Bei Licht ist alles zerbrechlich - Gianni Solla - E-Book

Bei Licht ist alles zerbrechlich E-Book

Gianni Solla

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Beschreibung

Davide und Teresa träumen sich schon lange fort von ihrem Dorf, fort von den vorgezeichneten Wegen. Doch an einem Tag im Jahr 1942 taucht plötzlich Nicolas in ihrem Leben auf, ein zwangsumgesiedelter jüdischer Junge aus Neapel. Es wird der Sommer ihres Lebens. Bis der Krieg auch ihr Dorf erreicht – und die zarten Bindungen zwischen den drei Jugendlichen zerreißt. Sie verlieren sich aus den Augen, doch nie ganz aus dem Sinn. Jahre später kommt es zu einem Wiedersehen, und alles ist vertraut und doch verwirrend anders.

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Gianni Solla

Bei Licht ist alles zerbrechlich

Roman

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull

Diogenes

Für Titti und Dario

ERSTER TEILDer Schweinehirt

Tora e Piccilli (Caserta), 1942

 

In Tora kannten sie mich als den Schweinehirten und einzigen Sohn von Tommaso Raf‌faele Fortunato Buonasorte, genannt Furtunà, Analphabet, schwach auf der Brust, Pilzsammler, Besitzer von fünfzehn Schweinen und Mitglied der Faschistischen Partei, Ortsgruppe Caserta.

Wir waren Landleute, mit Boden und Tieren kannten wir uns aus, aber nicht mit Menschen. Mein Vater sagte, man brauche nicht zur Schule zu gehen: Ein Schwein und noch ein Schwein macht zwei Schweine, hat man das begriffen, kann man auch kompliziertere Rechnungen anstellen.

»Wenn du weißt, wie die kleinen Dinge funktionieren, verstehst du die großen«, sagte er zu mir und rührte Mehl und Kleie im Blecheimer zusammen, um die Tiere zu füttern, die unruhig warteten.

»Ja«, antwortete ich, auch wenn es nicht stimmte, denn im Dorf hatte niemand mehr als vierzig Schweine oder vierzig Ziegen, und man kann sich die Größe der Welt nicht vorstellen, nur weil man weiß, dass ein Schwein plus ein Schwein zwei macht.

Mit Nachnamen heißen wir Buonasorte – Glück. Die Alten, die den lieben langen Tag auf dem Platz saßen, sagten, in den Worten steckt die Wahrheit oder ihr Gegenteil. Sieht man sich die Geschichte meiner Familie an, angefangen bei meinen Großeltern väterlicherseits, die bei der Schufterei im Steinbruch von Maddaloni bei der Dezemberexplosion starben, bis zu mir mit meinem von Geburt an verteufelten rechten Bein, ist nicht schwer zu erahnen, wie herum unser Nachname zu verstehen ist.

Die Schweine verkauf‌ten wir entweder auf dem Markt, oder mein Vater stach sie auf dem Platz vor dem Koben ab. Von jedem einzelnen kannte ich die Eltern und Geschwister. Ich konnte die beiden Hauptlinien, von denen sie abstammten, fünf Jahre zurückverfolgen. Jedes gab etwas an seine Kinder weiter, bis auf Nero, den Schwarzen, der aussah, als hätten ihn die Eichen im Wald geboren. Einmal habe ich geträumt, wie das Holz sich öffnete und die alte Eiche stöhnte wie die Kühe. Der Schwarze war wild, brutal und nicht zu bändigen. Er war das gefährlichste Tier im Dorf, und mein Vater konnte es gar nicht abwarten, ihn zu verkaufen oder abzustechen. Er war der Einzige, vor dem ich Angst hatte, und das einzige Wesen auf der Welt, dem ich ähnlich sein wollte.

 

An dem Tag kam mein Vater gegen elf zum Koben. Er war im Dorf gewesen, um die Medizin für meine Schwester Rosetta zu holen, die die ganze Nacht gehustet hatte. Ich hatte sie auf der anderen Seite der Wand gehört, es klang, als hätte sie eine Grotte in der Brust. Meine Mutter sagte immer wieder: »Gleich geht’s weg«, aber das tat es nicht.

Es war das zweite Jahr in Folge, dass Rosetta Bronchitis bekommen hat, und wir hatten gehört, dass in Neapel schon zwanzig Kinder an Keuchhusten gestorben waren. Meine Mutter hat das Figürchen der Madonna von Pompeji auf Rosettas Brust gelegt und gesagt, wir sollten uns bekreuzigen. Mein Vater hat zehn Minuten gewartet, um zu sehen, ob sich durch das Zutun der Madonna das Geld für Dottor Scognamiglio sparen ließe, dann hat er sich um drei Uhr nachts auf den Weg ins Dorf gemacht.

»Gleich geht’s weg, gleich geht’s weg, Rosetta, keine Sorge, jetzt kommt der Doktor und sagt uns, was du nehmen musst, und wenn er dir nicht hilft, dann tut es bestimmt die Madonna.«

Dottor Scognamiglio hat das Figürchen der Madonna von Pompeji fortgenommen, das meine Mutter inzwischen unter Rosettas Leibchen geschoben hatte, und bat sie, den Mund aufzumachen. Dann befühlte er ihre knochigen Arme. Ich hatte den Blick des Doktors bemerkt, als er hereingekommen war, und nachdem er Rosetta in den Hals geschaut hatte, machte er das gleiche Gesicht.

Nach der Visite hat er meinem Vater einen Zettel mit dem Namen der Medizin überreicht, die wir kaufen sollten. Mein Vater hat ihn zu lesen versucht und ist stammelnd über die Buchstaben gestolpert. Dann hat er ihn meiner Mutter gegeben.

Nur Rosetta schaff‌te es, den Namen zwischen einem Hustenanfall und dem nächsten nachzusprechen.

»Sehr gut«, hat der Arzt gesagt, auch wenn er damit meinte: »Die Einzige, die in diesem Haus in der Lage ist, den Namen einer Arznei nachzusprechen, könnte heute Nacht sterben.«

»Ihr müsst ihn nicht vorlesen. Geht zum Apotheker und gebt ihm den Zettel«, hat der Arzt meinen Eltern erklärt, während er den Schlauch, mit dem er das Herz abgehört hatte, wieder in seine Ledertasche packte.

Als Scognamiglio hinter dem zweiwipfeligen Baum vor unserer Haustür verschwunden war, haben meine Mutter und mein Vater die Schublade geöffnet, um das Geld zu zählen. Mit dem Bild der Geldscheine auf dem Tisch und ohne zu wissen, ob ich meine Schwester am nächsten Tag wiedersehen würde, bin ich schlafen gegangen.

 

»Das Wasser für die Tiere?«, war das Erste, was mein Vater fragte, als er vom Dorf wiederkam.

»Habe ich gewechselt.«

Er blickte zu den Tränken.

»Das nennst du gewechselt?«

Eine fliegenumschwirrte Pfütze war darin.

Ich senkte den Blick.

»Das musst du als Allererstes wechseln. Vergiss das nicht. Wenn die Tiere sterben, sterben wir auch.«

Zuerst sprach er ganz ruhig, dann versetzte er dem Zuber einen Tritt und kippte den Rest Wasser aus. Die Lache breitete sich auf dem Boden aus und wurde zu einem winzigen Rinnsal, das auf meine Füße zukroch.

Mir wäre es lieber gewesen, er hätte mich endlich einmal geschlagen wie die Schweine, um mir zu zeigen, dass ich genauso viel wert war wie sie.

»Los, gib den Viechern Wasser.«

Die Tiere hatten etwas mitbekommen, und der Schwarze wurde unruhig. Mein Vater packte mich beim Pulloverkragen und hob meinen Kopf, damit ich ihm in die Augen sah.

»Du musst das Wasser der Tiere wechseln. Diese Schweine sind bessere Christen als du und ich zusammen. Mach das noch mal, und du kannst was erleben.«

Er hatte recht.

In dem Moment nahm der Schwarze Anlauf und rammte seinen muskulösen Wildtierschädel gegen die Bretter des Verschlags. Mein Vater machte einen Satz rückwärts und ließ mich los. Der Aufprall war heftig: Das Holz bog sich, und ein paar Splitter blieben in seinem Kopf stecken. Hätten Schweine kräftigere Zähne, müssten wir sie mehr fürchten als Wölfe.

»Dieses Dreckstück ist verrückt geworden«, sagte mein Vater.

Der Schwarze hatte mich verteidigt.

Mein Vater griff sich die Harke und ging auf den Verschlag zu.

»Elendes Mistviech«, brüllte er und hieb auf seinen Rücken ein. Ich glaubte schon, er würde ihm das Kreuz brechen.

»Hör auf«, schrie ich.

Der Schwarze floh in die hinterste Ecke. Nicht einmal mein Vater traute sich hinein, denn der Schwarze konnte einen mit einem Kopfstoß zu Boden werfen.

»Ich bring dich um, du bist als Nächster dran«, sagte mein Vater immer wieder in dem Dialekt, der die Lebenden mit den Toten unseres Dorfes verband, jener Sprache, die seit Urzeiten von Mensch und Tier gesprochen wurde.

»Ich geh Wasser holen«, sagte ich, »ich tu’s nie wieder, es war meine Schuld.«

Die Schläge hatten mir gegolten, doch er hatte einen Weg gefunden, mir noch größeren Schmerz zuzufügen.

Mein Vater wollte etwas erreichen im Leben. Ich war sein einziger Sohn, und er glaubte, mit mir an seiner Seite könnte er den kleinen Hof aufbauen, der ihm vorschwebte. Doch mein Körper und mein mangelndes Interesse an einträglicher Arbeit konnten seinen Erwartungen nicht gerecht werden, und dieser Junge, der sich hinkebeinig durchs Dorf bewegte, war zu seiner Schande geworden. Mit dem kürzeren Bein war er mehr gestraft als ich. Vielleicht starrte er deshalb stumm auf die Fotografien der frisch einberufenen jungen Männer in den Zeitungen.

Furtunà hatte seine Art zu schweigen, mit dem Kinn in der Hand und ständig mit etwas beschäftigt, als fürchtete er sich vor der Leere. Im Dorf war er als redlicher Mensch bekannt, doch zu Hause fürchteten wir seine Wutausbrüche. Wenn er seinen Zorn nicht an mir ausließ, war meine Mutter dran. Ich bin nie dahintergekommen, was ihn dazu trieb, so felsenfest an den Faschismus zu glauben.

 

Um die Tränken zu füllen, braucht es insgesamt neun Eimer, achtzehn halbe Eimer, sechsunddreißig Vierteleimer. Mit dem Messer hatte ich Kerben ins Blech geritzt. Reichte das Wasser bis zur langen Kerbe, wusste ich genau, wie oft ich zum Brunnen gehen musste. Wenn die Tränken halb voll waren, reckten sich die Tiere, um zu trinken. Je mehr sie tranken, desto mehr hatte mein Vater recht. Nur der Schwarze tat ihm den Gefallen nicht. Er war der Anführer und würde als Letzter trinken und erst, wenn mein Vater hinausgegangen wäre.

»Jetzt hör gut zu«, sagte er zu mir. »In ein paar Tagen kommen sie, und wir müssen aufpassen.«

»Wer kommt?«

»Hat dir das keiner gesagt?«

Ich schüttelte den Kopf.

Er hob einen Zweig vom Boden auf und wedelte damit in der Luft herum, als wollte er etwas zeichnen.

»Es ist nicht gut, dass sie sie herkommen lassen.«

»Wen lassen sie kommen?«, bohrte ich nach.

Dabei hatte ich die Alten auf dem Platz darüber reden hören, mit gedämpf‌ter Stimme wie bei allem, was man nicht sagen darf. Sie hielten das für keine gute Sache und fragten sich, warum ausgerechnet zu uns. Irgendwie ahnten sie wohl, dass das Ereignis über das Leben von uns allen hereinbrechen würde. Sie sagten, aus Rom sei eine von Mussolini persönlich verfasste Namensliste eingetroffen, aber kaum jemand im Dorf konnte lesen, und Mussolini konnte sonst was auf die Liste geschrieben haben. Wer Bescheid wusste, behauptete, die Liste liege im Büro des Podestà in einer Schublade, doppelt gefaltet und wie alle Geheimdokumente mit einem Siegel verschlossen.

»Sie können sie nicht in den Krieg schicken und wollen sie nicht am Hals haben«, sagte mein Vater, »also lassen sie sie hierherkommen, als wären wir nicht Italien. Bei der nächsten Versammlung werde ich das sagen. Wenn die mir einen von denen ins Haus schicken, kann er bei den Schweinen essen und schlafen.«

Die bis zur obersten Kerbe gefüllten Eimer waren schwer. Auf dem Weg versuchte ich, möglichst wenig Wasser zu verschütten, auch wenn die Gegenwart meines Vaters mich nervös machte. Noch immer spürte ich die Hiebe auf der Haut, die der Schwarze abbekommen hatte.

»Wenn die sich auch nur ein einziges Mal danebenbenehmen, verkaufe ich sie stückweise auf dem Markt«, sagte mein Vater, und ich wusste nicht, ob die Drohung den Schweinen galt oder den Juden, die in den kommenden Tagen in Tora e Piccilli eintreffen würden.

Zum Dorf‌fest kamen die Schauspieler. Es waren Strolche, die durch unbekannte Ortschaften wie unsere zogen, doch das wussten wir nicht, wir hörten ihnen zu und hielten uns den Bauch vor Lachen. Wir waren ein leichtes Publikum, das man schnell zum Lachen brachte, es reichte der Witz vom schrulligen Herrn, der alle paar Worte pfeift, und die Schauspieler hatten den Abend gewonnen. Im Publikum waren auch Leute aus Civitella und Tuoro, sogar Verwandte meiner Mutter aus Sessa Aurunca. An dem Abend war es kalt, und Tante Tina trug ihren dünnen Baumwollpullover, weil er ihr vorzeigbarstes Kleidungsstück war. Sie wollte sich herausputzen. Mein Vater Furtunà sagte: »Gleich wird sie krank und verdirbt uns die Vorstellung.«

Keiner der Anwesenden trug einen Ehering, den hatten sie Jahre zuvor für die Kampagne Gold fürs Vaterland hergegeben. Ich dachte schon immer, dass es bei dieser Forderung in Wahrheit nicht darum ging, das Edelmetall zu sammeln, sondern jedem Italiener klarzumachen, dass er mit dem Faschismus verheiratet war.

Der Wind bewegte die Wimpel. Der Podestà erklomm die Bühne und zeigte den römischen Gruß, und wir alle genauso.

Ich hatte Mussolini nie sprechen hören. Ich hatte versucht, mir seine Stimme anhand der Fotografie vorzustellen, die bei uns an der Küchenwand hing. Furtunà hatte sie aus einer Zeitung ausgeschnitten und sie neben die vom Heiligsten Herz Jesu gehängt, sodass man, wenn man morgens das Kreuz schlug, nicht wusste, wem der beiden es galt. Mussolini stand auf einem Feld, mit nacktem Oberkörper, schlaffem Bauch und weißer Kappe, und bündelte Garben, während das heilige Antlitz Jesu uns mit blauen Augen und blondem Haar anblickte, als gehörte es einem der deutschen Soldaten, die hin und wieder im Dorf aufkreuzten.

Der Podestà sprach in abgehackten Sätzen. Sagte einen und schwieg. Die Leute glaubten, genauso würde Mussolini reden. Manche zeigten den römischen Gruß, andere riefen: »Es lebe der Duce!« Es hieß, im Publikum seien Parteifunktionäre, um diejenigen zu melden, die nicht applaudierten.

Ich war wegen der Schauspieler dort. Ich hatte sie im vorigen Jahr gesehen und konnte ein paar Witze auswendig. Allein ihr Aufzug brachte einen zum Lachen. Ein Mann spielte eine Frau, mit Rock, falschem Busen, Lippenstift und einem zu kleinen Damenhütchen mit Blume auf dem Kopf. Hin und wieder hob er beim Sprechen den Rock, und obwohl nichts zu sehen war, prusteten wir los. Wir konnten nicht anders, man spürte das Lachen ganz tief aus dem Bauch aufsteigen und konnte sich nicht mehr halten. Die Frauen wurden beim Lachen rot. Auch der Pfarrer sah sich die Vorstellung aus der ersten Reihe an und hielt sich eine Hand vors Gesicht, um nichts zu sehen, aber er war klug genug, einen Spalt zwischen den Fingern zu lassen.

Ich begriff, dass die Schauspieler einen zum Lachen brachten, weil sie die Wahrheit sagten. Dinge, die alle wussten und niemand laut aussprach. Dafür waren die Schauspieler da, um sie dem ganzen Dorf ins Gesicht zu sagen. Ich lachte und machte die Männer nach.

Dann betrat einer in Soldatenkluft die Bühne. Er tat so, als hätte er sich verlaufen, und fragte, wo es zum Krieg gehe.

»Habt ihr ein Bataillon vorbeikommen sehen? Ich hab’s nicht eilig, kann auch hierbleiben. Dann gabeln sie mich auf dem Rückweg auf und erzählen mir, wie’s gelaufen ist.«

Die Uniform, die er trug, war mindestens zwei Nummern zu groß, und wenn er die Arme hob, verschwanden die Hände im Stoff‌. Sein trauriges Gesicht brachte die Leute zum Lachen. Sein Pech war besonders und lustig. Ich mochte ihn mehr als die anderen.

Am nächsten Tag wiederholte ich im Schweinestall die Witze, die ich mir gemerkt hatte. Auf dem Heimweg hatte ich sie laut vor mich hin gesprochen und die ganze Nacht im Kopf behalten. Doch obwohl es die richtigen Worte waren, funktionierten sie nicht. Ich versuchte, aus dem Stegreif einen Witz über eine Frau zu machen, die trotz der Kälte einen zu dünnen Pullover trug.

»Schaut mich an!«, sagte ich laut.

Die Schweine drehten sich zu mir um, und wie ihre Augen mich anstarrten, konnte ich nicht weitersprechen.

Ich stand vor meinem ersten Publikum.

 

Es war Teresa, die mir während eines unserer gemeinsamen Nachmittage die Bedeutung des Wortes »Geografie« erklärte. Doch als ich einmal zu ihr sagte: »Das ist die Geografie meiner Familie«, antwortete sie: »So verwendet man es nicht.«

Ich dachte an meinen Vater wie an die Grube voller Kalk am Ende des Waldes, an meine Schwester wie an das verlassene Kirchlein, in dem, so hieß es, die Seele des alten, toten Priesters geisterte, an den Schwarzen wie an die dicke Eiche, die Angst machte und in der nicht einmal die Vögel ihr Nest bauten.

Rosetta ging in die Grundschule, in die Klasse von Maestro Anastasi, dem einzigen Lehrer in Tora e Piccilli. Ich bat sie, mir zu zeigen, wie man ein Wort schrieb. Manchmal sagte sie, das könne sie nicht, und wenn sie Lust hatte, zeigte sie es mir und schrieb mit dem Finger in die Luft. Ich folgte der Bewegung und stellte sie mir auf Papier vor.

Furtunà hörte der Unterhaltung stumm zu. Oder er sagte, ich solle aufhören, immer das Gleiche zu fragen. Mit den Händen riss er ein Stück Brot ab und kaute laut. In der Küche waren nur seine Zähne und meine Mutter zu hören, die Essen machte und Zwiebeln und Karotten in winzige Stückchen schnippelte.

Am Anfang enthielten die Namen der Schweine nur die Buchstaben, die ich kannte. Gaba, Eba und so weiter. Denen, die später kamen, hatte ich Namen gegeben, die ich nicht schreiben konnte: der Dicke, der Fleck, der Böse, der Schwarze. Es waren Namen, die die Natur für sie ausgesucht hatte.

Mein Vater sagte, es sei falsch, einem Tier, das verkauft oder getötet wird, einen Namen zu geben. Aber ich fand das nicht.

Weil ich Rosettas Hefte nicht benutzen durf‌te, um schreiben zu üben, klaute ich welche, wenn ich auf den Markt ging, und obwohl ich mich nicht wirklich dafür schämte, habe ich es nicht einmal Teresa je erzählt.

Don Aniello Panzer kam aus Neapel und stellte sich mit dem Lieferwagen ans Ende des Platzes neben die weiße Mauer voller Löcher, in denen sich die Eidechsen versteckten. Am Morgen war er der Erste, schob die vordere und die seitliche Klappe auf, und wenn die ersten Leute kamen, begann er mit seinem Singsang, der wie ein Gebet klang, und zählte seine Waren auf. Eine immer gleiche Abfolge von Wörtern. Bestimmt hatte er sie auswendig gelernt, und im Lieferwagen gab es gar nicht all das, was er sagte. Was es allerdings gab, waren Putzmittel, Besenstiele, Schirme, Unterleibchen, Socken aus Baumwolle und Wolle, Herrenunterhosen, Zangen mit Gummigriff und welche mit Papageienschnabel, Seitenschneider, Dichtungshanf, Federn, Nägel, Kerzen, Wachsstreichhölzer und noch andere Dinge, die viele Jahre alt waren und die nie jemand hatte haben wollen. Von allem, was er einem zeigte, behauptete er, es sei deutsch. Deshalb wurde er Panzer genannt.

»Aniè, willst du was von diesem Provola aus Agerola kosten, den ich habe? Der ist auch deutsch«, foppte ihn Don Michele, der mit seinem Lieferwagen voller Provola-Käse und Salami aus Nocera kam. Aus Gefälligkeit bot er allen, die vorbeikamen, Oliven an.

»Was wisst ihr denn schon, ihr lebt in diesen abgeschiedenen Nestern, ich komme bis hierher, und so dankt ihr es mir«, antwortete Don Aniello. »Die Deutschen sind eine andere Zivilisation als wir, was die machen, funktioniert, nicht wie bei den Italienern oder den Neapolitanern.«

Das Einzige, was mich an Don Aniello Panzers Lieferwagen interessierte, war die Ware, die er an der Seitenklappe feilbot. Die Stelle hatte er weniger im Blick. Es gab Schachteln mit Blei- und Buntstiften, Dreiecke für technische Zeichnungen, Zirkel aus Metall und aus Holz, kleine Gebetsbücher mit Schutzengel auf dem Einband. Ich suchte Hefte. Zu drei Stapeln geordnet: welche mit Linien, welche mit weißen Seiten und welche mit Kästchen. Wenn Don Aniello Panzer mit irgendeiner Frau über die Aussteuer der zu verheiratenden Tochter redete, klaute ich ein Heft. Ich zog den Bauch ein und steckte es in den Gürtel. Der Pappumschlag klebte an der Haut, und zu Hause musste man ihn behutsam ablösen wie die mit Alkohol getränkte Mullbinde, die mit der Kruste zusammenpappt, und man weiß nicht, was mehr wehtut, die Wunde oder der Verband. Ein Rechteck mit roten Rändern blieb zurück, genauso groß wie das Heft.

Als Erstes schnupperte ich an ihm. Der Geruch des neuen Papiers erinnerte mich an eine Stelle im Wald, wo die Luft nach Gras und Pilzen riecht. Teresa hatte mir gesagt, Papier werde aus Bäumen gemacht, und ich meinte, jeden einzelnen Stamm wiederzuerkennen, dem ich begegnet war. Im Schweinestall tat ich so, als würde ich schreiben. Ich machte Häkchen, Kringel, gestrichelte Linien, dann die Buchstaben, die ich kannte, und schließlich verband ich alles zu etwas, das nach einer Schrift aussah. Ich konnte nicht schreiben, aber ich hatte eine Sprache erschaffen. War jede Seite des Heftes ganz mit Zeichen bedeckt, verbrannte ich es im Eimer, zusammen mit dem im Wald gefundenen Reisig. Dann holte ich mir ein neues Heft, das ich in der Matratzenwolle versteckte, und begann von vorn.

Am Nachmittag verließ ich den Koben, um zu Teresa zu gehen. Der Himmel hatte sich mit Wolken gefüllt, und von irgendwo ganz nah zog der Geruch nach Regen heran. Ich wanderte durch den Wald und folgte einem Pfad, der sich wie von selbst gezeigt hatte.

»Teresa«, sprach ich den Namen leise vor mich hin, wie um mich an den Grund für die Kratzer auf den Armen zu erinnern, die mir das Gestrüpp zufügte, wenn der Pfad sich verengte. Durchquert man den Wald, will er einen umschließen und verdauen wie eine gewaltige fleischfressende Pflanze.

»Teresa«, sagte ich noch einmal.

Ich fand sie im Büro ihres Vaters im ersten Stock, in dem sich die Kunden ihre Quittungen holten.

»Wenn du wegen der Seile hier bist, komm morgen wieder. Mein Vater ist nebenan.«

Sie sprach, ohne von der Liste aufzusehen, die sie vor sich hatte. Mit den Fingern fuhr sie das Blatt hinunter, hielt inne und machte eine Markierung mit dem Stift.

»Ich bin nicht deshalb hier«, sagte ich.

»Was willst du dann?« Sie hörte auf zu lesen und wandte sich mir zu. Ich kannte die Bewegung ihres Kopfes auswendig.

 

In meiner persönlichen Geografie war Teresa ähnlich wie das Meer, weil ich beide nur aus der Ferne kannte. Alles, was ich wusste, wusste ich nur, weil sie mir davon erzählt hatte. Von den Alpen, von Pompeji und Herculaneum, vom Kolosseum, von den Pyramiden, dem Ozean. Aus all diesen Orten blitzte ein Stückchen von ihr hervor, sie schien in den Dingen, die sie mochte, enthalten zu sein, und vielleicht wollte sie sich, genau wie die Pfade im Wald, im Verknüpfen ferner Dinge offenbaren.

Vom Meer hatte sie mir erzählt, weil sie jedes Jahr mit ihrer Familie in das Haus in Amalf‌i fuhr. Dort gab es eine Eisentreppe, die sie direkt an einen Strand voller glatter, bunter Steinchen brachte, die kleine Mulden bildeten, wenn man darüber lief. Ein paar davon bewahrte sie im Bücherregal in ihrem Zimmerchen auf, sie sahen aus wie Glas. An diesem kleinen Strand verbrachte Teresa die Zeit mit Lesen und Sonnenbaden. Ihr Vater kehrte wegen der Seilerei ins Dorf zurück, und sie, ihre Mutter und ihre Tante blieben bis Ende August zum Baden, zusammen mit den anderen Damen, die das Haus nebenan gemietet hatten. Teresa kehrte mit gebräuntem Gesicht und den feinen, weißen Striemen der Badeanzugträger zurück. Sofort ging ich sie besuchen, um den hellen Streifen Haut zu sehen, der irgendwo auf ihrer Brust begann und sich bis auf den Rücken zog. Mit den Augen folgte ich dieser Geraden zwischen den Sommersprossen, die ihr die Sonnenbräune jeden Sommer verlieh.

Wenn ich sie besuchte, wusch ich mir das Gesicht im Wildbach und versuchte, meine Haare in Form zu bringen. Das kalte Wasser spannte die Haut, sie fühlte sich glatt und sauber an. Genauso stellte ich mir ihre vor. Auf dem letzten Stück Weg verschwanden die Tröpfchen aus dem Gesicht, und das Gefühl verflüchtigte sich.

Sie hatte angefangen, mir die ersten Buchstaben des Alphabets beizubringen. Sie zeigte mir, wie man den Stift hielt und wie man in der Zeile blieb. Schreiben hatte etwas mit dem Körper zu tun, es war, wie die Wassereimer zu tragen oder den Karren zum Markt zu schieben. Ich hatte mir ihre Schrift eingeprägt, um die Buchstaben zu lernen. Wir waren erst am Anfang, aber dann sagte sie mir, ihr Vater wolle das nicht. Also sprachen wir nicht mehr davon. Jedes Mal, wenn ihr Vater mich sah, fragte er mich nach den Schweinen und nach einem besonders fetten, das ich ihm bringen sollte. Er tat das, um mich daran zu erinnern, wo mein Platz war und dass sich an manchen Gesetzen nicht rütteln ließ. Ich sollte nicht vergessen, dass ich nur dank der Barmherzigkeit seiner Tochter in seinem Haus war: Er duldete mich, weil ich ein Krüppel war. Im Dorf gab es noch andere Verehrer, auch wenn sie nie mit mir über diese Dinge sprach. Dann befühlte ihr Vater meine Haare über der Stirn, die noch nass vom Wasser des Wildbachs waren.

»Schau, dass sie schnell trocknen, sonst wirst du noch krank, und dein Vater hat nur dich.«

Ich hoff‌te immer, ihm nicht zu begegnen.

 

Ich habe mich nie gefragt, ob Teresa hübsch war. Das war sie, vielleicht weniger als andere Mädchen, von denen ich glaubte, alle wären hinter ihnen her. Sie hatte dunkles Haar und herkömmliche Züge wie ihre Mutter und ihre Cousinen. Alle Frauen von Tora e Piccilli waren von einer einzigen Frau geboren worden, deshalb sahen sie einander ähnlich. Doch war sie keine heitere Schönheit, ihr Gesicht neigte zum Drama, ihre Schönheit war schwermütig und ruhelos.

»Lies das«, sagte ich und hielt ihr das Flugblatt hin. Darauf waren Zeichnungen von ungestalten Männergesichtern. Die Nase groß und krumm, der obere Teil des Schädels gewaltiger als der Rest. Die Ohren riesig.

»Lies«, drängte ich. Diese Zeichnungen faszinierten und verstörten mich gleichermaßen.

»Das ist eine Art Kinderreim«, erklärte sie mir. »Der Satz erklärt, was auf der Zeichnung zu sehen ist. Hier steht: ›Die Nase der Juden hat die Form einer Sechs.‹«

»Was bedeutet das?«

»Weißt du, wie man eine Sechs schreibt?«

Ich trat an den Tisch, an dem sie saß, und schrieb eine Sechs auf ein Blatt. Der Kringel war zu groß, und der obere Strich wollte der Krümmung nicht folgen, aber für das, was Teresa mir zeigen wollte, reichte es aus.

Sie nahm das Blatt, hielt es sich vors Gesicht, und die Sechs wurde zu ihrer großen, krummen Nase.

»Sehen die, die kommen, so aus?«, fragte ich.

»Das geht gar nicht, sei nicht albern.«

»Aber es steht hier.«

»Für dich muss also nur etwas auf ein Stück Papier gedruckt sein, damit es wahr ist?«

»Hast du schon mal einen gesehen?«

»Erinnerst du dich an Signor Horowitz? Er kam aus Caserta, um Dreißig-Meter-Rollen für seine Baustellen zu kaufen. Seine Bestellung habe immer ich fertig gemacht. Er konnte Englisch, weil er als Kind mit seiner Mutter in London gelebt hatte, und jedes Mal, wenn er kam, brachte er mir ein neues Wort bei. Dog, water, sky, yellow. Ich weiß sie bis heute. Er war Jude, das wussten alle.«

»Und wie war Signor Onovis?«

»Horowitz.«

»Horowis.«

»Dick wie mein Vater, glatzköpfig wie der Bruder meiner Mutter, der in Salerno wohnt, mit einer haarigen Knollnase wie die von Don Franco, er stank weniger als die Arbeiter hier in der Seilerei, und im Großen und Ganzen war er hässlich wie alle Männer, die ich kenne. Wo hast du das Flugblatt her?«

»Mein Vater hat es mitgebracht.«

»Kann dein Vater lesen?«

»So gut wie gar nicht. Er sagt, das braucht man nicht.«

»Dieses Zeug interessiert mich nicht.«

»Warum, glaubst du, schicken sie sie hierher?«

»Mein Vater hat gesagt, das sind Zwangsarbeiter. Die Regierung zwingt sie, hierherzukommen und auf den Feldern zu arbeiten.«

»Aber warum ausgerechnet hier?«

 

Teresa war ein Jahr älter als ich. Wenn sie den Hals drehte, sah man die Bewegung der Muskeln, als wäre ihr Körper durchscheinend. Neben dem Grundschullehrer Anastasi war sie der gebildetste Mensch in Tora e Piccilli. Kam ein Brief ins Dorf, wandten sich die Bauern aus zwei Gründen an sie: um ihn sich vorlesen zu lassen und weil sie wussten, dass sie niemandem davon erzählen würde. Teresa bewahrte die Geheimnisse der ärmsten Familien des Dorfes und kannte die Worte, die von Todesfällen und Geburten, Hochzeiten und plötzlichen Krankheiten berichteten. Die Bauern dankten ihr stets mit Eiern oder einem Stück Käse, egal, ob die Nachrichten gut oder schlecht waren. Einmal, nachdem sie eine Erbschaft verkündet hatte, kam Teresa mit einer Ziege nach Hause.

Nachmittags arbeitete sie in der Seilerei ihres Vaters. Sie führte die Bücher und zählte die ein- und ausgehende Ware. Ertappte sie Arbeiter dabei, dass sie ein Stück Seil klauten, um es zu verkaufen, sagte sie ihrem Vater nichts, änderte die Listen, und so veränderten die Bücher die Wirklichkeit.

»Mein Vater klaut mehr als seine Arbeiter, was soll schon sein.«

Ich wusste nur wenig über das, was sie in der Schule tat, und die wenigen Andeutungen über ihre Klassenkameradinnen waren bruchstückhaft: Aus unterschiedlichen Gründen schienen weder sie noch ich Freunde zu haben.

Von Teresa kannte ich nur ein winziges Stück. Der Rest war versunken wie die Stadt Atlantis oder wie der untere Teil der Eisberge im frostigen Ozean, von denen nur ein kleines Stück aus dem Wasser ragt. Das hatte sie mir erzählt.

Wie mich der Schwarze vor meinem Vater beschützte, so tat das Teresa vor den anderen Jungen, die sich über mich lustig machten. Sie grunzten wie Schweine, gingen auf allen vieren und taten so, als wälzten sie sich im Schlamm. Sie machten ein hinkendes Schwein nach. Ich empfand einen unerträglichen Schmerz, der sich in Wut verwandelte. Ich stürmte auf sie los. Und obwohl ich mich unglaublich schnell fühlte, erlaubte mir mein Bein nur kleine Schritte. Die Wut fand keinen Ausweg, ich redete mit mir selbst oder mit den Schweinen. Ich habe nie verstanden, warum Teresa beschlossen hatte, auf meiner Seite zu sein.

Ich dachte, sie täte es nicht für mich, sondern weil sie das Dorf im Grunde ebenfalls hasste. Sie verabscheute diese Familien, die, genau wie die ihre, sonntags schwatzend auf dem Kirchplatz beim Podestà standen, um allen zu zeigen, an was sie glaubten: an die Kirche und an den Faschismus, einen Gott im Himmel und einen auf Erden.

Teresa war die Einzige, die sagte, sie würde eines Tages fortgehen, und wie ich sie kannte, wusste ich, dass sie es ernst meinte.

»Und wohin?«, fragte ich.

Rom, Neapel, Mailand und manchmal auch: Paris, London.

»Das sind unsere Feinde«, antwortete ich.

»Ich habe keine Feinde«, sagte sie.

Wenn ich sie die Bücher führen sah, dachte ich, dass sie und ich die Arbeit unserer Familien fortsetzen und uns in unsere Eltern verwandeln würden.

»Meine Entscheidungen treffe ich selbst«, sagte sie.

Ihr Haar roch nach dem Hanf für die Seile, und jedes Mal, wenn ich die Seilerei betrat, meinte ich, sie überall zu sehen. Doch auch im Wald, auf einem Pfad zwischen Buchen und Storchschnabelblumen, nahm ich ihren Geruch wahr.

 

Teresa wohnte über der Fabrik, ihr Fenster ging auf den Hof hinaus, der auch als Ladeplatz diente. Über dem Eisentor am Eingang des Hauses stand Seilerei Glicine. Der Schriftzug prangte in weißen Lettern auf einem grünen Metallschild, genau gleich wie beim Kolonialwarenladen am Dorfplatz. Der erste und der letzte Buchstabe waren größer als die übrigen, und unter dem gesamten Schriftzug war ein Seil gemalt, das in das G und das e überging. Glicine war Teresas Nachname. Eines Tages erklärte sie mir, er bezeichne eine Farbe und auch eine Pflanze.

»Erzähl mir, wie die Farbe aussieht.«

»Farben kann man nicht beschreiben. Ich muss sie dir zeigen.«

»Dann sag mir wenigstens, mit was sie zu vergleichen ist.«

Sie überlegte einen Moment.

»Sie ist wie ein Veilchenblau, das zwei Tage im Wasser lag.«

Ihre Seilerei war die einzige der ganzen Gegend. Teresa sagte mir, mit Seilen binde man sich fest, um nicht abzustürzen, man brauche sie zum Schleppen, und ein Mann in Caserta habe eines ihrer Seile benutzt, um sich aufzuhängen. Dinge an sich seien nie gut oder böse.

Im Lager waren die Seile nach Länge geordnet. Zehn Meter, zwanzig Meter, dreißig Meter. Das zweite Ordnungskriterium war die Dicke, sie verriet, wie viel Gewicht sie tragen konnten. Es gab riesige Holzspulen, auf denen die Seile aufgewickelt wurden. Sie hatten die gleiche Form wie die Garnrollen, die meine Mutter in der Blechschachtel verwahrte und benutzte, um Rosettas Strümpfe zu stopfen.

 

Ich weiß nicht, ob Teresa und ich Freunde waren. Wir waren ein Junge und ein Mädchen, und in Tora e Piccilli wie in sämtlichen Dörfern, die ich kannte, heiraten Jungen und Mädchen und kriegen Kinder. Nie und nimmer beschützte ein Mädchen einen Jungen, und an dem Morgen, als sie es tat, machte Teresa klar, auf welche Art wir verbunden waren.

An dem Sonntag waren wir im Kirchhof. Die einzige mir beim Fußball gestattete Rolle war die des Torhüters: Ich erfüllte sie mit vollem Einsatz. Alles hing davon ab, wer diesmal der Mittelstürmer der gegnerischen Mannschaft war und ob er ein Tor machen oder mich foppen und mir den Ball auf den Pelz brennen wollte. Renato, der Apothekersohn, spielte den Ball nach vorn, dann stemmte er ein Bein auf den Boden wie eine Krücke und humpelte mit dem anderen voran. Alle lachten und guckten zum Tor. Ich lachte auch, weil ich nicht wusste, was ich tun sollte, und alles getan hätte, um so wie sie zu sein.

Teresa hatte die Szene mitangesehen. Bis dahin hatten sie und ich nie miteinander geredet. In einem Dorf wie Tora zu leben bedeutet, alle zu kennen: Alle wissen, wessen Sohn und wessen Enkel du bist. Sie wissen, wem das Land gehört, das jetzt dein Vater bestellt, und wer in deinem Haus wohnte, ehe du geboren wurdest. Wir hatten nie zuvor miteinander geredet und hätten es nie getan, hätte die Grausamkeit der anderen sie nicht tief im Herzen berührt. Ich sah, wie sie auf das Spielfeld kam. Sie hatte einen kleinen Ast vom Kirschbaum der Pfarrei abgerissen und steuerte auf die Mitte zu. Niemand achtete auf sie. Sie war ein dürres Mädchen, halb so groß wie die, denen sie entgegentrat. In den Händen hielt sie einen langen, knorrigen Zweig, der ihr ähnlich sah, näherte sich Renato auf Armeslänge und verpasste ihm damit einen heftigen Hieb auf die nackten Beine. Einen einzigen Streich. Ich sah, wie sich sämtliche verfügbare Energie in ihrem Arm ballte und dann entlud.

Von dem Moment an begann ich, an Teresa zu denken. Ein Wust wirrer Gedanken, die mit ihrem Haar und ihren mageren Armen zu tun hatten, die ich gern umfasst hätte. Erst später, als ich anfing, bei ihr ein und aus zu gehen, erkannte ich die Bewegung wieder: Es war die gleiche, die die Arbeiter in der Seilerei machten, wenn sie die Seile nebeneinander auf dem Boden des Lagerhauses auslegten. Sie ließen den Arm vorschnellen und schickten eine Art Welle durch das Seil. Einen Peitschenhieb. Sie hatte die älteste Bewegung vollführt, die sie kannte und die ihre ganze Familie mit einschloss. Teresa war sich offenbar sicher, dass Renato erst mal zu baff war, um zu reagieren, denn sonst hätte er sie grün und blau geprügelt. Blut tropf‌te auf die Spielfeldmitte der Pfarrei. Es war rot, leuchtend, so wie das gemalte Blut an den Händen von Jesus am Kreuz.

Dann lief Teresa auf mich zu.

»Hast du kapiert, dass du bei denen nichts verloren hast?«, schrie sie. »Du musst sofort verschwinden, geh zurück zu deinem Vater!«

Doch ich wollte nicht gerettet werden. Mein größter Wunsch war, wie die anderen Dorfkinder zu sein, und wäre sie nicht so versessen darauf gewesen, als Retterin aufzutreten, wäre es mir vielleicht gelungen.

»Hau ab!«, schrie sie.

Sie stemmte ihre Hände gegen meine Brust und versetzte mir einen Stoß, und nach dem ersten Stolpern rannte ich los, so schnell ich konnte.

In der Nacht träumte ich von dieser Berührung. Ihre Gewichtslosigkeit, die nervösen Arme, die sich streckten. Sie war außer Atem, ich sah, wie sich ihre Brust hob und senkte. Mit dem Abdruck ihrer Hände auf meiner Haut war ich losgerannt, und sie hatte das Gleiche getan, ein paar Meter waren wir gleichauf, dann zog sie an mir vorbei, und ich sah sie Richtung Dorf laufen, während ich die Abzweigung zu den Feldern nahm.

Renato war ins Krankenhaus gebracht worden. Jetzt trug auch sein Bein ein bleibendes Mal.

Noch nie hatte es in der Pfarrei einen derart gewaltsamen Vorfall gegeben. Teresas Familie machte eine Spende, und der Priester hielt eine Messe, zu der er den Heiligen einmal um das Spielfeld tragen ließ. Teresa wurde an die Spitze der kleinen Prozession gesetzt, die der Statue folgte. Auf dem Kopf trug sie einen Schleier, der ihr über die Augen fiel. Ihre linke Hand hielt eine Kerze, die rechte lag auf ihrem Herzen. Als die Leute sie fragten, warum sie es getan habe, verschwieg sie meinen Namen. Die Prozession bat den Heiligen um die Reinigung des Spielfeldes. Der Priester sprach das Gebet, dann kniete er sich an die Stelle, an der das Blut zu Boden getropft war, und verharrte einen Moment schweigend. Er hatte einen Heiligen für den Sohn eines Schweinehirten bemüht. Zusammen mit den anderen Dörf‌lern folgte ich dem Umzug. Ich bat die Statue, die Madonna, den Podestà, Mussolini, den Priester um Verzeihung, bekreuzigte mich dreimal, sprach ein Engel Gottes, mein Beschützer, und fügte, wo ich mich nicht erinnerte, aus dem Stegreif ein paar erfundene Worte hinzu.

In der Woche darauf ging ich in die Seilerei, um mich bei Teresa zu bedanken. Ich wartete ab, bis mein Vater das Dorf verließ, verriegelte die Tür des Kobens mit dem Brett und durchquerte den Wald. Mit meinem ersten Gang zu ihr legte ich den Pfad an, und mir war, als beichtete ich den Bäumen ein Geheimnis.

»Warum bist du hergekommen?«, fragte sie.

»Ich bin gekommen, um dir Danke zu sagen.«

Ich sagte es ihr auf Italienisch und nicht in der Sprache unseres Dorfes, die klang wie vom Vieh und vom Boden verhunzt. Ich wählte eine Sprache, die mich gut dastehen ließ.

»Du stinkst«, sagte sie.

Ich griff einen Hemdzipfel und hielt ihn mir unter die Nase.

»Kann sein.«

»Bevor du dich bei mir bedankst, musst du dich waschen.«

Sie brachte mich in den Hof und ließ mich das Gesicht, die Arme und Hände mit dem Schlauch waschen, mit dem sie die Seilspulen abspritzten. Das Wasser war kalt.

»Stell dich in die Sonne, dann bist du gleich wieder trocken«, sagte sie lachend. »Hast du außer diesen Sachen nichts Sauberes anzuziehen?«

»Die hier trage ich im Koben.«

»Nicht einmal welche für den Sonntag oder für die Feiertage?«

»Heute ist nicht Sonntag. Macht ihr hier Seile?«

»Steht doch draußen angeschrieben.«

»Ich kann nicht lesen.«

»Zu meinem Vater sage ich immer, wir könnten das Schild auch abnehmen, weil hier im Dorf eh niemand lesen kann. Ein Bild von den Seilen würde reichen.« Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Entschuldige, ich wollte dich nicht kränken.«

»Keine Sorge, du hast ja recht.«

»Was machen die Schweine den ganzen Tag?«

»Die sind in ihren Pferchen. Hin und wieder bringe ich sie raus. Sie warten.«

»Worauf denn?«

»Zum Metzger oder auf den Markt gebracht zu werden.«

»Wissen sie das?«

»Sie heulen und verstehen, dass die Zeit vergeht.«

Teresa zeigte mir, wo die Seilspulen aufbewahrt wurden, auch das Lager und das Büro, in dem ihr Vater arbeitete. Der Schreibtisch stand auf einem hölzernen Podest, von dort hatte man die Arbeiter im Blick, die dünne Fäden um eine hölzerne Winde verspannen, auf der das Seil mit jeder Drehung länger und dicker wurde. Teresa führte über die verkauf‌ten Seile, das eingekauf‌te Material und die Werktage der Arbeiter Buch. Mal nannte sie mich Davide, mal Buonasorte, als wäre ich zwei verschiedene Menschen.

 

Wenn ihr Vater nicht da war, übernahm Teresa manchmal den Platz eines Arbeiters. Einmal war ich dabei.

»Wenn dein Vater das erfährt, schmeißt er uns raus, und wir haben Familie«, sagten sie zu ihr.

»Immer diese Familienleier. Alle im Dorf haben Familien, das ist das Einzige, was wir haben.«

»Das sagst du nur, weil es für dich keinen Unterschied macht. An uns denkst du nicht.«

»Ich will nur zur Hand gehen, und ich will wissen, wie man das macht.«

»Dein Vater würde wütend werden. Du weißt doch, wie er ist.«

»Der ist immer wütend, und außerdem, woher wollt ihr wissen, dass ich ein besserer Mensch bin als mein Vater?«

Sie hatte gelernt, Seile zu spinnen, und konnte die dünneren um die Spule winden. Für die dreißig Meter langen brauchte es zu viel Kraft. Sie war kein schlechterer Mensch als ihr Vater, und die Arbeiter wussten das. Es gefiel ihr, bei allem, was sie tat, immer aufs Ganze zu gehen, und es war ihr zu verdanken, dass sämtliche Arbeiter zur Befana einen Korb mit Wein, Käse und Eiern geschenkt bekamen.

An den Nachmittagen in der Seilerei lernte ich Multiplikation und Division; dass Italien die Form eines Stiefels hatte, was mich bis heute zum Lachen bringt; dass Tora und Piccilli zwei winzige Nester waren und dass Caserta gar nicht die größte Stadt des Landes war, wie alle auf dem Dorfplatz behaupteten, wenn sie zum Beispiel einen besonders guten Arzt neben dem Königspalast aufgesucht hatten; ja dass andere Städte in Italien doppelt oder dreimal so groß waren. Vielleicht zehnmal.

Teresa fürchtete sich vor nichts. Sie fürchtete sich nicht einmal, den Schwarzen anzufassen. Sie sagte, sie habe noch nie ein so großes Tier gesehen, und als der Schwarze sie zum Verschlag kommen sah, senkte er den Kopf.

»Fass ihn nicht an. Er könnte dich angreifen«, sagte ich.

»Ich fürchte mich, also muss ich ihn anfassen.«