter, baut ein Haus. Er entscheidet aber auch die alltäglichen Fragen, ob er eine Zeitung lesen oder das Fernsehprogramm nutzen, einen Weg zu Fuß gehen oder das Auto nehmen, abends ein Glas Wein oder ein Bier trinken soll. Später wird er nur selten wissen, ob er eine bessere Entscheidung hätte treffen können. Selbst am Ende eines Arbeitslebens, das durch die Entscheidung für den Beruf eines Arztes, eines Lehrers oder Handwerkers bestimmt wurde, ist er nicht sicher, ob sein Weg der richtige war. Die freie Entscheidung ist nicht immer richtig, folgt ohnehin selten den Kategorien Richtig oder Falsch, entspricht aber dem Willen des Entscheidenden. Würde er sein Leben der grüblerischen Selbstvergewisserung über den gewählten Lebensweg widmen, tauschte er Freiheitsmut gegen Freiheitsängstlichkeit, Entschlossenheit gegen Zögerlichkeit, Selbstgewissheit gegen Unsicherheit, Freiheit gegen Antriebslosigkeit. Er hat den Beruf selbst gewählt. Die Entscheidung ist seine eigene, deshalb gut. Freiheit würde den Menschen überfordern, wenn er nicht Entschiedenes als Vergangenes hinter sich lässt, Gegenwärtigem selbstbewusst begegnet, Zukünftiges erhofft, aber nicht mit verlässlicher Gewissheit voraussehen will. Freiheit braucht beherzte Gelassenheit.

b. Freiheitsrecht und Freiheitsethos

Der Rechtsstaat unterscheidet strikt zwischen Recht und Ethos,20 garantiert nur Rechte, erzwingt nur die Erfüllung von Rechtspflichten, setzt aber eine eigenverantwortliche Freiheit, eine Selbstbescheidung des Freien nach außerrechtlichen Prinzipien von Anstand und Redlichkeit, Vertrauenswürdigkeit und Menschlichkeit voraus. Das Freiheitsrecht sichert Ungebundenheit, baut aber auf Freiheitsfähigkeit und Freiheitsmut.

Je mehr der Mensch sich selbst beherrscht, er als »redlicher Bürger« handelt, als »ehrbarer Kaufmann« wirtschaftet, er Erklärungen »nach bestem Wissen und Gewissen« abgibt,21 er in selbstkritischer Selbstbeobachtung sich und seinen Willen entwickelt, desto weiter kann das Recht den Freiheitsrahmen ziehen.22 Der Staat darf und will innerhalb der Rechtsordnung Prinzipien nicht zu definitiven Regeln konkretisieren, Wertungen nicht vollständig selbst vornehmen. Er überlässt viele Wertungen dem Menschen und seinem Gewissen. Das Recht wendet sich immer mehr von Regeln ab, die Gebote der »Sittlichkeit« einfordern. Es sucht konkrete Rechtsgüter zu schützen. Einen Wendepunkt markiert das Strafrechtsreformgesetz 1973, das eine Straftatengruppe »Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit« durch »Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung«23 ersetzte. Doch öffnet das gegenwärtige Recht weiterhin Fenster zur Ethik, insbesondere beim Verbot sittenwidriger Geschäfte, bei dem Erfordernis eines lauteren Wettbewerbs oder dem Verbot einer gewerblichen Betätigung, die gegen die guten Sitten verstößt.24 Diese Vorschriften erlauben grundsätzlich ein Handeln, begrenzen dieses aber, wenn Redlichkeit und Anstand grob missachtet werden.

Wenn der Mensch die Gleichheit vor dem Steuergesetz durch Steuergestaltungen zu unterlaufen sucht, der Bürger rücksichtslos am Straßenverkehr teilnimmt, er amtliche Erklärungen und vertragliche Einwilligungserklärungen unbesehen und unverantwortet unterschreibt, sucht der Gesetzgeber die fehlende Freiheitsfähigkeit durch Rechtsbindungen zu kompensieren. Steuerliche Detailregelungen, eine Flut von Straßenverkehrsregeln und ein Schilderwald, Kaskaden von Informations- und Aufklärungspflichten, Nachweis- und Aufbewahrungspflichten, ein ständig erweitertes Informations- und Datenschutzrecht, Haftung und Strafbarkeit verengen den Raum der Freiheit. Je weniger die Regeln von Ehrbarkeit und Anstand das menschliche Verhalten bestimmen, desto mehr wird der Gesetzgeber die Freiheitsberechtigten mit einer Fülle von Normen beengen, die Normen durch eine allseits präsente Polizei durchsetzen, Freiheit ohne Ehrbarkeit durch Regulierung und Kontrolle ersticken.

Die Garantie der Freiheit ist Sache des Staates, die ethische Befähigung zur Freiheit Aufgabe der freien Gesellschaft. Diese Unterscheidung ist Gebot der Freiheitlichkeit, weil der Staat die Freiheit als Recht zu definieren und zu gewährleisten hat, die Freiheitswahrnehmung aber nicht moralisierend lenken soll. Dennoch bleibt die Erziehung und Befähigung zur Freiheit gemeinsame Aufgabe von Staat und Gesellschaft. Der Staat wird in seinen Kinderbetreuungseinrichtungen, seinen Schulen und Ausbildungsstätten die Bereitschaft und Kraft zur Freiheit wecken, dabei die Erziehungsziele der Eltern unterstützen. Er wird Wissenschaft und Kunst fördern, wenn sie menschliches Können und menschliches Dürfen freiheitsbewusst entfalten. Er erwartet vom freien Menschen Fitness und Fairness, bietet dafür Sportstätten an. Er unterstützt in sozialen Einrichtungen Selbstlosigkeit, in geselligen Einrichtungen Gemeinschaftssinn und Gemeinschaftserleben. Dabei wird der Staat sich stets auf die Ermutigung zur Freiheit beschränken, nicht mutwillig Inhalt und Ziel des Mutes vorgeben.

Die Bereitschaft, sein Leben eigenverantwortlich zu gestalten und dabei stets Anstand und Ehrbarkeit zu wahren, erfordert beherzten Mut. Eigenverantwortlichkeit drängt zur Gegenwehr gegen allpräsente Fremdbestimmung, fordert den eigenen Weg, der vom Boulevard der Allgemeinheit wegführt, erwartet ein Selbstbewusstsein, das der Macht von Unrecht, Dreistigkeit und Unterdrückung die Stirn bietet. Dieser Freiheitsmut stellt hohe Ansprüche, weil er mit dem Gleichmut dessen verbunden sein soll, der nicht unbeirrt auf sein Ziel zustürmt, sondern mit Augenmaß gewährleistet, dass sein Kampf um die Freiheit nicht andere verletzt und die Eigeninteressen nicht überzeichnet. Freiheitsmut setzt auf entschlossene Gestaltung des eigenen Lebens, die beherzte Korrektur der individuellen Verhaltensmaßstäbe und auf eine gelassene Beurteilung der eigenen Ziele.

c. Verstand und Unvernunft

In der Antike, im Mittelalter und am Beginn der Neuzeit forderte Freiheit vor allem den Mut, den eigenen Verstand zu gebrauchen.25 Mit Vernunft werde die Natur beherrscht, Frieden gesichert, Herrschaft gemäßigt, eine Gleichheit der Lebensverhältnisse für alle erstrebt. Heute in Zeiten dominanter teilrationaler Eigensysteme – der ökonomischen, technischen und sozialen Vernunft – müssen wir für eine ganzheitliche Freiheit kämpfen, die Folgen wettbewerblichen Gewinnstrebens, algorithmischer Folgerichtigkeit und sozialer Erwartungen in Frage stellen. Freiheit schützt Vernunft, gewährt aber auch das Recht, unvernünftig sein zu dürfen. Der Mensch folgt nicht nur Vernunft und Logik. Er will auch lachen und lieben, tanzen und musizieren, staunen und sich verzaubern lassen. Er will spielen. Er will träumen. Er wird sich aufregen und empören, begeistert und enttäuscht sein, vertrauen, hoffen, lieben. Er will frei gehen und sich gehen lassen. Er will auch einmal leichten Sinnes sein und mit seinem leichtsinnigen Tun einen Platz im Recht finden. Deshalb sichert das Recht nicht Logik, sondern Freiheit, ist auch offen für Billigkeit, für Treu und Glauben, für Dispens und Begnadigung im Einzelfall, für individuelles Gewissen.

Deswegen verstehen wir, dass die Mutter dem verlorenen Sohn das zehnte Mal verzeiht, der Extremsportler erneut zu einem riskanten Flug ansetzt, die Zuschauer den Fußballstar bejubeln. Dieses ist zwar nicht vernünftig, aber menschlich. Selbst streng rechtsgebundene, aus Vernunftgründen gerechtfertigte Rechtsentscheidungen öffnen sich für das Menschliche. Der Bundespräsident darf einen Straftäter begnadigen.26 Das Bundesverfassungsgericht öffnet dem zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilten Mörder, von dem keine weiteren Verbrechen zu erwarten sind, nach 15 Jahren ein Fenster zur Freiheit.27 Das Finanzamt erlässt der in Not geratenen Witwe die Erbschaftsteuerschuld. Ein reines Vernunftrecht wäre nicht human, wäre inhuman. Deswegen fordert der Gleichheitssatz stets eine »am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise«.28 Diese Gerechtigkeit verlangt Menschlichkeit, für den betroffenen Menschen eine Entscheidung nach seiner Individualität und Besonderheit. Das Gesetz bewährt sich letztlich in der Betroffenheit des einzelnen Menschen. Den Menschen trifft die allgemeine Regel gleich. Er ist aber in individueller Betroffenheit zur Freiheit berechtigt.

4. Freiheit und Grenzen

a. Freiheit als begrenztes Recht

Freiheit ist ein Recht. Rechte sind definiert, also begrenzt. Individuelle Freiheit wird als Eigenverantwortlichkeit zugewiesen und als eigener Freiraum erschlossen. Das Recht teilt die Erdoberfläche in viele Einzelgrundstücke, um diese Fläche jeweils einem Eigentümer zuzuweisen. Dieser pflegt sein Haus und seinen Garten auf seinem Grundstück sorgfältig, nutzt den öffentlichen Park aber nachlässig. Der Unternehmer schafft Ordnung auf seinem Betriebsgelände, kümmert sich nicht um das Gelände des Konkurrenten. Der Autor bestimmt den Inhalt seines Buches, ist für das fremde Buch nicht verantwortlich.

Bei den individuellen Freiheitsrechten definiert – begrenzt – das Recht persönliche Freiräume. Es schützt die Privatsphäre in den Grenzen der eigenen Wohnung, die Berufsfreiheit im Rahmen der rechtlich nachgewiesenen beruflichen Qualifikation, die Bewegungsfreiheit in den technischen und rechtlichen Grenzen der öffentlichen Wege und Straßen. Das Freiheitsrecht garantiert Selbstbestimmung, schützt den Menschen vor dem Übergriff, der Fremdbestimmung durch den anderen. Freiheitliche Verantwortungsbereiche sind Markierungen für ein friedliches Nebeneinanderleben.

Rechte müssen definiert sein, um handhabbar zu werden. Zeitweise galten die Tatbestände »Kunst« oder »Wissenschaft« um der Freiheit willen als undefinierbar. Jede Definition schreibe den Jetztzustand fest, hindere also die freiheitliche Fortentwicklung. Doch bald wird bewusst, dass eine undefinierte Freiheit rechtlich leerläuft. Wenn Künstler Subventionen beanspruchen, die der »Kunst« vorbehalten sind, Wissenschaftler ein Labor fordern, das nur für die »Wissenschaft« zur Verfügung steht, kann der Rechtsstaat diesen Ansprüchen nur genügen, wenn die Berechtigten der »Kunst« und »Wissenschaft« tatbestandlich greifbar und von Nichtberechtigten unterscheidbar sind. Die Verfassung gewährt nicht Freiheiten, sondern Freiheitsrechte. Die Grenze bleibt Bedingung der rechtlichen Ordnung für Frieden und Freiheit.

b. Freiheit und Staatsgrenzen

Der Staat bestimmt seinen Einflussbereich nach seinen Grenzen, ist für fremdes Hoheitsgebiet nicht zuständig. Gäbe es keine ersichtliche Staatsgrenze, die der Staat auch einmal schließen dürfte, fände der Aggressor bei einem militärischen Angriff auf diesen Staat keinen Haltepunkt. Der Diktator, der seine Grenze überschreitet, um jenseits seines Herrschaftsbereichs Gebiete zu erobern, träfe auf keine rechtlichen Warnsignale. Das Staatsvolk entwickelt seine Kultur in seinem Gebiet. Der Staatsangehörige hat die Gewissheit, im Gebiet seines Staates leben und in dieses jederzeit einreisen zu dürfen, dort grundsätzlich vor Auslieferungen sicher zu sein.29 Hätten wir keine Staatsgrenzen, verlöre auch der Asylsuchende und jeder Flüchtling den Schutz gegen die ihn verfolgende Staatsgewalt. Die Grenze gewährt Zuflucht.

Wie einst die steinzeitlichen Jäger und Sammler und die prähistorischen Hirtennomaden haben auch die heutigen Nomadenvölker, die in kaum besiedelten Gebieten umherziehen, keinen Streit wegen Besitz und Eigentum. Die wenigen Habseligkeiten werden bei der Wanderung von Ort zu Ort von den Familienmitgliedern oder von Lasttieren getragen. Das Vieh gehört der Sippe gemeinsam. Die tatsächliche Verschiedenheit unter den Menschen ist rechtlich unerheblich. Diese Rechtsordnung kann sehr einfach sein. Doch wenn ein Stamm beginnt, Weideplätze ausschließlich für seine Herde und Jagdreviere für seine Jäger zu beanspruchen, erhebt der sesshaft werdende Mensch Anspruch auf Eigentum, Gebietshoheit, Ausschließlichkeitsrechte.30 Das Recht muss nunmehr zwischen den Ansprüchen jedes Menschen auf Selbstbestimmung, seiner Zugehörigkeit zu einer Friedens- und Ordnungsgemeinschaft und den anderen, konkurrierenden staatlichen Gemeinschaften ausgleichen.

Je mehr Menschen auf dieser Welt leben, je weiter die Herrschaftsansprüche der mächtigen Staaten reichen, je öfter der Mensch Geborgenheit in einem Staat und Schutz gegen den anderen Staat sucht, desto mehr ist der Traum vom herrschaftsfreien Leben ausgeträumt.31 Herrenlose Gebiete gibt es nicht mehr. Selbst das Meer ist nicht herrenlos, sondern gehört allen Staaten gemeinsam. Während vor dem 19. Jahrhundert die Seemächte einen Herrschaftsanspruch auch auf die Ozeane erhoben – Venedig über die Adria, England über die Nordsee, Portugal über den Indischen Ozean, Spanien über den Stillen Ozean und den Golf von Mexico –, beanspruchen die Staaten heute nur noch Macht über das Küstenmeer vor ihrem Staatsgebiet mit 3, 12, 24, selbst 250 Seemeilen Reichweite mit je nach Reichweite verringerten Rechten. Lediglich der Tiefseeboden, die den Erdball umgebende Lufthülle und der Weltraum scheinen noch den Status eines »gemeinsamen Erbes der Menschheit« bewahren zu können.32

Freiheit wird durch den Staat in dem umgrenzten Raum seines Staatsgebietes garantiert und durchgesetzt.33 Die Definition von Staatsgebiet und Staatsvolk bestimmt auch die Demokratie, in der die Staatsangehörigen sich inneren und äußeren Frieden versprechen und Freiheit gewährleisten. Diese demokratische Gemeinschaft wird von politischen Gemeinsamkeiten, verfassungsrechtlichen Garantien und mitgliedschaftlicher Zusammengehörigkeit so geprägt, dass alle Menschen sich ihrer Freiheit in dieser Demokratie sicher sein dürfen.

Freiheitliche Staaten sind offen für das Völkerrecht, das ein gemeinsames Recht unter Staaten regelt. Es vertritt insbesondere in der Friedensgarantie und den universalen Menschenrechten Prinzipien, die von zwischenstaatlichen Organisationen formuliert und staatsübergreifend für verbindlich erklärt werden. Auch sie sind aber darauf angelegt, von den Staaten mitgetragen und im jeweiligen Staatsgebiet durchgesetzt zu werden. Die Staatsgrenze ist damit nicht mehr Trennlinie und Unterscheidungsprinzip, sondern Ausgangspunkt für Zusammenarbeit, Grundlage für ein weltweites Gemeinschaftsrecht der Freiheit.

c. Flucht und Zuflucht

Die Aufgabe der Grenze, zu ordnen und zu kontrollieren, sichert gegenwärtig insbesondere eine geordnete Zuwanderung. An der deutschen Grenze hat der Deutsche einen Anspruch auf Einreise und ein Bleiberecht. Der Nichtdeutsche hat dieses Recht grundsätzlich nicht. Diese rechtliche Unterscheidung folgt dem Demokratieprinzip, das den Staatsbürgern in ihrem Gebiet Existenz, freiheitliche Entfaltung und politische Mitwirkung sichert, den Zugang anderer zu diesem Staatsgebiet von der Aufnahmebereitschaft der Staatsbürger abhängig macht, kulturelle Eigenheiten und Prinzipien des friedlichen Zusammenlebens geordnet für andere Kulturen und Lebenssichten öffnet. Diese Grenze begründet für die Flüchtenden, die in ihrem Heimatstaat der Verfolgung und Not entronnen sind und nun in Europa Zuflucht suchen, eine besondere menschliche Härte. Der rechtliche Ausgleich zwischen einer rechtlich kontrollierten Zuwanderung zum Schutz des demokratischen Rechtsstaates und der menschlichen Hilfe für den Flüchtenden in Not fordert die Politik in Deutschland und Europa gegenwärtig zu einer Bewährungsprobe von Verfassungsstruktur und rechtlichen Grundwerten heraus.

Die Aussagen des Rechts auch für einen Menschen in existenzieller Notlage sind im Grundsatz klar: Die Idee der universalen Menschenrechte spricht dem Menschen, allein weil er Mensch ist, ein Recht auf Existenz und Leben in Würde zu. Jeder Mensch soll auf dieser Welt einen Platz finden, an dem er sein Leben in Freiheit entfalten und ein Stück Heimat gewinnen kann.

Diese Rechte beanspruchen Universalität, haben sich aber weltweit noch nicht durchgesetzt. Das Völkerrecht sagt nicht, wo der Flüchtende eine neue Heimat findet. Die Genfer Flüchtlingskonvention34 begründet keine Rechtspflicht des Staates, einem Flüchtenden Asyl zu gewähren, verbietet aber dem Staat, einen Flüchtling in ein Verfolgerland zurückzuschicken.35 Dieser Asylschutz beschränkt sich darauf, die Zurückweisung, Ausweisung und Abschiebung zu verbieten, wenn sie eine unmittelbare Verfolgung oder Gefährdung zur Folge hat. Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte36 verpflichtet die Staaten nicht, einem Verfolgten Asyl zu gewähren.37 In der Rechts- und Wertegemeinschaft der Europäischen Union erklären einige Staaten, keine Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Andere Staaten begrenzen die Zahl der Einreiseberechtigten. Deutschland pflegt den Gedanken der Willkommenskultur, folgt aber inzwischen auch der Einsicht, dass ein Staat allein gegenüber der großen Zahl der Flüchtenden an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit, auch der Aufnahmebereitschaft des eigenen Staatsvolkes stößt.

Innerhalb der Europäischen Union bestimmt die Dublin-III-Verordnung38 die Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für die Durchführung des Asylverfahrens, nicht aber das Land, das dem Asylbewerber letztlich Aufnahme gewähren muss. Grundsätzlich ist das Land für ein Asylverfahren zuständig, in dem der Flüchtling zum ersten Mal den Boden eines EU-Landes betreten hat.39 Diese Regelungen geben dem Flüchtenden nur ein Recht auf vorläufige Aufnahme zur Durchführung des Aufnahmeverfahrens. Das Europarecht schweigt zu der Frage, welcher Staat innerhalb der Europäischen Union dem Flüchtenden letztlich eine Heimat geben muss.40

Die aktuelle Debatte in Deutschland über Flucht und Zuflucht führt die Freiheitshoffnung der Verzweifelten und die freiheitliche Selbstbestimmung der Bürger in ihrem Staat nicht hinreichend zusammen. Viele Bürger fühlen sich von ihren Repräsentanten in Parlament und Regierung nicht verstanden und vertreten. Die öffentliche Debatte weicht teilweise in Vereinfachungen, auch in Aggressivität aus, die der Not der Verfolgten und Hungernden nicht gerecht wird, aber auch der gemeinschaftlichen Verantwortlichkeit der europäischen und westlichen Hochkulturen nicht genügt. Doch ist man sich einig, dass jeder Mensch eine Existenz unter angemessenen Lebensbedingungen beanspruchen darf. Keiner würde Flüchtende vor einer geschlossenen Grenze verhungern, verdursten oder erfrieren lassen. Die Frage aber, wer letztlich verpflichtet ist, einem Flüchtenden Zuflucht und Heimat zu gewähren, lässt das Recht offen. In einer Zeit, in der die Vereinten Nationen zu isolierten Nationen zu werden drohen, die europäische Solidarität zu einer Finanzverteilungsgemeinschaft zu verkümmern scheint, fehlt dem Zufluchtsanspruch der Verpflichtete. Die Staaten schieben die Verantwortlichkeit dieser Humanitätsfrage an andere Staaten weiter. Die Europäische Union ist konzeptlos und entscheidungsschwach. Die amerikanische Regierung errichtet Mauern. Die unverzichtbaren Ideale der Jedermannswürde, der Europäischen Friedens- und Wertegemeinschaft, der Vereinten Nationen, des grenzüberschreitenden Wirtschaftens, Reisens, Begegnens und Tauschens scheinen ernstlich gefährdet. 25 Jahre nach dem Fall von Mauer und Eisernem Vorhang in Mitteleuropa scheint die Errichtung von Mauern wieder zu einem Instrument der Politik zu werden. Die Ratlosigkeit ist greifbar.

Soweit Flüchtende Deutschland erreicht haben, aber nicht bleibeberechtigt sind, dürfen sie grundsätzlich abgeschoben werden. Doch die Erwartung, durch schnelle Abschiebung werde sich die Zahl der Flüchtenden bald verringern, scheitert an der Abschiebungspraxis.

Fast alle Flüchtenden erreichen Deutschland auf dem Landweg aus einem sicheren Drittstaat, haben dort also schon Zuflucht finden können und können sich deshalb auf einen Asylanspruch in Deutschland nicht berufen.41 Das Grundgesetz sagt ausdrücklich, dass sich auf das Asylrecht nicht berufen kann, »wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften einreist«. Die Verfassung erwartet also von allen Mitgliedstaaten die menschenrechtliche Solidarität, einem Asylberechtigten, der ihr Gebiet erreicht, Asyl zu gewähren, damit aber auch eine weitere Zuflucht zu erübrigen. Doch diese Deutschland umgebenden Nachbarstaaten verweigern oft die Wiederaufnahme des Flüchtenden. Gleiches gilt für den Erstaufnahmestaat. Deshalb stellt sich die Frage, ob eine Abschiebung in den Herkunftsstaat des Flüchtenden möglich ist. Doch der entscheidende Beamte und später auch der Richter wissen oft nicht, woher der Flüchtende kommt, wenn er keine Papiere bei sich trägt, auch seinen Herkunfts- und damit seinen Abschiebeort nicht nennt und möglicherweise auch durch seine Sprache keine Hinweise auf seine Herkunft gibt. Wenn aber der Herkunftsort unbekannt bleibt, fehlt das Abschiebungsziel. Kennen die deutschen Organe den Herkunftsort, müssen sie weiter prüfen, ob der Betroffene in seinem Heimatstaat politisch verfolgt wird, an Leib und Leben gefährdet ist, so dass er nicht zurückgeführt werden darf.42 Liegen die Voraussetzungen einer Abschiebung vor, kann der Betroffene nur abgeschoben werden, wenn das Heimatland aufnahmebereit ist. Das Völkerrecht zwingt grundsätzlich keinen Aufnahmestaat, den Rückkehrer auch tatsächlich in seine Heimat zurückkehren zu lassen. Ist der abgewiesene Bewerber dann tatsächlich in sein Heimatland abgeschoben worden, wird er in der Regel dort wieder frei ausreisen dürfen, später also wieder Zugang nach Deutschland suchen. An der deutschen Grenze allerdings trifft er auf ein Rückkehrverbot. Dieses muss tatsächlich vollzogen werden.

In diesem menschlichen und rechtlichen Dilemma wird sich die Europäische Union als eine Rechtsgemeinschaft, die »aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas« schöpft,43 zu bewähren haben. Sie wird zu bestimmen haben, in welchem Mitgliedstaat der Flüchtende vorläufig oder endgültig Zuflucht finden soll.44 Würden sich einige Mitgliedstaaten weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, müsste die Solidarität der Union als Werte- und Finanzgemeinschaft wirksam werden. Wer in der Flüchtlingsfrage die Erfüllung von Unionserwartungen verweigert, darf in den europäischen Finanzsystemen weitere Leistungen nicht erwarten. Wenn diese Gegenseitigkeit europarechtlich strikt durchgesetzt wird, wird sich die nüchterne, aber menschliche Einsicht bestätigen, dass der Partner gesprächs- und verständigungsbereit wird, wenn der Verlust von Finanzmitteln droht.

Solange diese Europäische Humanitätsgemeinschaft noch nicht wirkt, wird der deutsche Staat, der Hauptziel der Migranten ist, seine Grenzen streng kontrollieren, dabei auch Erschwerungen von grenzüberschreitendem Wirtschaften, Reisen und Begegnen in Kauf nehmen müssen. Soweit Migranten einreisen dürfen, wird der freiheitliche Staat sie zunächst auf die freiheitlichen Lebensbedingungen in Deutschland vorbereiten müssen. Viele stammen aus Kriegsgebieten, haben einen Überlebenskampf gelernt und geübt, der für eine freiheitliche Lebensordnung schlechthin nicht taugt. Viele sind das Zusammenleben von Mann und Frau als Herrschaftsverhältnis gewohnt, das eine Gleichheit in Achtung, Anerkennung und Würde nicht kennt. Ihnen sind unsere Formen des Begegnens, der Kleidung, des öffentlichen Lebens und Feierns fremd. Sie müssen sich mit diesen Lebensbedingungen erst noch vertraut machen. Der Deutsche ist in eine freiheitliche Rechtsordnung hineingeboren, der Migrant muss sich erst noch in diese Ordnung hineinlernen. Deswegen darf der Rechtsstaat die Migranten nicht mit Überschreitung der Grenze in unsere Freiheit entlassen, sondern muss sie in unsere Lebensweise hineinführen. Auch hier sind räumliche Beschränkungen, Kontrollen, Beaufsichtigungen schmerzlich, aber notwendig.

d. Aufbau freiheitsgerechter Lebensbedingungen

Die langfristige humane Lösung kann nur in einer Grundsatzpolitik der Staatengemeinschaft liegen, die zunächst in den Heimatstaaten Frieden schafft, dann den Flüchtenden einen Anreiz gibt, freiwillig in ihre Heimat zurückzukehren. Wenn dieses Ziel nicht bloße Hoffnung bleiben, sondern friedenstiftende Realität werden soll, brauchen die Staaten viel Geld, viele vor Ort mitwirkende Menschen, zukunftsweisende Kooperationen zwischen Heimatstaaten und helfenden Staaten. Zur Finanzierung dieser großen Aufgabe bietet sich eine Finanztransaktionssteuer45 an, die alle Umsätze des Finanzmarktes mit einem Prozent Steuern auf den Umsatz belastet. Mit einer solchen Steuer würde eine Gerechtigkeitslücke geschlossen. Bisher werden alle Umsätze, in Deutschland im Regelfall mit 19 Prozent, zulasten des Konsumenten besteuert. Die Finanzumsätze sind aber von jeder Umsatzsteuer ausgenommen. Die Steuer auf die Finanzumsätze ließe sich leicht und kosteneffizient erheben, weil sie bei den Geschäften des Finanzmarktes computertechnisch einbehalten werden könnte. Die Steuer ist fast unausweichlich,46 wenn die Veranstalter und Vermittler der Finanz­umsätze für die Steuer haften. Die Finanztransaktionssteuer wäre auch ertragreich, weil der Finanzmarkt Milliardenumsätze erzielt.47 Das Aufkommen aus dieser Steuer sollte strikt für den Rückkehrwiederaufbau reserviert werden.

Es wäre wenig hilfreich, dieses Geld schlicht in die Krisengebiete zu schicken. Solange dort Waffen die Lebensbedingungen zerstören, kann ein Wiederaufbau nicht beginnen. Wenn nicht gewährleistet ist, dass diese Gelder unmittelbar zum Bau von Schulen und Straßen, Häusern und Krankenhäusern, Unternehmen und Kultureinrichtungen verwendet werden, darf kein Cent eingesetzt werden. Wenn aber Ärzte und Ingenieure, Straßenbauer und Lehrer, erprobte junge Unternehmer dort als Gründungshelfer wirken, sie den Flüchtenden erstrebenswert erscheinende Lebensbedingungen aufbauen, dabei mit den Rückkehrern am gemeinsamen Wiederaufbau zusammenwirken, werden Flüchtlings-, Wiederaufbau- und Friedenspolitik zusammengeführt. Vorhandene politische Systeme, die zu Diktatur und Verfolgung, zu Korruption und Günstlingswirtschaft neigen, müssen mit der Autorität des Völkerrechts und, wenn erforderlich, dessen Zwangsmitteln in ihre Schranken gewiesen werden. Auf dieser Grundlage von Humanität, modernen Lebens- und Bildungsstrukturen, einem verheißungsvollen Gesundheits- und Rechtswesen werden Wirtschaftsunternehmen gegründet, die erst einfache, später anspruchsvolle Güter – vom Nachen bis zum Auto – produzieren. So entstehen Arbeitsplätze und Löhne. Der Staat nimmt Steuern ein. Gute politische und wirtschaftliche Beziehungen zwischen dem Heimatstaat und dem Helferstaat beginnen. Diese Flüchtlingspolitik realisiert eine Leitidee der Kultur und Menschlichkeit.

Diese Idee kann anfangs sicherlich nur auf holprigem Wege verwirklicht werden. Doch dieser Weg erschließt auch uns eine neue Kultur. Das gegenwärtige Unbehagen, die weltweite Ratlosigkeit gegenüber der derzeitigen Flüchtlingsrealität zersplittert unsere Gesellschaft, treibt das Denken und später das Handeln in eine Radikalität, die Mutlosigkeit und Vordergründigkeit einer Flüchtlingspolitik ohne gestaltende Leitidee rügt und eine Schwäche von Demokratie und letztlich von Freiheit beanstandet. Wenn wir für den Neuaufbau der Heimat von Verfolgten und Hungernden kämpfen, gewinnen wir für uns ein Stück kultureller Identität, befestigen die Ideen unseres Rechts von Würde und Freiheit. Wir bauen langfristig an einem Konzept von Frieden und Prosperität, kultivieren vielleicht sogar eine Menschlichkeit von Helfen und Danken. Das ist die Welt der Freiheit. Der Versuch lohnt.

5. Reichtum des Armen und Armut des Reichen

Jeder Zufluchtsuchende erinnert uns, dass wirtschaftlicher Erfolg, insbesondere ein regelmäßiges Einkommen, Grundlage individueller Freiheit ist. Eigentum gibt Gelassenheit, ermöglicht Freiheit. Doch Reichtum ist nicht Freiheit. Der Mensch weiß seit Jahrtausenden, dass der Reichtum des Lebens nicht in Besitz und Gütern besteht.48 Reichtum hängt auch von Familie und Freunden, von Begegnungen und Inspirationen mit anderen, von mitmenschlicher Wertschätzung und Zusammenarbeit, vom Gelingen eines Werkes, von der Freude an Gemeinschaft, Musik und Sport, von Zufriedenheit und Hoffnung ab. Viele Menschen mit großem Vermögen und wachsendem Einkommen sind einsam. Völker leben in Armut und wissen dennoch ein ereignisreiches, oft heiteres Zusammenleben zu gestalten. Die respektvolle Anrede, die Zuwendung, gemeinschaftsbildende Rituale und Lebensformen schaffen Lebensfreude. Wer sich an Stimmen, Mimik, Gestik, Symbol und Rhythmus freut, erlebt Glück, das unbezahlbar ist.

Unser Alltag zeigt, dass die Maßstäbe der Menschlichkeit, der Kultur und des Wirtschaftens grundverschieden sind. Die Humanität zielt auf elementare Gemeinsamkeiten, bietet jedermann Chancengleichheit zur Entfaltung in Freiheit, grenzt ein und nicht aus, sichert jedermann ein Existenzminimum, entwickelt Häuslichkeit und Gastlichkeit. Die Kultur spricht ihre Formensprache, sucht Verständnis und Beifall der Angesprochenen, kann und soll in diesem Anliegen nicht in Euro bemessen und entgolten werden. Die Wirtschaft handelt nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung, definiert die Menschen als Konkurrenten in einem Wettbewerb, der die Wettbewerber in Sieger und Besiegte teilt. Der Wettbewerber verteilt Leistungen nicht nach Bedarf, sondern nach Zahlungsbereitschaft, will den Konkurrenten feindlich übernehmen.

Diese unterschiedlichen Denk- und Handlungsmaximen schließen sich weitgehend aus. Wenn Freundschaftsdienste kommerzialisiert werden, entfremdet dieser Motivwechsel die Beteiligten voneinander. Wird der Freizeitsport zum Profisport, verändern sich die Maßstäbe des Handelns. Wenn ein Beamter für eine Amtshandlung einen Vorteil fordert oder annimmt, wird aus dem Leistungstausch ein Straftatbestand. Viele beruflich erfolgreiche Menschen leiden darunter, dass sie das Wachstum ihres Vermögens zu ständigen Auseinandersetzungen mit Beratern und Banken zwingt. Sie sehen sich weniger von Freunden und mehr von Konkurrenten umgeben, die nach Teilhabe an ihrem Vermögen trachten. Mancher hat im intensiven Erwerbsstreben seine Gesundheit gefährdet, seine Ehe zerstört, seinen Freundes- und Erlebnisbereich verkümmern lassen. Der Gelassene stellt sich rechtzeitig die Frage, wann ein Weniger an Einkommen für ihn ein Mehr an Lebensglück sei. Das ist selbstbewusst, mutig und beherzt. Das ist Freiheit.

6. Geregelte, gelenkte und selbstbestimmte Freiheit

a. Gesetz, Anreiz, Eigenmotiv

Freiheit ereignet sich stets im Rahmen der verbindlichen Gesetze. Das Gesetz schafft Frieden und eine Lebensordnung, in der allein Freiheit möglich ist. Es bindet den Freien in Verboten und Geboten, die sprachlich verbindlich bestimmt sind und damit Grenzen der Freiheitsbeschränkung benennen. Diese sind auch vom Staat zu achten.

Das Gesetz regelt, wann der Mensch frei und wann er gebunden ist. Du sollst nicht töten. Du musst mit sechs Jahren die Schule besuchen. Du musst Steuern zahlen. Du darfst einen anderen nicht schädigen. Du hast bei einem Unfall Hilfe zu leisten. Du hast die Würde des anderen, die Grenze zum Nachbarn, den Auftrag deines Berufs zu achten. Du bist für deine Kinder verantwortlich. Freiheit ist nicht die Beliebigkeit, die den Mitmenschen den eigenen Willen aufdrängt, sondern ein Recht, das die selbstbestimmte Entfaltung des eigenen Lebens in einer Gemeinschaft des Friedens und der Freiheit für jedermann erlaubt und erwartet. Freiheit gewährt niemals Herrschaft über andere.

Doch der Staat spricht den Bürger nicht nur in einer verbindlichen Regel an, die dem Adressaten in der Sprache der Vernunft, bewusst und rechtlich zugemessen, eine Anordnung erteilt. Er verzichtet oft auf die verbindliche Regel und wählt das auf Kooperation angelegte Instrument von Anreiz und Verlockung, gibt menschlichem Erwerbsstreben einen Impuls. Während der Verfassungsstaat herkömmlich den Freiheitsrahmen setzt und die Bürger ihre Freiheitsmotive entwickeln, regiert der Staat nun über Motive. Er verhängt bei einer hohen Schadstoffbelastung in Innenstädten nur selten ein Fahrverbot, schafft aber finanzielle Anreize zum Kauf schadstoffarmer Fahrzeuge. Er verbietet nicht den Alkoholkonsum, sondern erhöht die Steuern auf Alkohol. Er verpflichtet den Unternehmer nicht, neue Arbeitsplätze zu schaffen, sondern bietet ihm eine Subvention zur Erweiterung seines Betriebes an.

Der Staat setzt auch Anreize, wenn er Institutionen schafft und diese zur Nutzung anbietet. Er eröffnet eine Musikschule und regt damit das Erlernen eines Instrumentes an. Er errichtet eine Sportstätte, fördert dadurch die sportliche Betätigung. Er eröffnet eine Oper oder eine digitale Bibliothek, erweitert damit das Kulturleben. Er schützt Feiertage oder bestätigt Bräuche wie zu Silvester oder Fasching, fördert damit Feste und Feiern. Er pflegt Erinnerungen – wie am Tag der Deutschen Einheit – oder befördert das Vergessen – wie bei der Umbenennung von Straßennamen.

Dieses Staatshandeln kann freiheitsgerechter, rücksichtsvoller, unauffälliger und schonender wirken. Doch der Staat büßt dabei auch die Eigenheit der in Bewusstheit und sprachlicher Disziplin überbrachten Vorschrift, der kontrollierbaren und revidierbaren Anordnung, der vom einzelnen Amtsträger verantworteten Entscheidung ein. Der Bürger scheint lenkbar, käuflich, verführbar.

Staat und mächtige Gruppen setzen zunehmend auch »Mechanismen« ins Werk, durch die Menschengruppen gesteuert werden sollen, in die der Einzelne nahezu wehrlos eingegliedert ist.49 Der Mensch ist nicht mehr Einzelperson, sondern Rechengröße in einer Gruppe der Konsumenten, der Produzenten, des Patientengutes, des Bildungspotenzials, einer Alterskohorte oder des Finanzmarktes. Die Aufmerksamkeit gilt der Steuerungskraft des Steuernden und der Steuerbarkeit des betroffenen Kollektivs, nicht dem Rechtssubjekt und seiner Belastbarkeit. Insbesondere ökonomisches Denken steuert Wirkungszusammenhänge nach Effizienz. Globalsteuerung und Wirtschaftslenkung geben Impulse, denen jedermann folgt, die nicht individuell zugemessen werden. Allgemeine Umverteilungskonzepte50 stellen die freiheitlich hergestellten Verschiedenheiten in Frage, suchen die Folgen individueller Freiheit des Berufstätigen, der Familie oder des Wissenschaftlers zu überwinden und bedürfen deshalb besonderer Rechtfertigung. Die Steuerungstechnik verspricht sich ein gutes, gelingendes Zusammenleben weniger vom freiheitlichen Handeln des Einzelnen und mehr von der Struktur eines Lebensbereichs, dessen »man« sich bedient. Werbung verheißt, menschliches Verhalten auf den Weg des Auftraggebers zu lenken. Eine technische Datenerhebung erkundet den Bedarf und befriedigt diesen festgestellten, vom Betroffenen nicht bekundeten Bedarf. Der Algorithmus übernimmt die Funktion des Gesetzes. Er beansprucht, aus Wissen und Erfahrung die »richtige Lösung« entwickelt zu haben, erscheint nicht mehr als Instrument der programmierenden Menschen, sondern wird zu einer objektiven – über »Künstliche Intelligenz« verfügenden – Bestimmungsgröße. Beherzte Freiheit wehrt sich nicht nur gegen den staatlichen Befehl, sondern auch gegen das staatlich aufgedrängte Motiv und die Herabwürdigung des Menschen zum Steuerungsobjekt.

b. Individuelle Freiheit und gesamtwirtschaftliche Daten

Im Wirtschaftsleben bestimmen heute abstrakte Regeln die Gewinnmaximierung ohne Haltepunkt, die Verschuldung ohne Grenzen, die Lenkung und Steuerung des Freien ohne Hemmungen. Der Akteur verändert Strukturen, ohne sich der individuellen Wirkungen seines Handelns zu vergewissern. So entsteht eine immer größere Kluft zwischen wirtschaftlicher Realität und freiheitsrechtlichem Anspruch. Schon im Ausgangspunkt ist eine Wirtschaft, die ihren Gewinn ständig zu »maximieren« sucht,51