Beratung und Therapie bei Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten - Veronika Hermes - E-Book

Beratung und Therapie bei Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten E-Book

Veronika Hermes

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Beschreibung

Der systemische Ansatz kann gewinnbringend in der Beratung und Therapie bei Menschen ohne und mit Lernschwierigkeiten eingesetzt werden. Für Letztere sind jedoch manche Anpassungen hilfreich, um den kognitiven Fähigkeiten entsprechend zu agieren.  Veronika Hermes bereitet in diesem Praxisbuch systemische Methoden für diese Zielgruppe auf. Menschen mit Lernschwierigkeiten werden dabei konsequent in den Mittelpunkt gestellt; das Vorgehen ist in der Praxis erprobt und in supervisorischen Kontexten evaluiert.  Für die zweite Auflage wurde das Buch grundlegend überarbeitet:  •Der Begriff "geistige Behinderung" wurde gemäß aktuellen Fachpublikationen durch "Lernschwierigkeiten" ersetzt.  •Die Entwicklungen im deutschen Psychotherapeutengesetz in Bezug auf die Therapie mit Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten werden skizziert.  •Ausgewählte Methoden wurden in Einfache Sprache übersetzt. Diese richten sich explizit an Menschen mit Lernschwierigkeiten, die selbst beratend tätig sind (beispielsweise in Werkstattrat oder Bewohnervertretung oder als Frauenbeauftragte oder Peer Counseler). So nimmt das Buch Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht nur als Ratsuchende, sondern auch als Ratgebende in den Blick.

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Veronika Hermes

Beratung und Therapie bei Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten

Das Praxishandbuch mit systemisch-ressourcenorientiertem Hintergrund

2., überarbeitete Auflage

Beratung und Therapie bei Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten

Veronika Hermes

Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Psychologie:

Prof. Dr. Guy Bodenmann, Zürich; Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich; Prof. Dr. Astrid Schütz, Bamberg; Prof. Dr. Markus Wirtz, Freiburg i. Br.; Prof. Dr. Martina Zemp, Wien

Veronika Hermes, Dipl.-Psych.

Türkenfelder Straße 8e

82269 Geltendorf

Deutschland

E-Mail: [email protected]

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Hogrefe AG

Lektorat Psychologie

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Dr. Susanne Lauri

Bearbeitung: Edeltraut Schönfeldt, Berlin

Autorinnenfoto: Melanie Gotschke

Herstellung: Daniel Berger

Umschlagabbildung: Solstock, Gettyimages.com

Umschlag: Claude Borer, Riehen

Satz: punktgenau GmbH, Bühl

Format: EPUB

2., überarbeitete Auflage 2023

© 2017 Hogrefe Verlag, Bern

© 2023 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96254-2)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76254-8)

ISBN 978-3-456-86254-5

https://doi.org/10.1024/86254-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

Einleitung

Warum dieses Buch?

Einige sprachliche Überlegungen

Therapie und Beratung von Menschen mit Lernschwierigkeiten

Beratung durch Menschen mit Lernschwierigkeiten – Peer Counseling

Aus der Praxis: Beraterinnen mit Lernschwierigkeiten im Interview

Teil 1

1 Eckpfeiler der systemischen Theorie

1.1 Die Entwicklung der Familientherapie

1.2 Systemverstörung – vertraue darauf, dass die Ergebnisse deiner Interventionen nicht planbar sind

1.3 Zirkuläres Denken – suche nach der Funktion von Verhalten und nicht nach seinen Ursachen

1.4 Sinnhaftigkeit – vertraue darauf, dass deine Klienten nichts machen, was ihnen sinnlos erscheint

1.5 Konstruktivismus – du nimmst nur wahr, was du wahrnehmen kannst

1.6 Expertentum – vertraue darauf, dass dein Klient der Experte für sein Leben ist

1.7 Neutralität – jede Lösung ist zunächst gleich gut oder schlecht wie eine andere

1.8 Ressourcen und Lösungen – glaube an die Stärken deiner Klienten und schaue in die Zukunft

1.9 Systemische Fragen – Fragen sind bereits Interventionen

1.10 Menschen mit Behinderungen und ihre Systeme

Teil 2

2 Anpassungen des Rahmens

2.1 Leichte Sprache und Einfache Sprache

2.1.1 Leichte und Einfache Sprache – was ist das?

2.1.2 Leichte Sprache in Beratung und Therapie

2.2 Das Setting

2.2.1 Der zeitliche Rahmen

2.2.2 Die Auftragsklärung

2.2.3 Schweigepflicht

2.3 Material

2.3.1 Stofftiere und Handpuppen

2.3.2 Aufschreiben und aufzeichnen

2.3.3 Spiele, Mandalas und Massagen

2.4 Emotionale Entwicklung

Teil 3

3 Methoden und ihre Anpassungen

3.1 Das System im Blick

3.1.1 Genogramm

3.1.2 Netzwerkkarte

3.1.3 Skulpturarbeit

3.1.4 Der gestalterische Umgang mit dem inneren System

3.2 Denk mal anders – neue Blickwinkel ermöglichen

3.2.1 Zirkuläre Fragen

3.2.2 Reframing (Umdeutung)

3.2.3 Skalierung

3.3 Auf der Suche nach dem Guten – systemische Fragen zur Ressourcenaktivierung

3.3.1 Ressourcenfragen

3.3.2 Die Wunderfrage

3.3.3 Diamantkräfte

3.3.4 Die Frage nach der Ausnahme

3.3.5 Verdeutlichen von Relationen

3.3.6 Die Frage nach der Verschlimmerung

3.4 Bis zum nächsten Mal – Interventionen für die Zeit zwischen den Sitzungen

3.4.1 Hausaufgaben

3.4.2 Tagebuch

3.4.3 Notfallkoffer

3.4.4 Anker

3.5 Aber die ist doch gar nicht da! – Von der Arbeit mit abwesenden Dritten

3.5.1 Tue das Ungewöhnliche

3.5.2 Brief an einen Verstorbenen

3.6 Ja wie denn nun? – Vom Umgang mit Ambivalenzen und ihrem Wert für die Selbstbestimmung

3.6.1 Das innere Team anhören

3.6.2 Die Motivationswaage

3.7 Mehr Schwung! – Methoden jenseits einer rein sprachlichen Problembearbeitung

3.7.1 Walk and Talk

3.7.2 Der Wuteimer

3.7.3 Entspannungsübungen und Fantasiereisen

3.7.4 Zeitfluss

3.8 Wie geht’s denn so? – Emotionale Entwicklung fördern

3.8.1 Erarbeiten von Emotionen

3.8.2 Validierung, Anerkennung, Wertschätzung

3.9 Augen auf für den Prozess – von Verträgen und Verläufen

3.9.1 Verträge

3.9.2 Veränderungen wahrnehmen

3.10 Auf Wiedersehen – Interventionen zum Abschluss einer Beratung

Teil 4

4 Beraten in Einfacher Sprache

4.1 Einleitung

4.2 Das ist wichtig in einer Beratung

4.3 Methoden

4.3.1 Netzwerk-Karten

4.3.2 Fragen nach den Stärken

4.3.3 Diamant-Kräfte

4.3.4 Skalierung

4.3.5 Zeit-Fluss

4.3.6 Das Innere Team

4.3.7 Der Wut-Eimer

4.3.8 Anker

Anhang

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Über die Autorin

Sachwortverzeichnis

|9|Vorwort zur 2. Auflage

Die erste Auflage des vorliegenden Buches erschien 2017 unter dem Titel „Beratung und Therapie bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung“. Bei der Durchsicht zur Vorbereitung der zweiten Auflage bemerkte ich, dass einige Begrifflichkeiten und auch Einschätzungen von damals für mich heute nicht mehr stimmig sind – angefangen beim Titel, der nun von Menschen mit Lernschwierigkeiten spricht, was sich als Bezeichnung für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen immer mehr durchsetzt, bis hin zu einigen Beispielen, die ich heute anders nuancieren würde. Hier ist eine Veränderung von Haltung und Wahrnehmung spürbar, die zu einer Überarbeitung einlud. Hinzu kam, dass ich im April 2021 eine inklusive Weiterbildungsgruppe aus Teilnehmenden mit und ohne Lernschwierigkeiten kennenlernen durfte, die am Zentrum für inklusive Bildung und Beratung (ZiBB e. V.) eine Weiterbildung zum Berater/zur Beraterin absolvierte. Zwei Ideen haben uns gemeinschaftlich danach nicht mehr losgelassen: Erstens der Wunsch, viel mehr Menschen mit Lernschwierigkeiten auszubilden, damit diese im Sinne einer Peer-Beratung aktiv werden können. Und zweitens die Notwendigkeit, Beratungsmaterial in Einfacher Sprache bereitzustellen, mit dem Beratende mit Lernschwierigkeiten direkt arbeiten können.

Dankenswerter Weise hat sich der Hogrefe Verlag sofort auf dieses Experiment eingelassen und so halten Sie heute eine erweitere Neuauflage in den Händen, mit einem vierten Teil, der ausgewählte Methoden in Einfacher Sprache beschreibt und sich explizit an Beraterinnen und Berater mit Lernschwierigkeiten richtet. In diesem Zusammenhang bedanke ich mich bei der Ausbildungsgruppe des ZiBB, die mich tatkräftig bei der Auswahl der Methoden unterstützt hat, bei Rosa, Lena und Kerstin, die mir ihre Türen weit geöffnet haben, und bei Katharina und Jessika für das Interview!

|11|Einleitung

Warum dieses Buch?

Ich bin systemische Therapeutin und Supervisorin und berate und therapiere seit vielen Jahren Kinder und Erwachsene mit sogenannter geistiger Behinderung (eine Klärung der Begrifflichkeiten erfolgt im nächsten Abschnitt). Wenn ich in meinen Weiterbildungen die Frage stellte, wie ich systemisch mit diesen Klienten und Klientinnen arbeiten könne, lautete der Rat meist, die Methoden zu verwenden, die auch mit Kindern funktionieren. An sich eine gute Idee, denn so ein Vorgehen passt zum kognitiven Niveau, dem Abstraktionsvermögen und den Transfermöglichkeiten dieser Klientel. Wozu es nicht passt, ist, wenn mir Erwachsene gegenübersitzen, die zwar in all den oben genannten Bereichen eingeschränkt sein mögen, aber dennoch Erwachsene sind – mit einer häufig bewegten Vergangenheit, mit „Erwachsenenerfahrungen“ und mit dem berechtigten Anspruch, auch als Erwachsene behandelt zu werden. Inzwischen habe ich meine eigenen Erfahrungen gesammelt und bin der Meinung, dass man die meisten systemischen Methoden bei Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten gut anwenden kann, sofern man sie ein wenig anpasst. Und so ist dieses Buch entstanden – um diese Anpassungen weiterzugeben und möglichst viele Kollegen und Kolleginnen zu ermuntern, sich für die Beratung und Therapie von Menschen mit Lernschwierigkeiten zu öffnen.

In der Hoffnung, dass die Inklusion behinderter Menschen weiter voranschreitet und Erwachsene, egal ob mit oder ohne Beeinträchtigungen, in Zukunft „normale“ Beratungsstellen aufsuchen, bereitet dieses Buch systemische Interventionen so auf, dass sie im Alltag von Beratung und |12|Therapie unkompliziert und jederzeit anwendbar sind. Mein Ziel erreicht habe ich, wenn sich Kollegen und Kolleginnen, die nicht in der Behindertenhilfe tätig sind, auf Klienten und Klientinnen mit Lernschwierigkeiten einlassen und die Freude an dieser Arbeit entdecken und wenn diejenigen, die bereits in der Behindertenhilfe arbeiten, systemische Methoden in ihren Handwerkskoffer aufnehmen und sich dadurch bereichert fühlen.

Die beschriebenen Interventionen wurden nicht von mir entwickelt oder erfunden. Das haben begnadete Therapeuten und Therapeutinnen getan, die ihren Erfahrungsschatz Gott sei Dank mitteilten. Allerdings habe ich die Methoden – mal mehr, mal weniger – angepasst an die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Sie sind geeignet für Menschen mit leichter oder mittlerer Intelligenzminderung, denn ein gewisses Maß an sprachlicher Kompetenz und kognitiven Transferleistungen ist vonnöten. Natürlich kann man auch mit Menschen mit einer schweren Intelligenzminderung therapeutisch arbeiten; dann muss man sich jedoch auf nonverbale Methoden verlegen und einen anderen Zugang als den hier beschriebenen finden.

Einige sprachliche Überlegungen

Beim Schreiben eines systemischen Buches, das noch dazu den Konstruktivismus bemüht, kommt man nicht umhin, sich Gedanken über ein paar Formulierungen zu machen.

Die Genderfrage: Schreibe ich in männlicher oder weiblicher Form? Ich bin eine Frau, und ich arbeite überwiegend mit Frauen. Ich habe mich daher entschieden, das Buch im Praxisteil auch überwiegend in der weiblichen Form zu schreiben. Um unseren gewohnten Lesemodus nicht übermäßig zu strapazieren, werde ich in anderen Buchteilen vermehrt auf die männliche Form zurückgreifen.

Die Beratungsfrage: Eine weitere Unterscheidung betrifft die zwischen Beratung und Therapie. Ich bin der Meinung, dass die hier vorgestellten Methoden sowohl beratend als auch therapeutisch wirksam sind, und möchte es dem Leser überlassen, in welchem Rahmen er dazu greift und wie er sie anwendet. Da in meinen Augen „Beratung“ der weitere Begriff ist, werde ich aus Gründen der Lesbarkeit überwiegend diesen verwen|13|den, verbunden mit der Bitte an alle Therapeuten, ihr Fachgebiet inkludiert zu sehen.

Der Begriff der geistigen Behinderung: Im Alltagssprachgebrauch ist die Bezeichnung „geistige Behinderung“ am weitesten verbreitet. Im internationalen Klassifikationssystem ICD-11 wird von einer „Störung der Intelligenzentwicklung“ gesprochen, die zu vergeben ist, wenn intellektuelle und adaptive Fähigkeiten zwei oder mehr Standardabweichungen unter dem Mittelwert liegen1; dieser Begriff wird auch in Wissenschaft und Forschung überwiegend verwendet. Und der Selbstvertretungsverband „People first“ plädiert für die Bezeichnung „Menschen mit Lernschwierigkeiten“. Das Problem an allen drei Begriffen ist, dass sie Schubladen in unseren Köpfen öffnen, in die wir einen sehr heterogenen Personenkreis homogen als „behindert“ einordnen, und damit einer Stigmatisierung dieses Personenkreises Vorschub leisten (vgl. Theunissen et al., 2007). Dennoch kam ich aus Gründen der Differenzierung nicht darum herum, immer wieder eine Benennung vorzunehmen. Ich verwende überwiegend den Begriff „Lernschwierigkeiten“. Auch wenn die sprachliche Nähe zur „Lernbehinderung“ im deutschen Sprachgebrauch nicht optimal erscheint, ist es aus meiner Sicht der geeignetste Weg, den Begriff zu verwenden, der von Selbstvertretern bevorzugt wird.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen und Anwenden der vorgestellten Methoden und hoffe, Sie und Ihre Klienten profitieren im gleichen Maße vom systemischen Gedankengut, wie ich das in meiner Arbeit tue!

Therapie und Beratung von Menschen mit Lernschwierigkeiten

Noch bis in die 1990er-Jahre stellte sich die Frage, ob Therapie und Beratung von Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten überhaupt notwendig, machbar und sinnvoll seien.

Sowohl Pädagogen als auch Therapeuten hatten große Vorbehalte. Vereinfacht und plakativ ausgedrückt, nahm man auf der einen Seite an, |14|dass jedes Verhalten pädagogisch zu erklären wäre, und auf der anderen Seite, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht therapierbar wären. Einig war man sich in der Überlegung, dass eine psychische Erkrankung zusätzlich zu einer Behinderung nicht anzunehmen sei (Hennicke, 2011). Um zu verstehen, wie es dazu kam, ist es notwendig, die Geschichte der Behindertenarbeit in Deutschland zu betrachten.

Die Betreuung von Menschen mit Lernschwierigkeiten fand bis in die Mitte der 1970er-Jahre häufig als Verwahrung in großen psychiatrischen Anstalten statt. Erst als 1975 die Psychiatrie-Enquete2 diesen Missstand aufdeckte, kam eine Enthospitalisierung in Gang, und es wurden zunehmend Wohnformen geschaffen, wie wir sie heute kennen. Nachdem in den Psychiatrien viele Menschen mit Beeinträchtigung ohne psychische Erkrankung untergebracht gewesen waren, begegnete die Pädagogik nach 1975 zunächst allem, was mit Psychiatrie und psychischer Erkrankung bei diesen Menschen zu tun hatte, mit einer großen Portion Skepsis. Man hoffte, mit der Entwicklung angepasster (heil)pädagogischer Konzepte Verhaltensauffälligkeiten lösen zu können, und vernachlässigte die Möglichkeiten, die bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung durch psychotherapeutische und psychiatrische Unterstützung nutzbar gewesen wären. Auf der Seite der Psychotherapeuten und Psychiater war es zu dieser Zeit selbstverständlich, dass ausreichende Fähigkeiten zur Introspektion (Selbstbeobachtung) und der verbale Bericht über eigene innere Vorgänge eine unabdingbare Voraussetzung für Therapie seien. Man nahm an, beides sei bei Menschen mit Lernschwierigkeiten nur eingeschränkt oder gar nicht vorhanden.

Die Meinungen haben sich im Laufe der Zeit gewandelt. Beide Seiten öffneten sich füreinander, die Brillen wurden gewechselt. Im Vordergrund stehen immer mehr die Fähigkeiten von Menschen mit Beeinträchtigungen und ihr Recht auf Selbstbestimmung. Sogenannte Doppeldiagnosen, das heißt gleichzeitiges Vorkommen einer oder mehrerer psychischer Erkrankungen und einer Störung der Intelligenzentwicklung, sind von allen Berufsgruppen gleichermaßen anerkannt. Studien haben |15|ergeben, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer psychischen Störung zu erkranken, bei Menschen mit Lernschwierigkeiten drei- bis viermal so hoch ist wie bei Menschen mit durchschnittlicher Intelligenz (Schanze, 2014; Seidel, 2015).

Auf Gesetzesseite sieht das 2008 verabschiedete Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) eindeutig vor, dass „die Vertragsparteien Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung [stellen] wie anderen Menschen …“ (BMAS, 2011a, S. 40). Dies beinhaltet, dass Menschen unabhängig von Beeinträchtigungen das Recht auf Psychotherapie und Beratung haben und eine Nicht-Versorgung eine unzulässige Diskriminierung darstellt. Die Psychotherapieforschung, die auch in diesem Bereich inzwischen an Fahrt aufgenommen hat, belegt zudem, dass Psychotherapie bei Menschen mit Störungen der Intelligenzentwicklung wirksam ist (Glasenapp, 2019).3

Doch wie sieht es mit der Machbarkeit aus?Caby und Caby (2013) sprechen von der Notwendigkeit einer besonders stark ausgeprägten Anschlussfähigkeit des Therapeuten an Patienten mit Lernschwierigkeiten, also der Fähigkeit, sich auf das Gegenüber einzulassen und mit den therapeutischen Interventionen an dessen Realität „anzuschließen“. Empfohlen werden auch eine Anpassung der klassischen Methoden und deren kreativer und flexibler Einsatz (Lingg & Theunissen, 2013). In den Abrechnungsmodalitäten wurde die Psychotherapievereinbarung in Deutschland diesen Erfordernissen insofern angepasst, dass bei Erwachsenen mit Lernschwierigkeiten beispielsweise mehr Sitzungen während der Sprechstunde und der Probatorik sowie der Einbezug von nahen Bezugspersonen möglich sind.

Ganz entkoppelt von diesen Überlegungen überzeugt mich meine eigene Arbeit und die meiner Kollegen praktisch täglich davon, dass Therapie und Beratung für Menschen mit Lernschwierigkeiten möglich und machbar ist.

|16|Beratung durch Menschen mit Lernschwierigkeiten – Peer Counseling

Nicht nur die Beratung von Menschen mit Behinderungen4, sondern auch die Beratung durch sie ist ein Grundsatz, der in der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) festgeschrieben wurde. In Artikel 26 (1) heißt es: „Die Vertragsstaaten treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, einschließlich durch die Unterstützung durch andere Menschen mit Behinderungen (Hervorhebung durch die Autorin), um Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzen, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren.“ (BMAS, 2011a, S. 41) Damit wird explizit die Beratung für Menschen mit Behinderungen durch Menschen mit Behinderungen angesprochen – ein Konzept, das als Peer Counseling oder auch Peer Beratung bekannt ist (übersetzt etwa: Beratung unter Ebenbürtigen/Gleichberechtigten). In den 1960er Jahren entwickelte sich das Peer Counseling in den USA im Rahmen der Independent Living Bewegung: Damals schlossen sich junge Menschen mit Körperbehinderungen zusammen, die sich für ein selbstbestimmtes Leben einsetzten und sich dazu gegenseitig unterstützten und berieten. Seit den 1980er Jahren entstanden entsprechende Beratungsstellen unter dem Namen Selbstbestimmt Leben Bewegung auch im deutschsprachigen Raum. Grundlage ist stets, dass die dort tätigen Berater und Beraterinnen eine Beeinträchtigung haben und vor und mit diesem Hintergrund beraten. Sandfort (1996) benennt als Ziel und Auftrag des Peer Counseling: „Das Beratungskonzept des Peer Counseling geht davon aus, dass potenziell in jedem (behinderten) Menschen eine kreative Fähigkeit und der ursprüngliche Wille dazu vorhanden ist, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und die persönlichen Interessen zu vertreten. Ziel der Beratung ist es, diese Eigenkräfte des/der Ratsuchenden zu aktivieren und zu fördern.“ Dieses Ziel dürfte zunächst wohl jede psychosoziale Beratung verfolgen. Peer Counseling versteht sich jedoch als eine „emanzipatorische Beratungsmethode“ (Feinen, 2017, |17|S. 3) – sie dient immer auch der Selbstermächtigung der Betroffenen und war und ist als Gegenentwurf zur Beratung in der etablierten Behindertenhilfe durch Verbände und Organisationen mit einem paternalistischen Fürsorgeansatz zu verstehen. Peer Counseler kann nur werden, wer selbst eine Beeinträchtigung hat. Damit soll das Machtgefälle vermindert werden, das zwischen einem nicht-beeinträchtigten Berater und einem Ratsuchenden mit Beeinträchtigung entstehen kann. Peer Counseler bringen neben ihrem Beratungswissen auch sich selbst und ihre Erfahrungen als Mensch mit Behinderung ein, was Erfahrungen mit Diskriminierungen und Teilhabeausschluss beinhaltet. Es ist entsprechend nur logisch, dass in diesem Ansatz parteilich für die Ratsuchenden gearbeitet wird (Hermes, 2006).

Die UN-Behindertenrechtskonvention bezieht sich auf alle Menschen mit Behinderung, was beinhaltet, dass auch Menschen mit Lernschwierigkeiten beratend tätig sind. Sie sind dies sowohl an freien Beratungsstellen als auch im Kontext der Werkstätten für Menschen mit Behinderung als Werkstattrat oder Frauenbeauftragte bereits jetzt (Braukmann et al., 2017). Bei Bedarf ist eine Assistenz bereitzustellen, die jedoch rein unterstützend tätig sein und auf keinen Fall von sich aus in die Beratung eingreifen sollte.5

Um professionelle Peer Beratung auszuführen, ist eine Schulung erforderlich; für Menschen mit Lernschwierigkeiten gibt es solche Weiterbildungen in Deutschland beispielsweise im Rahmen der Werkstätten, beim Zentrum für inklusive Bildung und Beratung (ZiBB e. V.) oder bei der Lebenshilfe. Material in einfacher oder leichter Sprache ist in diesem Kontext dringend notwendig und leider bisher schwer zu finden. Deswegen ist der nun vorliegende Teil 4 dieses Buches entstanden – mit Beratungsmethoden in einfacher Sprache.

Aus der Praxis: Beraterinnen mit Lernschwierigkeiten im Interview

Eine der Adressen in Deutschland, die Beratungsweiterbildungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten anbietet, ist das Zentrum für inklu|18|sive Bildung und Beratung (ZiBB). Dort wurde 2020 erstmals eine dreijährige Beratungsweiterbildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten, Menschen mit psychischen Erkrankungen und Menschen ohne Beeinträchtigung angeboten. Die Weiterbildung basiert auf der sogenannten So-und-So-Beratung von Stahl (2012). Stahl hatte, ähnlich wie ich, nach Möglichkeiten zur Beratung von Menschen mit Lernschwierigkeiten gesucht und dabei ein Konzept entwickelt, das neben systemischen Methoden mit Bildkarten arbeitet, die der Beraterin erlauben, innere Anliegen der Klienten herauszuarbeiten (Stahl, 2012). Rosa S. (RS) und Elena L. (EL) konzipierten aus diesem Ansatz eine inklusive Weiterbildung für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen und leiten die aktuelle Schulung. Katharina T. (KT) und Jessika V. (JV) sind angehende Beraterinnen mit einer Lernschwierigkeit. Die vier erklärten sich bereit, einen Einblick in das Thema Beratung durch Menschen mit Lernschwierigkeiten zu geben.

(VH): Rosa und Elena, wie seid ihr auf die Idee gekommen, eine Beratungsweiterbildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten anzubieten?

RS: Ich bin mit der So-und-So-Beratung in Kontakt gekommen, als ich Sabine (Stahl, Anmerkung der Autorin) auf einer Weiterbildung kennengelernt habe. Zusammen mit einer weiteren Kollegin aus einer Beratungsstelle für Mädchen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, hat sich die Frage entwickelt: Gibt es die Möglichkeit Berater zu werden auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten? Das war die Perspektive aus dem Selbstvertretungsgedanken: „Nichts über uns ohne uns“. Als wir über Kerstin R. von proWerk der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel eine Anfrage bekommen haben, entstand die Idee, ein inklusives Pilotprojekt zu machen.

VH: Was kann ein Vorteil sein, wenn der Berater auch eine Beeinträchtigung hat?

JV: Berater mit Handicap verstehen die Kunden besser. Also wir können uns da besser reinversetzen. Es ist, glaube ich, lockerer.

KT: Und es ist ein Stück Erfahrung. Da kann ich sagen, das ist mir auch schon mal so gegangen, die Erfahrung hast du, Veronika, nicht.

RS: Peer Beratung ermöglicht, dass es nicht bei einer Trennung bleibt von: „Hier sind die Experten und hier sind die Menschen mit Beeinträchtigung“.

|19|VH: Jessika und Katharina, wen beratet ihr und wie kommen die Leute zu euch?

JV: Ich mache das in der Werkstatt, in der ich arbeite. Einmal in der Woche mache ich Beratung. Mein Ziel ist es, das in der ganzen Werkstatt anzubieten.

KD: Ich arbeite in einem Begegnungszentrum und da mache ich erstmal ganz normale Begegnungszentrumsarbeit und unterhalte mich mit den Leuten. Wenn sich herausstellen sollte, das wird was, was ein bisschen länger dauert, dann würde ich das denen sagen und dann kommen die mit zu mir ins Büro und dann reden wir im Büro länger. Dafür habe ich extra ein eigenes Büro und da kann Beratung stattfinden.

VH: Wie waren die Reaktionen als ihr erzählt habt, dass ihr So-und-So-Beraterin werdet? Waren die Leute eher skeptisch oder habt ihr eher Unterstützung erfahren?

JV: Das fanden alle gut. Dann hatte ich zwischendurch solche Tiefen, das wurde mir alles zu viel und dann haben die anderen gesagt, Jessika komm, du schaffst das, mach das zu Ende. Das tat richtig gut.

KT: Mir wurde schon gesagt, ach komm, das schaffst du doch nicht. Ich wollte es aber probieren. Zwischendrin war ich fast davor aufzuhören, weil ich viele Sachen nicht verstanden habe. Und dann habe ich gesagt, die müssen ein bisschen mehr mit Leichte Sprache arbeiten. Und dann kam jemand als Assistenz dazu, die saß neben mir und ich konnte sie zwischendurch fragen. Und unter den Bedingungen konnte ich das dann auch weitermachen.

VH: Würdet ihr sagen, Menschen mit Lernschwierigkeiten benötigen einen speziellen Rahmen für die Weiterbildung?

KT Ich finde, das ist wichtig. Ich kenne den Stoff von anderen Peerberatungen und da ist mir echt schwindelig geworden. Da kannst Du auch ein Jurastudium machen (lacht).

EL: Wir haben nach Wegen gesucht, wie man die theoretischen und methodischen Inhalte vermitteln kann, mit ganz unterschiedlichen, anschaulichen Mitteln. Im Grunde haben wir die systemische Theorie immer weiter auf ihre Essenz reduziert.

RS: Ich würde aber nicht sagen, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten automatisch mehr Beratungs-Know-how brauchen als angehende Berater ohne Lernschwierigkeiten, sondern dass es einfach sinnvoll ist, eine gute Grundlage |20|zu schaffen, bevor man sich in dieses Abenteuer begibt. Mehr Übungszeit und eine längere Zeitspanne sind aber auf jeden Fall förderlich.

VH: Was würdet ihr jemandem antworten, der sagt, Menschen mit Lernschwierigkeiten können nicht Berater werden?

JV: Doch, das geht. Weil wir können auch lernen, aber langsamer lernen.

KT: Ich finde es geht deswegen auch gut, weil niemand ist für Menschen mit geistigen und Lerneinschränkungen so gut Fachmann, wie die Leute selber. Und da finde ich es ein bisschen anmaßend zu sagen: ne, ihr könnt das nicht. Wir sind doch unser eigener Fachmann, in unseren eigenen Einschränkungen. Und da können wir doch sagen; wir fühlen uns dazu in der Lage oder wir fühlen uns dazu nicht in der Lage.

VH: Seht ihr auch Grenzen, wenn es um eine psychosoziale Beratung geht?

RS: Die Grenzen haben wir vor allem in Bezug auf Therapie gezogen. Da ging es vor allem darum, in der Auftragsklärung zu sehen, ob das etwas ist, was man in einer Beratung klären kann, oder ob es eher einen therapeutischen Kontext braucht. Ich würde nicht sagen, dass das mit einer Begrenzung aufgrund der Lernschwierigkeiten zu tun hat. Es braucht ein bestimmtes Maß an Reflexionsfähigkeit und der Fähigkeit, eine Metaebene einnehmen zu können. Es gibt allerdings eine Gefahr, dass dem Berater qua Peerstatus viele Projektionen passieren: du bringst mir jetzt die Erlösung

EL: … oder dass Berater denken: ich weiß, was für dich besser ist, ich bin diesen Weg auch schon gegangen.

VH: Was fändet ihr noch wichtig, wenn man über dieses Thema redet?

RS: Die Bedingungen, wie es nach der Weiterbildung weitergeht, sind total schlecht. Die Beratungsstellen wollen jemanden, der eine Behinderung hat, aber ohne kognitive Beeinträchtigung. Fakt ist, es gibt noch keinen guten Boden in der Gesellschaft, der für Berater mit Lernschwierigkeiten bereitet ist.

KT: Es müsste einen Pool geben für Berater, wo man nachschlagen kann und sagen, die Fachbereiche, da kennt der sich aus.

JV: Es müsste mehr Werbung gemacht werden. Ich finde, das sollte man mehr ausbreiten, dass man sagt: Hey Leute, hier gibt es Leute mit Behinderung, die machen Beratung und wenn ihr Lust habt, dann könnt ihr euch da melden.

1

https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/uebersetzung/_node.html;jsessionid=EDC9B18BAEEE44BA0E6328473207D3A0.internet282; [Zugriff am 16. April 2022].

2

Die Psychiatrie-Enquete wurde in den 1970er-Jahren vom Bundestag in Auftrag gegeben und hatte zur Aufgabe, den Stand der psychiatrischen Versorgung in Deutschland zu erheben. Der 1975 abgegebene Bericht ist bei der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (www.dgppn.de) einsehbar und kann in PDF-Paketen downgeloaded werden [Zugriff am 27. Januar 2017].

3

Landespsychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz (2020); www.lpk-rlp.de/fileadmin/user_upload/Ergebnisse_der_Umfrage_Psychotherapie_und_geistige_Behinderung_FINAL.pdf [Zugriff am 16. April 2022].

4

Die Behindertenrechtskonvention bezieht sich dabei auf Behinderungen, die durch seelische, körperliche und geistige Beeinträchtigungen entstehen. In diesem Sinne wird der Begriff der Behinderung auch in diesem Abschnitt verwendet.

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Allerdings berichteten ca. ein Drittel der befragten Peer-Berater in einer Studie aus dem Rheinland, dass sich ihre Unterstützer auch ungefragt „einmischten“ (Braukmann et al., 2017).

|21|Teil 1

|22|1  Eckpfeiler der systemischen Theorie

Arist von Schlippe hat das Wort „systemisch“ in seinem Lehrbuch (Schlippe & Schweitzer, 1998) mit einem projektiven Test verglichen: Jeder liest daraus, was er oder sie möchte, und es stellt sich die Frage, ob man am Ende vom Gleichen spricht. Um die Chance zu erhöhen, dass Sie in etwa wissen, wovon ich spreche, wenn ich „systemisch“ sage, stelle ich die Eckpfeiler, die meine Arbeit tragen, im Folgenden kurz vor.

|23|1.1  Die Entwicklung der Familientherapie

In den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts begannen einige Psychiaterinnen und Psychiater in den USA und in Europa, den Blick in der Psychotherapie nicht mehr ausschließlich auf das Individuum zu richten, sondern die Familie, in der der Patient lebt, miteinzuschließen. Therapeuten, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, waren Virginia Satir, Salvador Minucchin, Mara Selvini Palazzoli und viele andere mehr. Sie alle haben bedeutende familientherapeutische Ansätze entwickelt; eine hervorragende Übersicht bietet das Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer (Schlippe & Schweitzer, 2012). Allen gemeinsam ist, dass psychische Erkrankungen nicht mehr als individuelles Problem des Patienten betrachtet wurden, sondern als Ausdruck von Interaktionsstörungen in der Familie. Es ging also darum, Interaktionen innerhalb der Familie zu „heilen“, damit der sogenannte Patient gesunden konnte. Es wurde auch nicht mehr von „dem Patienten“ gesprochen, sondern der Patient wurde als die Person verstanden, die durch ihre Symptome zum Ausdruck bringt, dass die Interaktionen innerhalb der Familie aus dem Gleichgewicht geraten sind. Die Person, die die Symptome zeigt, wird entsprechend „Indexpatient“ oder „Symptomträger“ genannt. Gearbeitet wurde folgerichtig stets mit der ganzen Familie. Die Familientherapie hat sich weiterentwickelt, und heute spricht man nicht nur von Familie, sondern von Systemen und fasst den Begriff entsprechend weiter. Wurde anfangs immer mit der ganzen Familie gearbeitet, findet systemische Therapie heute auch mit einzelnen Personen statt (vgl. Weiss, 1988), und systemische Grundsätze wendet man nicht nur in der Therapie, sondern auch in Beratung, Coaching und Supervision an. Die handlungsleitenden Annahmen bleiben stets die gleichen. Seit 2020 ist die systemische Therapie bei Erwachsenen in Deutschland als Richtlinienverfahren anerkannt und kann mit der Krankenkasse abgerechnet werden. In Österreich und der Schweiz ist dies schon deutlich länger möglich.

Was ist nun aber ein System?

Eine viel benutzte Metapher, um Systeme im Sinne der Familientherapie zu beschreiben, ist das Mobile. Auch ich möchte diese Metapher aufgreifen, da sie einfach und einleuchtend ist: Stellen Sie sich vor, die Familienmitglieder (oder die Mitglieder eines anderen Systems) sind die Schmuck|24|teile eines Mobiles. Sie alle sind miteinander verbunden, manchmal auf gar nicht direkt sichtbare Weise (s. Abbildung 1).

Wenn ein Teil ins Schwingen gerät, schwingen alle anderen Teile automatisch mit, und zwar so lange, bis wieder Ruhe einkehrt. Die Teile hängen nach wie vor aneinander, vielleicht haben sie sich im Raum aber anders ausgerichtet.

Übersetzt in eine fachlichere Sprache bedeutet das Bild Folgendes: Die Mitglieder eines Systems stehen zueinander wie die Schmuckteile eines Mobiles. Luhmann, einer der führenden Systemtheoretiker, postulierte, dass die Verbindungen innerhalb eines sozialen Systems durch Interaktion und Kommunikation entstehen. Durch die besondere Art der Interaktionen unterscheidet sich jedes System von allen anderen und kann als eigenständige Einheit wahrgenommen werden, auch wenn es Koppelungen zu anderen (ebenfalls eigenständigen) Systemen gibt (Ludewig, 2005).

Wird das System verstört (sprich: das Mobile angestoßen), bewegt es sich so lange, bis es wieder einen Zustand des Gleichgewichts erreicht, auch „Homöostase“ genannt (sprich: bis das Mobile wieder ruhig hängt). Störungen können von außen oder von innen erfolgen. Jedes System strebt stets einen Zustand des Gleichgewichts an. Da sich die Welt um uns herum ständig verändert, bedarf es einer gewissen Anstrengung innerhalb des Systems, einen bestimmten Zustand beizubehalten (Schlippe & Schweitzer, 2012).

Aus diesen Grundüberlegungen leiten sich einige Folgerungen ab, die in der Beratung unmittelbar zum Tragen kommen – Überzeugungen, die für die systemische Haltung prägend sind.

Abbildung 1:  Ein Mobile als eingängige Metapher für ein System.

|25|1.2  Systemverstörung – vertraue darauf, dass die Ergebnisse deiner Interventionen nicht planbar sind

Aus systemischer Sicht ist es sinnlos zu glauben, dass eine bestimmte Intervention eine vorhersagbare Verhaltensänderung nach sich zieht. Wenn Sie an das Mobile