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Ein Abschied unter der Laterne. Ein Leben, das von Sehnsucht geprägt ist. Ein Lied, das die Zeit überdauert.
Hamburg, 1914: Lili glaubt, mit Cord die ganz große Liebe gefunden zu haben. Als sich dieser entschließt, in den Krieg zu ziehen, ist sie am Boden zerstört. Plötzlich hält sie nicht mehr viel in ihrer Heimatstadt: Allen Widerständen zum Trotz verwirklicht Lili ihren lang gehegten Traum, Sängerin zu werden. Viele Stationen prägen ihr neues Leben, doch die Erinnerung an Cord lässt sie nicht los. Dann hört sie ein Lied, in dem eine Liebe besungen wird, die ihr nur allzu bekannt vorkommt – und in Lili wächst die Hoffnung, mithilfe dieses Liedes Cord endlich wiederzufinden ...
»Bei der Laterne woll'n wir stehen, wie einst Lili Marleen« sang Lale Andersen 1939 und wurde damit weltberühmt. Gunna Wendts fiktiver Roman über das besungene Mädchen ist wie das Lied selbst: Voller Liebe, Sehnsucht und Hoffnung.
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Seitenzahl: 288
Veröffentlichungsjahr: 2024
Gunna Wendt studierte Soziologie und Psychologie in Hannover und lebt als freie Autorin in München. Neben ihren Arbeiten für Theater und Rundfunk veröffentlichte sie Kurzgeschichten, Gedichte, Essays und literarische Biografien, unter anderem über Erika Mann und Therese Giehse. Die große Popularität und Strahlkraft des Liedes »Lili Marleen« hat Gunna Wendt schon immer fasziniert, weshalb sie eines Tages entschied, der fiktiven Figur eine Lebensgeschichte zu schenken.
www.penguin-verlag.de
GUNNA WENDT
Roman
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Copyright © 2024 Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Susann Harring
Umschlaggestaltung und -abbildung: www.buerosued.de
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-26932-6V001
www.penguin-verlag.de
Prolog
Sans soucis
Wie eine Königin
Mitten im Leben
Du bist eben eine Frau
Die Muni brennt
Aufwieglerisch gesinnte Frauenspersonen
Wir bleiben wach
Traumwünsche – Wunschträume
Verführungsspiele
Der Herr mit dem violetten Schal
Nichts ist, was es scheint
Sich selbst erfinden
Politik am Rosenmontag
Wahre Liebe
Wenn wir bei der Laterne stehen
Briefe aus neuen Welten
Dank
Berlin, Januar 1981
Liliane wartete, bis der Taxichauffeur um das Auto herumgelaufen war und ihr die Tür öffnete. Als er seinen Schirm aufspannen wollte, wehrte sie ab. »Ich will die Schneeflocken spüren«, erklärte sie fröhlich, verabschiedete sich und ging langsam auf den Eingang des Delphi-Palasts zu. Das Filmtheater war ganz in Weiß gehüllt. Hinter den Schneeflocken leuchteten in Gold die Großbuchstaben: DELPHI. Plötzlich begann das L zu flackern – wie zur Begrüßung. Liliane nickte dem aufblitzenden Buchstaben belustigt zu. Es hatten sich schon viele Besucher versammelt, die auf den Einlass warteten. Man spürte eine knisternde, beinahe ungeduldige Spannung. Ein großes Filmereignis stand bevor: die Premiere von Fassbinders »Lili Marleen«.
Liliane wartete noch auf etwas anderes.
Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien. Am Himmel schienen Blitze zu zucken. Bei näherem Hinschauen war es jedoch das große L, das grell aufflammte und wieder verlosch. Liliane blickte suchend umher. Dann holte sie aus ihrer Handtasche einen kleinen Spiegel hervor und betrachtete sich prüfend darin. Als sie an den gestrigen Friseurbesuch dachte, kicherte sie in sich hinein. Vor einer Woche hatte sie sich telefonisch bei dem berühmtesten Berliner Friseur angemeldet, wohl wissend, dass sie mit einer längeren Wartezeit rechnen musste. »Le Coup« nannte er seinen Prachtladen am Kurfürstendamm. Auf die Frage, was denn gemacht werden sollte, hatte sie geantwortet: eine Marilyn-Monroe-Frisur. Ihr Haar sei dafür bestens geeignet, hatte sie ausgeführt, zwar mittlerweile weißgrau statt platinblond, aber dafür lockig und fast schulterlang. Liliane hatte gespürt, dass der vermutlich noch sehr junge Mann am Telefon gern gewusst hätte, wie alt sie sei, sich aber nicht traute, direkt danach zu fragen. Deshalb begann sie den nächsten Satz mit den Worten »Letztes Jahr bei meinem 84. Geburtstag …« Eine Zeit lang Schweigen am anderen Ende, dann wurde ihr der gewünschte Termin bestätigt. Kein weiterer Kommentar. Der erfolgte erst, als sie bei »Le Coup« eintraf und ihren Namen nannte. Ungläubiges Erstaunen. Beim Verlassen des Salons klatschten die Angestellten und die Kunden Beifall: Unglaublich, Liliane bezauberte alle mit ihrer Mädchenhaftigkeit, und die Marilyn-Frisur schien exklusiv für sie kreiert, wie der Friseur zum Abschied sagte.
Inzwischen hatten sich die Türen des Delphi-Palasts geöffnet, und die Besucher begannen, ins Kino zu strömen. Das L zuckte immer nervöser, bis es für eine Weile ganz ausging, um wenig später genau wie die anderen Buchstaben in sattem Gold zu erstrahlen. In diesem Moment entdeckte sie ihn. Er war gerade aus einem Taxi gestiegen und wartete auf seine Begleiterin, eine junge Frau, die kurz darauf den Wagen verließ. Es dauerte nicht lange, bis Lilianes Blick auf seinen traf und sich nicht mehr von ihm löste. Sofort machte er sich auf den Weg, stieg Stufe für Stufe die Treppe hinauf, langsam, aufrecht, Schritt für Schritt sichtlich genießend. Mit den Worten »Nun hast du also doch auf mich gewartet« begrüßte er Liliane und reichte ihr seinen Arm. Als sie an dem großen Filmplakat mit der Aufschrift »Lili Marleen« vorbeigingen, fragte er: »Glaubst du, wir werden gleich unsere Geschichte auf der Leinwand sehen, Liliane?« Ihre Antwort ließ nicht lange auf sich warten: »Nein, Cord, die müssen wir schon selbst erzählen.«
Paris, April 1914
»À Paris avec toi! Je veux danser avec toi à Paris, mon cher!« Liliane tanzte um Cord herum. »Wir fahren nach Paris! Wir fahren nach Paris!« Sie war außer sich vor Freude. So sehr, dass sie nicht einmal enttäuscht war, als Cord verhalten reagierte. Ihre eigene Begeisterung war einfach zu groß. Doch als er vorschlug, die Reise zu verschieben, widersprach sie heftig: »Ich versteh dich nicht. Du hast doch nichts zu tun. Im Moment bist du nur mit Warten beschäftigt. Wenn du erst eine Stelle hast, können wir nicht mehr so einfach wegfahren. Außerdem hat uns Frieda eingeladen. Und was noch viel wichtiger ist: Es ist Frühling, Cord. Je veux fêter le printemps à Paris. Avec toi!« Cord hatte vor Kurzem das Lehrerseminar mit einer sehr guten Prüfung abgeschlossen und wartete nun auf eine Anstellung als Lehrer – nicht gerade ungeduldig, denn es war nicht sein Traumberuf. Den kannte er zu diesem Zeitpunkt nicht, doch es war immerhin eine Möglichkeit, auf sinnvolle Weise sein Geld zu verdienen.
»Was sagt denn deine Mutter dazu?«, lenkte er ab.
Liliane lachte. »Sie ist einverstanden. Es war ein großes Stück Überredungsarbeit, aber ich habe es geschafft.«
Nun gab Cord sein Zögern auf: »Das war zu erwarten. Du schaffst es immer.«
»Auch bei dir?«, fragte Liliane nach, und Cord umarmte sie.
»Auch bei mir. Wie könnte ich dir widerstehen?«
Liliane atmete auf. Wenn sie daran dachte, welche Anstrengung es bedeutet hatte, die Mutter zu überreden, wurde es ihr eng in der Brust. Warnungen über Warnungen. Einwände über Einwände. Wenn Frieda nicht gewesen wäre … Zum Glück war Frieda schon eine Weile in Paris. Lilianes beste Freundin verbrachte dort ein Jahr als Au-pair-Mädchen, und die Mutter hatte sie gern. Frieda stammte aus einer wohlhabenden, weltoffenen Familie. Ihr Vater war früh gestorben und hatte seiner Frau ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Diese war allem Neuen gegenüber aufgeschlossen und schlug ihrer Tochter selten einen Wunsch ab. Einer dieser Wünsche war es, Französisch zu lernen. Kaum in Paris angekommen, hatte sie schon geschrieben, Liliane möge sie doch besuchen, sie habe ihr so viel zu zeigen. Die Vormittage habe sie nämlich zu ihrer freien Verfügung, nur die Nachmittage und Abende seien für die Gastgeberfamilie reserviert. Sie hatte sich auf Anhieb gut mit der Arztfamilie verstanden, bei der sie angestellt war, um die Kinder zu betreuen und ein wenig im Haushalt zu helfen. Aufräumen und Einkaufen waren allerdings untergeordnete Tätigkeiten. Den Eltern war es am wichtigsten, dass sie sich den Kindern widmete, damit diese auch während der Abwesenheit der Eltern eine Aufsicht hatten, die sich verständnisvoll und warmherzig um sie kümmerte. Frieda kam sehr gut mit ihnen aus. Trotzdem fühlte sie sich manchmal einsam, wie Liliane ihren Briefen entnahm, die fast immer mit der Aufforderung endeten: »Komm nach Paris. Komm bald.«
Doch so einfach war das nicht. Frieda vergaß manchmal, dass Lilianes Familie finanziell längst nicht so gut gestellt war wie ihre eigene. Die Mutter konnte ihr die Reise nicht bezahlen, das kleine Lebensmittelgeschäft an der Langen Reihe, in dem sie Hamburger Spezialitäten anbot, ermöglichte ihnen zwar ein sicheres Auskommen, doch an Extras war nicht zu denken. Höchstens wenn Lilianes Vater, der zur See fuhr, nach Hause kam und großzügig seine Heuer verteilte, aber wann das sein würde, wusste niemand. Liliane musste sich das Reisegeld selbst verdienen und zusammensparen. Vormittags half sie ihrer Mutter im Laden, an den Nachmittagen betreute sie Kinder aus der Nachbarschaft, spielte mit ihnen, beaufsichtigte ihre Schulaufgaben.
Doch sie träumte von einer Theaterkarriere. Schauspielerin wollte sie werden. Bis es so weit war, trat sie in einer Laienspielgruppe auf. Dabei lernte sie viel, aber die Gage war gering. Trotzdem hatte sie es geschafft, eine stattliche Summe zurückzulegen, sodass der Parisreise nun nichts mehr im Weg stand.
Frieda hatte gejubelt und gesagt, sie könne Lilianes Besuch kaum erwarten, doch plötzlich, von einem Tag auf den anderen, waren die Einladungen, die sie in ihren Briefen aussprach, nicht mehr so drängend. Liliane fiel es erst beim dritten Brief auf, und auch nur deshalb, weil die Briefe von Mal zu Mal kürzer und die Abstände zwischen ihnen größer wurden. Der Grund war offensichtlich: Frieda war verliebt. Jacques war Musiker und arbeitete tagsüber als Kurier bei einem vornehmen Parfumeur namens Guerlain. Er verrichtete Botengänge, belieferte die reichen Kunden und wurde oft mit ungewöhnlich hohen Trinkgeldern bedacht. Manchmal brachte er Frieda kleine Duftkissen und winzige Fläschchen mit, gefüllt mit den kostbaren Elixieren. Eins davon schickte sie, aufwendig und vorsichtig verpackt, zum Geburtstag an Liliane. Das Eau de Parfum hieß »L’Heure Bleue«. Liliane war sofort betört von dem intensiven Blumenduft, der so ganz anders war als die Duftwasser, die sie bisher gekannt hatte. Fortan verkörperte dieser Duft für sie Paris, und diese Stadt wollte sie unbedingt sehen, riechen, schmecken, spüren. Und zwar mit Cord an ihrer Seite.
Vor der Reise war Liliane sehr aufgeregt. Es mussten Vorbereitungen getroffen werden, schließlich wollte sie in der Weltstadt mit den schönen, eleganten Frauen mithalten können. Hatte sie überhaupt eine passende Garderobe dafür? Mithilfe ihrer Tante Marlene, die sie noch vor ihrer Mutter in ihre Reisepläne einweihte, fertigte sie sich zwei Kleider an, ein hellgrünes und ein goldbraunes mit Pelzbesatz. Sie war stolz auf das Ergebnis, denn sie hatte die Schnitte in einem Damenmagazin entdeckt und unter der Anleitung ihrer Tante, die sehr geschickt im Schneidern und Nähen war, umgesetzt. So gekleidet konnte Liliane ohne Weiteres in die Metropole reisen. Die Tante lieh ihr dazu ihren besten Hut, der an einen Turban erinnerte. In Hamburg drehten sich die Leute auf der Straße danach um, das würde in Paris sicher nicht passieren.
Als sie die Bahnbilletts in der Hand hielt, stieg in Liliane ein Gefühl der Freiheit auf, wie sie es bisher nicht gekannt hatte. Die Fahrt dauerte fast zwanzig Stunden, und die Sitze waren hart und unbequem, doch das vergaß sie bald. Sie genoss es, mit Cord im Coupé zu sitzen und zu reden, sich an ihn zu schmiegen und die Vorfreude mit ihm zu teilen. In Köln stiegen sie um. Sie hatten zwei Stunden Aufenthalt und besichtigten den Dom, der gleich in der Nähe des Bahnhofs thronte. Cord war vor allem von der aufstrebenden Wucht des Bauwerks beeindruckt. Als sie langsam das Kirchenschiff durchquerten, horchte Liliane dem Klang ihrer Schritte nach. Es lag ein seltsam schwingender Hall in der Luft.
Die Reise führte sie weiter durch Belgien, die Schienen schlängelten sich zwischen sanften Hügeln und weißen Sandsteinfelsen durch das Land. Der Zug glitt an kleinen roten und weißen Häusern vorbei. Liliane fand, dass er viel zu schnell fuhr, weil sie die Gesichter der wenigen Menschen, die sie sah, nicht erkennen konnte. Cord erklärte ihr, dass es bald noch viel schnellere Züge geben würde. Das hielt Liliane nicht für notwendig.
»Es dauert jetzt schon weniger als einen Tag, und schon sind wir in Paris!«
In Paris angekommen, bezogen sie die Wohnung eines Freundes von Jacques, der gerade auf Reisen war. Sie lag im obersten Stockwerk eines mächtigen Hauses in der Rue Cassette. Man musste fünf schmale Treppen erklimmen, um sie zu erreichen. Jacques hatte sie in Empfang genommen und der rotwangigen, tiefschwarz gekleideten Concierge wortreich erklärt, um wen es sich handelte und weshalb alles in Ordnung sei. Liliane hatte dem Klang dieser wunderbaren Sprache nachgespürt. Auf die Frage der Wirtin: »Qui est là?«, hatte er etwas von »dame allemande avec son cousin« gemurmelt. Die Antwort der Concierge verstand sie nicht, auch nicht Jacques’ weitere Erklärung.
Cord wurde ungeduldig. »Du lernst doch schon so lange Französisch!«, bemerkte er vorwurfsvoll. Natürlich hätte er gern gewusst, was der junge Mann und die ältere Frau zu besprechen hatten, Liliane kannte ja seine Neugier.
»Nicht lange, mon Chéri«, verteidigte sie sich. »Erst seit einem halben Jahr. Außerdem sprechen die Franzosen zu schnell. Zu viel und zu schnell.«
Auch Jacques redete immer noch. Zwischen ihm und der Concierge hatte sich mittlerweile ein Geplänkel ergeben, das mit aufreizendem Lachen gewürzt wurde. Diese Art von Gespräch im Flirtton hatte Liliane auf dem Weg durch die Stadt schon einige Male wahrgenommen und gespannt gelauscht. Eine unvergleichlich erotische Sprache. Sehr viel Gehauchtes und Geschmolltes. Ein weiches Gegurre und zartes Gesäusele, das blitzschnell von einer heftigen Forderung im Stakkato unterbrochen werden konnte.
Die nächsten Tage ließen sich Liliane und Cord durch die Straßen treiben. Natürlich kletterten sie zuerst auf den Eiffelturm und blickten auf die riesige Stadt. Es war Frühling, die Luft war von Hunderten herrlichen Blumendüften erfüllt: Levkojen, Lilien, Hyazinthen, Glyzinien, Goldlack, Maiglöckchen, Tulpen, Narzissen. Im Jardin du Luxembourg tummelten sich die Liebespaare zwischen blühenden Apfel- und Pfirsichbäumen. Die Blüten der Kastanien loderten wie Fackeln und beleuchteten die Frühlingsnächte. Oder war es der Vollmond? »La lune – l’amour«, schienen die Amseln zu singen. Fast alle Bänke des Parks waren von Liebenden belegt. Die Liebe schien ansteckend zu sein, denn die Passanten freuten sich darüber, auch wenn sie selbst allein unterwegs waren. Ganz anders als in Hamburg, wo man sich besser versteckte, wenn man sich umarmen und küssen wollte. So etwas war dort in der Öffentlichkeit nicht gern gesehen. Wie viel schöner war es hier in Paris, wo liebevolle Wörter durch die milde Frühlingsluft schwebten: »Encore un baiser – ma chérie – je suis fidèle – mon amour – sans soucis.«
Neben Zärtlichkeiten und Liebkosungen gab es allerdings auch viel Lärm und Radau, an den man sich erst gewöhnen musste. Sausende und klingelnde elektrische Bahnen, klapprige Pferdekutschen, Menschen, die sich umschlangen oder anrempelten, einander halfen oder miteinander stritten. Vor allem das unverhohlene Ausleben der Gefühle jeglicher Art war es, was das junge deutsche Paar faszinierte. Menschen, alte wie junge, tanzten durch die Straßen, wenn ihnen danach war. Andere ließen sich davon anstecken, zum Mitmachen verführen, so auch Liliane, sie umarmte Cord schwungvoll und forderte ihn zum Tanzen auf: »Voulez-vous danser avec moi, mon beau jeune homme?«
Nach anfänglichem Zögern konnte er ihr und ihren einladenden Gesten nicht widerstehen. Anscheinend gehörte es zum Alltagsleben in Paris, dass man genau dort, wo man sich befand, genau das tat, wonach einem gerade der Sinn stand.
An allen Ecken boten Straßenmusikanten, Sänger, Drehorgelspieler ihre Lieder dar, dazwischen zeigten Akrobaten ihre Kunst, um sich ein paar Sous zu verdienen. In einigen Gassen gesellte sich zu dem alles erfüllenden Blütenduft des Frühlings ein anderer: Absinth. Er trug eine gewisse Verruchtheit heran, die für die beiden jungen Deutschen wie eine Warnung wirkte: Wie schnell konnte man in diesem Gewirr von Verlockungen und Leidenschaften untergehen. Die Menschen schienen kein Ziel zu haben, waren zumindest immer bereit, sich davon ablenken zu lassen, und vagabundierten und flanierten durch die Stadt. Die Frauen schmückten sich mit abenteuerlichen Kopfbedeckungen, nicht nur mit breitkrempigen Strohhüten, sondern auch mit frechen kleinen Kappen und Mützen. Mit dem schillernden grünen Turban ihrer Tante Marlene fühlte sich Liliane wie eine von ihnen. Auch bei einigen Männern sah man auffällige Kopfbedeckungen: große Schlapphüte zu voluminösen Capes und Samtanzügen. Viele von ihnen trugen ihr Haar ziemlich lang, viel länger, als es in Hamburg üblich war. Gerade das gefiel Liliane sehr, sodass sie Cord ermunterte, sein schönes dunkles Haar weiterhin wachsen zu lassen.
Liliane schlug Cord vor, ein kleines Glas des »verruchten Getränks« zu probieren. Diesmal zögerte er nicht lange, sondern deutete auf ein Bistro, vor dem die Gäste in der Frühlingssonne saßen: »Lass uns dort Platz nehmen.« Zu Lilianes Überraschung wandte er sich wie selbstverständlich an den Kellner: »Deux verres d’absinthe, s’il vous plaît.«
»Wie schnell du lernst, mon Chéri«, lobte sie ihn.
Cord lächelte geschmeichelt, dann gab er zu: »Ich habe mir einige Redewendungen aus dem Baedeker eingeprägt. Ich wollte dich überraschen. Offensichtlich ist es mir gelungen.«
Wie zwei Verschwörer prosteten sie sich zu. Während Cord nach dem ersten Schluck sein Gesicht verzog und etwas von Medizin murmelte, empfand Liliane das Getränk mit dem Lakritzgeschmack als köstlich. Am liebsten hätte sie ein zweites Glas bestellt, doch Cords Miene hielt sie davon ab.
Mittags gingen sie gern in ein Bistro in der Nähe ihrer Wohnung, wo man für wenig Geld gut essen konnte. Fast immer saß dort auch ein alter Mann, der Gitarre spielte und Chansons voller Sehnsucht und Melancholie vortrug. Manchmal stimmten die Gäste in seinen Gesang ein und schluchzten sogar voller Rührung.
An den meisten Orten herrschten jedoch Fröhlichkeit und Spaß am Spiel mit Wörtern, Kinderlachen erklang. Man sprach offensichtlich gern in Paris, redete sich in Rage, berauschte sich am eigenen Wort. Liliane bedauerte immer wieder, dass sie nur wenig davon verstand, vor allem, wenn Cord nachfragte. Zu gern hätte sie für ihn übersetzt. Er hatte so viele Fragen zu den Bauwerken der Stadt, die sie sich nicht stellte. Das Verhalten der Menschen, ihr Selbstbewusstsein, unabhängig von Reichtum und gesellschaftlicher Stellung, beeindruckten sie mehr als die Häuser und Paläste.
In den wenigen Tagen ihres Aufenthalts wollte Cord möglichst alles sehen, wovon er im Baedeker gelesen hatte: den Louvre mit seinen Kunstschätzen, Notre-Dame mit ihren Wasser speienden Ungeheuern. Von dort aus flanierten sie am Ufer der Seine entlang zum Zoologischen Garten. Die Luft über dem Fluss, der von eindrucksvollen Bauten gesäumt wurde, flimmerte gelb und silbern. In diesen Tagen zog es sie immer wieder zur Seine. Liliane staunte über die verhutzelten Frauen, die auf der Pont des Arts liebevoll gebundene Veilchensträuße anboten, und Cord konnte sich kaum von den Ständen mit antiquarischen Büchern lösen, die am Quai angeboten wurden. Man durfte darin stöbern, solange man wollte. Es waren nicht nur professionelle Händler, sondern vor allem alte Leute, die einen Teil ihrer Bibliothek verkaufen oder verschenken wollten. Liliane staunte über Cords Begeisterung. Obwohl er die Sprache weder verstehen noch sprechen konnte, vertiefte er sich in die Bücher. Besonders angetan war er von der Gesamtausgabe der »Souvenirs entomologiques« eines Autors namens Jean-Henri Fabre. Liliane hatte nie von ihm gehört. Auf ihre Frage, um was es sich dabei handele, antwortete Cord, Fabre sei ein berühmter Insektenforscher. Für einen Moment glaubte Liliane, Cord mache sich über sie lustig. Dann stichelte sie: »Ich wusste gar nicht, dass du dich so sehr für unsere krabbelnden Mitbewohner interessierst. Das scheint eine ganz neue Leidenschaft zu sein. Jedenfalls musste ich neulich die Spinne aus deinem Arbeitszimmer entfernen, weil du meintest, du könntest mir nicht weiter vorlesen, solange du sie in deiner Nähe wüsstest.«
»Fabre ist nicht nur ein bedeutender Entomologe, sondern auch ein großer Dichter.« Cord ließ sich von Lilianes Spöttelei nicht provozieren, sondern fuhr fort: »Vor einigen Jahren hat man ihn sogar für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Die Art und Weise, wie er seine Insektenbeobachtungen schildert, ist unglaublich fesselnd. Beim Lesen entsteht das Gefühl, dass es in diesem Moment nichts Wichtigeres gibt, als sich dem Leben der Insekten zu widmen.«
Liliane schwieg. Eine weitere ironische Bemerkung schluckte sie besser hinunter. Sie war klug genug, zu wissen, dass sie sich über Cords Enthusiasmus nicht lustig machen durfte, auch wenn sie ihn nicht nachfühlen konnte. Stattdessen nahm sie ebenfalls eins der Bücher zur Hand, öffnete es und las, was auf dem Handzettel stand, der ihr entgegenfiel: »Vous éventrez la bête et moi je l’étudie vivante, vous scrutez la mort, je scrute la vie.«
»Was heißt das? Verstehst du das?«, wollte Cord wissen.
»Nicht alles, warte mal.« Liliane holte ihr Wörterbuch hervor. »Éventrez? Ja, jetzt hab ich es: ›Ihr schneidet das Tier auf, ich studiere es lebendig, ihr untersucht den Tod, ich untersuche das Leben.‹«
Cord bekam glänzende Augen. »Das war Fabres Antwort auf die Wissenschaftler, die ihn nicht ernst nahmen. Er wies sie selbstbewusst in ihre Schranken. ›Ihr untersucht den Tod, ich untersuche das Leben!‹ Ja, das ist sein Credo, seine Stärke, seine Kunst. Dafür liebe ich ihn.«
Liliane umarmte ihn. »Ich auch. Du hast mich überzeugt. Aber vor allen Dingen liebe ich dich.« Obwohl er sich offensichtlich nur schwer von den Bücherschätzen lösen konnte, zog sie ihn sanft mit sich fort.
Lilianes Ziel war die Straße der Galerien und Kunsthändler, die Rue Lafitte. Die Lebendigkeit des Pariser Straßenlebens schien sich in den hier ausgestellten Gemälden und Zeichnungen widerzuspiegeln. Sie besaßen Esprit und einen Schuss Exzentrik. Vieles wirkte irgendwie unfertig, skizziert, improvisiert, und gerade das war so reizvoll. Die Farben und Formen schienen auf der Leinwand zu schweben. Hier in Paris war nichts so erdenschwer wie daheim in Hamburg, weder die Kunst noch das Alltagsleben.
Während Cord sich in Werke der Impressionisten und Pointillisten vertiefte, entdeckte Liliane Gauguin und seine Südsee-Fernwehbilder. Sie musste dabei an ihren Vater denken, an seine Reiseberichte und an die Weltkarte zu Hause an der Wand.
Einmal fuhren sie mit dem Omnibus zu ihrer Wohnung zurück, nahmen auf dem Oberdeck Platz, im Freien, auf Kastanienwipfelhöhe. Die Fahrt durch das verstopfte Straßengewirr dauerte lange. Währenddessen sprach Cord von den unterirdischen Bahnen der Zukunft, die durch nichts aufzuhalten waren. Liliane teilte seine Begeisterung nicht. Natürlich würden sie viel Zeit sparen, aber was hatten diese Schächte sonst zu bieten? Was würde es dort unten zu sehen geben? Vor allem war sie nicht wie Cord an der Technik interessiert, sondern, wenn überhaupt, nur an den Mitfahrenden, den Menschen, die dieses Beförderungsmittel wählten: Offensichtlich nutzten alle Bevölkerungsgruppen die Metro. Zwar überwogen diejenigen, die damit zu ihrem Arbeitsplatz gelangen wollten, wie ihre Aktentaschen vermuten ließen, aber auch die sogenannten feinen Leute fuhren mit, wie Liliane an ihrer Kleidung zu erkennen glaubte. Natürlich fehlten auch die Armen nicht. Stadtstreicher, die in Paris Clochards genannt wurden, Bettler, Prostituierte. Tempo lautete die Devise in dieser Unterwelt, Bewegung und Stillstand wechselten sich rasant ab.
Über mehrere Treppen in der Tiefe angelangt, warteten sie am Bahnsteig des Gare Montparnasse. Die Ankunft der Untergrundbahn kündigte sich durch ein immer stärker anschwellendes Rumpeln und Rattern an. Im Waggon wies Cord Liliane auf einen Sitzplatz hin, doch sie wollte lieber stehen. Die Luft war schlecht: Asche, Rauch, sogar Ruß wurden durch die geöffneten Fenster in den Waggon hineingeweht, während der Zug durch die dunklen Schächte raste, rumpelte, ruckelte, nach wenigen Minuten stoppte, wieder anfuhr und dann alles von vorn begann. Von Ruhe und Entspannung wie beim Eisenbahnfahren konnte keine Rede sein. Am meisten störte Liliane, dass sie bei der unterirdischen Beförderung nichts von der Stadt zu sehen bekam. Das war noch schlimmer als die Enge, die ihr zu schaffen machte. Angekommen am Gare du Nord, war sie froh, sich wieder an der Oberfläche bewegen zu können.
»Ich bin eben kein Maulwurf«, bemerkte sie augenzwinkernd und genoss das oberirdische Treiben umso mehr.
Sie stiegen die steile Straße zum Montmartre hinauf, vorbei an kleinen, niedrigen Häusern. Fast vor jeder Tür saß eine alte Frau, die nähte, stickte oder stopfte. Hin und wieder rief eine der anderen etwas zu, beiläufig und ohne aufzuschauen.
Oben auf dem Hügel wurde das junge Paar auf dem Markt von herumlaufenden und laut gackernden Hühnern begrüßt. Dazwischen standen die Maler vor ihren Staffeleien. Die Kirche Sacré-Cœur blickte über das Pariser Häusermeer, aus dem ab und zu wie zum Gruß eine Kuppel herausragte.
»Sie ist fertig! Endlich!« Cord strahlte. »Dreißig Jahre haben sie daran gebaut, ich hab viel darüber gelesen«, erklärte er Liliane.
»Dann lass uns hineingehen«, forderte sie ihn auf.
»Sie ist noch verschlossen und wartet darauf, ihre Bestimmung zu erfüllen. Noch finden keine Gottesdienste in ihren Hallen statt.«
Liliane wurde von einer Kapelle ganz in der Nähe abgelenkt, die ihre Glocke erklingen ließ. Sie übertönte das Brausen und Vibrieren der Stadt, die ihr zu Füßen lag. Als Liliane bemerkte, dass eine Betschwester das Seil zum Läuten gezogen hatte, ging sie, ohne zu überlegen, auf die alte Frau zu und fragte sie, wie viele Glockenschläge lang sie die Glocke schlagen lasse. Die Frau schaute sie verwundert an. Es dauerte eine Weile, bis sie verstand, was Liliane wissen wollte. Diese bedauerte wieder einmal, sich nicht so gut auf Französisch ausdrücken zu können, wie sie es sich wünschte. Als sie noch einmal ansetzte: »À quelle fréquence …«, wurde sie von der Frau unterbrochen: »Ich zähle nicht, ich bete. Die Glocke läutet so lange, wie mein Gebet dauert. C’est tout.« Einer dieser Sätze, selbstverständlich dahingesagt, die sie niemals vergessen würde, dachte Liliane und schwieg beeindruckt.
Natürlich durften sie das Pariser Nachtleben nicht versäumen. Frieda und Jacques wussten immer, wo etwas los war, wo man unbedingt hingehen musste. Aktueller Geheimtipp war das Tanzlokal Bullier im Quartier Latin. Am stärksten beeindruckte Liliane jedoch, dass die ganze Stadt niemals wirklich zu schlafen schien. Sogar nachts wimmelte es auf den Boulevards nur so von Menschen. Die beiden verzichteten darauf, sich Aufführungen der Victor-Hugo-Stücke in der Comédie-Française anzusehen, und gingen stattdessen, zusammen mit Frieda und Jacques, ins Vaudeville am Boulevard des Capucines. Auf den ersten Blick waren die Stücke, die dort gespielt wurden, den deutschen Rührstücken ähnlich: heitere oder sentimentale Handlung, wenige Personen, einfaches Bühnenbild, ab und zu ein Lied, um die Vorstellung aufzulockern. Doch im Unterschied zu den deutschen waren die französischen Stücke satirisch und frivol. Sie schaute Cord von der Seite an. Was würde er wohl sagen, wenn sie in einer solchen Posse auftreten würde? Er war in diesen Dingen strenger als sie. Ab und zu lachte er, allerdings nicht so ausgelassen wie Frieda und Jacques.
Den ganzen Abend über kam Liliane aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sie wunderte sich, dass so viele Kinder unter den Zuschauern waren – am Abend in einem solchen Theater. Die nächste Überraschung war das Bühnenbild: ein Schlafzimmer. Die Betten waren so platziert, dass das Publikum direkt hineinschauen konnte. Der erste Schauspieler, der die Bühne, also das Schlafzimmer, betrat, trug nur eine Unterhose und legte sich sofort ins Bett. Zwei junge Frauen in bezaubernden Dessous, wie Liliane sie in Hamburg noch nie gesehen hatte, betraten kichernd den Raum und setzten sich zielstrebig auf das freie Bett. Nebeneinander hockend, mit schlenkernden Beinen, unterhielten sie sich über ihre amourösen Abenteuer – so viel verstand Liliane. Die Einzelheiten und schlüpfrigen Details entgingen ihr, weil sie die Ausdrücke dafür nicht kannte. In den Büchern, die sie zu Hause als Lernmaterial benutzt hatte, kam das Vokabular dieses Abends natürlich nicht vor. Als der Mann im Nebenbett sich aufrichtete, erschraken die beiden Frauen unverhältnismäßig stark. Die weitere Handlung verlief genauso unsinnig, wie sie begonnen hatte, und das Publikum war begeistert. Zwischenrufe und Anfeuerungsappelle hallten immer wieder durch den Theaterraum – ganz anders, als Liliane es bei ihren Auftritten gewohnt war. Auch in den norddeutschen Gasthöfen nahm das Publikum Anteil am Bühnengeschehen, versuchte aber, allzu heftige Reaktionen zu vermeiden.
Hier in Paris hingegen schien jeder mitspielen zu wollen. Und so störte sich auch niemand daran, dass Liliane Cord zwischendurch immer wieder die Bedeutung einiger Begriffe erklärte. Einmal mischte sich sogar Cords Nebenmann ein, sehr laut und grölend, nur führten seine Übersetzungsversuche zu noch größerer Verwirrung und mündeten in schallendes Gelächter.
»Was heißt ›Tu as le plus grand‹?«, wollte Cord wissen.
Liliane versuchte zunächst, ihr aufsteigendes Lachen zu unterdrücken. Doch als Cord, der dachte, sie habe ihn wegen des Lärms nicht verstanden, seine Frage laut wiederholte, platzte sie los und konnte sich kaum beruhigen.
»So direkt äußern sich die Franzosen nun auch wieder nicht«, erklärte sie amüsiert.
»Und was ist daran nun so komisch?« Er schien beinahe verärgert. »Nicht ›tu as‹, sondern ›tu es‹ hat sie gesagt: Du bist der Größte. Nicht: Du hast den Größten.«
Jeder Tag ein eigenes Abenteuer – in Paris verging die Zeit so schnell, viel schneller als zu Hause, sodass Liliane fürchtete, von all den neuen Eindrücken überrannt zu werden und ihren ständig wechselnden Gefühlen ausgeliefert zu sein. Trotz aller Begeisterung sehnte sie sich nach Ruhe und etwas mehr Gleichförmigkeit. Ob Cord ebenso empfand?
Und dann war es auf einmal so weit: Ihr letzter Tag in Paris war angebrochen. Ehe sie sich’s versahen, fanden sie sich im Zug nach Köln wieder und ließen die Tage in Paris Revue passieren.
Beide wären gern noch länger geblieben – da waren sie sich einig –, aber dafür reichte das Geld nicht.
»Kannst du dir vorstellen, in Paris zu leben?«, fragte Cord, und Liliane zögerte: »Warum nicht? Und du?«
»Ich habe dich gefragt«, beharrte Cord.
»Ich könnte, glaube ich, überall leben.« Wieder wand sie sich heraus.
Doch Cord nahm es wie immer sehr genau und ließ nicht locker: »Ich hab nicht von überall gesprochen, sondern konkret von Paris.«
»Das ist nicht so einfach.« Liliane war nachdenklich geworden. »Ich kann mir vorstellen, überall zu leben, aber immer nur eine Zeit lang. Nie für immer.«
»Wie meinst du das?«
»Ganz einfach: Ich kenne bis jetzt keinen Ort, an dem ich immer leben möchte, weder Hamburg noch Berlin. Viel mehr kenne ich ja gar nicht.« Als Cord schwieg, fügte sie hinzu: »Aber ich weiß einen Menschen, mit dem ich immer leben möchte.«
Eng aneinandergeschmiegt schliefen sie ein.
Hamburg, August 1914
Aus dem stillen Raume, aus der Erde Grund
Der Himmel über Hamburg lärmte und leuchtete. Ein Feuerwerk ließ ihn mit lautem Geknall in bunten Farben erstrahlen und zauberte schimmernden Lichtregen, der sich auf die jubelnde Menge ergoss. Die Stadt war über und über mit Flaggen und Blumen geschmückt und vibrierte regelrecht unter dem Farbgewitter. Es war ein unruhiger Sommerabend, so wie es viele seit Kriegsbeginn gegeben hatte. Der Krieg war noch keinen Monat alt, und noch hielt die allgemeine Begeisterung an. Die Straßen waren voller Menschen, die zu Fuß oder auf Fahrrädern unterwegs waren. Manche bewegten sich stürmisch, ohne nach links und rechts zu schauen und auf die laut bimmelnden Straßenbahnen Rücksicht zu nehmen.
Cord hatte Mühe, sich seinen Weg zu dem Gasthaus zu bahnen, in dem er mit seinen Freunden verabredet war. Beinahe wäre er mit einem Fahrrad zusammengestoßen.
»Mach Platz!« Die Stimme des Radfahrers riss ihn aus seinen Tagträumen, die seit einiger Zeit immer um dasselbe kreisten, um dieselbe: Liliane. Sie war seine erste Liebe. Er war zwanzig Jahre alt, sehr verliebt und gleichzeitig erschrocken über diesen Zustand. Mit Frauen hatte er so gut wie gar keine Erfahrung – anders als seine Freunde. Die erzählten manchmal die tollsten Geschichten von Frauen, protzten mit ihren amourösen Abenteuern, aber sobald er nachfragte, wurde das Thema gewechselt. Dann konnte es sein, dass sie wenig später ihre Pläne und Wünsche bezüglich ihres zukünftigen Lebens mit Ehe und Familie äußerten. Darin kamen die Frauen, von denen sie vorher gesprochen hatten, nicht mehr vor. Es musste also mindestens zwei Arten von Frauen geben. Zum einen die, die man heiratete und die dann dafür sorgte, dass das Zuhause schön und gemütlich, ein Ort der Sammlung und Entspannung war. Diese erste Art Frau konnte gut kochen und hielt alles sauber. Sie ging ab und an gern aus und las dann und wann die Zeitung, damit man sich auch angemessen mit ihr unterhalten konnte. Wenn man Glück hatte, stammte sie aus einer gebildeten Familie, und wenn man noch mehr Glück hatte, aus einer reichen. Aber das war nicht entscheidend für eine gemeinsame Zukunft. Wirklich wichtig waren Treue, Häuslichkeit und Fleiß.
Ja, und dann gab es eben auch diese anderen Frauen, von der seine Freunde sprachen, wenn sie etwas getrunken hatten, die »Weiber«, wie sie gern sagten. Anders als die der ersten Kategorie besaßen sie Körper oder besser gesagt: Sie bestanden nur aus Körper. Und an dem zählten vor allem die Teile, die für den Mann interessant waren. Heinrich besaß eine Sammlung von Aktpostkarten, die er den Freunden manchmal zeigte. Wenn er sie vor den erwartungsvollen jungen Männern ausbreitete, war das Vergnügungsgeschrei groß. Cord waren die abgebildeten Frauen alle zu dick. Eine hatte ihm mal gefallen, weil sie die Beine so graziös spreizte, aber er konnte sich nicht vorstellen, was die Freunde beim Anblick dieser Fotos so aus dem Häuschen brachte. Er fand sie eher albern, die Haltungen der Frauen waren so unnatürlich und verkrampft. Um nicht als prüde oder unerfahren zu gelten, tat er so, als begeisterten ihn die Bilder ebenfalls. Vielleicht ging es manchem anderen ebenso. Cord wusste nicht, was von ihren Erzählungen überhaupt stimmte. In diesen Tagen lief er noch irritierter durch die Welt als sonst in letzter Zeit. Er hatte schon so viel gelesen und im Verhältnis dazu so wenig erlebt. Gedanklich war ihm kaum etwas fremd, aber für seine Erfahrung schien so vieles neu und erstmalig. Ein Konflikt, mit dem er meistens gut zurechtkam, der ihm jedoch im Moment sehr zu schaffen machte. Er war entweder überwach und überempfindlich, oder er war zerstreut und vergesslich wie heute – er hatte sogar vergessen, welchen Treffpunkt die Freunde verabredet hatten.
Es gab mehrere Kneipen, die infrage kamen. Als Erstes war er natürlich in die falsche gerannt. Er lief mit etwas gesenktem Kopf, wie es alle großen Menschen tun, weil sie fürchten, wieder einmal gegen einen erst in letzter Sekunde sichtbar werdenden Balken oder einen niedrigen Türstock zu laufen, den sie zu spät bemerkten. Cord konnte niemals langsam gehen, machte weit ausholende Schritte. Die Mutter, die ihm früher, als er klein gewesen war, immer Märchen vorgelesen hatte, sprach von seinen Siebenmeilenstiefelschritten. Wenn er jetzt mit ihr zusammen die Straße entlangging, konnte sie ihm kaum folgen und protestierte laut: »Junge, zieh deine Siebenmeilenstiefel aus, deine alte, kleine Mutter kommt nicht hinterher.« Dann lachten beide, er beugte sich zu ihr hinunter, gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und ging langsamer, doch es dauerte nicht lange, bis er wieder seinen normalen Schritt einzuschlagen drohte. Dann reichte es, wenn ihn die Mutter kräftig am Ärmel zog.
Liliane hingegen konnte immer mithalten, obwohl auch sie einen Kopf kleiner war als er. Im Gegensatz zu ihm ging sie immer sehr aufrecht. »Du schreitest durch die Welt wie eine Königin«, hatte er gleich am Anfang zu ihr gesagt. Jetzt musste er wieder an sie denken, so wie er ohnehin fast immer an sie dachte. In diesem Moment gingen ihm viele Fragen durch den Kopf. Eine davon war: Durfte sich eine Frau so verhalten wie sie? Sie kümmerte sich nicht um Ansprüche, Erwartungen und Konventionen. Manchmal schien sie zu schweben, nur um kurze Zeit später wieder fest auf dem Boden aufzutreten. Leichtigkeit und Tiefe, Luft und Erde – sie war eine Frau der Gegensätze.