Beratung und Therapie bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung - Veronika Hermes - E-Book

Beratung und Therapie bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung E-Book

Veronika Hermes

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Beschreibung

Vor dem Hintergrund voranschreitender Inklusion suchen Erwachsene mit einer sogenannten geistigen Behinderung immer öfter „normale“ Beratungsstellen auf. Was bedeutet das für Beraterinnen und Berater/Therapeutinnen und Therapeuten? Die Psychologin, Familientherapeutin und Supervisorin Veronika Hermes sammelt systemische Methoden, prüft sie bezüglich ihrer Tauglichkeit für die Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung und bereitet sie für die praktische Arbeit auf. Die Methoden werden an die besonderen Bedürfnisse von Erwachsenen mit sogenannter geistiger Behinderung angepasst. Das eine oder andere Vorgehen ist sicherlich in der Praxis bereits bekannt - neu ist die erstmalige Bewertung hinsichtlich der Verwendbarkeit bei Klientinnen und Klienten mit kognitiven Einschränkungen. Vervollständigt wird die Methodensammlung durch einen kurzen und fundierten Einblick in die systemische Theorie und Arbeitsweise, sodass auch Kolleginnen und Kollegen, die schon länger in der Behindertenhilfe arbeiten, davon profitieren werden. Der praktische Methodenkoffer für die tägliche Arbeit stellt die Menschen mit geistiger Behinderung konsequent in den Mittelpunkt und liefert Methoden, die alle in der Praxis erprobt und in supervisorischen Zusammenhängen evaluiert sind.

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Beratung und Therapie bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung

Beratung und Therapie bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung

Veronika Hermes

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Psychologie:

Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich; Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich; Prof. Dr. Franz Petermann, Bremen; Prof. Dr. Astrid Schütz, Bamberg; Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i.Br.

Veronika Hermes

Beratung und Therapie bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung

Das Praxishandbuch mit systemisch-ressourcenorientiertem Hintergrund

Veronika Hermes, Dipl.-Psych.

Türkenfelder Straße 8e

82269 Geltendorf

Deutschland

[email protected]

Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Kopien und Vervielfältigungen zu Lehr- und Unterrichtszwecken, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Anregungen und Zuschriften bitte an:

Hogrefe AG

Lektorat Psychologie

Länggass-Strasse 76

3000 Bern 9

Schweiz

Tel: +41 31 300 45 00

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.hogrefe.ch

Lektorat: Susanne Lauri

Bearbeitung: Edeltraud Schönfeldt, Berlin

Herstellung: René Tschirren

Autorinnenfoto: Melanie Gotschke

Umschlagabbildung: Urs Jaudas/Tages-Anzeiger

Umschlaggestaltung: Claude Borer, Riehen

Satz: punktgenau gmbH, Bühl

Druck und buchbinderische Verarbeitung: Finidr s.r.o., Český Těšín

Printed in Czech Republic

1. Auflage 2017

© 2017 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-95577-3)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-75577-9)

ISBN 978-3-456-85577-6

http://doi.org/10.1024/85577-000

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Diese Bestimmungen gelten gegebenenfalls auch für zum E-Book gehörende Audiodateien.

Anmerkung:

Sofern der Printausgabe eine CD-ROM beigefügt ist, sind die Materialien/Arbeitsblätter, die sich darauf ­befinden, bereits Bestandteil dieses E-Books.

Inhalt

Einleitung

Warum dieses Buch?

Einige sprachliche Überlegungen

Therapie und Beratung bei Menschen mit geistiger Behinderung

Teil I - Eckpfeiler der systemischen Theorie

1.1 Die Entwicklung der Familientherapie

Was ist nun aber ein System?

1.2 Systemverstörung – vertraue darauf, dass die Ergebnisse deiner Interventionen nicht planbar sind

1.3 Zirkuläres Denken – suche nach der Funktion von Verhalten und nicht nach seinen Ursachen

1.4 Sinnhaftigkeit – vertraue darauf, dass deine Klienten nichts machen, was ihnen sinnlos erscheint

1.5 Konstruktivismus – du nimmst nur wahr, was du wahrnehmen kannst

Konstruktivismus in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung

1.6 Expertentum – vertraue darauf, dass dein Klient der Experte für sein Leben ist

Expertentum bei Menschen mit geistiger Behinderung

1.7 Neutralität – jede Lösung ist zunächst gleich gut oder schlecht wie eine andere

Neutralität in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung

1.8 Ressourcen und Lösungen – glaube an die Stärken deiner Klienten und schaue in die Zukunft

Ressourcen und Lösungen in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung

1.9 Systemische Fragen – Fragen sind bereits Interventionen

1.10 Menschen mit Behinderung und ihre Systeme

Teil 2 - Anpassungen des Rahmens

2.1 Leichte Sprache

2.1.1 Leichte Sprache – was ist das?

2.1.2 Leichte Sprache in Beratung und Therapie

2.2 Das Setting

2.2.1 Der zeitliche Rahmen

2.2.2 Die Auftragsklärung

2.2.3 Schweigepflicht

2.3 Material

2.3.1 Stofftiere und Handpuppen

2.3.2 Aufschreiben und aufzeichnen

2.3.3 Spiele, Mandalas und Massagen

2.4 Emotionale Entwicklung

Teil 3 - Methoden und ihre Anpassungen

3.1 Das System im Blick

3.1.1 Genogramm

3.1.2 Netzwerkkarte

3.1.3 Skulpturarbeit

3.1.4 Der gestalterische Umgang mit dem inneren System

3.2 Denk mal anders – neue Blickwinkel ermöglichen

3.2.1 Zirkuläre Fragen

3.2.2 Reframing (Umdeutung)

3.2.3 Skalierung

3.3 Auf der Suche nach dem Guten – systemische Fragen zur Ressourcenaktivierung

3.3.1 Ressourcenfragen

3.3.2 Die Wunderfrage

3.3.3 Diamantkräfte

3.3.4 Die Frage nach der Ausnahme

3.3.5 Verdeutlichen von Relationen

3.3.6 Die Frage nach der Verschlimmerung

3.4 Bis zum nächsten Mal – Interventionen für die Zeit zwischen den Sitzungen

3.4.1 Hausaufgaben

3.4.2 Tagebuch

3.4.3 Notfallkoffer

3.4.4 Anker

3.5 Aber die ist doch gar nicht da! – Von der Arbeit mit abwesenden Dritten

3.5.1 Tue das Ungewöhnliche

3.5.2 Brief an einen Verstorbenen

3.6 Ja wie denn nun? – Vom Umgang mit Ambivalenzen und ihrem Wert für die Selbstbestimmung

3.6.1 Das innere Team anhören

3.6.2 Die Motivationswaage

3.7 Mehr Schwung! – Methoden jenseits einer rein sprachlichen Problembearbeitung

3.7.1 Walk and Talk

3.7.2 Der Wuteimer

3.7.3 Entspannungsübungen und Fantasiereisen

3.7.4 Zeitfluss

3.8 Wie geht’s denn so? – Emotionale Entwicklung fördern

3.8.1 Erarbeiten von Emotionen

3.8.2 Validierung, Anerkennung, Wertschätzung

3.9 Augen auf für den Prozess – von Verträgen und Verläufen

3.9.1 Verträge

3.9.2 Veränderungen wahrnehmen

3.10 Auf Wiedersehen – Interventionen zum Abschluss einer Beratung

Literatur

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Über die Autorin

Sachwortverzeichnis

Einleitung

Warum dieses Buch?

Ich bin systemische Therapeutin und Supervisorin und berate und therapiere seit gut 15 Jahren Kinder und Erwachsene mit sogenannter geistiger Behinderung. Wenn ich in meinen Weiterbildungen die Frage stellte, wie ich systemisch mit diesen besonderen Klienten und Klientinnen arbeiten könne, lautete der Rat meist, die Methoden zu verwenden, die auch mit Kindern funktionieren. An sich eine gute Idee, denn so ein Vorgehen passt zum kognitiven Niveau, dem Abstraktionsvermögen und den Transfermöglichkeiten dieser Klientel. Wozu es nicht passt, ist, dass mir häufig Erwachsene gegenübersitzen, die zwar in all den oben genannten Bereichen eingeschränkt sein mögen, aber dennoch Erwachsene sind – mit einer häufig bewegten Vergangenheit, mit „Erwachsenenerfahrungen“ und mit dem berechtigten Anspruch, auch als Erwachsene behandelt zu werden. Inzwischen habe ich meine eigenen Erfahrungen gesammelt und bin der Meinung, dass man die meisten systemischen Methoden bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung gut anwenden kann, sofern man sie ein wenig anpasst. Und so ist dieses Buch entstanden – um diese Anpassungen weiterzugeben und möglichst viele Kollegen und Kolleginnen zu ermuntern, sich für die Beratung und Therapie von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung zu öffnen.

In der Hoffnung, dass die Inklusion behinderter Menschen weiter voranschreitet und Erwachsene, egal ob mit oder ohne Behinderung, in Zukunft „normale“ Beratungsstellen aufsuchen, bereitet dieses Buch systemische Interventionen so auf, dass sie im Alltag von Beratung und Therapie unkompliziert und jederzeit anwendbar sind. Mein Ziel erreicht habe ich, wenn sich Kollegen und Kolleginnen, die nicht in der Behindertenhilfe tätig sind, auf Klienten und Klientinnen mit einer geistigen Behinderung einlassen und die Freude an dieser Arbeit entdecken und wenn diejenigen, die bereits in der Behindertenhilfe arbeiten, systemische Methoden in ihren Handwerkskoffer aufnehmen und sich dadurch bereichert fühlen.

Die beschriebenen Interventionen wurden nicht von mir entwickelt oder erfunden. Das haben begnadete Therapeuten und Therapeutinnen getan, die ihren Erfahrungsschatz Gott sei Dank mitteilten. Allerdings habe ich die Methoden – mal mehr, mal weniger – angepasst an die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit einer geistigen Behinderung. Sie sind geeignet für Menschen mit leichter oder mittlerer Intelligenzminderung, denn ein gewisses Maß an sprachlicher Kompetenz und kognitiven Transferleistungen ist vonnöten. Natürlich kann man auch mit Menschen mit einer schweren geistigen Behinderung therapeutisch arbeiten; dann muss man sich jedoch auf nonverbale Methoden verlegen und einen anderen Zugang als den hier beschriebenen finden.

Einige sprachliche Überlegungen

Beim Schreiben eines systemischen Buches, das noch dazu den Konstruktivismus bemüht, kommt man nicht umhin, sich Gedanken über ein paar Formulierungen zu machen.

Die Genderfrage: Schreibe ich in männlicher oder weiblicher Form? Ich bin eine Frau, und ich arbeite überwiegend mit Frauen. Ich habe mich daher entschieden, das Buch im Praxisteil auch überwiegend in der weiblichen Form zu schreiben. Um unseren gewohnten Lesemodus nicht übermäßig zu strapazieren, werde ich in anderen Buchteilen vermehrt auf die männliche Form zurückgreifen.

Die Beratungsfrage: Eine weitere Unterscheidung betrifft die zwischen Beratung und Therapie. Ich bin der Meinung, dass die hier vorgestellten Methoden sowohl beratend als auch therapeutisch wirksam sind, und möchte es dem Leser überlassen, in welchem Rahmen er dazu greift und wie er sie anwendet. Da in meinen Augen „Beratung“ der weitere Begriff ist, werde ich aus Gründen der Lesbarkeit überwiegend diesen verwenden, verbunden mit der Bitte an alle Therapeuten, ihr Fachgebiet inkludiert zu sehen.

Der Begriff der geistigen Behinderung: Im Alltagssprachgebrauch ist die Bezeichnung „geistige Behinderung“ am weitesten ­verbreitet. Im internationalen Klassifikationssystem ICD 10 wird ab einem gemessenen Intelligenzquotienten kleiner 70 eine „Intelligenzminderung“ diagnostiziert (WHO, 2014); dieser Begriff wird auch in Wissenschaft und Forschung überwiegend verwendet. Und der Selbstvertretungsverband „People first“ plädiert für die Bezeichnung „Menschen mit Lernschwierigkeiten“. Das Problem an allen drei Begriffen ist, dass sie Schubladen in unseren Köpfen öffnen, in die wir einen sehr heterogenen Personenkreis homogen als „behindert“ einordnen, und damit einer Stigmatisierung dieses Personenkreises Vorschub leisten (vgl. Theunissen, 2007). Dennoch kam ich aus Gründen der Differenzierung nicht darum herum, den Begriff „Behinderung“ immer wieder zu benutzen. Ich verwende „geistige Behinderung“, „Intelligenzminderung“ und „Lernschwierigkeiten“ synonym und zähle darauf, dass spätestens in den Fallbeispielen die Individualität meiner Klienten und Klientinnen deutlich wird.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und Anwenden der vorgestellten Methoden und hoffe, Sie und Ihre Klienten profitieren im gleichen Maße vom systemischen Gedankengut, wie ich das in meiner Arbeit tue!

Therapie und Beratung bei Menschen mit geistiger Behinderung

Noch bis in die 1990er-Jahre stellte sich die Frage, ob Therapie und Beratung von Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung überhaupt notwendig, machbar und sinnvoll seien.

Sowohl Pädagogen als auch Therapeuten hatten große Vorbehalte. Vereinfacht und plakativ ausgedrückt, nahm man auf der einen Seite an, dass jedes Verhalten pädagogisch zu erklären wäre, und auf der anderen Seite, dass Menschen mit geistiger Behinderung nicht therapierbar wären. Einig war man sich in der Überlegung, dass eine psychische Erkrankung zusätzlich zu einer Behinderung nicht anzunehmen sei (Hennicke, 2011). Um zu verstehen, wie es dazu kam, ist es notwendig, die Geschichte der Behindertenhilfe in Deutschland zu betrachten.

Die Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung fand bis in die Mitte der 1970er-Jahre häufig als Verwahrung in großen psychiatrischen Anstalten statt. Erst als 1975 die Psychiatrie-Enquete1 diesen Missstand aufdeckte, kam eine Enthospitalisierung in Gang, und es wurden zunehmend Wohnformen geschaffen, wie wir sie heute kennen. Nachdem in den Psychiatrien viele Menschen mit Behinderung ohne psychische Erkrankung untergebracht gewesen waren, begegnete die Pädagogik nach 1975 zunächst allem, was mit Psychiatrie und psychischer Erkrankung bei diesen Menschen zu tun hatte, mit einer großen Portion Skepsis. Man hoffte, mit der Entwicklung angepasster (heil)pädagogischer Konzepte Verhaltensauffälligkeiten lösen zu können, und vernachlässigte die Möglichkeiten, die bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung durch psychotherapeutische und psychiatrische Unterstützung machbar gewesen wären. Auf der Seite der Psychotherapeuten und Psychiater war es zu dieser Zeit selbstverständlich, dass eine ausreichend große Fähigkeit zur Introspektion (Selbstbeobachtung) und der verbale Bericht über eigene innere Vorgänge eine unabdingbare Voraussetzung für Therapie seien. Man nahm an, beides sei bei Menschen mit geistiger Behinderung nur eingeschränkt oder gar nicht vorhanden.

Die Meinungen haben sich im Laufe der Zeit gewandelt. Beide Seiten öffneten sich füreinander, die Brillen wurden gewechselt. Im Vordergrund stehen immer mehr die Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung und ihr Recht auf Selbstbestimmung. Sogenannte Doppeldiagnosen, das heißt gleichzeitiges Vorkommen einer oder mehrerer psychischer Erkrankungen und einer geistigen Behinderung, sind von allen Berufsgruppen gleichermaßen anerkannt. Studien haben ergeben, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer psychischen Störung zu erkranken, bei Menschen mit Behinderung drei- bis viermal so hoch ist wie bei Menschen mit durchschnittlicher Intelligenz (Schanze, 2014; Seidel, 2015).

Unabhängig vom Vorliegen einer psychiatrischen Diagnose ist Beratung ein wertvolles Instrument zur persönlichen Weiterentwicklung. Auf Gesetzesseite sieht das 2008 verabschiedete Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Be­hinderung eindeutig vor, dass „die Vertragsparteien Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung [stellen] wie anderen Menschen …“ (BMAS, 2011, S. 40). Dies beinhaltet, dass Menschen unabhängig von Behinderung das Recht auf Psychotherapie und Beratung haben.

Aber sind Therapie und Beratung bei dieser Klientel auch sinnvoll? Bisher liegen im deutschsprachigen Raum kaum empirische Studien vor, die die Wirksamkeit von Therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung untersuchen. Studien im englischsprachigen Raum zeigen in den Metaanalysen oft unsaubere Forschungsmethoden und bringen daher unklare Ergebnisse (Buchner, 2008). Befragt man Berater und Therapeuten, die bereits mit der Klientel arbeiten, erfährt man von ermutigenden Ergebnissen, und auch die Untersuchung von Buchner (2008), die als eine der wenigen direkt die Patienten mit geistiger Behinderung befragt, spricht für den Nutzen von Therapie. Weiterführende Forschung ist angezeigt.

Und wie sieht es mit der Machbarkeit aus? Caby und Caby (2013) sprechen von der Notwendigkeit einer besonders stark ausgeprägten Anschlussfähigkeit des Therapeuten an ihre Patienten mit Behinderung, also der Fähigkeit, sich auf das Gegenüber einzulassen und mit den therapeutischen Interventionen an dessen Realität „anzuschließen“. Empfohlen werden auch eine Anpassung der klassischen Methoden und deren kreativer und flexibler Einsatz (Lingg & Theunissen, 2013).

Ganz entkoppelt von diesen Überlegungen überzeugt mich meine eigene Arbeit und die meiner Kollegen praktisch täglich davon, dass Therapie und Beratung für Menschen mit geistiger Behinderung möglich und machbar ist.

1 Die Psychiatrie-Enquete wurde in den 1970er-Jahren vom Bundestag in Auftrag gegeben und hatte zur Aufgabe, den Stand der psychiatrischen Versorgung in Deutschland zu erheben. Der 1975 abgegebene Bericht ist bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (www.dgppn.de) einsehbar und kann in PDF-Paketen downgeloaded werden [Zugriff am 27. Januar 2017].

Teil I

Eckpfeiler der systemischen Theorie

Arist von Schlippe hat das Wort „systemisch“ in seinem Lehrbuch (Schlippe & Schweitzer, 1998) mit einem projektiven Test verglichen: Jeder liest daraus, was er oder sie möchte, und es stellt sich die Frage, ob man am Ende vom Gleichen spricht. Um die Chance zu erhöhen, dass Sie in etwa wissen, wovon ich spreche, wenn ich „systemisch“ sage, stelle ich die Eckpfeiler, die meine Arbeit tragen, im Folgenden kurz vor.

1.1 Die Entwicklung der Familientherapie

In den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts begannen einige Psychiaterinnen und Psychiater in den USA und in Europa, den Blick in der Psychotherapie nicht mehr ausschließlich auf das Individuum zu richten, sondern die Familie, in der der Patient lebt, miteinzuschließen. Therapeuten, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, waren Virginia Satir, Salvador Minucchin, Mara Selvini Palazzoli und viele andere mehr. Sie alle haben bedeutende familientherapeutische Ansätze entwickelt; eine hervorragende Übersicht bietet das Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer (Schlippe & Schweitzer, 2012). Allen gemeinsam ist, dass psychische Erkrankungen nicht mehr als individuelles Problem des Patienten betrachtet wurden, sondern als Ausdruck von Interaktionsstörungen in der Familie. Es ging also darum, Interaktionen innerhalb der Familie zu „heilen“, damit der sogenannte Patient gesunden konnte. Es wurde auch nicht mehr von „dem Patienten“ gesprochen, sondern der Patient wurde als die Person verstanden, die durch ihre Symptome zum Ausdruck bringt, dass die Interaktionen innerhalb der Familie aus dem Gleichgewicht geraten sind. Die Person, die die Symptome zeigt, wird entsprechend „Indexpatient“ oder „Symptomträger“ genannt. Gearbeitet wurde folgerichtig stets mit der ganzen Familie. Die Familientherapie hat sich weiterentwickelt, und heute spricht man nicht nur von Familie, sondern von Systemen und fasst den Begriff entsprechend weiter. Wurde anfangs immer mit der ganzen Familie gearbeitet, findet systemische Therapie heute auch mit einzelnen Personen statt (vgl. Weiss, 1988), und systemische Grundsätze wendet man nicht nur in der Therapie, sondern auch in Beratung, Coaching und Supervision an. Die handlungsleitenden Annahmen bleiben stets die gleichen.

Was ist nun aber ein System?

Eine viel benutzte Metapher, um Systeme im Sinne der Familientherapie zu beschreiben, ist das Mobile. Auch ich möchte diese Metapher aufgreifen, da sie einfach und einleuchtend ist: Stellen Sie sich vor, die Familienmitglieder (oder die Mitglieder eines anderen Systems) sind die Schmuckteile eines Mobiles. Sie alle sind miteinander verbunden, manchmal auf gar nicht direkt sichtbare Weise (s. Abbildung 1).

Abbildung 1: Ein Mobile als eingängige Metapher für ein System.

Wenn ein Teil ins Schwingen gerät, schwingen alle anderen Teile automatisch mit, und zwar so lange, bis wieder Ruhe einkehrt. Die Teile hängen nach wie vor aneinander, vielleicht haben sie sich im Raum aber anders ausgerichtet.

Übersetzt in eine fachlichere Sprache bedeutet das Bild Folgendes: Die Mitglieder eines Systems stehen zueinander wie die Schmuckteile eines Mobiles. Luhmann, einer der führenden Systemtheoretiker, postulierte, dass die Verbindungen innerhalb eines sozialen Systems durch Interaktion und Kommunikation entstehen. Durch die besondere Art der Interaktionen unterscheidet sich jedes System von allen anderen und kann als eigenständige Einheit wahrgenommen werden, auch wenn es Koppelungen zu anderen (ebenfalls eigenständigen) Systemen gibt (Ludewig, 2005).

Wird das System verstört (sprich: das Mobile angestoßen), bewegt es sich so lange, bis es wieder einen Zustand des Gleichgewichts erreicht, auch „Homöostase“ genannt (sprich: bis das Mobile wieder ruhig hängt). Störungen können von außen oder von innen erfolgen. Jedes System strebt stets einen Zustand des Gleichgewichts an. Da sich die Welt um uns herum ständig verändert, bedarf es einer gewissen Anstrengung innerhalb des Systems, einen bestimmten Zustand beizubehalten (Schlippe & Schweitzer, 2012).

Aus diesen Grundüberlegungen leiten sich einige Folgerungen ab, die in der Beratung unmittelbar zum Tragen kommen – Überzeugungen, die für die systemische Haltung prägend sind.

1.2 Systemverstörung – vertraue darauf, dass die Ergebnisse deiner Interventionen nicht planbar sind

Aus systemischer Sicht ist es sinnlos zu glauben, dass eine bestimmte Intervention eine vorhersagbare Verhaltensänderung nach sich zieht. Wenn Sie an das Mobile denken: Keiner würde wohl wagen, die exakte Bewegung eines jeden Teilchens vorherzusagen, nachdem man an einem Teil etwas fester gezogen oder geschubst hat. Für die Beratung bedeutet das, dass wir als Beraterinnen nur den „Schubs“ von außen geben. Wir „verstören“ das System oder derail them (wir lassen es entgleisen), wie Erickson es ausdrückte (Nemetschek, 2011, S. 24), um zu verdeutlichen, dass Verhalten manchmal so eingefahren ist wie eine Eisenbahnschiene und wir den Zug zum Entgleisen bringen müssen, damit neue Interaktionen möglich werden. Das System entscheidet, wie es auf die Verstörung reagiert. Diese Entscheidungen laufen nicht zwingend bewusst ab, vielleicht auch nicht sofort oder nicht direkt beobachtbar. Eine Reaktion ergibt sich jedoch in jedem Fall.

In den Anfängen der Familientherapie hat man diese Verstörungen sehr genau geplant, und die Therapeuten gingen davon aus, dass sie als Außenstehende die Interaktionen des Systems beobachten und entsprechend agieren konnten. So entwickelte beispielsweise die Gruppe um Mara Selvini Palazzoli eine spezifische Interventionstechnik, die als „Mailänder Modell“ bekannt ist (Schlippe & Schweitzer, 1998) und bei der es genau festgelegte Verschreibungen für die Familie gab. Unter dem Theorem des Konstruktivismus wurde diese Haltung jedoch aufgegeben (siehe unten).

1.3 Zirkuläres Denken – suche nach der Funktion von Verhalten und nicht nach seinen Ursachen

Angesichts der Komplexität von Systemen und ihrem Verhalten wird schnell klar, dass man deren Wirkzusammenhänge nicht mit einfachen Wenn-dann-Beziehungen auszudrücken vermag. Die Suche nach der Ursache von Verhalten wird im systemischen Denken daher aufgegeben zugunsten der Suche nach der Funktion von Verhalten. Die Frage nach dem „Warum“ wird ersetzt durch die Frage nach dem „Wozu“. Während das „Warum“ einem kausalen, linearen Ansatz folgt, entspricht das „Wozu“ einem zirkulären Ansatz: Verhalten löst eine Wirkung aus, die wiederum eine Wirkung auslöst, die wiederum … Man ist eingeladen, in Regelkreisen zu denken.

Ein Beispiel für einen einfachen Regelkreis aus dem Bereich der Technik ist der Tempomat eines Autos: Teil des Systems sind Bremse, Motor und Geschwindigkeitssensor (Menschen, Kurven, Berge etc. lassen wir für den Moment außer Acht). Wenn der Tempomat auf 120 km/h eingestellt ist, misst der Geschwindigkeitssensor ständig die Geschwindigkeit. Angenommen, diese liegt aktuell bei 90 km/h, dann erfolgt der Auftrag an den Motor, zu beschleunigen. Irgendwann werden die 120 km/h erreicht, der Sensor misst dies, und es erfolgt ein Signal an die Bremse. Der Wagen wird langsamer, und irgendwann fällt die Geschwindigkeit vielleicht wieder unter 120 km/h. Dann erfolgt wieder ein Signal zur Beschleunigung und so weiter. Es entsteht also ein System mit ständigen Rückmeldungen und Wechselwirkungen, das in sich stabil ist und bei dem jede Komponente auf die anderen reagiert. Eingreifen an einer beliebigen Stelle des Regelkreises zieht eine Veränderung des ganzen Systems nach sich.

Auch zwischenmenschliche Systeme steuern sich in Regelkreisen. So wird die vermeintliche Ursache für ein Problemverhalten zu einer Frage des Standpunktes: Trinkt Rudi, weil Erna ständig an ihm herumnörgelt, oder nörgelt Erna nur herum, weil Rudi trinkt? Die Frage nach der Ursache oder Schuld wird in der systemischen Beratung somit hinfällig und ersetzt durch die Frage nach Funktion von Verhalten und Interaktionen. Dabei kann das Verhalten eines Systemteils nicht ohne Auswirkung auf das gesamte System bleiben.

Berater, die zirkulär denken, können dies unter anderem mittels sogenannter zirkulärer Fragen in das zu beratende System einspeisen (→ Methodenteil, zirkuläre Fragen, S. 88ff.). Ein anschauliches Beispiel, wie dies den Fokus in der Therapie verändert, stellt Arist von Schlippe in seinem Lehrbuch dar: Wenn Helmut weint, kann ich ihn fragen: „Helmut, wieso weinst du?“ und gehe damit der Überlegung nach, dass es eine intraindividuelle Ursache für sein Weinen gibt. Ich kann Helmut aber auch fragen: „Was denkst du, Helmut, was dein Weinen für deine Frau Hannelore bedeutet?“ und hebe das Weinen damit auf eine interaktive Ebene, die die Beziehung zu Hannelore miteinschließt. Oder ich kann, um den Rahmen noch etwas weiter zu fassen, den gemeinsamen Sohn Stefan fragen: „Was denkst du, Stefan, was es bei deiner Mutter auslöst, deinen Vater weinen zu sehen?“ (Schlippe & Schweitzer, 1998, S. 140f.)

Fragen, die zirkuläres Denken anstoßen, sind daher unabdingbar für systemisch arbeitende Menschen. Simon et al. vergleichen sie

„in ihrer Wichtigkeit für die systemische Praxis […] mit der Bedeutung der Traumdeutung für die Psychoanalyse. Beides sind Methoden, die den Blick auf einen Bereich von Phänomenen eröffnen, der üblicherweise nicht systematisch beobachtet wird und daher nicht ins Bewusstsein tritt. Beides sind Methoden, die es dem außenstehenden Beobachter erlauben, Ideen über diejenigen Prozesse zu entwickeln, die dafür sorgen, dass ein System so funktioniert, wie es funktioniert.“ (Simon & Rech-Simon, 2009, S. 7f.)

1.4 Sinnhaftigkeit – vertraue darauf, dass deine Klienten nichts machen, was ihnen sinnlos erscheint

Soziale und psychische Systeme benötigen Sinn, um zu existieren (Ludewig, 2005). Sinn ist nicht objektiv definierbar, sondern ergibt sich aus den Interaktionen im System. Daraus folgt, dass jedes Verhalten sinnvoll ist, egal wie dysfunktional es von außen auch wirken mag. Ein Außenbetrachter muss diesen Sinn nicht zwingend verstehen, kann ihn vielleicht auch gar nicht verstehen. Aus der Innenperspektive hat jedes Verhalten jedoch seine Funktion, die ursprünglich auf Sinnhaftigkeit beruhte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt X, wenn eine Beratung oder Therapie aufgesucht wird, wertet der Klient oder sein Umfeld dieses Verhalten jedoch als problematisch und ist an einer Änderung interessiert. Die Aufgabe des Beraters ist es folglich, hilfreiche Ideen vorzustellen, die dem System ermöglichen, zu neuen Interaktionen zu gelangen, so dass dysfunktionales Verhalten überflüssig wird. Erneut liegt die Beurteilung, ob das dann gewählte Verhalten stimmig ist, im Auge des Klienten und nicht im Auge des Beraters. Es bietet sich daher an, in erster Linie nach der Funktion eines Verhaltens zu fragen – womit man wieder beim zirkulären Denken angelangt ist.

Diese Grundhaltung, dass jedes Verhalten zunächst sinnhaft ist, ermöglichte dem Team einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung folgendes Vorgehen:

Ein junger Mann, der dort arbeitete, hortete immer wieder Essen in seinem Spind, bis es versteckt zwischen anderen Sachen zu schimmeln anfing und aufgrund des Geruchs schließlich von Angestellten gefunden wurde. Alle pädagogischen Maßnahmen hatten nicht gefruchtet. Aus der Geschichte des jungen Mannes wusste man von schweren frühkindlichen Traumata mit Vernachlässigung, die jedoch aufgrund seiner kognitiven Einschränkungen nur bedingt zu bearbeiten waren. Das Team interpretierte die Funktion des Verhaltens als überdauernde Schutzmaßnahme, stets genug Essen zu haben. Dem jungen Mann wurde ein Extrakästchen für seine Lebensmittel angeboten, zu dem nur er den Schlüssel hatte (und das leicht zu reinigen war), gleichzeitig wurden gemeinsam regelmäßig angekündigte Spindsäuberungen durchgeführt. Das problematische Verhalten verschwand über den Zeitraum von Monaten gänzlich und tauchte im weiteren Verlauf nur gelegentlich wieder auf – jedoch ohne die Brisanz von früher zu erreichen.2

Das eigentliche Problemverhalten wurde also als sinnhaft akzeptiert und so umgewandelt, dass es weniger negative Auswirkungen mit sich brachte. Das Beispiel zeigt: Sinnhaftigkeit wird vom System konstruiert, und dies führt zu einer weiteren Grundannahme:

2 Alle Beispiele stammen aus meinem Arbeitsalltag und beziehen sich auf Klienten und Klientinnen mit einer geistigen Behinderung.

1.5 Konstruktivismus – du nimmst nur wahr, was du wahrnehmen kannst

In einem Bild lässt sich Konstruktivismus folgendermaßen aus­drücken:

Drei Weise wurden mit verbundenen Augen in einen Raum geführt und sollten herausfinden, was sich in dem Raum befand. Alle vier befühlten (ohne es zu wissen) einen Elefanten, doch der erste beschrieb einen Baum – er hatte die Beine berührt. Der zweite bestand darauf, einen Fächer vorgefunden zu haben, dieser hatte an den Ohren gestanden. Ein dritter wiederum hatte den Schwanz des Elefanten betastet und widersprach heftig, es handle sich um ein dünnes, ausgefranstes Seil. (Quelle unbekannt.)

Eine schöne Geschichte zur Erklärung des Konstruktivismus: Die Weisen können nur jeweils einen kleinen Teil der Wirklichkeit erfassen und sind geneigt, diesen für die Wahrheit zu halten. Je nach Standpunkt, Blickrichtung und Vorerfahrung nehmen wir aber etwas ganz anderes wahr und konstruieren unsere Realität entsprechend.

Fachbezogen würde man sagen: Wahrnehmung geschieht nicht objektiv, sondern wird während des Wahrnehmens konstruiert und ist damit abhängig von der Person, die wahrnimmt. Über eine gemein­same, objektive Wirklichkeit zu sprechen, ist demnach nur bedingt möglich.

Mit der Theorie des Konstruktivismus rückte man auch von der Idee ab, der Therapeut wäre ein unbeteiligter Beobachter, der die Regelkreise eines Systems von außen neutral beobachten könnte. Stattdessen geht man nun davon aus, dass auch der Berater oder Therapeut ein Teil des behandelten Systems wird, sobald die Beratung beginnt. Auch Berater bzw. Therapeuten beraten nicht völlig unabhängig und neutral, sondern handeln auf der Grundlage ihrer Erfahrungen. Gleichzeitig haben sie durch ihre Fragen und Interaktionen unmittelbar Auswirkungen auf das anwesende System. Dieses Modell wird auch „Kybernetik zweiter Ordnung“ genannt (Simon, 2008).