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Gelato D'Amore!
»Sofia tauchte den Löffel in das rosafarbene, das rötliche, das lilarote … das erdbeerfarbene Eis, führte es zum Mund und ließ es auf der Zunge zergehen. Erdbeereis schmeckte eindeutig wie ein Kuss.«
München, 1966: Sofia sehnt sich nach der wahren Liebe. Jeden Freitag im Eissalon Bella Italia träumt sie sich in den Süden: nach Venedig, den verheißungsvollen Sehnsuchtsort. Doch Eigenbrötler Lorenzo, der Besitzer des Salons, weiß, dass das Leben in Italien auch hart und entbehrungsvoll sein kann. Seit Generationen lebte seine Familie im Val di Zoldo, dem Tal der Eismacher. Bis zu dem einen, verhängnisvollen Tag, nach dem Lorenzo seiner Heimat für immer den Rücken kehrte ...
Eine fulminante Geschichte über die Eismacher, die das Gelato zu uns brachten.
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Seitenzahl: 338
1910: Das Leben im Val di Zoldo ist hart. Als das Tal die Familie Battaglia nicht länger ernährt, erweist sich Apollonia als erfindungsreich. Sie bringt die Köstlichkeit nach Wien, wo Gelato – Gefrorenes – unbekannt war.
1966: Für Sofia ist der wöchentliche Besuch im Eiscafé Bella Italia ein nahezu heiliges Ritual. Bei einer Kugel Erdbeereis träumt sie von Italien – und von Lorenzo, der ihr nach und nach die berührende Geschichte seiner Familie aus dem Val di Zoldo anvertraut.
Nico Mahler, 1974 in München geboren, studierte Geschichte und Politikwissenschaften und arbeitet als freier Journalist.
Sonntägliche Ausflüge in das Eiscafé Venezia seiner Heimatstadt gehören zu seinen liebsten Kindheitserinnerungen. Mit seinem Debütroman begibt er sich auf eine Spurensuche nach den Anfängen der Eismanufaktur und erzählt eine dicht gewobene deutsch-italienische Familiengeschichte über Generationen hinweg.
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Nico Mahler
Bella Famiglia
Sofia und die Kunst des Eismachens
Roman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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1: Erdbeer — München, Frühling 1966
2: Heidelbeer
3: Rollgerste
Val di Zoldo, Italien, April 1899
4: Äpfel — München, 1966
5: Holz — Val di Zoldo, Winter 1900
6: Birne — München, 1966
7: Kastanien — Val di Zoldo, 1901
8: Der Teufel
9: Die Karpaten
Transsilvanien, 1901
10: Franz-Josefs-Bahnhof
11: Salami — Wien, 1902
12: Blätter — München, Spätsommer 1966
13: Buongiorno
14: Mut
15: Der röhrende Toto
16: Eiszapfen
Wien, 1906
17: Marillen und Bananen — Italien, 1966
18: Der Kaiser — Wien, 1908
19: Der Kuss im Schnee — Val di Zoldo, 1966
20: Der Onkel auf dem Tisch
21: Rhabarber — Wien, Sommer 1913
22: Ein Wunder Namens Thekla
23: Besuch bei Onkel Max
24: Paukenschlag — Wien, 1914
25: Das Labyrinth — Venedig, 1966
26: Das lachende Tal
Val di Zoldo, der nächste Tag
27: Grappa
Val di Zoldo, dreißig Jahre früher
28: Oberfranken — Kulmbach, 1945
29: Lorenzos Entscheidung
Val di Zoldo, 1966
30: Hinter Belluno
31: Allegra — Longarone, Juni 1958
32: Die Stille nach dem Blitz
33: Der Heiratsmarkt
34: Emilio sei Dank
35: Der Damm
36: Tonino — Val di Zoldo, 1966
37: Es war eine Zeit — München, Winter 1966
38: Der Mann mit der Olive
39: Der Besuch
40: Wunderbar
41: Der richtige Schritt
42: Die Suche
43: Der Atem
44: Eisbecher Allegra
45: Hauptsaison
Impressum
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1
München, Frühling 1966
Ein Erdbeereis war wie ein Kuss. Konnte man das sagen? Denken durfte man es immerhin. Sofia tauchte den Löffel in das rosafarbene, das rötliche, das lilarote … ach was, sie tauchte den Löffel in das erdbeerfarbene Eis. Führte es zum Mund und ließ es auf der Zunge zergehen. Erdbeereis schmeckte eindeutig wie ein Kuss.
Das konnte man von Schokoladeneis nicht behaupten, erst recht nicht von Vanille. Vanilleeis hatte einen ernsten Charakter, süß natürlich, aber auch seriös. Deshalb wurde der Geschmacksgeber Bourbon Vanille genannt. Bourbon klang hoheitsvoll, königlich und ernst.
Erdbeereis erinnerte an die Frische eines Gartens, das Versprechen des Frühlings, die Aussicht auf einen Kuss. Sofia leistete sich Erdbeereis einmal in der Woche. Ihr Gehalt hätte ausgereicht, mehrmals in der Woche auf dem stillen Platz unter dem Kastanienbaum zu sitzen. Aber dann wäre das Ritual nicht mehr so heilig gewesen – ja, heilig war genau das richtige Wort dafür.
Wenn die Tage nach einem langen, grauen Winter endlich länger wurden, wenn erst die Forsythien, bald darauf die Birken und schließlich der wilde Wein ihr frisches Grün zeigten, wusste Sofia, es dauerte nicht mehr lange, bis das Eiscafé Bella Italia aus dem Winterschlaf erwachen würde. Die blauen Läden wurden aufgeklappt, sie waren azurblau, nicht bayerisch-blau. Diese Läden luden in kein bajuwarisches Paradies ein, sondern in ein südliches. In eine Welt, zu der ein Meer gehörte und Menschen, die gern lachten, außerdem ein wolkenloser Himmel und eine junge Frau namens Sofia. Ob ihre niederbayerischen Eltern diese Vorstellung gehabt hatten, als sie ihre Tochter Sofia nannten, wusste sie nicht. Sicher wusste sie aber: Waren die blauen Läden einmal offen, wurde eine Fahne gehisst. Gefrorenes! stand darauf, mit einem Rufzeichen. Und über dem Portal las man in voller Breite: Eiscafé Bella Italia.
Für Sofia stellte die Eissaison den eigentlichen Beginn des Jahres dar. Der stille Platz in München, den nur wenige Häuser säumten, hatte natürlich einen Namen, aber Sofia nannte ihn nur ihren stillen Platz. In der Mitte stand ein Kastanienbaum, der den Häusern eine Menge Licht nahm, aber im Sommer Schatten spendete. Die Tische, die unter der Kastanie standen, waren immer zuerst besetzt.
Sofia nahm den nächsten Löffel Erdbeereis, schloss die Augen und genoss.
»Noch ein Wunsch?«
Der Besitzer war herausgekommen, ohne dass sie es bemerkt hatte. Sofia fuhr zusammen. Wenn Männer sie zu plötzlich ansprachen, erschrak sie. Das war doch zu dumm. Der Eismacher sprach eben laut, weil er Italiener war.
»Nein danke.«
Groß war er und braun gebrannt, hatte schwarzes, welliges Haar, einen gestutzten Schnäuzer und die sonderbarsten Augen, in die Sofia je geschaut hatte. Waren sie grau oder grün? Jedenfalls blickten diese Augen in die Welt, als wollten sie eigentlich nichts sehen. Dieser Mann schaute auf unergründliche Weise nach innen. Er nahm die Bestellungen auf, servierte und räumte wieder ab, immer mit dem gleichen Ausdruck. Gern hätte Sofia ihn gefragt, warum er so ein finsteres Gesicht machte, aber das ging sie nichts an. Solange sein Eis so fruchtfröhlich schmeckte, durfte der Mann gucken, wie er wollte.
»Warum immer Erdbeer?«, wollte er heute wissen.
»Weil mir Ihr Erdbeereis am besten schmeckt.«
»Ja, aber jedes Mal nur Erdbeer.« Seine Stimme war freundlicher als das Gesicht. Die Laute rollten fröhlich daher und setzten sich im Ohr fest. Er hatte einen Akzent, wie man ihn von Italienern erwartete, dabei schien sein Deutsch perfekt zu sein. Er musste schon länger in München leben.
»Mir schmeckt Erdbeereis eben.«
»Warum probieren Sie nicht mal einen Becher aus?«
Sofia wollte ihr Eis weiteressen, bevor es schmolz und behielt demonstrativ den Löffel in der Hand. »Was für einen Becher?«
»Ich habe viele. Sehen Sie in die Karte.« Er schob ihr das Ding aus Pappe zu, das in einem kleinen Drahtständer festgeklemmt war. »Bananensplit wird viel genommen. Oder Schokobecher, Heidelbeerbecher. Oder sehen Sie: Erdbeerbecher.«
»Den esse ich doch gerade.«
»Sie essen Erdbeereis. Erdbeerbecher ist mit frischen Erdbeeren und Vanilleeis, mit Erdbeersoße und einem Schuss Likör.«
»Ein alkoholisches Eis?«, fragte sie überrascht.
»Kann ich weglassen. Auf Bestellung kein Likör.«
»Bei Ihrem Erdbeerbecher ist also gar kein Erdbeereis dabei?«
»Weil frische Erdbeeren drin sind. Was soll zu viel Erdbeer im Erdbeerbecher?«
Wenn er sich aufregte, wurde sein Deutsch schlechter, stellte Sofia fest. »Ich hatte mein Eis für heute schon. Ich kann doch nicht noch eines …«
»Beim nächsten Mal. Beim nächsten Mal probieren Sie einen Becher, ja?« Er richtete sich zu voller Größe auf.
»Aber nicht den Erdbeerbecher.«
»Warum nicht?«
»Ich habe sonst das Gefühl, ich werde meinem Erdbeereis untreu.«
***
Hätte es die Drehtür nicht gegeben, wäre Sofia häufiger in den Bahnhofskiosk gegangen. Zweimal in der Woche kaufte sie einen Roman aus dem Drehständer und eine Tüte Kieferbrecher. Herr Oskar, der Besitzer, bot die Bonbons, die auch Zahnarzt-Alptraum genannt wurden, am Tresen an.
München-Giesing war ein gemütlicher Bahnhof. Man kam, man fuhr, man wartete, plauderte und kaufte im Kiosk Proviant. Als man die Strecke München Ost nach Deisenhofen im 19. Jahrhundert errichtet hatte, war der Bahnhof ein ganzes Stück von Giesing entfernt gewesen. Mittlerweile hatte die Stadt ihn umzingelt. Die Strecke verlief vom Ostbahnhof über Giesing zum Perlacher Forst.
Herr Oskar kannte viele seiner Kunden beim Namen. Hier kauften Leute ein, die täglich in Giesing ein- oder umstiegen. Auch Sofia kam jeden Tag zweimal durch.
»Die braunen, wie immer?«, fragte Herr Oskar.
»Nein, bitte 100 Gramm von den roten.« Sofia machte ihre Geldbörse bereit.
»Für die Kinder?«
Sie nickte. »Meine Schützlinge sind ganz wild auf die roten.«
Während Oskar die Papiertüte füllte, legte sie ein Buch auf den Tresen. »Und das hier.«
»Der Korsar des Königs«, las Oskar. »Das scheint ein interessantes Buch zu sein. Viel Vergnügen damit.«
Sofia wusste, dass es Kitsch war. Sie las die Bücher aus dem Drehständer trotzdem gern. Zum Beispiel Kein Schnaps für Tamara oder Das Gesicht der Liebe. Der Titel mochte blöd sein, aber es war eine Geschichte, in die man sich herrlich fallenlassen konnte.
Sie hatte Zeit zum Lesen. Nicht nur zu Hause, auch im Heim blieben ihr freie Minuten, wenn die Kleinen Mittagsschlaf hielten oder selbstvergessen spielten und ihre Betreuerin komplett vergaßen. Dann setzte sich Sofia an den Zaun, der das Kinderheim Fasangarten umgab, und las ihr Buch. Manchmal blieben ihr nur Minuten, bevor ein Kind weinte oder es Streit gab, doch in die Geschichte vom Gesicht der Liebe kam man schnell wieder hinein. Sie freute sich auf den Korsar des Königs, weil das Buch sie ans Meer entführen würde. Mit ihren vierundzwanzig Jahren war Sofia Gottlieb noch nie am Meer gewesen.
Sie bedankte sich, zahlte und näherte sich der Drehtür. Beherzt lief sie in das Segment hinein, das sich vor ihr auftat. Sie schob und drückte, gleich würde sie die andere Seite erreichen. Bahnhofslärm schlug ihr entgegen.
Zwei Halbstarke drängten in die Drehtür, zusammen rempelten sie dagegen. Die beiden hatten mehr Kraft als Sofia. Das rotierende Gebilde wurde zum Ungetüm, das sie nicht mehr losließ. Von hinten schob die Glaswand sie weiter. Um nicht zu stolpern, folgte sie der Bewegung und landete genau dort, von wo sie vor Sekunden aufgebrochen war. Sofia hoffte, Herr Oskar habe ihre Niederlage nicht beobachtet. Sie strich die Jacke glatt, hielt die Bonbontüte vor die Brust und nahm den nächsten Anlauf.
Das Glas der Drehtür hatte einen Sprung. Bei entsprechender Beleuchtung zeigte es zwei Bilder gleichzeitig. Sofia sah sich selbst im Spiegel. Sie sah die unmoderne Frisur, das aschblonde Haar, hinten zusammengesteckt. Die Brille, die sie nur zum Lesen brauchte, aber häufig abzusetzen vergaß. Ihr Gesicht konnte man hübsch nennen, doch Sofia bemerkte darin nur die Fehler. Den vorstehenden Zahn, die dichten Brauen, die gezupft gehörten. Im Zerrbild jener Sekunde sah Sofia die Frau mit der Bonbontüte zweimal. Zweimal halb. Die geteilte Sofia. Und hinter der Spiegelung glaubte sie Gabriel zu entdecken. Er tauchte im Halbdunkel der Bahnhofshalle auf. Gabriel, der Mann mit dem himmlischen Namen, Gabriel, der teuflische Mensch. Panisch stieß Sofia die Tür weiter. Mit weichen Knien trat sie in die Halle und presste die Hand vor den Mund. Die Bonbontüte hielt der Bewegung nicht stand und zerriss. Ein Dutzend rote Kieferbrecher purzelten auf den Waschbeton. Leute drehten sich um. Ein kleiner Junge wollte eines aufheben. Seine Mutter verbot es ihm. Sofia hätte die Bonbons aufsammeln und wegwerfen müssen. Sie konnte nicht. Keinen Moment länger wollte sie in der Halle bleiben, wo Gabriel ihr erschienen war. Sie steckte die leere Papiertüte ein und rannte zu Bahnsteig Nummer 4, wo ihr Zug gleich kommen musste.
2
»Ich nehme einen Heidelbeerbecher«, sagte Sofia und zog den Reißverschluss ihrer Jacke hoch.
»Ach, da draußen sitzt tatsächlich jemand.« Der Besitzer stellte den Kragen auf und trat ins Freie. »Wieso sitzen Sie im Regen?« Er trug einen Anorak über seiner Schürze. Über Nacht war es eisig kalt geworden. Der April bestand darauf, dass der Winter noch nicht vorbei sei.
Um nicht nass zu werden, zog Sofia die Beine an und stellte die Füße unter ihren Stuhl. »Ich sitze doch im Trockenen, sehen Sie?« Sie zeigte in die Krone der Kastanie, die ihr Blätterdach über ihr ausbreitete.
»Wollen Sie hereinkommen?« Er verschränkte die Arme. »Ich habe auch drinnen Tische.«
»Ein Eis, finde ich, kann man nur im Freien essen. Einen Heidelbeerbecher bitte.«
»Mit oder ohne Sahne?«
»Bitte mit.«
Im Begriff, zurückzulaufen, drehte sich der Besitzer noch einmal um. »Moment: Heute ist Mittwoch.«
»Darf man am Mittwoch keinen Heidelbeerbecher essen?«
»Sie sind sonst immer am Freitag hier. Manchmal auch Samstag.«
»Und heute bin ich an einem verregneten Mittwoch im April gekommen.« Sofia schickte ein kleines Lächeln hinterher.
Sein Haar wurde vom Regen zusammengeklatscht. »Heidelbeer mit Sahne, subito.«
Sie hörte dem sanften Regen zu. Der heutige Tag war dumm gewesen. Ihr dummer Tag, so nannte sie den Zustand, wenn sich alles gegen Sofia stemmte. Normalerweise stand sie auf, machte Morgentoilette, frühstückte nicht, weil sie so früh nichts hinunterbekam, und nahm stattdessen Brote mit. Sofia fuhr die halbe Strecke bis Giesing. An einem guten Tag besiegte sie die Drehtür und kaufte etwas bei Herrn Oskar. Darauf fuhr sie die zweite Hälfte der Strecke, stieg in Fasangarten aus und lief das kurze Stück zum Kinderheim. Sie übernahm die Kinder von der Nachtbetreuung und informierte sich über außergewöhnliche Vorkommnisse. Schließlich setzte sich Sofia zu den frühstückenden Kindern.
An einem dummen Tag kleckerte sie im Bad mit der Zahnpasta. Das Marmeladenglas fiel hinunter. Sie brauchte zu lange, das klebrige Zeug aufzuwischen, und verpasste ihre Bahn. Beim Umsteigen hastete sie durch den Bahnhof, hatte keinen Blick für Oskar und die Kieferbrecher, erreichte das Kinderheim mit Verspätung und musste sich bei der Heimleiterin entschuldigen. Wenn sie sich schließlich zu den Kindern setzte, hatte sie Mühe, ihnen glaubhaft zu machen, dass alles wie immer sei. Kinder hatten ein feines Empfinden. Sie spürten, wenn es Sofia schlecht ging.
Das Ereignis in der Drehtür war schuld an ihrem dummen Tag. Seit einem Jahr war sie geschieden, hatte aber immer noch Angst vor ihrem Mann. Der Gerichtsbeschluss wies Gabriel an, sich seiner Exfrau nicht zu nähern. Bis jetzt hielt er sich daran. In Wirklichkeit gab es also nichts, wovor Sofia Angst zu haben brauchte. Ein Hirngespinst hatte ihr den Tag vermiest. Daher war sie nach Feierabend nicht wie üblich nach Hause gefahren, sondern hatte die Bahn in die entgegengesetzte Richtung genommen. Für Sofia kam das einer Revolution gleich. Der Besuch im Eissalon war für das Wochenende reserviert. Doch selbst der Regen hatte sie an diesem Mittwoch nicht abhalten können.
Der Besitzer brachte ein kleines Kunstwerk. Drei Eissorten im Glaskelch, darüber Sahne, eine Hohlhippe steckte darin, viele Heidelbeeren zierten das Gebilde. Wo hatte er im April Heidelbeeren herbekommen?
»Ecco.« Schwungvoll stellte er die Kreation vor Sofia ab.
»Danke. Das sieht sehr schön aus.«
»Sie werden sich verkühlen.«
»Ich werde nicht so schnell krank.« Krachend biss Sofia in die Hohlhippe.
Zehn Minuten später kam sie zu der Einsicht, dass sie nicht länger in der nassen Kälte bleiben sollte. Der Regen wurde stärker, die Kastanie war nicht mehr imstande, Sofia zu beschützen. Sie nahm den Eisbecher, ihre Tasche und lief ins Café.
Sooft sie schon auf dem stillen Platz gesessen hatte, hineingegangen war sie noch nie. Für mehr als zwei Tische reichte der Platz hier nicht. Bevor Sofia sich setzte, blieb sie staunend stehen.
Es mussten über hundert Bilder sein, größere und kleine, gerahmte Fotografien, fast alle in Schwarz-Weiß, viele stark verblichen. Diese Bilder zeigten Menschenleben, doch sie stellten eine andere Art Leben dar, als Sofia es kannte. Es waren Bilder von schwerer Arbeit, von Familien, die nicht in die Kamera lächelten. Diese Leute blickten dem Betrachter ernst entgegen, aufrecht standen sie da, Mütter hielten Kinder auf dem Arm. Sogar die Kinder hatten einen ernsten Ausdruck. Aus diesen Bildern schauten Menschen, die ihre Existenz bezeugen wollten. Wir sind da, schienen sie zu sagen. Es gibt uns. Wenn du, Fremder, das Foto betrachtest, wirst du Zeuge, dass es uns gegeben hat. Diese Bilder machten Sofia beklommen und neugierig zugleich.
Der Besitzer hielt sich im hinteren Raum auf, dort lief eine Maschine. Das Geräusch verstummte, er trat in das Café.
»Sie haben es sich anders überlegt?«
Sofia zeigte nach draußen, wo der herabströmende Regen den stillen Platz verschwimmen ließ. »Darf ich mein Eis hier fertigessen?«
»Ich habe es Ihnen angeboten.« Er rückte ihr einen Stuhl zurecht.
Sie aß schweigend ein paar Löffel. »Was ist das alles? Ich meine, diese Bilder.«
»Das ist meine Familie.«
»Die vielen Leute? Das können nicht alles Menschen aus Ihrer Familie sein.«
»Im Val di Zoldo sind wir alle irgendwie miteinander verwandt.«
»Val di Zoldo?«
»Mein Tal, unser Tal.«
»Dort sind Sie geboren?«
»Geboren wurde ich in Deutschland. Aber ich stamme aus dem Zoldotal.« Eine Geste in den Raum. »So wie all diese Menschen.«
»Haben Sie die Bilder aufgehängt, weil …« Sie suchte nach Worten. »… weil es Ihre Heimat ist?«
Mit einem Mal veränderten sich seine Augen. Der Blick, der Sofia oft nach innen gerichtet schien, öffnete sich. Ihr war, als sehe sie der Mann zum ersten Mal wirklich an. »Weil es meine Heimat ist.«
»Oh, Sie können ja lächeln.« Das rutschte ihr heraus, doch es war die Wahrheit.
»Natürlich«, entgegnete er verblüfft.
»Sie tun es viel zu selten.«
»Zum Lächeln braucht man einen Grund.«
Sie verstand ihn. Auch ihr wollte heute kein Lächeln gelingen. Solche Tage gab es.
»Ich heiße Gottlieb. Sofia Gottlieb.«
»Buona sera.« Er streckte ihr die Hand hin. »Ich bin Lorenzo Battaglia.«
Sie spürte einen warmen, festen Händedruck. »Buona sera, heißt das nicht guten Abend?«
»Stimmt genau.«
»Aber es ist gerade mal vier Uhr.«
»Nach zwölf Uhr mittags sagen wir Italiener buona sera.«
»Und bis zwölf Uhr Mittag?«
»Buongiorno.«
»Und was heißt guten Morgen?«
»Buongiorno.«
Hatte sie ihn eingeladen, sich zu setzen, oder nahm er sich die Freiheit einfach? Seine plötzliche Nähe irritierte sie. Sofia betrachtete die Bilder. Eines, das Risse und Kratzer hatte, fiel ihr besonders auf.
»Wer ist das zum Beispiel auf diesem Bild?«
»Das ist mein Großvater, Antonio Battaglia.«
»Wieso steht er an diesem großen … Was ist das?«
»Es ist ein Amboss. Er schmiedet Eisen.«
»Schmiedet«, wiederholte sie, als sei es ein Fremdwort. »Ich habe noch nie von jemandem gehört, der Eisen schmiedet.«
»Weil es heute keiner mehr tut. Es gibt kaum noch Schmieden, das erledigt jetzt die Industrie. Die meisten Schmiede sind gestorben.«
»Wieso?«
»Das ist nicht mit einem Satz zu beantworten.«
3
Im Jahr 1966 war das Leben modern geworden. Die Welt drehte sich rasanter als je zuvor, und jeder schien auf diesen glücklich rotierenden Planeten aufzuspringen. Nur Sofia Gottlieb zögerte. Das lag nicht an ihren fehlenden guten Absichten oder weil sie nicht mitbekam, wie es in der Welt zuging.
Die Beatles hatten Jesus Christus an Popularität abgelöst. Frank Sinatra sang Strangers in the night und Roy Black Ganz in Weiß. Die Rolling Stones machten die jungen Menschen verrückt, Bob Dylan machte sie nachdenklich. Überall wippten die Leute aus Sofias Generation mit den Hüften. Sie lernten die neuen Tänze und zuckten und hopsten und warfen ihr Haar durch die Luft. Viele trugen es lang und offen. Sofia trug es hochgesteckt. Die Menschen flogen über die Erde, die Flugzeuge wurden immer größer, eines war gerade in Japan gegen einen Berg geflogen. Die Menschen eroberten den Weltraum. Die Amerikaner kündigten an, eine Weltraumfähre auf den Mond zu schicken. Die Großmächte bedrohten einander mit Raketen, viele davon waren auf Deutschland gerichtet. Seit diesem Jahr gab es angeblich so viele Atomsprengköpfe, dass der Mensch sich und die Erde mühelos hätte auslöschen können. Leonid Breschnew war Oberhaupt der Russen, er hatte beeindruckende Augenbrauen. Bei den Amerikanern war ein junger Präsident ermordet worden. In Deutschland herrschte das Wirtschaftswunder, trotzdem trat Wirtschaftswunderkanzler Erhard zurück. Der neue Kanzler sei ein Nazi gewesen, hieß es.
Sofia fand, dass sie nicht besonders gut in die sechziger Jahre passte. Vielleicht hatte sie deshalb nur wenige Freunde. Vielleicht kamen ihre Eltern deshalb so selten zu Besuch nach München. Sofia saß auch allein im Eiscafé. Niemand begleitete und beriet sie, welchen Eisbecher sie nehmen sollte. Zu Hause erwartete sie niemand. Sofia Gottlieb verglich Erdbeereis mit einem Kuss und schaute in den Regen. Sie hätte gern mehr Zutrauen in das Morgen gehabt, doch das Gestern hatte ihr die Zuversicht genommen. Die Erinnerung war kein besonders schöner Ort für Sofia.
Meistens fand sie ihre Wünsche und Sehnsüchte so banal, dass sie sich schämte, sie vor sich selbst einzugestehen. Sofia wollte einen Kuss, der nicht nach Erdbeer schmeckte, sondern nach Liebe. Doch sie hatte festgestellt, dass es die Liebe am ehesten in den Romanen gab, die sie bei Herrn Oskar kaufte. In den Romanen lauerte die Liebe hinter jeder Ecke.
Obwohl es dunkel wurde, saß Sofia immer noch im Café, umgeben von Bildern. Hier fühlte sie sich seltsam wohl. Der Besitzer hatte ihr einen Tee gebracht, denn auch drinnen war es nicht besonders warm. Bestimmt hätte Lorenzo viel erzählen können, über dieses sonderbare Tal, seine Familie, seine Herkunft. Doch das hätte nicht zu der stillen Einsamkeit dieses Nachmittags, zum Geräusch des Regens gepasst. Umringt von vielen Bildern stellte sich bei Sofia ein größeres, ein umfassenderes Bild ein. Während die Dämmerung draußen den Platz einhüllte, öffnete sich ihr eine Zeit, in der es nur eine Möglichkeit gegeben hatte, um zu überleben: die Familie.
***
An diesem Frühlingstag hätte Antonio Battaglia gern länger gearbeitet, aber das schwindende Licht ließ das nicht zu. Die Sonne verabschiedete sich früh aus dem Val di Zoldo. Der Kienspan gab nicht genügend Licht, um Nägel zu schmieden. Große, lange, viereckige Nägel waren Antonios Spezialität. Mit ihnen wurden Häuser gebaut, Brücken repariert, diese Nägel hielten ewig. Tonino, wie ihn alle nannten, stellte Nägel in großer Stückzahl her.
Er löschte die eben geschmiedeten rot glühenden Nägel im Wasserbottich und legte den Riegel vor die Luftzufuhr der Esse. Ohne Sauerstoff ging das Feuer in Minuten aus. Er prüfte, ob in der Werkstatt noch irgendwo ein Stück Kohle glomm, das aus der Esse gesprungen war. Er gab dem Lehrjungen den Auftrag, eine halbe Stunde länger zu bleiben und die Asche danach in den Bach zu schütten. Feuer war der Helfershelfer eines Schmiedes, zugleich die größte Gefahr.
Als er später sein Haus betrat, rief er: »Gerschtnsuppe?«
Das Haus hatte sein Urgroßvater auf der Höhe von Zoldo Alto mit eigener Hand erbaut. Bis auf das Fundament bestand es aus Holz. Blickte man aus dem Tal zu den Bergen hoch, schien die Welt nur aus Fels und Stein zu bestehen. Aber Steine waren schwer heranzuschaffen, um ein Haus zu bauen. Holz brauchte man dagegen nicht zu holen, Holz gab es überall. Der Reichtum des Zoldotales war sein Wald. Bis zur Baumgrenze bedeckten Wälder diese Hänge. Die Menschen lebten vom Holz, seit sie die Region besiedelt hatten. Der Wald regierte, herrschte über das Tal. Was der Mensch brauchte, schenkte ihm der Wald.
Tonino Battaglia war nicht nur Schmied, sondern auch Köhler und Holzlieferant. Damit gehörte er zu denen, die es besser hatten. Er fällte Bäume, schaffte sie auf dem Ochsenkarren nach Longarone, von wo ihre Reise auf der Piave weiterging. Vom Wildwasser durcheinandergeschleudert, oft zerbrochen, verließen die Holzflöße die Berge, erreichten sanftere Regionen, glitten durch die Poebene, bis die immer langsamer fließende Piave sie bei Venedig wieder ausspülte. Das Holz der Battaglias wurde in der Lagunenstadt gebraucht.
Stämme, die nicht gerade genug gewachsen waren, zerkleinerte Tonino, stapelte sie in einem Meiler und verwandelte sie in Holzkohle. Diese Kohle nahm ihren Weg per Ochsenkarren nach Udine.
An der Haustür schnupperte Tonino noch einmal. »Gerschtn-suppe«, sagte er zu sich selbst, da er keine Antwort bekommen hatte. Seine Frau musste draußen sein. Er folgte dem Geruch, nahm den Deckel vom Topf und nickte: Es war tatsächlich Gerschtnsuppe. Tonino setzte sich an den Tisch und betrachtete seine Hände. Ein leises Tropfen, das Pech tropfte vom Kienspan in die Schale darunter. Apollonia war sparsam. Sie zündete die Petroleumlampe erst an, wenn alle sich zum Essen setzten. Bis dahin musste es der Kienspan tun.
Hungrig, wie er war, hätte sich Tonino gern ein Stück Brot genommen. Doch wenn er vorher etwas aß, kränkte das Apollonia. Er blieb im Halbdunkel sitzen.
In Mailand verwendeten sie schon dieses neue Licht, sogar auf den Straßen. Es war angeblich hundertmal heller als die Gasbeleuchtung, die er in Udine bestaunt hatte. Als die Stadtverwaltung das neue Licht zum ersten Mal eingeschaltet hatte, waren die Pferde vor Angst verrückt geworden, hatten wegen der plötzlichen Helligkeit gescheut und ihre Reiter abgeworfen. Elektrizität schien aus Blitzen gemacht zu werden.
Nur Gott herrscht über den Blitz, dachte Tonino. Es tat nicht gut, wenn der Mensch Gott den Blitz stehlen wollte. In einem Dreivierteljahr begann das neue Jahrhundert, das zwanzigste. Vielleicht macht das die Menschen übermütig.
»Warum nimmst du dir kein Brot?« Wie lange stand Apollonia schon in der Tür? »Du bist früh dran. Die Suppe ist gleich fertig.«
»Ich habe in der Werkstatt nichts mehr gesehen.«
»Soll ich dir ein Brot schneiden?«
»Später zur Suppe gern.« Er sah seine schöne, ernste Frau an. Wenn sie zu ihm trat und ihm die Hand gab wie jetzt, war Tonino überzeugt, er sei der glücklichste Mann auf Erden.
Die Kinder kamen wie der Wind, wie ein Schwarm Vögel, wie eine geliebte Plage. Sie drängten sich um den Vater. Er legte seine Hände auf ihre Köpfe und nannte sie beim Namen. Sie stritten um die Plätze neben ihm, obwohl jeder wusste, dass der ältesten Tochter das Vorrecht zukam.
Apollonia rührte in der Suppe. »Wer macht das Licht an?«
Wieder gab es Geschrei, alle wollten die Petroleumlampe entzünden. Tonino winkte seinen Jüngsten zu sich.
»Tancredi, traust du dich schon?«
»Nein, Papa«, antwortete der Kleine ehrlich.
»Du willst die Lampe nicht anmachen?«
»Lass das lieber Giacinta tun.«
»Warum willst du nicht?«
»Weil es buff macht.«
»Natürlich macht es buff.« Tonino lächelte. »Wenn sich der Docht mit dem Petroleum vollgesogen hat und du die Flamme daranhältst, soll es ja buff machen. Sonst wird es nicht hell und wir sehen nicht, was wir essen.«
Das fanden alle lustig. Albernd führten die Mädchen die Löffel nicht zum Mund, sondern an die Nase. Nur Tancredi blieb ernst.
»Ich mache es mit dir zusammen«, sagte der Vater, stand auf und nahm den Kienspan aus der Halterung. Er wusste, indem er Tancredi vorzog, degradierte er die Älteren. Doch der Sechsjährige sollte selbstbewusster werden.
»Du drehst zuerst den Docht nach oben«, sagte der Vater.
Tancredi stieg auf einen Stuhl, hielt die Lampe fest und drehte an der Stellschraube. Im Inneren wuchs der Docht empor.
»Nicht zu weit, sonst verbraucht es zwar Petroleum, gibt aber keine Helligkeit.« Tonino hob das bauchige Glas an und hielt die Flamme an den Docht. Alle verstummten. – Es machte buff. Tancredi lachte. Die blaue Flamme überzog den Docht. Antonio schloss die Lampe. Wie von Zauberhand wurde es in der Stube hell. Tonino konnte die kleinen, lachenden, ein wenig schmutzigen Gesichter seiner Kinder sehen. Er hob Tancredi vom Stuhl. »Gut hast du das gemacht. Morgen bist du an der Reihe, Giacinta.« Damit war die Gerechtigkeit wieder hergestellt.
Toninos schwarz gelocktes Nesthäkchen, sein einziger Junge neben vier Mädchen, zog sich auf seinen Platz zurück. Apollonia brachte die Suppe. Sie roch wunderbar, doch es fehlte etwas.
Tonino sah seine Frau an. »Kein Rauchfleisch?«
»Beim nächsten Mal.«
Er betrachtete ihr gutes, liebes Gesicht. Ohne dieses Gesicht lohnte das Leben nicht. Ohne diese Frau gab es die Liebe nicht. Er drückte ihre Hand. »Also beim nächsten Mal.«
Für die Gerschtnsuppe brauchte es kein Fleisch. Rollgerste, Kartoffeln und Karotten machten auch satt. Rauchfleisch war teuer. Apollonia hatte die Suppe stark gesalzen, so bekam man eine Ahnung von dem stark gewürzten Räucherfleisch.
Alle hielten ihre Holzlöffel bereit. Antonio faltete die Hände. Sie dankten für die Mahlzeit, sie beteten mit gesenkten Köpfen. Das Amen war noch nicht verklungen, als der erste Löffel in die Gerschtnsuppe tauchte.
4
München, 1966
Das Kinderheim Fasangarten war weder Kindertagesstätte noch Internat noch Waisenhaus, sondern alles zusammen. Hierher brachten Familien ihre Kinder, wenn sie es sich nicht leisten konnten, ein Kind großzuziehen. Die Gemeinde München nahm ihnen die Aufgabe ab. Solche Eltern besuchten ihre Kinder, manche häufiger, manche seltener. Hierher wurden aber auch Kinder aus zerrütteten Verhältnissen gebracht, weil das Jugendamt es so bestimmte. Es gab Halbwaisen, deren einziger Elternteil sich von einer schweren Krankheit erholte, bevor er oder sie das Kind wieder zu sich nehmen konnte. Verschreckte, stille Kinder waren dabei, andere von übertriebener Fröhlichkeit. Ihnen allen war gemein, dass sie um das Vertrauen ins Leben rangen. Sofia empfand es als ihre einzigartige Aufgabe, den Kindern auf diesem Weg zu helfen und für sie da zu sein.
Es gab Zeiten, in denen sie sich fragte, ob ihre eigene Einsamkeit sie hierhergeführt hatte. Nein, dachte sie dann, es war ein Privileg, in Fasangarten arbeiten zu dürfen. Da das Heim nahe dem Perlacher Forst lag, glaubte man, mitten in der Natur zu sein. Zugleich war der Friedhof Perlach nicht fern. Sofia hatte das Gefühl, dass an diesem Ort junges Leben, der Tod und die Natur eine Verbindung miteinander eingingen.
Manchmal lief sie zu den Gräbern hinüber und spazierte zwischen jenen Menschen umher, die das große Abenteuer schon hinter sich hatten. Die Lebenden bemühten auf den Grabsteinen oft große Worte, um die Verstorbenen zu ehren. Unvergessen für immer – Die Liebe währet ewiglich, hieß es da, doch das Wort ewiglich war vom Efeu bereits überwuchert worden. Geißblatt und Efeu erwiesen sich stärker als große Worte.
Gerechtigkeit und Gleichheit waren im Heim die wichtigsten Prinzipien. Jedes Kind sollte spüren, dass es unter kleinen Schwestern und Brüdern gut aufgehoben war. Manche stellten sich geschickter auf dem Spielplatz an, andere malten und zeichneten gut, wieder andere fielen durch Klugheit oder Nachdenklichkeit auf. Es gab solche, die sich Führungsqualitäten anmaßten und eine Clique um sich scharten, andere blieben lieber allein. Die Gemeinschaft bot ihnen einen Raum, in dem jeder die gleichen Rechte besaß. Sofia war die Hüterin dieses Prinzips.
Trotzdem verteilte auch sie Zuneigung und Aufmerksamkeit unterschiedlich. Guido Rösler war fünf Jahre alt, ein Kind mit braunen Locken und neugierigen Augen. Sofia faszinierte seine Fähigkeit zur Konzentration. Wenn er sich einer Aufgabe, einer Beobachtung widmete, versank um ihn die Welt. Guido war eher ernst als ausgelassen, eher ungeschickt als sportlich.
Hilde, seine Mutter, kam selten nach Fasangarten, manchmal wochenlang nicht. Trotzdem stellte sich Guido an jedem Besuchstag zu den Mädchen und Jungen, die mit der Anreise ihrer Verwandten rechnen konnten. Wenn es so weit war, liefen sie zu den ankommenden Autos, wurden begrüßt, in den Arm genommen und freuten sich über Geschenke.
Anfangs hatte Sofia angenommen, Guido würde nach den regelmäßigen Enttäuschungen in den Aufenthaltsraum zurückkehren und sich traurig in eine Ecke setzen. Sie täuschte sich. Der Junge lief abseits in die Büsche und spielte sich den Besuch seiner Verwandtschaft einfach vor. Er begrüßte nicht nur Hilde, seine Mutter, sondern eine ganze Schar von Leuten. Tanten und Großeltern waren darunter, Freunde und Cousinen. Guido rief: »Ach, wie schön, Papa! Ich danke dir für das Geschenk!«
Laut Auskunft seiner Mutter war Guidos Vater vor dessen Geburt gestorben. Sofia sprach mit dem Heimpsychologen, ob man in diesem besonderen Fall kindlicher Phantasie etwas unternehmen sollte. Da Guido sein Spiel als eine Art Theatervorstellung verstand und sich nicht dauerhaft in eine Traumwelt zurückzog, riet der Psychologe dazu, den Jungen praktische, konkrete Dinge tun zu lassen. Er sollte an dem neuen Baumhaus mitbauen oder im Garten helfen oder Fußball spielen.
Sofia dachte sich etwas Besonderes aus. Hinter dem Hauptgebäude, vom Perlacher Forst begrenzt, hatte das Heim einen Obstgarten. Dort wuchsen die üblichen Beerensorten. Im Sommer kamen die Kleinen oft mit rot verschmiertem Mund und Magengrimmen zurück, wenn sie von den unreifen Brombeeren genascht hatten. Dicht am Zaun stand ein Apfelbaum. Jeden Herbst hing er so voller Früchte, dass sich die Zweige bis zur Erde bogen. Die Äpfel schmeckten nicht besonders und wurden von den Kindern verschmäht. Sofia wollte nicht, dass sie einfach abfielen und auf der Erde verrotteten.
Letzten Herbst hatten Guido und sie sich zur Aktion Apfelbaum aufgemacht. Tagelang waren sie mit ihren Körben zu dem Baum gepilgert, hatten erst die Früchte vom Boden aufgesammelt, dann die Leiter angestellt und mit der Ernte in luftiger Höhe weitergemacht. Guido erwies sich als geschickter Kletterer, der selbst den unerreichbarsten Apfel pflückte.
»Lass den lieber hängen!«, rief Sofia ein ums andere Mal, aber Guido bewies ihr, dass kein Apfel vor ihm sicher war. Sofia, nicht schwindelfrei, war froh, nicht selbst hinaufzumüssen. Am Ende hatten sie mehrere Waschkörbe voller Äpfel gesammelt.
»Damit fahren wir jetzt zum alten Ludwig«, sagte Sofia.
Ludwig war ein Schnapsbrenner, dem man ansah, dass er im Leben schon viel von seinem eigenen Produkt genossen hatte. Er zeigte Guido die Behälter, wo die Früchte hineinkamen, wie ihr Saft gewonnen, vergoren und schließlich gebrannt wurde, bis nur noch der Geist einer Birne, einer Zwetschge oder Vogelbeere übrig war. Guido verstand nicht, was mit Geist gemeint war, aber er roch es. Der Geruch der Birne war noch da, zugleich hatte sie sich in etwas Hochprozentiges verwandelt.
»Machen wir das auch mit unseren Äpfeln?«
»Aber nein, wir brennen doch keinen Alkohol.« Sofia lud die Waschkörbe in den Lieferwagen des Heimes. »Wir bitten Ludwig nur, Saft daraus zu machen.«
In der Brennerei schätzte Ludwig die zu erwartende Ausbeute. »Hundert Liter, so viel dürften es schon werden.«
»Hundert!«, rief Guido. »Da können wir ja den ganzen Winter Apfelsaft trinken.«
»Nur, wenn ihr ihn sterilisiert«, gab Ludwig zu bedenken.
»Was ist sterilisiert?«
Eine Woche später lieferte Ludwig vier bauchige Behälter an das Kinderheim, 25 Liter Saft waren in jedem. »Ihr müsst euch beeilen«, sagte er. »Der kippt sonst bald.«
Die Heimleitung gab Sofia die Erlaubnis, einen Teil der Küche für ihre alchemistischen Künste zu benützen.
»Wir müssen verhindern, dass sich der Apfelsaft in Alkohol verwandelt«, erklärte sie Guido und Rosa, einem Mädchen, das auch helfen wollte.
»Was ist der Apfelsaft, wenn er zu Alkohol geworden ist?«
»Most«, antwortete Sofia. »Zuerst Süßmost, danach wird er immer saurer, und am Ende ist es Essig.«
Die drei kippten den Saft in Suppentöpfe und erhitzten ihn auf 80 Grad Celsius. Dabei wurden die Bakterien getötet, die den Gärungsprozess eingeleitet hätten. Rosa überprüfte die Temperatur mit einem großen Thermometer. Guido hielt die Flaschen bereit, setzte in jede einen Trichter, worauf Sofia den heißen Saft vorsichtig hineingoss. Guido verschloss die Flaschen luftdicht. Die Küche und das ganze Heim rochen tagelang nach heißem Apfel. Es war eine wunderbare Arbeit. Alle drei waren traurig, als der letzte Behälter geleert war. Stolz standen sie um die Holzkisten, in die Guido die Flaschen einsortiert hatte. Es waren 95 Flaschen des besten, selbst gemachten Apfelsaftes. Die Heimleitung lobte Guido und Rosa. Alle Kinder bedienten sich gern, bekamen aber jeweils nur ein Glas, um Bauchgrimmen zu vermeiden.
5
Val di Zoldo, Winter 1900
Der Winter war lang und hart im Zoldotal. In Nordwestlagen türmte sich der Schnee manchmal vier Meter hoch. Im Haus der Battaglias wurde die Schneelast in den dunklen Monaten zur Bedrohung. Das alte Dach widerstand dem Wetter seit über hundert Jahren, doch in diesem Winter machte der nasse Schnee Tonino Sorgen. Alle paar Tage stiegen er und der Knecht hoch, hackten den vereisten Schnee auf und schaufelten ihn vom Dach. Unten lachten die Kinder, weil der Vater dort, wo sonst die Ziegenweide war, die Schräge der Schneewächte einfach hochlief, unter der das alte Haus kaum noch zu sehen war. Der Schnee begrub die Häuser, die Ställe und die Menschen. Mehrere brachen in diesem Winter in der Schneedecke ein und erfroren.
Im Keller und auf der Tenne stapelte sich Brennholz vom Boden bis zur Decke, um die Menschen über die eisige Zeit zu bringen. Im Herbst, nachdem sie das Schwein geschlachtet hatten, ließ Tonino sogar den Schweinestall mit Holz auffüllen. Das war eine Arbeit für die Kinder. Liebevoll dachte er daran, wie seine Mädchen und Tancredi sich mit den Bengele abgemüht hatten. So nannte man die dicken Äste von frisch gefällten Nadelbäumen. Die Kinder zerrten die nadelbehangenen Äste zu zweit, zu dritt von den steilen Hängen auf den Forstweg und warfen sie auf einen Wagen. War er voll, spannte Tonino ein Pferd davor. Die Kinder saßen auf. Die Kutschpartie zum Hof war Lohn und Freude für die Kleinen. Sie johlten, dass man es im ganzen Dorf hörte. Vor der Einfahrt zur Scheune hielt der Wagen. Die Äste mussten ins Trockene geschleppt und gestapelt werden. Immer wieder versicherten sie einander, dass die Familie diesen Winter nicht frieren werde, das sei das Verdienst der Kinder.
Frühmorgens wurde der Ofen mit seinen schönen, grünen Kacheln befeuert. Das Alter dieses Ofens war so lange nur geschätzt worden, bis Tancredi, der Kleinste, auf der Rückseite eine Fliese entdeckt hatte, in die etwas eingraviert war – 1789. Der Ofen war zur Zeit der Französischen Revolution gesetzt worden. Er hatte Napoleon überstanden, die italienische Nationalbewegung, die Angliederung der Provinz Belluno an die Lombardei, später an Südtirol und damit an das Reich der Habsburger. Die Unruhen des 19. Jahrhunderts waren auch durch das Zoldotal gezogen, und der grüne Ofen brannte noch immer.
Als Erstes zündete ihn die Magd mit kleinem Holz an, später schob der Knecht die ersten Bengele hinein, danach ganze Baumstämme. Das Feuer fraß sich in das trockene Holz, erhitzte die Schamottsteine bis zu einem Punkt, an dem man die Kacheln nicht mehr berühren konnte. Schließlich wurde nicht weiter nachgelegt, das Feuer glomm noch bis zum Nachmittag. Die gespeicherte Wärme verströmte sich im ganzen unteren Geschoss, der Ofen heizte Küche, Stube, Toninos Arbeitszimmer und die Werkstatt.
Die oberen Zimmer wurden selbst im tiefsten Winter nicht geheizt. Zum Schlafen legten sich die Kinder zusammen in ein riesiges Bett und wärmten einander gegenseitig. Das Schafzimmer der Eltern lag an der Westseite, das Gesinde schlief neben dem Stall, wo die Wärme der Tiere durch die dünne Holzwand den Aufenthalt angenehm machte.
Wenn das Thermometer draußen unter 20 Grad minus fiel, konnten die Kleinen nicht mehr oben schlafen. Solche Nächte waren eine besondere Freude für sie. Dann gab Tonino die Erlaubnis, dass sie auf die Kunst klettern durften. Die Kunst war ein mehrstufiger Fortsatz des Kachelofens, kleine Terrassen aus Speckstein, die vom Ofen Wärme zogen. Obendrauf rollten und kringelten sich die Kinder und schliefen manchmal ohne Decke; die Wärme des Ofens reichte aus. Wenn sie auf der Kunst übernachteten, wussten sie die Eltern in sicherer Entfernung. Dann wurde bis tief in die Nacht gelacht und geflüstert.
Der strenge Winter bereitete Tonino auch aus einem anderen Grund Sorge. Im März und April würde der Schnee schmelzen, die letzten weißen Flecken verschwanden erst im Mai. Solche Massen an Schnee bedeuteten, dass Bäche und Flüsse zu Wildwassern anschwollen. Überschwemmungen um die Stadt Belluno waren die Folge. Die sonst so sanfte Piave wurde zu einem ungebändigten Strom. Unter solchen Umständen war der Holztransport unberechenbar.
Das Holz wurde im Winter geschlagen, bevor die Bäume austrieben. Man rollte die gefällten Stämme von den Hängen ins Tal und schaffte sie auf Ochsenkarren an den Fluss, eine Strecke von nur 25 Kilometern, doch der Transport dauerte je nach Lust der Ochsen bis zu acht Stunden. In Belluno übernahmen die Flößer das Holz. Toninos Bruder Beppo, der mit seiner Familie an der Piave lebte, war einer von ihnen.
An einem Maitag des Jahres 1900 war alles Holz, das der Wald diesmal hergab, geschlagen, auf Karren geladen und zum Fluss geschafft worden. Auf dem letzten Wagen machte sich Tonino selbst auf den Weg. Er freute sich, seinen Bruder in Belluno zu besuchen. Als Kinder waren sie miteinander eng gewesen, sahen sich inzwischen aber nur selten.
»Es ist gefährlich«, sagte Tonino mit Blick aufs Wasser. »Gefährlicher als sonst.«
»Sie reizt uns.« Beppo nickte nachdenklich. »Sie lockt uns, unachtsam zu sein. Wer nicht aufpasst, den frisst sie«, setzte er hinzu, als spreche er von einem lebendigen Wesen. Sie, das war die Piave, die in seinem Leben die Rolle einer zweiten Frau einnahm. Jedes Jahr verbrachte er mehrere Monate auf dem Fluss. Seine Reise begann in den Dolomiten, dann durchquerte er die Tiefebene, bis die Holzflöße bei der Mündung in Cortellazzo das Meer erreichten. Venedig brauchte zu jeder Jahreszeit Holz. Die Serenissima kaufte alles, was Beppo lieferte.
Die Brüder schauten auf das schnellende, das sich umwälzende, das beängstigend rasante Wasser.
»Dieser Winter …« Tonino schüttelte den Kopf.
»Der Winter hat dem Wasser Kraft gegeben«, sagte Beppo. »Ich habe sie noch nie so hoch gesehen und so wild.« Er zeigte hinter sich, wo sich die Baumstämme meterhoch türmten. »Hier in den Bergen nützt uns das Holz nichts. In Venedig zahlen sie Höchstpreise. Du willst dein Geld, ich will mein Geld. Also muss ich fahren.«
»Pass auf dich auf. Und auf die anderen«, sagte Tonino.