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Ben und Lasse sind mit dem Zug auf dem Weg zur Oma, als ihnen Handy, Geldbeutel und ein wertvoller Ring gestohlen werden. Die beiden Brüder verfolgen den Dieb und entdecken, dass in einer verlassenen Villa eine Gangsterbande jemand gefangenhält. Schaffen es Ben und Lasse dem Entführungsopfer zu helfen ohne sich zu sehr in Gefahr zu begeben?
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Seitenzahl: 213
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Harry Voß
Ben & LasseAgenten hinter Schloss und Riegel
Harry Voß, Jahrgang 1969, ist seit 1995 als Kinderreferent hauptamtlich für den Bibellesebund e.V. tätig. Auf seinen Lesetouren und bei Kinderbibelwochen, Kinderfreizeiten und Bibelactionpartys ist er als Gitarre spielender Geschichtenerzähler unterwegs.
Nach dem Megaseller Schlunz hat Harry Voß mit Ben & Lasse eine neue erfolgreiche Buchreihe für Kinder ab 8 Jahre ins Leben gerufen.
Mit seiner Familie lebt Harry Voß in Gummersbach.
© 2018 Verlag Bibellesebund Marienheide
und SCM Verlag in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen
© 2019 der E-Book-Ausgabe
Bibellesebund Verlag, Marienheide
https://shop.bibellesebund.de/
Coverillustration: Georg Design, Münster (www.georg-design.de)
Covergestaltung: Luba Siemens, Marienheide
ISBN 978-3-95568-314-6
Hinweise des Verlags
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
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Inhalt
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„Da kommt der Zug!“
Ich weiß nicht, wer in diesem Augenblick am meisten aufgeregt ist: Mein kleiner Bruder Lasse, der schon seit einer halben Stunde auf dem Bahnsteig herumhüpft, als würde das Abenteuer seines Lebens beginnen? Meine Mutter, die mir inzwischen schon einhundert Mal gesagt hat, wo wir umsteigen sollen und dass ich auf jeden Fall immer auf meinen Bruder aufpassen muss? Oder ich selbst, der ich zum ersten Mal ohne meine Eltern so eine weite Strecke mit dem Zug fahre?
„Pass auf, Lasse!“ Mama fasst Lasse an der Schulter und zieht ihn einen Schritt von der Bahnsteigkante weg.
Lasse greift mit den Daumen unter die Trageriemen seines kleinen Rucksacks und atmet einmal tief ein und aus. „Das wird klasse!“, schnauft er und schaut mich mit großen Augen an. „Was, Ben?“
Ich bin im Moment nicht in der Lage, etwas Sinnvolles zu antworten. Auch ich halte die Träger meines Rucksacks fest umschlossen. Ich starre auf die weiße Schnauze der Bahn, die zwar noch in einiger Entfernung, aber eben doch schon deutlich zu sehen ist. Und damit ist klar: Ab jetzt gibt es kein Zurück mehr. Lasse und ich werden uns mutig und entschlossen ohne Mama und Papa auf den Weg zu Oma machen. Sie wohnt in Hasewinkel. Das bedeutet, wir müssen von hier aus erst mal mit dem ICE, also einem sehr, sehr schnellen Zug, bis Köln fahren. Dort steigen wir aus, haben fünfzehn Minuten Zeit, um in den nächsten Zug umzusteigen, der dann bis Bielefeld fährt. Dort holt uns Oma mit dem Auto ab und bringt uns in ihr Dorf. Fahrzeit insgesamt: dreieinhalb Stunden. Die genaue Reiseroute habe ich in der Seitentasche meines Rucksacks. Dort steht auch, auf welchem Gleis wir in Köln ankommen und von welchem Gleis wir dort weiterfahren müssen. Ist eigentlich ganz einfach. Zumindest für einen Agenten wie mich. Dazu muss man wissen: Wenn ich groß bin, will ich Polizist werden. Wie mein Papa. Der ist jetzt schon Polizist, bringt Verbrecher ins Gefängnis, verfolgt kriminelle Jugendliche und passt auf, dass unser Ort vor Einbrechern geschützt ist. Ich selbst bin auch gut in allem, was ein Polizist können muss: Ich kann gut beobachten, ich kann Menschen heimlich verfolgen, ich kann herausfinden, wer wann was gemacht hat und warum. Na gut, meistens handelt es sich bei den Dingen, die ich untersuche, nicht um Verbrechen. Sondern darum, wer zum Beispiel schon am Nachtisch gefuttert hat, wenn er nach dem Mittagessen auf den Tisch kommt. Eine tiefe Grube im Pudding in der Schüssel, ein abgeleckter Löffel, ein sechsjähriger Junge am Esstisch mit Puddingspuren im ganzen Gesicht, der knallrot wird, wenn Mama streng fragt: „Wer hat denn hier schon aus der Schüssel genascht?“ Spur eins, Spur zwei, Spur drei, kurz überlegen, kombinieren – fertig sind die Ermittlungen: mein kleiner Bruder Lasse ist der Täter. Vielleicht sollte ich noch anmerken, dass Lasse glaubt, ebenfalls ein Agenten zu sein. Natürlich ist er mit seinen Erstklässler-Fähigkeiten noch nicht so weit wie ich. Wenn er sein Portmonee sucht und es nicht sofort findet, platzt er in mein Zimmer: „Du hast meinen Geldbeutel geklaut! Gib’s zu!“ Und wenn ich dann frage: „Wie kommst du denn darauf?“, kommen so Hinweise wie: „Du guckst schon so grimmig wie ein Dieb!“ oder: „In meinem Zimmer liegt er nicht, also muss er ja bei dir sein!“ Wenn ich ihn dann frage, wann er seinen Geldbeutel zuletzt in der Hand gehabt hat, sagt er zum Beispiel: „Gestern, als ich mit Finn ein Eis gekauft habe!“ Dann gehe ich zu Lasses Jacke, und – zack – ziehe ich sein Portmonee aus der Jackentasche. „Den hast du da reingesteckt!“, knurrt mein Bruder dann, weil er nicht zugeben kann, dass er eben doch noch nicht so schlau ist wie ich. Na ja. Das lernt er schon noch. Ich bin immerhin schon elf Jahre alt und gehe in die fünfte Klasse. Klar, dass ich da schon mehr drauf habe als angehender Polizist. Darum habe ich mir vor einiger Zeit mal selbst einen Anstecker hergestellt mit der Aufschrift: „Agent Benjamin Baumann“. Mein Bruder hat daraufhin so lange gebettelt, bis ich ihm auch einen Anstecker gebastelt habe: „Agent Lasse Baumann“. Den habe ich ihm dann zu Weihnachten geschenkt. Und seitdem trägt Lasse ihn Tag und Nacht. Auch jetzt, wo wir am Bahnsteig stehen und auf den herandonnernden Zug starren wie das Kaninchen auf die Schlange.
„Vorsicht“, sagt Mama und zieht Lasse noch ein Stück zurück, obwohl wir meiner Meinung nach wirklich weit genug von der Bahnsteigkante entfernt stehen.
Der Zug brettert mit einer Geschwindigkeit an uns vorbei, dass uns die Haare fliegen. Lasse lacht. „Ich bin so aufgeregt“, sagt er für heute etwa zum tausendsten Mal. Dabei schaut er mich an, als wollte er von mir ein „Ich auch“ hören. Ich sage aber nichts. Ja, ich bin auch aufgeregt. Aber anders als Lasse. Und ich finde, als großer Bruder darf ich das nicht zeigen. Vor allem darf ich Mama keine Spur von Angst oder Aufregung zeigen, sonst macht sie sich noch mehr Sorgen als sowieso schon. Ja, ich habe ein bisschen Angst, dass wir den richtigen Bahnhof zum Umsteigen verpassen. Ja, ich bekomme jetzt schon Schweißausbrüche, wenn ich daran denke, wie wir auf dem riesengroßen Bahnhof in Köln das richtige Gleis zum Weiterfahren suchen und mein kleiner Bruder ausgerechnet dann aufs Klo muss oder sonst irgendwelche Schwierigkeiten macht. Ich starre auf den weißen Riesen von einem Intercity-Express und versuche, in die vorbeifliegenden Fenster zu schauen. Sie sind aber dunkel getönt, darum kann ich fast nichts erkennen, außer es sitzt jemand direkt am Fenster und schaut heraus.
Der Zug bremst. Eisen quietscht. Aus den Lautsprechern macht jemand eine Durchsage, aber die Bremsen des Zuges sind so laut, dass ich kein Wort verstehe.
Mama hält Lasse mit beiden Händen an den Schultern fest, als wollte sie verhindern, dass der Fahrtwind der Bahn ihn mitreißt und hinauf in den weiten Wolkenhimmel schießt.
Endlich ist der Zug stehen geblieben. Es ist 9 Uhr 45. Die Menschen auf dem Bahnsteig versammeln sich vor den Türen und drängeln, als gingen sie davon aus, dass nur die ersten zehn Leute mitgenommen werden. Die Türen öffnen sich, Menschen steigen aus. Einige tragen Koffer, einige zischen ohne Gepäck und mit Kopfhörern in den Ohren nach draußen, ohne nach rechts und links zu schauen. Manche schleppen sich mit dem Gepäck ab. Ein Mann, der draußen steht, hilft einer alten Dame, die sich mit ihrem Koffer plagt, beim Aussteigen. Dann quetschen sich die Menschen von draußen durch die Tür nach innen. Ich habe jetzt schon Angst, dass wir nicht mehr mit reinkommen, wenn sich alle vordrängeln und wir bis zum Schluss hier stehen.
„Also, dann macht’s gut“, sagt Mama und bemüht sich, tapfer zu lächeln. Ich sehe es ihren Augen an, dass sie mindestens so aufgeregt ist wie wir. „Ben, du weißt, dass ihr eine Platzreservierung habt, ja?“
„Ja, Mama, das weiß ich.“
„Wagen fünf, Platz 251 und 252.“
„Ja, Mama.“
Sie drückt mich kurz und fest an sich und flüstert mir ins Ohr: „Pass auf Lasse auf.“
„Ja“, knurre ich. So was können nur Erwachsene sagen. Natürlich passe ich auf Lasse auf. Er ist doch mein Bruder! Das würde ich auch tun, wenn Mama es mir nicht im Fünf-Minuten-Takt eintrichtern würde.
„Und meldet euch, wenn ihr angekommen seid.“
„Ja, machen wir.“
„Wo ist dein Handy, Ben?“
„In der Hosentasche.“
„Steck es lieber in den Rucksack. Nicht dass es dir noch rausfällt oder gestohlen wird.“
„Ich pass schon auf.“
Mama drückt Lasse an sich, als sähe sie ihn zum letzten Mal in ihrem Leben. „Tschüss, Kleiner“, haucht sie in seine Haare hinein. „Passt auf euch auf.“
„Ich bin nicht klein“, quakt Lasse. Aber er drückt sich an Mama wie ein Kleinkind, das seinen ersten Tag im Kindergarten vor sich hat. „Außerdem ist Ben ja bei mir.“
Mama lässt Lasse los und wuschelt ihm über den Kopf. „Ja, das stimmt.“ Sie lächelt mich noch einmal an und ich sehe, dass sie feuchte Augen hat. Jetzt bloß nicht heulen, Mama, sonst heule ich auch! Mamas dürfen nicht heulen! Mamas müssen immer stark sein und die ganze Welt samt ihren Kindern auf den Schultern tragen. Mamas schaffen doch alles. Sie schleppen kranke Kinder zum Arzt, zur Not auch zwei gleichzeitig! Sie haben immer ein Pflaster und ein Taschentuch dabei, können immer trösten und aufgeschlagene Knie gesund pusten. Sie können kochen und dabei Geschichten vorlesen. Sie haben immer alle Termine im Kopf, wissen von allen Kindern dieser Stadt, wo sie wohnen, kennen sich mit den Hausaufgaben aller Schulfächer aus und wissen immer, an welchem Tag welches Kind welche Bücher in seiner Schultasche haben muss. Sie rufen bei Eltern von frechen Kindern an und sagen ihnen, dass die uns in Ruhe lassen sollen. Sie rufen bei Lehrern an und schimpfen, wie sie es wagen können, so viele und so schwere Hausaufgaben aufzugeben. Sie können zur gleichen Zeit bügeln und einen Film im Fernsehen schauen und obendrein Vokabeln abfragen. Und das alles, ohne zu jammern, zu klagen oder zu schwitzen. Und dann, bitte, sollen sie auch nicht losheulen, wenn große, elfjährige Jungen einmal mit ihrem Bruder in einen Zug einsteigen! „Ihr schafft das“, sagt sie zu mir und will mir auch noch mal mit der Hand über den Kopf fahren. Ich ziehe den Kopf schnell zurück. Ich bin doch kein Erstklässler und außerdem soll sie meine Frisur nicht zerstören. „Klar“, sage ich kurz.
„Jo, wir schaffen das!“, brüllt Lasse fröhlich wie Bob der Baumeister auf seiner Lieblings-CD.
Das Gedränge an der Tür ist weniger geworden. Jetzt stellen Lasse und ich uns einfach zwischen die Menschen und lassen uns mit ihnen durch die viel zu enge Tür quetschen.
Etwas klimpert auf dem Boden. Lasse, der gerade die letzte Stufe nach oben erklommen hat, dreht sich um und schaut auf den Steinboden: „Mama, ich habe meinen Anstecker verloren!“
„Welchen Anstecker?“
„Meine Agentennadel! Da!“ Lasse zeigt auf die kleine Plakette auf dem Boden, die jetzt vom Wind angehoben und zur Seite gepustet wird.
Mama achtet nicht darauf: „Das geht jetzt nicht mehr. Der Zug fährt gleich los!“
Lasses Stimme wird sofort weinerlich: „Mama, mein Anstecker!“
Mama geht einen Schritt auf den Anstecker zu, da fliegt er noch ein Stück weiter Richtung Bahnsteigkante. Beim nächsten Windstoß wird er unter dem Zug landen. „Den krieg ich jetzt nicht mehr, Lasse. Ihr müsst euch beeilen.“
„Ich will meinen Anstecker!“ Lasse heult los, als hätte ihn jemand geschlagen.
Wenn das mit meinem Bruder so weitergeht, hab ich jetzt schon keine Lust mehr.
„Ben macht dir einen Neuen“, ruft Mama. Ihre Falten auf der Stirn zeigen, dass sie auch gleich am Ende ihrer Nerven ist.
„Nein, ich will diesen Anstecker!“
Ein junger Mann, der auf dem Bahnsteig steht und uns zugesehen hat, macht einen Schritt nach vorne und tritt genau auf den Anstecker. Dann bückt er sich, hebt ihn auf und reicht ihn Lasse.
„Danke“, schnieft Lasse und im nächsten Augenblick schließt sich die Tür. Durch die Scheibe sehe ich, dass Mama uns noch etwas hinterherruft, aber ich verstehe sie nicht mehr. Und schon setzt sich der Zug in Bewegung und fährt los. Es ist 9 Uhr 48.
„Komm jetzt“, sage ich und ziehe Lasse kurz am Ärmel. Wir quetschen uns ins erstbeste Zugabteil und gehen den Gang entlang. „Wehe, du verlierst ihn noch einmal.“
„Ich kann nichts dafür.“ Lasse zieht die Nase hoch und folgt mir.
„Trotzdem. Wenn wir beim nächsten Bahnhof wegen deiner blöden Agentennadel den Zug verpassen, dann kriegst du Ärger!“
„Das ist keine blöde Agentennadel. Du hast sie mir hergestellt!“
„Hergestellt“, wiederhole ich verächtlich. Ich hab sie in fünf Minuten mit der Bastelschere aus Goldpapier ausgeschnitten und dann mit Tesafilm eine Sicherheitsnadel hinten dran geklebt. Aber hätte ich gewusst, dass das für Lasse so ein Heiligtum wird, dann hätte ich sie wohl besser aus Stahl herstellen lassen. „Steck sie in deine Jackentasche und zieh den Reißverschluss zu. Ich schau nachher mal nach, wie wir den Verschluss fester machen können. Okay?“
„Okay.“ Das klingt schon wieder etwas beruhigter. Ein Glück. Einen heulenden Lasse kann ich jetzt beim besten Willen nicht gebrauchen.
Hier im Zugabteil sind bestimmt hundert Reihen hintereinander. Immer zwei Sitze nebeneinander, dann ein schmaler Gang, dann wieder zwei Sitze. Der Boden ist mit Teppich belegt. Alles riecht neu und modern. Ungefähr in der Mitte des Abteils sind jeweils zwei Sitze einander gegenüber angebracht, dazwischen ein Tisch. Da können vier Leute zusammen sitzen und etwas spielen oder essen. Ab der zweiten Hälfte sind alle weiteren Sitze so, dass die Leute rückwärts fahren müssen. Ich gehe durch die Reihe und lese die Nummern, die über den Sitzen angebracht sind: „26 … 27 …“ Puh, bis 251 haben wir ja noch eine kleine Wanderung vor uns. Ein dicker Mann, der einen Rollkoffer vor sich herschiebt, kommt uns entgegen. An dem kommen wir nicht vorbei. „Macht mal Platz“, schnauzt er mich an.
Ich versuche, mich an den Sessel zu pressen, neben dem ich gerade stehe. Dort sitzen aber bereits zwei Frauen und essen je einen Hamburger. Der Mann passt immer noch nicht an mir vorbei.
„Kannst du nicht mal ordentlich Platz machen?“, faucht er mich noch mal an.
Ich beuge mich noch mehr zur Seite. Die Frau direkt neben mir bedeckt mir ihrer freien Hand den Hamburger und schaut mich streng an.
Der Mann mit dem Koffer drängt sich an mir vorbei, drückt mich mit meinem Rucksack aber so zur Seite, dass ich mit meinem Bauch auf dem Hamburger der ersten Frau und mit dem Kopf auf dem Hamburger der zweiten Frau am Fenster lande.
„Iiiih!“, quietschen die Frauen.
Als der Mann an mir vorbeigegangen ist und ich mich wieder aufrichten kann, habe ich einen Ketchup-Fleck auf der Jacke und eine Gurkenscheibe auf der Stirn. Ganz toll.
„Unverschämtheit“, zischt die erste Frau. Lasse lacht: „Ben, du bist ein Hamburger geworden!“
Es dauert mehr als zehn Minuten, bis wir an den Sitzen 251 und 252 angekommen sind. Auf einem der Plätze sitzt ein junger Mann mit brauner Haut und schwarzen Haaren, in seinen Ohren stecken Kopfhörer.
„Entschuldigung“, sage ich vorsichtig zu ihm. „Das sind unsere Plätze.“
Der Mann nimmt einen Kopfhörer aus dem Ohr: „Was?“
„Das sind unsere Plätze.“
„Was?“
Ich stöhne leise. Das darf doch nicht wahr sein. Hinter mir drängt sich Lasse an mich: „Was ist los?“
Ich deute mit dem Kopf auf den Mann mit den Kopfhörern. „Der da sitzt auf unseren Plätzen.“
„Warum?“
„Weiß ich doch nicht. Wahrscheinlich wusste er nicht, dass diese Plätze für uns reserviert sind.“
„Dann sag es ihm doch.“
„Hab ich!“
„Und warum geht er nicht?“
„Ich glaube, er versteht mich nicht.“
„Lass mich mal.“ Lasse drängt sich zu dem Mann vor. „Hallo?“
Der Mann zieht seine dunklen Augenbrauen hoch: „Ja?“
Lasse zeigt auf uns beide, dann auf die Plätze. „Wir sitzen hier!“
„Was?“
„Das sind unsere Plätze!“
„Hä?“
Ich schüttle den Kopf. „Vergiss es, Lasse. Der versteht uns nicht. Komm, wir setzen uns woanders hin.“
„Aber sonst ist alles besetzt!“
Hinter uns stehen inzwischen vier Leute und warten. „Wieso geht das da vorne nicht weiter?“, ruft einer.
Lasse zeigt auf den Mann auf unserem Sitz. „Der da sitzt auf unseren Plätzen!“
Ein Mann mit Glatze, der auf der anderen Seite des Ganges sitzt, erhebt sich und geht auf unseren Mann zu: „Ey, erheb dich, Alter, und lass die Kinder da sitzen! Verstanden?“
Der Mann zuckt zusammen und verteidigt sich mit vielen Worten in einer Sprache, die ich nicht kenne.
Der Glatzköpfige packt den Mann grob an der Jacke: „In unserem Land musst du dich an Regeln halten wie alle anderen auch!“ Er zieht ihn vom Sitz und stößt ihn in den Gang. Der Mann erklärt laut und aufgeregt etwas, das ich nicht verstehe. Ich sehe ihm an, dass er Angst hat. Aber weil der Glatzköpfige einen ziemlich muskulösen Oberkörper hat, wehrt er sich nicht. Er lässt sich in den Gang schubsen und fängt sich an einer der Sessellehnen auf. Er versucht weiter, irgendetwas zu erklären, aber der Glatzkopf schnauzt ihn an: „Halt’s Maul und verschwinde!“ Zu uns sagt er: „So, und jetzt setzt euch. Ist doch immer dasselbe mit denen.“ Dann wirft er dem Dunkelhaarigen noch mal einen drohenden Blick zu und setzt sich auf seinen Platz.
Lasse und ich ziehen umständlich unsere Rucksäcke aus, verstauen sie vor unsere Sitze und lassen uns erschöpft auf unsere Plätze fallen. Ich am Fenster, Lasse am Gang. Mir tut der Mann leid. Wenn er wirklich nicht verstanden hat, was wir von ihm wollten, dann weiß er auch nicht, warum er plötzlich von seinem Platz vertrieben wurde. Sicher denkt er, wir haben etwas gegen ihn. Hab ich aber nicht. Ich will nur sitzen. Und wenn Mama für uns schon einen Platz reserviert hat, dann ist es doch nur richtig, wenn wir auch dort sitzen. Oder?
„Der Arme“, sagt Lasse leise und hat anscheinend dasselbe gedacht.
„Ja“, sage ich und schaue aus dem Fenster. Für die nächsten zehn Minuten will ich einfach nur hier sitzen, über nichts nachdenken und über nichts reden.
„Wie lange fahren wir noch?“, fragt Lasse.
Ich schließe die Augen und muss mich erst mal erholen.
„Ben!“ Lasse klopft mir an den Arm. „Wie lange fahren wir noch?“
Ich stöhne. „Noch sehr lange, Lasse. Wir sind doch gerade erst eingestiegen! Wir fahren jetzt noch ungefähr eine Stunde in dieser Bahn, dann steigen wir in Köln aus und dort in einen anderen Zug. Und bis dahin sollst du mich nicht alle fünf Minuten fragen, wie lange es noch dauert. Okay?“
„Okay.“ Lasse schaut sich im Wagen um. „Sollen wir was spielen?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil ich mich jetzt erst mal ausruhen muss.“
„Ausruhen? Wovon denn? Wir sind doch gerade erst losgefahren!“
„Trotzdem. Die lange Suche nach unserem Platz und deine Aktion mit dem Anstecker und dann die Sache mit dem Mann, der hier gerade für uns rausgeworfen wurde – das muss ich jetzt erst mal verdauen.“
„Verdauen?“ Lasse kichert. „Verdauen kann man doch nur, wenn man was gegessen hat.“ Und dann plötzlich: „Au ja! Sollen wir was essen?“
Gibt es keinen Knopf, an dem man das kleine Plappermaul abstellen kann? Ich lasse die Augen geschlossen, während ich genervt antworte: „Nein.“
„Mama hat uns Brote geschmiert und Eier gekocht!“
„Das weiß ich. Aber ich habe noch keinen Hunger.“
„Ich hab aber Hunger!“
„Wir sind gerade erst in den Zug gestiegen“, seufze ich. „Da können wir nicht sofort mit essen anfangen!“
„Na klar können wir das!“
„Wir essen später!“
„Du hast nicht darüber zu bestimmen, wann ich esse!“
Ich verschränke die Arme und schaue zum Fenster raus. Mach doch, was du willst, denke ich. Der Zug fährt schnell. Die Bäume, an denen wir vorbeidüsen, sehen aus wie durchsichtig, so schnell fliegen sie am Fenster vorbei. Die Landschaft weiter hinten bewegt sich langsamer. Und die Wolken scheinen sich überhaupt nicht zu bewegen.
Neben mir hat Lasse seinen kleinen Rucksack geöffnet. Das meiste Gepäck trage ich in meinem großen Rucksack: Unsere Wäsche, unsere Kulturbeutel mit Zahnbürste und so weiter, unsere Hausschuhe. Außerdem ein Kartenspiel, ein Buch, ein Comicheft, Block und Stifte und natürlich Essen und Trinken für mich. Mama hat mir noch Briefmarken eingepackt, damit ich ihr eine Postkarte schreibe. Typisch Mama. In Lasses Rucksack befinden sich hauptsächlich sein Essen und Trinken, ein kleines Kissen zum Schlafen, sein Kuschel-Elefant und ein paar Playmobilfiguren. Seinen Geldbeutel mit zehn Euro Taschengeld hat er unter seinem Pullover um den Hals hängen. Mein Portmonee steckt im Rucksack. Mama hat mir 50 Euro mitgegeben, falls wir unterwegs etwas essen müssen oder aus anderen Gründen mal dringend Geld brauchen. Es raschelt in Lasses Rucksack. „Zuerst die Eier“, murmelt er vor sich hin. Dann beugt er sich zu mir rüber: „Oder was würdest du sagen, Ben?“
„Ja, von mir aus. Die Eier.“
Lasse beugt sich über den Rucksack, den er auf dem Boden zwischen seine Füße eingeklemmt hat. Raschel, wühl, krusch … dann ein Plopp, plumps, kuller … „Oh nein, jetzt ist mir die Trinkflasche weggerollt!“ Lasse kniet sich vor den Sitz und schaut darunter: „Oh Hilfe, jetzt rollt sie schon zwei Sitze weiter!“ Er springt auf und will den Gang entlanglaufen. Leider hat er sich mit seinen Füßen in den Trägern vom Rucksack verfangen. Er stolpert und schleift den Rucksack hinter sich her. Ein Playmobilauto rollt über den Boden, zwei Tomaten kullern aus einem Plastikbeutel, eine Tüte Gummibärchen purzelt in den Gang.
Jetzt muss ich doch mal eingreifen: „Ach, Lasse, was machst du denn da?“ Ich beuge mich über den Boden, ziehe den Rucksack zurück und packe die Gummibärchen wieder ein. An die Tomaten komme ich nicht dran. Die rollen auf die andere Seite des Ganges und liegen jetzt beide direkt neben dem Schuh einer älteren Dame.
Lasse krabbelt wie ein Tier den Gang auf und ab, zieht die Trinkflasche hinter den Füßen eines Mannes im Anzug hervor, sammelt sein Playmobilauto mitten im Gang ein und greift schließlich nach den entlaufenen Tomaten neben dem Damenschuh. In diesem Augenblick beginnt der Zug scharf zu bremsen, da wir in einen neuen Bahnhof einfahren. Es rappelt im Wagen, Lasse fällt nach vorne und kann sich gerade noch auffangen, indem er sich am Fuß der älteren Dame festhält. Die Frau schreit auf, hebt ihre Füße in die Luft, stampft sie wieder nach unten und tritt auf eine der beiden Tomaten. Es matscht und spritzt, die Dame hat rote Flecken auf dem Schuh. Sie schaut nach unten, als sei sie von einem Hund gebissen worden. „Was machst du da?“, japst sie.
„Ich fange meine Tomaten wieder ein!“ Die zweite Tomate ist durch das Bremsen noch weiter nach vorne gerollt. Lasse springt hinterher und kann sie gerade noch auffangen, bevor sie zur Abteiltür nach draußen kullert. Lasse nimmt die Tomate, kommt zurück und setzt sich wieder. „Schade. Eine Tomate weniger.“
Etliche Leute, die am Bahnhof aussteigen wollen, arbeiten sich durch den Gang.
„Lasse, benimm dich!“, ermahne ich ihn streng.
„Ja, Papa“, brummt er zurück und räumt alles wieder in seine Tasche. Er hat recht. Ich führe mich hier wirklich wie ein Papa auf. Aber wenn Lasse so weitermacht, bin ich mit den Nerven völlig am Ende, bis wir bei Oma angekommen sind.
Der Zug rollt in einen Bahnhof ein, wird unter lautem Quietschen langsamer und bleibt schließlich stehen. Die Menschen drängen nach draußen. Lasse wühlt weiter in seinem Rucksack. „Willst du ein Gummibärchen?“ Er hält mir die geschlossene Tüte unter die Nase.
„Nein. Lass die Tüte noch zu.“
„Es ist meine Tüte. Ich mache sie auf, wann ich das will.“ Lasse zieht. Die Tüte reißt von oben bis unten ein. Mindestens fünfzig Gummibärchen purzeln auf den Boden. „Oh.“
„Hab ich es nicht gesagt?“, blaffe ich ihn an.
Lasse beginnt, die Gummibärchen aufzusammeln. Ich helfe ihm. „Die kann man nicht mehr essen!“, sage ich, während wir mit den Köpfen unter dem Sitz stecken und nach den Gummibärchen greifen.
„Klar!“, sagt Lasse. „Die haben auf dem dreckigen Boden gelegen!“
„Der Boden ist nicht dreckig!“
„Und ob der dreckig ist! Da haben wahrscheinlich schon Hunde hingepinkelt!“
Lasse kichert los. „Hunde haben in den Zug gepinkelt? Du spinnst ja!“ Trotzdem riecht er sofort an einem der Gummibärchen. „Riecht ganz normal.“ Er steckt es in den Mund. „Schmeckt auch ganz normal.“
Wir sammeln weiter. Die Tüte ist komplett eingerissen. Immer wieder kullern neue Gummibärchen heraus.
„Entschuldigung“, hören wir plötzlich eine Männerstimme über uns. Wir schauen nach oben. „Dieser Platz ist reserviert.“
„Ja“, sage ich schnell. „Für uns.“
„Nein“, belehrt uns ein alter Mann im langen, schwarzen Mantel mit einem schwarzen Hut auf dem Kopf. „Platz 251. Das ist mein Sitz.“
„Das kann nicht sein“, sage ich. „Wir haben Platz 251! Das weiß ich ganz genau!“
„Darf ich mal die Reservierungsbestätigung sehen?“
Ich gebe Lasse die Gummibärchen, die ich gerade in der Hand halte. Lasse schüttet sie in die Tüte, und sofort fallen sie wieder auf den Boden. Ich öffne hektisch die Seitentasche meines Rucksacks und suche nach den Zetteln, die Mama mir gegeben hat. Endlich. Zehnmal zusammengeknickt, aber alles beisammen: Fahrkarte, Reiseroute, Platzreservierung. Ich halte ihm den Zettel hin: „Sehen Sie? Platz 251 und 252.“
„Ja, ja“, sagt der Mann und studiert aufmerksam das Blatt. „Aber Wagen fünf. Dies hier ist Wagen sieben.“
Ich spüre, wie mir alle Kraft aus dem Gesicht fällt. „Wagen sieben?“ Ich fühle mich wie ein Trottel. „Wieso sieben?“
„Euer Platz ist in Wagen fünf“, erklärt der alte Mann ruhig. „Und dies hier ist Wagen sieben.“
Ich schaue mich entsetzt im Abteil um. „Und woher weiß ich, wo Wagen fünf und wo Wagen sieben ist?“
Der Mann zeigt auf ein Schild ganz am Ende des Abteils direkt neben der Tür. Darauf steht eine Sieben.