Das Maß der Gerechtigkeit - Paul Kirchhof - E-Book

Das Maß der Gerechtigkeit E-Book

Paul Kirchhof

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Beschreibung

Wasser predigen und Wein trinken, das scheint das Grundprinzip zu sein, nach dem unsere Gesellschaft in allzu vielen Bereichen funktioniert. Das hat fatale Folgen: Einmal in Schieflage geraten, kommt das Land immer mehr aus dem Gleichgewicht. Die Gerechtigkeit bleibt auf der Strecke. Mit bestechender Klarheit schildert Paul Kirchhof, warum Staat, Wirtschaft und Politik die Orientierung verloren haben, und er fordert: Stellt das verlorene Gleichgewicht wieder her! Jeder einzelne Bürger, jedes Unternehmen, jede Gruppierung handelt scheinbar vernünftig, doch im Ergebnis entsteht ein großer Missklang: Unter dem Einfluss organisierter Interessen produziert das Parlament Jahr für Jahr so viele Gesetze, dass niemand sie mehr verantworten oder befolgen kann; die Wirtschaft löst sich aus der Bindung an allgemeine Werte; das Recht verliert seine Autorität. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zum Steuerbetrug via Liechtenstein – Unrechtsbewusstsein Fehlanzeige. Zwar haben sich Misstöne eingeschlichen, aber noch ist die Grundmelodie erkennbar: Paul Kirchhof setzt darauf, dass wir die Gerechtigkeit wieder zum Klingen bringen können. Sein Buch ist ein leidenschaftlicher Weckruf gegen Mutlosigkeit und Resignation. Das Maß der Gerechtigkeit von Paul Kirchhof: als eBook erhältlich!

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Paul Kirchhof

Das Maß der Gerechtigkeit

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Inhaltsübersicht

EinstimmungI. Gerechtigkeit – ein fragendes Wort1. Der Ring des Gyges2. Ist Gerechtigkeit nützlich?3. Die Spekulanten des Finanzmarktes4. Güterschutz, Verantwortlichkeit, Verallgemeinerungsfähigkeit, Maß5. Sichtbares und UnsichtbaresGyges ist gegenwärtigAutoritätVerbindlichkeitDie Justitia verkörpert die ausgleichende Gerechtigkeit6. Quellen des RechtsGesetzestext und RechtsgedankeWirklichkeitKulturwissenWollen7. Zehn Erwartungen der Gerechtigkeit1. Gemeinsame Maßstäbe2. Das Recht braucht Autorität und gemäßigte Gewalt3. Freiheit, Gleichheit, Sicherheit4. Gesetz und Rechtsbewusstsein5. Freiheit vom Staat und durch den Staat6. Recht in der Generationenfolge7. Wettbewerbliche Erneuerung und vertraute Geborgenheit8. Vertrauen9. Erwerben, Verteilen, Umverteilen10. Gewaltenteilung und Einheit der RechtsordnungII. Die zu früh abgebrochene Aufklärung1. Der verlorene Beutel2. Das Gute wird belohnt3. Vertrauen, Vertrautheit, VerantwortlichkeitVertrauen in Gesetz und EinzelentscheidSymbol und Stil als Stütze der VertrauensVerantwortlichkeit für drei Quellen des RechtsDie Aufklärung befreit von Autoritäten zur Vernunft4. Zwei Alternativen wissenschaftlichen DenkensSicherheit im Beweisbaren oder Weite im ErgründenRecht greift über Kausalität und Kalkül hinausDer Mensch liebtDer Mensch stirbtDer Mensch denkt über sich selbst hinausWarum gilt Recht?5. Eine Freiheitskultur, die dem Menschen dient6. Gut und BöseDemokratie fordert nicht das Gute, sondern vermeidet grobe FehlerGesetz und GewissenFreiheitsangebote und demokratische Repräsentation7. Die VerfassungDas Konzept des VertrauensBalance zwischen Festschreibung und OffenheitDer Antwortcharakter der VerfassungDas Grundgesetz – ein Versuch geschriebener Gerechtigkeit8. Aufklärung tut notIII. Mensch, Person, Persönlichkeit im staatlichen Recht1. Die biblische Geschichte des Moses2. Die Flucht vor dem Unrecht und die Grundlegung des Rechts3. Die tägliche Hoffnung auf Gerechtigkeit4. Das Gesetz herrschtDas Gesetz setzt das MaßMensch, Person, PersönlichkeitVertrauen auf das vertraute RechtIndividualität und Zusammenhalt5. Recht wird gefunden und entschiedenGöttliches, natürliches, vertragliches RechtPhilosophenkönig, Tyrann, Demokratie6. Gerechtigkeit durch den StaatStaat und NationDie Freiheitsideale des StaatesDer Staat lässt Konflikte offen7. Gerechtigkeit in der Gemeinschaft von 200 StaatenIV. Freiheit, Gleichheit, Sicherheit1. Der Müller Arnold2. Auf dem Weg zu einem modernen Rechtsstaat3. Brüderlichkeit oder Sicherheit4. Zusammenklang von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit5. SicherheitDer Staat wird als Garant der Sicherheit gegründetSicherheit durch Staat, Friedensgemeinschaft, MitmenschenWaffenbesitz und FahrgeschwindigkeitTerror – Zerstörung des Sicherheitsvertrauens6. FreiheitFreiheit wird vorgefunden, muss aber errungen werdenFreiheit vom Staat und Freiheit durch den StaatSechs Freiheitsgewährleistungen7. GleichheitMaßvolle AusgleichungWeg zum BesserenRechtliche und tatsächliche GleichheitLebensgleichheit im ElementarenStaat, Staatsvolk und NationGleichheit und FreiheitGleichheit in der ZeitStatusgleichheit und demokratisch gestaltbare GleichheitGleichheit als umfassendes, gegenstandsloses Recht8. Ursprung modernen GerechtigkeitsverständnissesV. Rechtliche Regel und innere Überzeugung1. Singen statt Sprechen2. Befehl und Geltungskraft3. Das Streben nach GlückDas Recht auf GlückssucheDer Staat ist eines Glückes Schmied4. Recht und MoralFreiheit ohne Moral überfordertRecht und Moral gehen eigene Wege5. Je mehr Freiheit, desto mehr Suche nach MaßstäbenDer freie Mensch entwickelt UrteilskraftGegenwartsfreiheiten und ZukunftsfreiheitenFreiheit von Zwang oder Zwang zur richtigen FreiheitswahrnehmungEin Wertefundament ist selbstverständlichBewährte Werte und unausgesprochene moralische GewissheitToleranz6. Im Steuerrecht wissen wir nicht, was sich gehörtDer Erfolgreiche begeht keinen Banküberfall, ist aber zur Steuerhinterziehung bereitDie Kassenhäuschen stehen an den Autobahnen, die Steuerpflichtigen nehmen die SchleichwegeZwei Eigentümer tauschen ihre benachbarten WohnungenDer Unternehmer zieht ins Niedrigsteuerland7. Die Steuer als Garant der FreiheitSteuer oder StaatsunternehmenDie Steuer gibt Empfangenes zurückDie Steuer entsteht, wenn der Mensch freiwillig am Markt tätig wirdDie Steuer stärkt Leistungsbewusstsein8. Die Steuer als Gegner der FreiheitJeder gezahlte Euro mindert FreiheitLenkungsteuern steuern in die UnfreiheitRegeltatbestände führen auf IrrwegeDie Last des Verschweigens und Verschleierns9. Die Tür zur Grundsatzreform steht offenAlte Steuer – gute Steuer?Gerechte Steuersätze – 25% für Kapital, 45% für Arbeit?VI. Der Mensch ist stark und schwach1. Die Gesundheitsbeichte2. Verschwenderischer Umgang mit der Gesundheit3. Freiheit von Furcht und NotFreiheit als Gefahr für die Gesundheit?Individueller Einfluss auf die eigene GesundheitWahrung der Normalität und die Freiheit zum Anderssein4. Selbstbestimmung und HilfsbedürftigkeitRechtliche Normen handeln vom RegelfallKrankheit und BehinderungIndividualanspruch oder Einrichtung5. Ein Recht auf Gesundheit?Persönliche Verantwortung und Lebensbedingungen der AllgemeinheitIndividuelles Recht und allgemeine Gewährleistung6. Was ist der Mensch, den die Rechtsordnung schützt?Die Würde ist unantastbarDer MenschDas Leben ist nicht das höchste Gut7. Die Aufgabe der MedizinGesundheit oder LebensqualitätUnterschiedliche Erwartungen an den Arzt8. Die medizinische Leistung – ein rares GutLeistung nach Bedarf, nicht gegen EntgeltSelbstvorsorge oder FremdhilfeWer trägt zur Versicherung bei?Drei Irrwege, Gesundheitsbelastungen zu begrenzen9. Stärkung der Verantwortlichkeit als WirtschaftlichkeitsprinzipVII. Recht in der Generationenfolge1. Die zwölf Kamele2. Gefühlte und verstandene Gerechtigkeit3. Die Weitergabe von RechtsgüternDas Vererben von VermögenFreiheit und Bindungsbereitschaft4. Die Weitergabe von MaßstäbenDie FürstentestamenteJugend und AlterDas Gedächtnis der Demokratie5. Recht greift über die Generationen hinausDie Geltung des RechtsInhalte des RechtsVIII. Wettbewerb – Antrieb zum Erneuern und Zerstören1. Der Ruderwettbewerb2. Der politische WettbewerbDer Abgeordnete wird unmittelbar gewähltBei der Wahl der Kandidaten tritt die Partei in den HintergrundBei der Wahl der Parteien tritt der Kandidat in den HintergrundUnmittelbare Wahl unter den vorab erklärten Koalitionsabsichten3. Der wirtschaftliche WettbewerbDie Wirtschaft muss nicht demokratisiert werdenStaatliches Steuern und RegulierenTrägt der Kapitalismus die Saat für seine Zerstörung in sich?Der Markt braucht Verantwortlichkeit, aus der Vertrauen erwächstGegenwärtige HandlungsalternativenVertragsfreiheit als Ausdruck von FreiheitsvertrauenLebensbereiche, die gegen Wettbewerb abgeschirmt sindDer Mensch will auch einmal nicht besiegt werden könnenDer Staat unterteilt nicht in Sieger und BesiegteFreiheitskämpfer streben nach Freiheit, doch der Mensch ist auch müde und bequem4. Freiheit will errungen seinIX. Einlösungsvertrauen1. Die Unersättlichkeit des König Midas2. Ein fast wertloses Papier begründet große ErwartungenDas EinlösungsvertrauenInstrument der Gleichheit3. Die Finanzkrise4. Elementarstrukturen von Geld und Markt5. Geld als Instrument der FreiheitGeld erwirbt man durch Arbeit oder durch GeldDer Wert des Geldes hängt von der Gemeinschaft abVerantwortungseigentum und anonymes Finanzkapital6. Drei Prinzipien zur Verteilung des GeldesMarkt, Staatsleistung, MäzenatentumUnterschiedliche VerantwortlichkeitenGeld ist nicht alles7. Vertrauen als Bedingung des RechtsX. Die Verteilung von Geld und Gütern1. Das Theater mit begrenzter Sicht2. Die Einkommens- und Vermögensverteilung in DeutschlandZwei Drittel der Bevölkerung besitzen kein VermögenUngleiche Erwerbschancen3. Der Erwerb von EinkommenAus dem Wertpapier wird PapierErwerbsgerechtigkeit baut auf Eigenverantwortlichkeit, Neigung, ZusammenarbeitDer Staat regelt, wacht und setzt Gegengewichte4. Erwerbschance und VerantwortlichkeitDer Fondsanleger weiß nicht, was er tutDer Anbieter muss für die Folgen seiner Verlockungen einstehenDie menschenlose Fabrik braucht ArbeitHandwerk und MaschinenwerkDas Soziale in der Marktwirtschaft5. Freiheit vor ErwerbsanstrengungLebenskultur im Sog der GewinnmaximierungFamilie und ErwerbZukunftsicherheit6. Reichtum und ArmutWachsende Distanz zwischen Arm und ReichDer Lottogewinn überzeugt, der Unternehmensgewinn nichtGerecht verteilen, nicht Unrechtes umverteilen7. Die Gewinnbeteiligung ist zu erweiternGewinnberechtigung aller BetriebsbeteiligtenDie Arbeitslosen für den Gewinn gewinnenAuch der soziale Staat ist erfolgsbeteiligt8. Die soziale Zuteilung von EinkommenSozial ist die mitmenschliche ZuwendungEntgeltwürdige Leistung muss anerkannt werdenDas Familieneinkommen wird gemindertEin Reformvorschlag: Mindestgeld für alle9. Geld und GüterDer Unternehmer verdient die Gunst des VerbrauchersVerzicht auf Wachstum?XI. Grundrechte und Staatsorganisation1. Die eigennützige Begnadigung2. Der Künstler, dem Recht entrückt3. Gesetzeskultur und ihre GefährdungZufall, Irrtum, Leidenschaft und UnverstandÜberdifferenzierung und GruppenrechtDie Normenflut drückt uns niederDas Privileg provoziert4. Das Dorf5. Der Bundesstaat sucht BürgernäheVielfalt politischen LebensBundesstaatlichkeit stärkt FreiheitDer Hang zur großen Einheit6. Deutschland als Mitglied der Europäischen UnionDas Europa der Staaten als Friedens- und FreiheitschanceDie Europäische Union – eine VertragsunionEuroparecht – eine dauernde Baustelle, keine VerfassungZukunfts- und GegenwartsorganisationDie Europäische Union bedarf besonderer demokratischer RechtfertigungDie Entwicklung des VertragesDer Europäische Gerichtshof – Motor der Integration?7. Erst Weltoffenheit, dann GlobalisierungVerlust an Verantwortung, Regel, MaßOffenheit oder OrientierungslosigkeitStaaten oder WeltstaatDie Renaissance des totgesagten StaatesStaatliche Verantwortung, überstaatliche VerallgemeinerungKeine Angleichung nur nach DurchschnittswertenXII. Zehn Gerechtigkeitsprinzipien in Zeiten des Umbruchs1. Die Ablösung des unerwünschten Herrschers2. Der Herrscher, nicht das Recht steht in Frage3. Zehn Maßstäbe der Gerechtigkeit4. Der Verfassungsbaum5. Recht und Rechtsverständnis
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Einstimmung

Wenn unser Leben nach Recht und Anstand verläuft, bleibt die Gerechtigkeit eine Erscheinung wie Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Wir erleben sie als Selbstverständlichkeit unseres Alltags. Doch wenn etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, wird die Gerechtigkeit zu einem dringenden Anliegen. Wir rufen nach dem Richter, fordern von ihm Gerechtigkeit, klagen auf unser individuelles Recht. Gerechtigkeit ist so gegenwärtig wie die Gesundheit. Wer gesund ist, stellt die Frage nach den Bedingungen eines gesunden Lebens kaum. Erst wenn eine Krankheit ihn bedroht oder bedrückt, wächst seine Aufmerksamkeit für den Arzt und die Medikamente, die seine Krankheit heilen, seine Schmerzen lindern. Der Arzt wird die Gesundheit kaum definieren, wohl aber die Krankheit diagnostizieren und eine Therapie entwickeln können. Ebenso zögert der Richter, das große Wort der Gerechtigkeit in den Mund zu nehmen, sucht aber in jedem Urteil Unrecht durch Recht zu ersetzen oder auszugleichen.

Uns ist stets bewusst, dass wir die Gerechtigkeit nicht vollständig verwirklichen, uns ihr nur annähern können. Eine Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, die den Vorstellungen aller Betroffenen entspricht, ist kaum möglich, weil die Menschen so verschieden, voller Fehler und Unzulänglichkeiten sind und dementsprechend handeln. Das Wort von der Gerechtigkeit beschreibt deshalb keinen Zustand, der irgendwann einmal erreichbar ist, sondern ein Ziel, auf das hin wir uns bewegen.

Gerecht handelt in der Regel, wer den Lebensbedürfnissen der Menschen, unserer Kultur und den vom Gesetzgeber bestimmten allgemeinen Regeln genügt. Die Gerechtigkeit darf nicht in Teilgerechtigkeiten – eine soziale, eine liberale oder eine demokratische – aufgelöst werden. Wer in einer liberalen Gerechtigkeit nur den Unternehmer sieht, der in seiner Freiheit seinen Betrieb durch Entlassungen rettet, nicht aber die Schicksale der entlassenen Arbeitnehmer bedenkt, beobachtet nur das Überleben des Unternehmens und lässt damit wesentliche Anfragen an das Recht unbeantwortet. Wer soziale Gerechtigkeit fordert und dabei nur auf den Staatsbeamten blickt, der in der ersten Reihe staatliche Wohltaten verteilt, den Finanzbeamten aber aus dem Blickfeld verdrängt, der in der zweiten Reihe die für diese Wohltaten benötigten Steuergelder einsammelt, verfehlt in diesem verengten Blick das Gerechtigkeitsanliegen. Wer unter dem Stichwort der demokratischen Gerechtigkeit den jeweiligen Gegenwartswillen der Bürger zur Geltung bringen will, verkennt das Unabstimmbare im Recht, den Minderheitenschutz, auch das Rechtsstaatsprinzip, das nicht den spontanen, oft wechselnden Willen des Staatsvolkes als Rechtsquelle anerkennt, sondern die gut vorbereitete Willensäußerung eines Wahlaktes oder einer förmlichen Abstimmung.

Gerechtigkeit fordert dauernde, unverbrüchliche Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens. Dabei verfolgen die Menschen fünf Grundanliegen:

Niemand darf die Rechte anderer – Leib und Leben, körperliche und seelische Integrität, Eigentum – verletzen.

Jeder Mensch soll sein Glück selbst suchen, die Freiheit haben, Herr seiner selbst zu sein und über einen eigenen Lebensbereich selbst zu bestimmen. Jeder wählt selbstbestimmt seinen Beruf, sucht sich seinen Ehepartner, richtet sich seine Wohnung ein, gibt bei der Wahl seinem Kandidaten seine Stimme.

Das Recht weist nicht Herrschaftsräume, sondern Verantwortlichkeiten zu. Das Freiheitsrecht berechtigt den Menschen nur zur Beliebigkeit, wenn seine Entscheidungen ihn allein betreffen, er also beschließt, heute ein Glas Bier und morgen ein Glas Wein zu trinken. Sind hingegen andere Menschen mit betroffen, übernimmt der Freiheitsberechtigte mit der Wahrnehmung seines Freiheitsrechts rechtliche Verantwortlichkeit für andere. Die Eltern führen ihr Kind in unsere Kultur, der Arzt dient der Gesundheit des Patienten, der Bankier verwaltet treuhänderisch das Geld anderer, der Bauherr schafft Standsicherheit für die nächsten Generationen. Übt der Staat Kompetenzen und Befugnisse aus, hat er diese stets gegenüber den Betroffenen – in einer Demokratie gegenüber den Wählern – zu verantworten. Er wird also an den Wirkungen gemessen, die er bei den betroffenen Menschen erreicht.

Verantwortlichkeiten sind so wahrzunehmen, dass der Handlungsmaßstab sich verallgemeinern lässt. Begründet die Wahrnehmung eines Freiheitsrechts nur Herrschaft über sich selbst – entscheidet der Mensch nur, was er isst, wie er sich kleidet, welches Buch er lesen will –, ist der freie Mensch niemandem Rechenschaft schuldig. Hat er aber für andere mitzuentscheiden, erwartet das Recht, dass seine Entscheidung nicht nur für diesen Fall, sondern für alle gleichgelagerten Fälle vertretbar ist. In diesem Verallgemeinerungsauftrag liegt der Ursprung des allgemeinen Gesetzes, des Gleichheitssatzes, der Unbefangenheit und Unparteilichkeit des Richters.

Gerechtigkeit denkt hin zum Besseren, lehrt aber ebenso Zufriedenheit, auch Dank. Sie erlaubt kein selbstzufriedenes Behagen im Gegenwärtigen, treibt auch nicht zu grenzenlosem Optimieren. Sie fordert eine Kultur des Maßes. Wer im Erwerbsstreben tatkräftig und erfolgreich war, deswegen sparen und investieren konnte und sich mit einer Rendite von 5% zufriedengab, genießt heute Reichtum. Wer nach ständig optimierten Gewinnen heischt, hat sich auf Wette und Spiel eingelassen und Vermögen verloren. Recht strebt nach dem Angemessenen, nach Maß und Grenze. Wenn eine Strafe nicht der Tat, ein Unternehmergewinn nicht der Leistung, eine Ehrung nicht den Verdiensten entspricht, ruft das Recht nach einem Haltepunkt. Recht setzt Maßstäbe, scheut die Maßstablosigkeit, die Maßlosigkeit.

Unser Alltagsleben ist durchdrungen von Recht und Gerechtigkeit. Vor allem der Staat setzt Recht und setzt es durch. Doch die Gerechtigkeit liegt auch in unserer Hand, in der Verantwortlichkeit der freien Bürger. Es ist recht, wenn die Eltern ihr Kind ermahnen oder ermuntern, der Lehrer seinen Schülern Wissen und Anstand vermittelt, der Meister mit seinen Gesellen das gelungene Werk feiert, der Sportverein mit seinen Mitgliedern Fairness und Fitness trainiert, der ehrenamtliche Helfer sich den Armen und Schwachen zuwendet. Und vielleicht ist es ebenso recht, wenn wir in diesem Buch gemeinsam über Gerechtigkeit nachdenken.

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I.Gerechtigkeit – ein fragendes Wort

1.Der Ring des Gyges

Im alten Griechenland sprach der weise Sokrates mit seinen Schülern über Gerechtigkeit. In diesem Gespräch verwies Glaukon auf die Geschichte des Gyges, der durch Unrecht zu einem genuss- und erfolgreichen Leben gekommen war.

Gyges war ein Hirte des Königs Kandaules von Lydien. Er hatte einen Ring gefunden und steckte sich diesen an den Finger. Als er an dem Ring herumspielte, bemerkte er, dass dieser bei einer bestimmten Drehung die Kraft hatte, ihn unsichtbar zu machen. Daraufhin nutzte er die Möglichkeit, ungesehen an den Königshof zu gelangen. Er verführte die Königin, ermordete den König und übernahm seine Herrschaft.

Diese Geschichte veranlasste Glaukon zu der Frage, warum Sokrates dennoch behaupte, dass der Gerechte der Glücklichere sei. Die Lehren des Sokrates antworten, die Gerechtigkeit sei »für die Seele selbst das Beste«. Wer sich bemühe, gerecht zu sein, den würden die Götter nicht vernachlässigen. Selbst wenn der Gerechte mit Armut und Krankheit geschlagen sei, werde es ihm irgendwann – »im Leben oder auch nach dem Tode« – zu etwas Gutem ausschlagen.

Schließlich räumt Sokrates ein, dass die Gerechtigkeit auch weltlichen Lohn zu Lebzeiten sichere. Wer gerecht handle, sei wie ein Langstreckenläufer. Auf der Mitte der Strecke würden die Ungerechten für ihre Schnelligkeit bejubelt. Doch der Gerechte laufe bis zum Schluss ausdauernd und sicher ins Ziel, erringe schließlich den Preis und den Lorbeer, während die Ungerechten ausgelacht und schmählich behandelt werden.

Friedrich Hebbel erzählt die Geschichte des Gyges in seiner Tragödie Gyges und sein Ring anders: Gyges schenkt dem König von Lydien den Zauberring. In Stolz und Eitelkeit drängt der König Gyges, sich durch den Ring unsichtbar zu machen, ihn in das Schlafzimmer seiner Gemahlin Rhodope zu begleiten und dort ihre Schönheit zu bewundern. Dieser Frevel verstößt gegen die heiligen Sitten aus Rhodopes Heimat, wonach nur Vater und Ehegatte eine Frau unverschleiert zu Gesicht bekommen dürfen. Im Schlafzimmer angekommen, sieht Gyges sein Unrecht ein und nimmt den Ring ab, um den König Kandaules nach diesem althergebrachten Ehr- und Rechtsverständnis zu zwingen, ihn wegen des Frevels an seiner Frau zu töten. Doch Kandaules weigert sich. Rhodope erfährt davon und fordert Gyges auf, Kandaules im Zweikampf zu töten. Kandaules fällt in diesem Duell. Nach ihrer Hochzeit mit Gyges gibt Rhodope sich am Ende selbst den Tod, um dem althergebrachten mythischen Gesetz der Reinheit zu genügen.

2.Ist Gerechtigkeit nützlich?

Der Gyges der alten Griechen ist ein Mörder, der seine Tat verbergen konnte. Jeden Gerechten aber drängt es, diese Tat aufzudecken und zu bestrafen. Zudem verfügt Gyges über die Gabe der Unsichtbarkeit, die alle anderen Menschen nicht besitzen. Ist es gerecht, dass ein Mensch ein Talent mehr hat als alle anderen? Ist es gerecht, dass der eine gesund, der andere mit Behinderung zur Welt kommt, der eine reich, der andere arm, der eine als Staatsangehöriger, der andere als Fremder, einer als Mann, eine andere als Frau? Diese Verschiedenheiten stellen die Frage der Gleichheit.

Gyges setzt seine besondere Fähigkeit ein, um die Königin und die Herrschaft des Königs zu gewinnen. Er erreicht sein Ziel auf einem Weg, der allen anderen versperrt ist. Dies erscheint unfair. Damit stellt sich die Frage, ob die Entwicklung der Menschen, ihre Chancen, ihre Begegnungen, ihre Erwerbsmöglichkeiten, ihr Zugang zur Macht bestimmten Verfahrensregeln folgen müssen, die jedem einen ähnlichen Ausgangspunkt und vergleichbare Entfaltungsmöglichkeiten sichern. Gerechtigkeit fordert nicht nur Gleichheit, sondern auch ein einsichtiges Verfahren, anerkennt Verschiedenheit allenfalls dann, wenn sie in einem gerechten Verfahren erreicht worden ist.

Sokrates allerdings vermittelt ein Gerechtigkeitsverständnis, das selbstgenügsam erscheint, vor allem aber den einzelnen Menschen auf eine Tugend verpflichten will, die Gutes, Vernünftiges, auch Vergnügliches in sich trägt, die Streit vermeidet und dadurch den Frieden sichert. Gerecht ist das Gute, der Gerechte ist allein deswegen glücklicher als der Ungerechte.

Doch Glaukon wendet mit der Geschichte des Gyges ein, Ungerechtigkeit sei nützlicher als Gerechtigkeit, schaffe Vorteile für die eigene Person, erschließe den Weg zur Macht. Thomas Hobbes wird später sagen, dass die Autorität, nicht die Wahrheit Recht setze, Friede und persönliche Sicherheit durch Herrschaft, nicht durch Gerechtigkeit gesichert werden.

Doch ehe die These entfaltet wird, gerecht sei das, was die Macht stärke, ergänzt Sokrates, dass die Gerechtigkeit dem Gerechten nicht nur Glück bringe, das sich mit dem gerechten Handeln von selbst einstelle, sondern gerechtes Handeln dem Gerechten am Ende seines Lebens oder nach seinem Tode zugute komme. Der Vorteil eines – modern gesprochen – guten Gewissens, das durch Unrecht niemals erlangt werden kann, wird durch die Erwartung einer von den Göttern gewährten Gerechtigkeit erweitert.

Schließlich führt die Gerechtigkeit, die andere Menschen nicht übervorteilt, mit Sokrates auch zu einem Lohn der Mitbürger und Zeitgenossen. Der gerechte Langstreckenläufer empfängt am Ziel den Lorbeerpreis. Dieser Lohn würdigt die Tugend, anerkennt die Leistung, ehrt den Menschen in Charakter und Gewissen, meint den Lohn der Tauschgerechtigkeit nicht in Gütern, sondern allenfalls in Taten, die der Freund dem Freund schuldet. Doch Rache, Sühne oder Strafe für Unrecht sind Sokrates fremd, weil für ihn schlechterdings nichts zur Gerechtigkeit gehören kann, was Schaden anrichtet.

Der Gerechtigkeitsgedanke von Sokrates spricht uns auch heute an, weil er jeden einzelnen Menschen mit seinem Gewissen und seiner Verantwortlichkeit als Ursprung der Gerechtigkeit bestimmt. Nicht Gesellschaftssysteme, Märkte oder Staatsverfassungen garantieren Gerechtigkeit. Nur das gerechte Denken und Handeln jedes einzelnen Menschen führt zur Gerechtigkeit in der Stadt, in der Rechtsgemeinschaft, im Staat.

Dieses Ideal der individuellen Selbstverantwortlichkeit für das Recht lässt allerdings offen, wie die Gerechten das Unrecht der Dreisten, Mächtigen, Rücksichtslosen zurückweisen können. Uns genügt nicht die persönliche Tugend der Gerechtigkeit, die Übereinstimmung des einzelnen Menschen mit seinen eigenen Maßstäben, sondern wir fragen nach einer Ordnung, die alle Menschen bindet, dadurch Frieden schafft, jedermann eine ähnliche Chance auf individuelles Glück eröffnet und Gleichheit in den Grundbedingungen des Lebens und der individuellen Entwicklung sichert.

Diese das Recht anerkennende und das Unrecht zurückweisende Gerechtigkeit ist das Thema bei Friedrich Hebbel. Seine Tragödie fordert für die Tat des Gyges Sühne und Rache. Wenn Gyges sich bewusst enttarnt, sich im Schlafzimmer sichtbar macht, bietet er sich Kandaules an, um die Schande auszugleichen, die Rhodope durch seinen verletzenden Blick erlitten hat. Dieser Wille zur Gerechtigkeit scheint neue Gerechtigkeit hervorzubringen, weil Kandaules sich nicht an Gyges rächt, damit Leben zerstört, sondern im Duell mit Gyges, also als Täter aus Eitelkeit und Stolz seine Sühne empfängt. Doch auch Gyges wird nicht durch die Königin und die Krone belohnt; Rhodope nimmt sich das Leben. Der Wille zur Gerechtigkeit führt in Tragik. Der Mensch ist schuldig, gänzlich zur Gerechtigkeit nicht fähig, scheitert an der Idee des Gerechten. Gerechtigkeit scheint entrückt, ist nie gänzlich erreichbar, wird zu einem Ideal, das vollkommen nur vom Übermenschlichen verwirklicht werden kann.

Doch damit wird der Auftrag, unter Menschen gerechtes Recht zu setzen, nicht unerfüllbar. Das Recht muss die menschlichen Schwächen, Leidenschaften und Eitelkeiten aufnehmen und so zu einem Maß des möglichst Gerechten finden. Gyges ist hochaktuell.

3.Die Spekulanten des Finanzmarktes

Unsichtbarkeit verführt zu Unrecht, erleichtert die verwerfliche Tat, ermöglicht das Übervorteilen des anderen, begründet Herrschaft jenseits von Chancengleichheit und Verfahren. Wenn wir diese Geschichte des Gyges modern erzählen wollen, bieten sich die Spekulanten des Finanzmarktes an, die das für jeden sichtbare und verständliche Bankgeschäft in den Nebel von Finanztransaktionen führen, eigenes Handeln und eigene Verantwortlichkeiten in der Anonymität eines unverständlichen Marktes entschwinden lassen, Anleger und unbeteiligte Geldeigentümer schädigen, ohne dass diese den Angriff erkennen und abwehren könnten.

Herkömmlich nimmt eine Bank vom Sparer Geld gegen 3% Zinsen und leiht dieses Geld dem Investor für 6% Zinsen. Sie bemisst die Laufzeit des Sparvertrages und des Darlehensvertrages für dieselbe Zahl von Jahren und beobachtet dann sorgfältig, ob ihr Schuldner vernünftig wirtschaftet und seine Schulden rechtzeitig zurückzahlen kann. Mit diesem Geschäftsmodell erschließt die Bank für den Sparer, den Investor und für sich solide Gewinne.

Doch nun gehen Finanzinstitute dazu über, ihre Darlehensforderungen an eine eigens dafür gegründete Zweckgesellschaft zu verkaufen, dort zu einem Paket zu bündeln, dem Paket einen klangvollen Namen zu geben und die Anteilsscheine an diesem Paket an Privatleute oder andere Banken zu verkaufen, sie auch bei der Zentralbank als Pfand zu hinterlegen. So gewinnt die Bank neues Geld, um weitere Darlehen zu vergeben, diese wieder zu einem Paket zu schnüren und das so hergestellte Wertpapier erneut zum Beschaffen von Geld zu verkaufen. Zugleich löst sie sich vom Risiko eines schlechten Schuldners, weil sie ihre Darlehensforderung ja bereits verkauft hat, also auf Zahlungen des Schuldners nicht mehr angewiesen ist. Das Finanzinstitut verliert das Interesse an der Gediegenheit ihres Schuldners. Häuser werden deshalb bis über den Schornstein hinaus beliehen.

Jede Stufe dieser Finanztransaktionen bringt den Beteiligten – Managern, Versicherern, Ratingagenturen, Beratern und Prüfern – schöne Gewinne. Aus dem Bankier des persönlichen Vertrauens werden Finanzinstitute, deren Transaktionen sich immer mehr von der wirtschaftlichen Realität der Produktion, der Arbeit, des Investierens und des Handels entfernen. Die Welt des Geldes und der Kredite steht fast unverbunden neben der Realwirtschaft und wird bald in einem allgemeinen Finanzmarkt unsichtbar. Keiner versteht mehr das Finanzgeschehen, nennt dieses – um die Künstlichkeit bewusst zu machen – eine Blase, die schließlich – das überrascht nun nicht mehr – platzt. Dieser Knall erschüttert die beteiligten Finanzinstitute – und das sind alle Institute dieser Welt.

Andere Geschäftsmodelle spekulieren in Währungen. Der Großvermögende kauft englische Pfund auf Kredit. Dann verkauft er einen Teil der noch hochwertigen Pfund, bekundet dadurch an der Börse seine Sorge um fallende Kurse, vor denen man rechtzeitig fliehen möge, trägt so zum Fallen der Kurse bei und erfüllt später seine verbleibende Darlehensschuld in niederwertigem Pfund. Der Kursverfall bringt dem Spekulanten Gewinn, obwohl dieser aktiv am Verfall mitgewirkt und keinen greifbaren Mehrwert geschaffen hat. Andere Spekulanten wetten auf die Wertentwicklung von Wertpapieren, Rohstoffen oder »Finanzprodukten«, deren Wirkungsweisen sie allenfalls erahnen. Die Finanzkrise ist eine Krise des Wissens, Begreifens, Verstehens.

4.Güterschutz, Verantwortlichkeit, Verallgemeinerungsfähigkeit, Maß

Unser moderner Gyges nutzt die Unverständlichkeit der Finanzprodukte und die Undurchsichtigkeit des Finanzmarktes, um andere zu übervorteilen. Er erzielt Gewinne, ohne dafür auch nur ein einziges Auto gebaut, ein Haus errichtet oder einen Kranken geheilt zu haben. Er wählt Darlehensschuldner aus, ohne für deren Zahlungskraft einzustehen, verkauft dann ein Paket dieser unsoliden Forderungen und erzielt dafür einen Kaufpreis, ohne den Käufer über die Risiken dieser verbrieften Forderungen aufzuklären. Wandeln Finanzinstitute derartige Milliardenkredite in Wertpapiere um, gefährden sie den Wert des Geldes, weil diesen Geldgeschäften keine realen wirtschaftlichen Werte zugrunde liegen, der für die Wertpapiere erzielte Kaufpreis aber in Realwerte eingetauscht werden kann. Den Spekulanten treibt der unbegrenzte Wille, sein Vermögen zu mehren, zu Risiko, Torheit, Übermut. Er schafft nicht Werte, sondern entwertet, schädigt Kunden, Investoren, die Geldwirtschaft und letztlich die Grundlage unseres Währungsvertrauens. Er verweigert die Verantwortlichkeit für seine Kreditgeschäfte, handelt nach einem nicht verallgemeinerungsfähigen Maßstab, verliert gänzlich eine Kultur des Maßes. Er stellt die Gerechtigkeit in Frage.

Tolstoi erzählt in seinem Gleichnis Wie viel Erde braucht der Mensch? von einem Bauern, dem angeboten wurde, sich so viel Land anzueignen, wie er an einem Tag umschreiten könne. Der Bauer, von Habsucht getrieben, überschätzt seine Kräfte und stirbt, bevor er an seinen Ausgangspunkt zurückkehren konnte. Er brauchte – für sein Grab – nur sechs Ellen Erde, fand sich im Bemühen um größtmöglichen Gewinn in der Gleichheit aller Sterblichen.

5.Sichtbares und Unsichtbares

Gyges ist gegenwärtig

Auch der moderne Staat gewährt Gerechtigkeit nur für das, was er sieht, weiß, versteht. Ein Teil der Wirklichkeit bleibt aber auch für den Gesetzgeber außerhalb seines Blickfeldes. Wir fühlen uns verantwortlich, wenn eine Familie in der Nachbarschaft durch ein Unglück Hab und Gut verloren hat, helfen aber kaum bei der Annäherung der Lebensbedingungen, wenn täglich weltweit 24000 Menschen an Hunger sterben. Wir anerkennen selbstverständlich das Lebensrecht des geborenen – sichtbaren, begreifbaren – Babys, ringen aber um eine Kultur des Lebens, wenn das Kind noch ungeboren – für das bloße Auge nicht sichtbar – ist. Wir stützen unsere Entscheidungen auf langfristige Naturerfahrungen – die Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter –, können aber das Wetter von morgen nicht verlässlich vorhersagen. Die Unsichtbarkeit eines Gyges ist auch der Gegenwart nicht fremd.

Allerdings sucht der Mensch mehr Sicherheit, als ihm seine Möglichkeiten des Sehens und Erkennens erlauben. Wir vertrauen der Wettervorhersage für morgen, den Wirtschaftsprognosen der »Fünf Weisen« für das nächste Jahr, den Einschätzungen einer Ratingagentur über die Entwicklung eines Unternehmens, den Voraussagen über zukünftiges Wählerverhalten, obwohl wir erfahren haben, dass diese Voraussagen nicht immer eingetroffen sind. Und wenn der Strafrichter über die vorzeitige Entlassung eines Sexualtäters zu entscheiden und deshalb über die Gefahr seiner Rückfälligkeit zu befinden hat, bedient er sich eines Gutachters, der den Täter wenige Tage beobachtet und dann die Frage der Rückfälligkeit kaum mit einem klaren Ja oder Nein beantworten kann. Wir vertrauen, weil wir Sicherheit wünschen und für diesen Wunsch das Wissen von der menschlich verbleibenden Unsicherheit verdrängen.

Das Recht wahrt Distanz im Allgemeinen

Die Gerechtigkeit verwirklicht eine Ordnung, die teilweise bewusst die volle Wirklichkeit nicht aufnimmt, sich aber auch auf die begrenzte Fähigkeit des Menschen stützen muss, die Wirklichkeit vollständig zu ermitteln. Die Justitia wird vielfach mit verbundenen Augen dargestellt. Sie entscheidet »ohne Ansehung der Person«, sichert also die Gleichheit aller vor dem Gesetz. Diese Unbefangenheit wird heute nicht durch blinde Richter, sondern durch die Regel verwirklicht, dass der Richter, der befangen ist oder gegen den eine Besorgnis der Befangenheit besteht, nicht richten darf. Niemand ist Richter in eigener Sache, in der Sache seines Freundes oder seines Feindes.

Die Justitia mit den verbundenen Augen will aber auch bewusst machen, dass nur der Richter gerecht richtet, der eine gewisse Distanz zu den betroffenen Menschen wahrt. Der Richter ermittelt den für Gesetz und Recht erheblichen Sachverhalt, nicht Lebensgeschichte und Persönlichkeit der Beteiligten. Er prüft, ob jemand einen Verkehrsunfall fahrlässig verursacht und deshalb zum Schadensersatz verpflichtet ist, nicht ob jemand ein guter oder schlechter Mensch ist. Er stellt fest, ob jemand einen anderen schuldhaft getötet hat, nicht ob er gebildet oder ungebildet ist. Er prüft ein Bauvorhaben auf seine Vereinbarkeit mit dem Baurecht, nicht den dringenden Wunsch des Antragstellers nach einem schönen und behaglichen Wohnhaus.

Bernhard Schlink schildert in seinem Roman Der Vorleser den Strafprozess gegen die KZ-Lageraufseherin Hanna, die der Meinung ist, das Gericht tue ihr Unrecht, weil es sie verurteile, ohne sich in ihre Lage hineinzuversetzen: »Wenn keiner dich versteht, dann kann auch keiner Rechenschaft von dir fordern.« Das Recht fragt hingegen, ob ein vorsätzliches Verbrechen nicht schon deshalb Strafe verdient, weil es ein Verbrechen ist und als Unrecht von jedermann erkannt werden kann. Ein Strafrichter weiß, dass er den Angeklagten als Täter verstehen muss, hat aber ebenso erfahren, dass ein vollständiges Hineinfühlen in die Individualität und Biographie des einzelnen Menschen auch Distanz nehmen und vom verallgemeinernden Gesetz wegführen kann.

Im Laufe der Verhöre will Hanna verheimlichen, dass sie Analphabetin ist. Letztlich sieht sie sich zu dem Geständnis gezwungen, einen in den SS-Akten enthaltenen Bericht geschrieben zu haben. Dieser belastet sie so sehr, dass sie zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt wird. Das mangelnde Wissen des Gerichts führt zu einer – im Vergleich zu den anderen Angeklagten – höheren Strafe. Doch der Richter kann nur nach dem Wissen urteilen, das sich ihm in sorgfältiger Verhandlung offenbart.

Den Gesetzgeber trifft die Aufgabe, in begrenzter Voraussicht, unter einem »Schleier des Nichtwissens« und in bewusster Verallgemeinerung zu entscheiden. Er erlässt die langfristige, in die Zukunft vorausgreifende Regel, ohne schon heute alle zukünftigen Fälle zu kennen. Die Abgeordneten entscheiden »an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen«; sie sollen idealtypisch in einem Nichtwissen von ihrer Mitbetroffenheit und ihren Eigeninteressen den rechtlichen Vorgriff in die Zukunft bestimmen. Das Gesetz regelt allgemeine Tatbestände, die jedermann in einem rechtserheblichen Merkmal, in einer bestimmten Lebenssituation erfassen. Bei einem Kaufvertrag über ein Auto ist erheblich, ob der Käufer 18 Jahre und deswegen voll geschäftsfähig ist; ob er sich dieses Fahrzeug sehnlichst wünscht oder eigentlich für überflüssig hält, ist unerheblich. Rechtlich bedeutsam ist, ob das Fahrzeug den allgemeinen Sicherheitsstandards und den Qualitätsmerkmalen des jeweiligen Autotyps entspricht; belanglos ist, ob dem Käufer bessere und preisgünstigere Konkurrenzmodelle angeboten werden könnten.

Der Gesetzgeber ist beauftragt, trotz seiner Unfähigkeit, in die Zukunft vorauszublicken, Zukünftiges zu regeln, trotz Ungewissheit Rechtsgewissheit zu schaffen. Die Verfassung sucht diesen Auftrag zunächst dadurch zu erfüllen, dass sie zwischen »Gesetz und Recht« unterscheidet und damit bewusst macht, dass allein das Gesetz noch nicht die Gerechtigkeit verwirklicht, dass auch der Gesetzgeber stets auf dem Weg zu der nicht gänzlich erreichbaren Gerechtigkeit bleibt. Die Justitia ist eine unnahbare Frau mit dem Charme des teilweise Unsichtbaren, Unerreichbaren, die gerade deshalb alles rechtliche Sinnen und Streben bestimmt.

Sodann regelt das Gesetz durch abstrakte Tatbestände, die nicht jeden einzelnen Fall im Detail vorzeichnen, sondern nur Regeln bilden, die offen auch für tatsächliche Veränderungen sind. Das Strafgesetzbuch bestraft den Diebstahl »einer fremden beweglichen Sache«, meinte damals – 1877 – einen Kerzenständer, ein Buch und ein Pferdefuhrwerk, erfasst mit demselben Tatbestand heute die Elektrolampe, den Computer und das Auto.

Schließlich garantiert das Recht die Gleichheit aller vor dem Ge-setz heute nicht dadurch, dass es allen Abgeordneten eine Binde über die Augen legt oder sie bei Befangenheit und Parteilichkeit an der Abstimmung hindert, sondern durch die Verpflichtung auf den Gleichheitssatz, der jeden betroffenen Bürger berechtigt, gegen ein ihn benachteiligendes Gesetz beim Bundesverfassungsgericht Verfassungsbeschwerde zu erheben und dadurch die Ungültigkeit des Gesetzes herbeizuführen.

Das Recht handelt vom äußerlich Sichtbaren

Das Recht sichert die äußeren Lebensbedingungen des Menschen, bringt seine Freiheit zur Entfaltung. Thema dieses Rechts sind die äußerlich greifbaren und beweisbaren Geschehnisse. Das Recht beansprucht nicht Macht über das Denken, Meinen, Fühlen und Wollen der Menschen. Es achtet für jeden Menschen einen Raum der Privatheit, zu dem Staat und Umwelt keinen Zutritt haben, wo er in Ruhe gelassen werden will. Der Staat darf nicht heimlich Mithörvorrichtungen schaffen oder Tonbandaufzeichnungen machen. Das Recht darf nicht zulassen, dass die Medien in den Privatbereich von Prominenten eindringen und dadurch deren Persönlichkeitssphäre verletzen. Ein Grundrecht auf Datenschutz schützt den Einzelnen davor, dass die in der modernen Informationstechnologie jederzeit verfügbaren, beliebig übertragbaren und fast grenzenlos kombinierbaren Daten ohne seine Zustimmung erhoben, aufbewahrt und verwendet werden. Gerade in der Gegenwart technischer Ausforschungs- und Dokumentationsmacht hat der einzelne Mensch ein Recht, in seiner Privatsphäre nicht gesehen, nicht gehört, nicht dokumentiert zu werden. Er führt sein persönliches Leben in verlässlicher Distanz zum Staat.

Das Gesetz fragt deshalb auch nur nach inneren Vorgängen – Vorsatz oder Fahrlässigkeit –, wenn ein äußeres Handeln Rechtsgüter verletzt hat und nunmehr die Vorwerfbarkeit dieser Verletzung zu prüfen ist. Soweit es nicht um Vorwerfbarkeit und Schuld geht, sollte das Gesetz die Frage nach Zielen, Absichten und Ideen gänzlich vermeiden. Allerdings spricht das Einkommensteuergesetz beim steuerbegründenden Tatbestand von der »Gewinnerzielungsabsicht«. Doch ist jedem bewusst, dass auch der absichtslose Gewinn steuerpflichtig ist und der unbeabsichtigte betriebliche Aufwand den Gewinn mindert. Wenn der Anleger seine Bank beauftragt, eine Aktie zu verkaufen, der Verkauf aber versehentlich unterbleibt und die Aktie jetzt einen unverhofften Gewinn erbringt, muss dieser versteuert werden. Schädigt der Unternehmer unbeabsichtigt durch einen Betriebsunfall sein Betriebsvermögen, darf er diesen Aufwand einkommensmindernd geltend machen. Der Bundesfinanzhof ermittelt deshalb die »Gewinnerzielungsabsicht« nicht nach dem Willen des Steuerpflichtigen, sondern nach den äußeren Umständen des Erwerbs. Der Europäische Gerichtshof sucht allerdings bei der Gründung einer Gesellschaft im niedrigbesteuernden Ausland durch einen »Motivtest« zu ermitteln, ob diese Niederlassung den Erwerb beabsichtigt oder eine Steuerminderung bezweckt. Dieser Test wird die Steuerbarkeit der Gewinne nicht klären. Das Unternehmen strebt immer nach einem möglichst hohen Nettogewinn und hat deswegen stets den Marktgewinn, aber auch die Steuerminderung im Sinn.

Der Mensch kann nur begrenzt erkennen

Auf dieser Grundlage allgemeiner Gesetze entwickelt sich schließlich eine Arbeitsteilung, die vom Gesetzgeber die allgemeine, dauernde Regel erwartet, Verwaltung und Rechtsprechung hingegen mit dem Nach- und Weiterdenken dieser Regel für den gegenwärtigen Fall beauftragt. In dieser Aufgabenteilung gewinnt das Recht die Fähigkeit, mit seinen Aussagen jeweils die Anfragen der Gegenwart zu beantworten.

Doch auch der Verwaltungsbeamte und der Richter treffen, wenn sie Sicherheit über den Sachverhalt gewinnen wollen, auf die Unsicherheit menschlichen Beobachtens, insbesondere die Fragwürdigkeit der Zeugenaussage. Der kundige Richter unterscheidet, ob der Mensch über eigene Erfahrung berichtet – die Ampel stand schon auf Rot, als das Fahrzeug auf die Kreuzung fuhr; der Mieter hatte ausdrücklich gefragt, ob Hunde in der Wohnung erlaubt seien; das Haus war erkennbar schon baufällig, bevor es einstürzte – oder ob er eine Erinnerung wiedergibt: an den Vater, der schon stets in seinem ältesten Sohn seinen Nachfolger sah; an die Situation nach dem Krieg, in der alle Menschen hungrig, obdachlos und entrechtet, aber nachbarschaftlich, zupackend und erneuerungswillig waren. Er beobachtet die Zeugen und unterscheidet zwischen dem berichtenden Zeugen, der lediglich das sagt, was er gesehen hat; dem mitrichtenden Zeugen, der mehr gesehen haben will, als er sehen konnte; dem parteilichen Zeugen, der seine Antworten daraufhin abwägt, ob sie dem Kläger oder dem Beklagten zugute kommen; dem wankelmütigen Zeugen, dem der Ernst für das Verfahren fehlt und der bekundet, es könne so, aber auch anders gewesen sein; dem skrupulösen Zeugen, der im Bemühen um die Wahrheit alle Möglichkeiten der Tatsachensicht durchdenkt und sich damit selbst verwirrt; dem betrügerischen Zeugen, der den Richter zu einem bestimmten Urteil drängen will. Oft sind Zeugen und Sachverständige überfordert, etwa wenn sie aus einer früheren Begegnung mit einem Menschen ableiten sollen, wie dieser sich in Zukunft verhalten wird. Auch Rechtsprechung ist Menschenwerk. Das Bemühen um ein humanes Recht erreicht stets nur menschliches Recht.

Autorität

Wenn das Recht Gewissheit im Ungewissen schaffen soll, braucht es eine Autorität, deren Bestimmungsanspruch sich nicht allein aus Vernunft und besserem Wissen ableitet. Wer Gesetze in Geltung setzen darf, beansprucht nicht als Mensch mehr Vernünftigkeit als die gesetzesunterworfenen Menschen, sondern fordert Anerkennung und Vertrauen, die nicht nur in der Unbefangenheit, Vernünftigkeit und Weisheit des rechtsetzenden Menschen ihren Ursprung haben.

Jeder Mensch, der Recht setzt, greift über sich hinaus, beansprucht eine Überordnung, um Menschen auf allgemeine Regeln zu verpflichten. In der Geschichte des Rechts wird der Urheber des Gesetzes deshalb stets in Distanz zu den Menschen gebracht, einer Autorität oberhalb der rechtsbetroffenen Menschen zugewiesen. Im Alten Testament übergibt Gott den Menschen Gesetzestafeln, die diese zu beachten haben. Später erkennen die Menschen das Recht in der Natur, die objektiv vorgegeben ist, sich der menschlichen Vernunft erschließt, aber menschlicher Willkür und menschlichem Wollen und Argwohn entzieht. Danach unterstellt das Recht einen Staatsvertrag des Staatsvolkes, in dem die Menschen um der Friedensgemeinschaft willen ein Stück ihrer Freiheit aufgeben, das gerechte Recht in der Zustimmung aller finden.

Dabei ist allerdings nicht an eine statistische Erhebung oder verlässliche Meinungsumfrage des tatsächlichen Willens aller beteiligten Menschen gedacht, sondern eher an den Willen der Einsichtigen, Verständigen, Vernünftigen. Erneut sucht die Gerechtigkeit eine Wertordnung jenseits subjektiver Wertungen. Schließlich erhoffen wir uns eine allgemeine, jedermann gerecht werdende Rechtsordnung dadurch, dass wir Menschen über diese Ordnung entscheiden lassen, aber den Schleier des Nichtwissens über sie breiten, so dass sie vergessen, ob sie arm oder reich, gesund oder krank, Männer oder Frauen, Inländer oder Ausländer sind. Das Nichtwissen über die eigene Person und die individuelle Interessenlage ist eine Bedingung für das Entstehen guten Rechts. Wenn Recht entsteht, wächst der Mensch über sich hinaus.

Verbindlichkeit

Wenn das Gesetz die allgemeine Regel unausweichlich und verbindlich setzt, bindet es seine Adressaten. Gesetzgebung bringt Gesetzesbindung hervor. Deswegen ist der Rechtsetzer stets bemüht, die Wirkungskraft seiner Regeln zu sichern, die Verbindlichkeit seines Rechts möglichst verlässlich zu gewährleisten. Traditionell, aber auch gegenwärtig hilft die Religion, soweit ihre Lehren die Beachtung des Rechts fordern. Hinzu treten feierliche Versicherungen, Treueschwüre und Eide.

Die moderne Gesetzgebung setzt auf eine kühle Geschäftsmäßigkeit einer Rechtssprache, die in einer rechtsgeprägten Sprechweise den Inhalt eines Gesetzes jedem Adressaten möglichst gleich übermittelt. Doch dieses Ziel wird ein schriftlicher Text niemals erreichen, weil das Gesetz mit seiner Verkündung bereits veraltet ist. Wenn Artikel 102 des Grundgesetzes sagt »Die Todesstrafe ist abgeschafft«, scheint die Aussage bestimmt und unmissverständlich. Das Bundesverfassungsgericht hat aber an diesem Maßstab zu entscheiden, ob die Auslieferung eines Ausländers an seinen Heimatstaat zulässig ist, wenn der Täter dort wegen der vorgeworfenen Straftat mit dem Tode bedroht ist. Hier muss der Richter eine neue Anfrage an den Artikel 102 des Grundgesetzes beantworten, die so nicht vorgesehen war. Wenn Artikel 5 Absatz 1 Satz 3 des Grundgesetzes lapidar bestimmt: »Eine Zensur findet nicht statt«, muss die Rechtsprechung entscheiden, ob mit dieser Vorschrift nur eine Kontrolle der Publikationen vor der Veröffentlichung (Vorzensur) oder auch eine Kontrolle nach der Veröffentlichung (Nachzensur) untersagt ist, ob eine Vorprüfung der Strafbarkeit erlaubt bleibt, ob eine Erdrosselungssteuer wie eine Zensur wirkt, und jüngst, ob der Widerruf eines Anzeigenauftrags durch ein Ministerium gegenüber einer Zeitung, die kritisch über dieses Ministerium berichtet hatte, einer Zensur gleichkommt. Selbst Artikel 38 Absatz 2, wonach wahlberechtigt ist, wer das 18. Lebensjahr vollendet hat, könnte bei engagierter Interpretation trotz zahlenmäßig bestimmter Aussage offen lassen, ob derjenige, der am Wahltag vor 18 Jahren geboren ist, schon zu der Uhrzeit wählen darf, die vor seinem Geburtszeitpunkt liegt. Es gibt keine Norm, die nicht interpretationsbedürftig und interpretationsfähig wäre.

Beim Gespräch unterstützt der Sprecher seine Aussage durch die Tonlage, durch Gesten und Gebärden. Seine Stimme stimmt zu oder gegen, stimmt ein oder um, drückt Einsicht oder Befremden aus. Ein Stirnrunzeln deutet Kritik an, ein Lächeln Wohlwollen, ein Flüstern Vertraulichkeit. Die ausgebreiteten Arme laden den Gesprächspartner ein, die abwehrenden Hände schaffen Distanz. Über diese Ausdrucksmittel verfügt ein Gesetz nicht. Es ist nach der Verkündung für ein Gespräch über den Gesetzestext sprachlos geworden. Doch der Rechtsstaat verweigert deswegen nicht das Gespräch. Im Gegenteil: Er schafft in der Recht-Sprechung ein eigenes Organ, das dem Betroffenen das Gespräch über das Gesetz anbietet. Wittgenstein stellt die Frage, ob die Sprache Kleid oder Verkleidung des Gedankens sei. Heinrich Böll sagt für das Dichterwort: »Kaum ausgesprochen oder hingeschrieben, wandeln (die Worte) sich und laden dem, der sie aussprach oder schrieb, eine Verantwortung auf, deren volle Last er nur selten tragen kann.« Der Richter nimmt diese Frage auf, sucht die Sprache zum verlässlichen Kleid des Rechtsgedankens werden zu lassen und entlastet den Gesetzgeber, indem er den Gedanken der Norm für die Gegenwart und den betroffenen Einzelfall weiterdenkt. Rechtsprechen ist mehr als Nachsprechen von Vorgeschriebenem, ist ergänzendes und vervollständigendes Nachdenken des Rechtssatzes für den Einzelfall.

Die Justitia verkörpert die ausgleichende Gerechtigkeit

Der ursprüngliche Garant des Rechts, der Kaiser oder König, wurde weniger als Gesetzgeber und mehr als Richter gedacht. Er entscheidet den Streit, bringt Frieden, beendet Kampf und Gewaltbereitschaft durch einen gerechten Spruch. Er steht in seiner Person, seiner Autorität für die Gerechtigkeit, setzt das Maß, dem die Menschen sich in ihren Gegensätzlichkeiten und Auseinandersetzungen zu unterwerfen haben. Dieses Maß kann nicht durch Parteien und Interessenten verfremdet, nicht in seiner Allgemeinverbindlichkeit gehemmt werden.

Blicken wir wieder auf die Kunst, so sehen wir die Gerechtigkeit dort als Frau, als Justitia, dargestellt, die in der einen Hand die Waage hält, die gegenläufige Anliegen zum Ausgleich bringt. Sie entscheidet unparteilich und unbefangen, trägt deshalb die Augen verbunden. Sie ist unantastbar, unverletzlich, dem menschlichen Zugriff entrückt, trägt aber in der zweiten Hand ein Schwert, weil das Recht durchgesetzt, erkämpft, erzwungen werden muss.

Deswegen muss sich gerade die Gegenwart vergewissern, dass Gerechtigkeit nicht im bloßen Tausch, im kompromisshaften Ausgleich gegenläufiger Interessen liegt, sondern in allgemeinen Regeln, die jedermann sein Recht, seine Chance auf eigenes Glück, seine Verantwortlichkeit, seine Allgemeinbindung, sein Maß geben. An einem Recht der Gegenseitigkeit wären nur diejenigen beteiligt, die im Tausch etwas leisten können. Die Tauschpartner bieten eine Leistung an und zahlen einen Preis; sie verzichten auf die Verletzung des anderen, damit dieser seinerseits nicht verletzt. Doch warum sollte der reiche Konzernchef dem armen Obdachlosen ein Almosen geben, wenn er diesem nie mehr begegnen wird; der Kraftprotz den Schwächling stützen, wenn er diesem gänzlich überlegen ist; der Arzt dem todkranken Patienten in mitternächtlicher Anstrengung helfen, wenn dieser ohne diese Hilfe sterben, also niemanden mehr zur Verantwortung ziehen wird? Das Recht gewinnt Autorität und Geltung, weil seine Regeln sich von den augenblicklichen Interessen der Beteiligten abheben, weil sie allgemein sind, in die Zukunft des heute noch unbekannten Falles vorgreifen.

Gerechtigkeit wendet sich somit zunächst an jeden einzelnen Menschen, seine Tugend, seine Einsichtsfähigkeit, seine Selbstlosigkeit, erreicht in dieser sokratischen Jedermannstugend allgemeinen Frieden und eine öffentliche Ordnung. Doch Gerechtigkeit fordert auch Sühne und Strafe, also eine Autorität, die das Gute belohnt und das Böse bestraft. Diese Unterscheidung zwischen Gut und Böse kann das Recht nie abschließend definieren, schon gar nicht in jedem Einzelfall vollziehen. Deshalb bleibt das Recht nicht bei der unerreichbaren, bei Hebbel in die menschliche Tragik führenden Gerechtigkeit stehen, sondern sucht den Auftrag zu erfüllen, sich dem Gerechten möglichst anzunähern.

6.Quellen des Rechts

Wer auch immer Recht setzt und Recht spricht, Gesetze erlässt und über Gesetze nachdenkt, muss Maßstäbe suchen, auffinden und deuten, die dem Menschen, seinen Bedürfnissen und Eigenheiten, der das Recht bestimmenden Kultur und dem Willen der Rechtsgemeinschaft gerecht werden. Recht wurzelt in der Wirklichkeit des Menschen, in der historisch gewachsenen und bewährten Kultur und sodann – in diesem Rahmen – im Willen des Gesetzgebers.

Gesetzestext und Rechtsgedanke

Kein Mensch möchte der Willkür des Staates ausgeliefert sein, weder der Willkür des Gesetzgebers noch der des Richters. Auch in einer Demokratie entsteht verbindliches Gesetzesrecht nicht allein deshalb, weil der Gesetzgeber es so gewollt hat. Vielmehr muss dieses Recht dem Menschen und seiner Kultur entsprechen. Diese Erfordernisse einer Menschen- und Kulturgerechtigkeit sind heute schriftlich in der Verfassung niedergelegt, brauchen deshalb nicht mehr unmittelbar aus der Natur, der Vernunft, aus religiösen oder philosophischen Wahrheiten abgeleitet zu werden. Auch der Gesetzgeber ist an das Grundgesetz gebunden. Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet insbesondere auf Antrag eines betroffenen Bürgers, dass die Entscheidungen des Gesetzgebers im Rahmen des Verfassungsrechts bleiben.

Für diese Bindung von Gesetzgeber und Rechtsprechung an das Grundgesetz stellt sich nun die Grundsatzfrage, ob der in der Gesetzesurkunde niedergelegte Gesetzestext oder eher der in dem Text ausgesprochene Rechtsgedanke die verbindliche Regel vorzeichnet. Jedenfalls für die Grundsatzwertungen der Gerechtigkeit, die im Verfassungstext ausgedrückt sind, trägt der Text allein die Entscheidung nicht. Die Verfassungen regeln die Prinzipien der Rechtsgemeinschaft, deuten das Gemeinte vielfach nur an, bleiben teilweise fragmentarisch: »Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.« An diesem Maßstab entscheidet das Bundesverfassungsgericht, ob das Reiten im Walde durch Gesetz untersagt werden darf, ob ein Ausländer in Deutschland seinen Beruf frei wählen und frei zu einer Versammlung einladen darf.

»Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.« Dieser Verfassungssatz ist der Maßstab, wenn Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht zu beurteilen haben, ob die Universitätsgremien drittelparitätisch – mit einem Drittel Professoren, einem Drittel Studenten, einem Drittel wissenschaftliche und sonstige Mitarbeiter – besetzt werden dürfen, ob die Universität von einem Aufsichtsorgan mitbestimmt und kontrolliert werden darf, in dem Nichtuniversitätsmitglieder die Mehrheit haben; wie die Universität ihre Kapazitäten einzusetzen und fortzuentwickeln hat, um möglichst vielen Studienbewerbern einen Studienplatz anzubieten.

»Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.« Diese Vorgabe leitet den Gesetzgeber, wenn er zu prüfen hat, ob die geistige Urheberschaft an einem Computerprogramm, der Rentenanspruch des Rentners, das Grundstück einer Gemeinde oder das Einkommen bei der Einkommensteuer als Eigentum geschützt ist. Der bloße Verfassungstext ließe den Gesetzgeber und Verfassungsrichter fast allein, stünde nicht hinter jedem Verfassungswort ein Rechtsgedanke, hier der Schutz des Eigentums als wirtschaftliche Grundlage persönlicher Freiheit.

Menschen können sich in Sprache nur verständigen, weil sie mit jedem Wort eine bestimmte Vorstellung verbinden. Wenn wir von »Mensch«, »Beruf«, »Gesetz« oder »Gericht« sprechen, nimmt der Angesprochene im Wort einen Teil der uns vertrauten Wirklichkeit, Kultur oder Rechtserfahrung auf, die er mit dem Sprecher teilt. Diesen Sprachbefund drückt das schöne Wort der »Rechtsquelle« aus: An der Quelle wird das Wasser nicht gefertigt, sondern sichtbar gemacht. Es war bereits im Berg vorhanden, tritt nun aber aus dem Inneren des Berges hervor, so dass der Mensch es schöpfen und als Lebensmittel nutzen kann. Die Rechtsquelle ist der Erkenntnisgrund, nicht der Entstehensgrund für Recht. Die Rechtsgemeinschaft sucht die Quelle zu fassen, zu verfassen, um das im Innern des Berges vorhandene, bisher aber vom Menschen nur vermutete Wasser allseits sichtbar, greifbar, nutzbar zu machen. Bei der Fassung des Rechts wird sich der Verfassunggeber bemühen, all das in der Wirklichkeit und im Kulturwissen angelegte Recht vollständig zu erschließen, die darüber hinaus notwendigen Regelungen in die Verantwortung eines zur Gesetzgebung berufenen Staatsorgans zu weisen.

Wirklichkeit

Gerecht ist die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens, die allen Menschen entspricht. Ihre Maßstäbe ergeben sich zunächst aus der Natur des Menschen. Der Mensch will nicht hungern, nicht verletzt werden, nicht im Krieg leben, nicht seiner Freiheit beraubt oder entehrt, nicht aus der Gemeinschaft ausgegrenzt oder ausgeschlossen werden. Doch wenn wir näher nach den Antworten fragen, die uns die Natur für die Inhalte des Rechts gibt, werden wir erleben, dass wir uns als Menschen, die dieser Natur unterworfen sind, nicht aus dem Blickwinkel einer höchstpersönlichen und begrenzten Beobachtung der Natur lösen können. »Wie oft du auch an das Tor der Natur klopfen magst, sie wird dir niemals in verständlicher Sprache antworten, denn sie ist stumm.« Die Sklaverei, die rechtliche Unterscheidung der Menschen nach Herkunft und Hautfarbe, die Unterdrückung der Frau sind viele Jahrhunderte aus der Natur des Menschen abgeleitet worden. Erst die neueste Zeit anerkennt die Gleichheit jedes Menschen, weil er Mensch ist.

Selbst die elementaren Bedürfnisse des Menschen werden rechtlich nur zur Wirkung gebracht, wenn die für das Recht Verantwortlichen diese ersichtlichen Bedürfnisse auch zur Kenntnis nehmen. Der Mensch ist betroffen, wenn sein Nachbar ermordet wird oder tödlich verunglückt. Wenn Gleiches in einem fernen Krieg geschieht, berührt uns das wenig, weil wir uns nicht in die Lebenslage dieser Menschen versetzen, für sie kaum Mitleid empfinden. Bei der Bewältigung des von der DDR den Menschen zugefügten Unrechts ist der Kampf um die rechtswidrig enteigneten Grundstücke erbitterter als der Streit um den Ausgleich höchstpersönlicher Rechtsgüter – die Tötung eines Angehörigen, der Verlust der Gesundheit, das Verbot, Studium und Beruf frei zu wählen, die Unterdrückung der Religion –, weil die unwiederbringlich verlorenen persönlichen Güter allenfalls in Geld ausgeglichen, die Grundstücke hingegen täglich gesehen und betreten werden können. Und wenn wir gegenwärtig die rechtliche Rahmenordnung für die soziale Marktwirtschaft erneuern müssen, hängt die Entscheidung wiederum vom Blick auf die Wirklichkeit von Gütererwerb und Güterverteilung ab. Auf dem Markt bietet die Marktfrau ihre Äpfel an, und der Kunde erwirbt die roten und gelben Äpfel, die braunen und faulen bleiben liegen. In der Planwirtschaft hingegen teilt der Staat die vorhandenen Äpfel zu – auch die braunen und faulen. Mit dieser Beobachtung bleiben wir gelassen gegenüber einer aufgeregten Kritik, die eher den Markt in Frage stellt, als dass sie die Schwächen eines Finanzwettbewerbs ohne eine Kultur des Maßes ins Bewusstsein rückt.

Der Elementarbedarf des Menschen

Im Elementaren beauftragt die Wirklichkeit das Recht, jedem Menschen Nahrung, Kleidung, Unterkunft und ein friedliches Umfeld zu sichern. Ist jemand obdachlos, stellt sich nicht die Frage, ob, sondern wie ihm ein Zuhause geboten wird. Wenn eine Wohngegend durch jugendliche Gewalttäter unsicher geworden ist, erwarten wir vom Recht, dass es den Frieden, den sicheren Schulweg für die Kinder, den Nachhauseweg des späten Gastes ohne Gefahr und Angst gewährleistet. Wenn Menschen in einem Verkehrsstau viele Nachtstunden verharren müssen, zwingt ihr Grundbedarf die Rechtsgemeinschaft, ihnen durch heißen Tee und warme Decken Hilfen zu leisten. Gegenwärtig steht der Rechtsstaat vor allem vor der Aufgabe, jedem in Deutschland lebenden Menschen das kulturelle Existenzminimum, die deutsche Sprache, auch Elementarkenntnisse im Schreiben, Lesen, Rechnen zu vermitteln, damit der Mensch Zeitungen lesen, Verträge schließen, Rechnungen bezahlen, auch Beschwerden einreichen kann. Die Gemeinschaft der Sprache und einer Elementarbildung ist Bedingung eines freiheitlichen Gemeinwesens.

Sodann lehrt uns die Wirklichkeit des Menschen, dass wir den freiheitsberechtigten Bürger nicht stets als gesund, stark und urteilskräftig denken dürfen, er vielmehr oft auch krank, schwach und ängstlich ist. Wir dürfen vom Kleinkind nicht erwarten, dass es die Regeln des Straßenverkehrs beachtet, verantwortlich mit Gas, Feuer und Technik umgehen kann, eine Steuererklärung abgibt. Das Recht gibt dieses Kind in die Verantwortlichkeit der Eltern. Für das heranwachsende Kind schaffen wir Kindergärten und Schulen, um jedem Menschen eine Ausbildung und Bildung zu vermitteln, die er allein aus eigener Kraft so nicht erwerben könnte.

Die Realität sagt uns, dass der Mensch krank werden kann. Deshalb verlangt das Recht, dass wir ein Gesundheitssystem von Ärzten, Krankenhäusern und Pflegepersonal bereitstellen, um die Krankheit zu heilen, Schmerzen zu lindern, die Folgen des Alterns durch Brille, Hörgerät oder künstliche Hüfte zu mäßigen. Dabei gerät der Arzt in eine unvermeidbare Bedrängnis, wenn das Finanzierungssystem ihm möglichst viele Operationen nahelegt oder ihn in persönliche finanzielle Not bringt. Die Leistungen des Arztes und des Krankenhauses müssen der Natur des Menschen gerecht werden, ein Maß des Humanen finden, das Heilmethoden und Heilungsziele auf die Krankheit, die Psyche, die Hoffnungen und Ängstlichkeiten des einzelnen Menschen abstimmt. Dieser Auftrag stellt Anforderungen an die Qualifikation der Ärzte und an die medizinische Technik, an Organisation und Hygiene, an Ermutigung und Tröstung. Der Mensch in seiner Not fragt auch nach dem Sinn des Lebens, dem Sinn einer Krankheit, dem Sinn des Sterbens und erwartet Antwort. Als ich jüngst den Direktor eines Krankenhauses fragte, was die Besonderheit seines Hauses sei, verwies er auf die dort geleistete Spitzenmedizin, gleichrangig aber auf das Lächeln, dem jeder Patient in seinem Hause begegne. Dieses Krankenhaus war nicht ein Haus der Kranken, sondern ein Haus der Genesung.

Praktische Lebenserfahrung lehrt uns, zwischen Kranken und Behinderten zu unterscheiden. Die Behandlung des Kranken zielt auf Heilung, wird getragen von der Hoffnung, im gemeinsamen Kampf gegen die Krankheit zu siegen. Auch der behinderte Mensch hat einen Anspruch auf medizinische Behandlung und stützende Betreuung, erwartet aber vor allem Hilfe in dem Bemühen, sein Leben so unbeschwert wie möglich zu führen, am Alltags- und Berufsleben beteiligt zu sein. Dieser Integrationsauftrag gilt insbesondere, wenn Heilung nicht möglich ist. Hier erwartet das Recht den Mut zum unbegrenzten Helfen, eine unerschöpfliche Gelassenheit gegenüber der besonderen Lage des Behinderten.

Institutionen

Die Auseinandersetzung mit den menschlichen Lebensbedürfnissen zeigt uns auch, dass der freie Mensch öffentliche Einrichtungen braucht, um seine Freiheit wahrnehmen zu können. Wer die Freiheit des Autofahrens beansprucht, benötigt eine Straße. Wer sich bilden will, braucht Schulen und Hochschulen. Wer sein Recht durchsetzen muss, ist auf Gerichte angewiesen. Wer religiös leben will, wird nicht für sich Religion und Kirchlichkeit selbst erfinden, sondern hofft auf Kirchen, die ihn zur Mitgliedschaft einladen. Markt und Wettbewerb stützen sich auf einen rechtlichen Rahmen, der das Tauschen ermöglicht und Bedarf befriedigt: Wer einen Hunderteuroschein in der Tasche hat, kann sich Früchte, Fische oder Fertiggerichte seines Geschmacks nur kaufen, wenn ein Markt diese Güter anbietet, die öffentliche Friedensordnung die erworbenen Güter dem Käufer zuweist, weil er sie bezahlt hat, und eine Währungsordnung gewährleistet, dass der auf dem Geldschein ausgewiesene Wert auch tatsächlich den dort versprochenen Tausch ermöglicht. Wer seinen Beruf ausüben will, braucht einen Arbeitsplatz oder die Chance, selbst ein Erwerbsunternehmen zu gründen. Wer anderen Menschen bei Sport, Geselligkeit, Oper, Konzert oder Film begegnen will, sucht Einrichtungen, die diese Gemeinschaftserlebnisse vermitteln. Hier setzt das Recht einen verbindlichen Rahmen, der Freiheit ermöglicht und gelegentlich auch den Ruf nach staatlichen Organisations- und Finanzhilfen beantwortet.

Vorrechtliche Bindungen

Unsere tatsächliche Erfahrung mit der Freiheit macht bewusst, dass Freiheit nur wahrnehmen kann, wer selbstbewusst ist, Bürgerstolz entwickelt, über Maßstäbe verfügt, die ihm eigene Urteile und Bewertungen erlauben. Wir müssen uns heute mit großem Ernst die Frage stellen, ob die Menschen durch ihre Freiheitsrechte überfordert werden, wenn die bindenden Maßstäbe des inneren Friedens, der mitmenschlichen Zuwendung, der Fairness und Lauterkeit im Wettbewerb, der Bereitschaft zu Sozialem und Ehrenamt als alltägliche Selbstverständlichkeiten verlorenzugehen drohen. Die Gerichtspraxis zeigt uns, dass der Kampf um die Parklücke zu Handgreiflichkeiten führt, das Bemühen um neue Märkte in die Korruption drängt, das Training für prestige- und geldträchtige Fußballsiege auf das bewusste, »taktische« Foul angelegt ist und Eltern im Alter trotz großer Familien zuweilen vereinsamen.

Freiheit kämpft gegen Mauern, die trennen, beengen und bedrängen. Gefängnismauern oder früher die Berliner Mauer verbreiten Trostlosigkeit. Doch wenn der Angreifer einem Menschen nach dem Leben trachtet, der Mensch sich in seine Privatsphäre zurückziehen will oder die Flutkatastrophe ihn wegzuspülen droht, ist er dankbar für Fundament und Mauer, die ihn schützen und gegen äußere Einwirkungen abschirmen. Freiheitsrechte sind definierte – begrenzte – Rechte. Der Mensch legt Wert darauf, dass dieses sein Grundstück ist, das andere das Nachbargrundstück; dass er seinen von ihm erwählten und durch Qualifikation erworbenen Beruf ausübt, der andere Zugang zu einem anderen Beruf hat; dass er der Urheber seines Briefes, seines Buches, seiner Erfindung bleibt, seine Urheberschaft nicht mit der anderer vermischt wird; dass er als Bürger seiner Stadt, seines Landes, seines Staates wählen darf und nicht andere, dieser Rechtsgemeinschaft nicht zugehörende Menschen gleichen Einfluss nehmen können.

Wie hoch die rechtlichen Vorkehrungen und tatsächlichen Mauern sein müssen, hängt von der jeweiligen Freiheitskultur ab. Wenn alle Menschen die Kraft zur Freiheit hätten, Herr über sich selbst wären und ihre Freiheit verantwortlich wahrnähmen, brauchten wir keine polizeiliche Gewalt, keinen Strafrichter, keine Gefängnismauern. Je weniger aber das Verhalten der Menschen allgemeinen Freiheitserwartungen entspricht, desto mehr müssen Staat und Recht Grenzen setzen, Sicherheit gewähren, Mauern errichten.

Freiheit baut auf vorrechtliche, ethische Bindungen. Die Eltern vermitteln diese Maßstäbe in Vorbild und Familienkultur, Schulen durch Ausbildung und Erziehung, das Arbeitsleben schafft es in der Gemeinsamkeit des Werkens und des Werkes, die Kirchen lehren sie in ihrer Botschaft. Wachstum und Zukunft lesen wir insoweit nicht in Bilanzen, sondern erleben wir in der Begegnung freier Menschen. Das Zusammenleben, das wir gerecht nennen, findet nicht nur in staatlichen Gesetzen seinen Maßstab, sondern in den von den Bürgern entwickelten und verstandenen Prinzipien von Ethos und Moral. Die Verantwortlichkeit für die Gerechtigkeit ist auf den verfassungsgebundenen Staat und die freiheitsberechtigte Gesellschaft aufgeteilt.

Wandel der Wirklichkeit

Die Wirklichkeit wird auch in ihrer Entwicklung vom Recht aufgenommen. Wenn das Grundgesetz die Freiheit des »Rundfunks« garantiert und damit 1949 – das Fernsehen war zwar schon erfunden, rechtlich aber noch ohne Bedeutung – den Hörfunk meinte, die tatsächliche Entwicklung diesen Funk dann aber auch zum Fernsehfunk fortgebildet hat, so muss nunmehr der »Rundfunk« als Oberbegriff für Hör- und Fernsehfunk gedeutet werden. Die Garantie der »Pressefreiheit« war ursprünglich auf den technischen Vorgang des Pressens eines Schriftstücks angelegt, muss aber mit der Änderung der Drucktechniken mitschreitend erweitert als allgemeine Medienfreiheit gedeutet werden.

Als die Fünf-Prozent-Klausel für die erste gesamtdeutsche Wahl 1990 auf das wiedervereinte Bundesgebiet erstreckt wurde, bedeutete dies für die Parteien der ehemaligen DDR, dass sie die fünf Prozent der in Gesamtdeutschland abgegebenen Stimmen in ihrem alten Stammgebiet der ehemaligen DDR gewinnen mussten, da sie in der Kürze der Zeit in der alten Bundesrepublik weder Kandidaten aufstellen noch für sie werben konnten. So wirkte die Fünf-Prozent-Klausel praktisch wie eine 23,7-Prozent-Klausel. Die Fünf-Prozent-Klausel musste deswegen ausnahmsweise für die erste gesamtdeutsche Wahl nach dem Prinzip »vereint wählen, getrennt zählen« separat jeweils auf die ehemaligen Wahlgebiete Westdeutschland und DDR angewandt werden.

Das Recht nimmt insbesondere in den Fragen des elementaren Bedarfs, der Verantwortung und Schutzbedürftigkeit des Menschen in seiner Entwicklung vom Säugling bis zum Greis, bei Regelung von Berufsausbildung, Berufsqualifikation und Berufsaufstieg, Technik und Sicherheit, Umweltschutz, Medizinrecht und Sozialrecht, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge die tatsächlichen Anfragen an das Recht auf und gewinnt meist in dem Verstehen der Frage schon die Antwort. Wenn am Neckar Hochwasser droht und die Heidelberger Altstadt gefährdet ist, sucht niemand im Gesetzbuch Maßstäbe, sondern fragt nach den tatsächlichen Möglichkeiten, um der Wasserflut Herr zu werden. Das Recht veranlasst vorbeugend die Schulung des Personals für die Gefahrenabwehr, erschließt Auffanggebiete, in denen das Wasser vorläufig aufgesogen werden kann, schafft technische Vorkehrungen zum Schutz der Uferstraße und der angrenzenden Häuser und leitet die vorsorgliche Evakuierung der unmittelbar betroffenen Menschen. Es nimmt dabei die Erfahrungen aus früheren Überschwemmungen auf, entwickelt daraus die Maßstäbe zukünftiger Gefahrenabwehr, ist besonders wirkungsvoll, wenn sich im Nachhinein bestätigt, dass die vorgesehenen Maßnahmen tatsächlich geeignet, zur Abwehr erforderlich, für die betroffenen Menschen zumutbar gewesen sind. Recht ist erfolgreich, wenn es der Realität genügt.

Recht hat einen wesentlichen Ursprung in der guten Gewohnheit. In Zeiten, als es noch kaum geschriebenes Recht gab oder jedenfalls nur wenige Menschen Geschriebenes lesen konnten, wurde das Recht in tatsächlicher Übung vermittelt und gebildet. Recht fordert, was sich gehört. Die Menschen sollten friedlich und ohne Gewalt miteinander leben, Seuchen, Krankheiten und Feuer voneinander fernhalten, zur Sicherheit ihrer Burgen, Städte und Dörfer beitragen, im Erwerbsleben etwas leisten, die Kinder gut erziehen und zu tüchtigen Menschen heranwachsen lassen. Diese Maßstäbe von Lebenserfahrung, Gemeinschaftsverantwortung und menschlicher Vernunft wurden durch die Personalhoheit von Kaiser und König, die moralische Autorität und Herrschaft der Kirche bestätigt, vertieft und in das Bewusstsein einer Rechtskultur gerückt. Das Wissen von dieser Kultur, ihrer Entwicklung und ihres Hineinwachsens in unsere Rechtsgegenwart erschließt den zweiten Weg, der uns zum Recht führt.

Kulturwissen

Diese zweite Quelle für Recht bietet die historisch gewachsene und erprobte Kultur von Frieden, individuellen Rechten und Ausgleich. Wenn die Menschen in einen Kampf aller gegen alle geraten sind, suchen sie eine Ordnung des Friedens. Wenn der Einzelne nicht gleichzeitig jagen, Früchte sammeln, eine Hütte bauen und eine Feuerstelle hüten kann, finden die Menschen zu Arbeitsteilung und Tauschwirtschaft. Wenn einige im Überfluss leben, andere zu verhungern drohen, wächst der Wille nach einem sozialen Ausgleich.