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Ein spannender Krimi aus der Oberpfalz mit hochaktuellem Bezug vor traditionsreicher Kulisse. Ein Mann bricht auf dem Annabergfest in Sulzbach-Rosenberg tot am Zapfhahn zusammen. Agathe Viersen und Gerhard Leitner machen sich für ihre Versicherung an die Ermittlungen. Handelt es sich lediglich um einen Unfall, oder war womöglich Absicht im Spiel? Ihre Recherchen führen zu den Bergfesten im Landkreis – und mitten hinein in ein gefährliches Geflecht aus grausiger Vergangenheit und knallharter Gegenwart.
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Seitenzahl: 394
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Fabian Borkner, 1976 in Rosenheim geboren, schlug nach dem Abitur eine Laufbahn als Unterhaltungskünstler ein und tritt bis heute als Sänger mit seiner Gitarre auf. Er schrieb und produzierte mehrere Comedy-Shows für den Rundfunk und arbeitet als freier Redakteur. Er ist Preisträger des BLM-Hörfunkpreises für die beste Comedy und Unterhaltung.www.fabianborkner.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: istockphoto.com/hohl
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-392-9
Oberpfalz Krimi
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München.
In einem Bierzelt hätte die Blaskapelle in diesem Augenblick bestimmt einen Tusch gespielt, und alle Gäste hätten in das berühmte und bei Nicht-Bayern so beliebte »Prosit der Gemütlichkeit« eingestimmt. Dabei wäre mit Sicherheit auch der Rülpser untergegangen, der der Kehle des kahlköpfigen Mannes am Biertisch entfleuchte.
Doch auf dem Amberger Bergfest spielte keine Musik. Es gab keine Bühne. Es gab auch keine Karussells, keine Achterbahnen oder Schießbuden, von denen trötende Sirenen oder dumpf-verzerrte Sprecherstimmen zu den Biertischen herüberschallen hätten können. Es gab nur Gäste, die sich unterhielten. In moderater Lautstärke produzierten sie lediglich ein konstantes und gemütliches Grundbrummen.
Der Rülpser vor ihm klang wie der Motor einer alten Vespa. Die Gäste an den Nebentischen sahen peinlich berührt auf. Eine ältere Dame, die jeden Tag auf dem Bergfest ihre zwei Mass trank, schüttelte angewidert den Kopf. »Saubär!« Ein Familienvater versuchte, seine Kinder abzulenken, die wohl als Einzige den Rülpser lustig fanden. Wobei, auch Gerhard Leitner schmunzelte angesichts des Soundeffekts ein wenig in sich hinein. Er war es von dessen Verursacher nicht anders gewohnt.
Leitner kannte Alfred Ingelstetter seit Kindesbeinen. Sie waren in Wirkendorf zusammen im Kindergarten gewesen, und bereits damals hatte Leitner ihn nicht recht leiden können. Nicht Alfreds lautes Geschrei, welches in Leitners Ohren immer in der Tonart A-Dur vibrierte, und auch nicht, wie Alfred die anderen Kinder durch die Gegend schubste. Er hatte ihn in der Schulzeit nicht gemocht, wo er durch besonders stupide Zwischenbemerkungen aufgefallen war, und er mochte ihn jetzt, zwanzig Jahre später, genauso wenig. Demzufolge passte es Leitner überhaupt nicht, dass seine Kollegin Agathe Viersen seit einigen Monaten in einer Beziehung mit Alfred war. Er betrachtete Agathe, die ihm gegenüber auf der Bierbank saß, genau und bemerkte, dass auch sie von der mangelnden Körperkontrolle ihres Freundes wenig angetan war. Das amüsierte Leitner nun doch.
»Auf die Gesundheit!«, sagte er und hob seinen Steinkrug zum Anstoßen.
Nach einem kräftigen Schluck knallte Alfred seinen Keferloher wieder auf den Tisch und klopfte sich auf die Brust.
Bevor er abermals aufstoßen konnte, sagte Agathe: »Willst du uns noch mehr von daheim erzählen?«
Belustigt sah Leitner zu Alfred, der meinte: »Warum? Gesundheit geht vor Anstand!« Börps! Der nächste.
Agathe war sauer. Um sich zu beruhigen, wandte sie sich von den beiden Männern ab und blickte sich auf dem Festplatz um. Das Wetter hatte ihnen in den vergangenen ersten Julitagen wunderbare laue Nächte beschert. Es war der erste Sommer seit Langem, der diesen Namen auch verdiente. Die Besucher auf dem Bergfest trugen allesamt T-Shirts und kurze Hosen. Auch das eine oder andere Dirndl war zu entdecken, jedoch fiel Agathe auf, dass im Vergleich zur Dult in Regensburg oder zu anderen Volksfesten in der Region hier weit weniger moderne Trachten zu sehen waren. Überhaupt erschien Agathe das Amberger Bergfest auf angenehme Weise weniger hektisch als viele andere dieser Art von Veranstaltungen, zu denen sie ihr Kollege Gerhard Leitner schon mitgeschleppt hatte. Als gebürtige Lübeckerin sträubte sich Agathe noch immer vor zu viel bajuwarischer Volkstümelei, allerdings fühlte sich Leitner durch seinen früheren Beruf als Musiker den Festen, Kirwan und Dulten der Oberpfalz eng verbunden. So ließ Agathe ihn zwar zunächst immer ein bisschen betteln, begleitete ihn am Schluss aber meistens doch. Außerdem kam es ihrem gemeinsamen Beruf – Agathe und Gerhard waren Versicherungsdetektive – sehr entgegen, wenn sie sich in der Region ein wenig auskannte.
Plötzlich verspürte Agathe ein merkwürdiges Gefühl. Hier saß sie nun auf dem Mariahilfberg und überblickte hangabwärts die Ausschanke. Es mochten acht oder neun sein, schätzte sie. Die Besucher standen in langen Schlangen vor den Würstchenbuden, an welchen ausschließlich über Kiefernzapfen die legendären Bratwürste gegrillt wurden. Obwohl auch an den Käse- und Bäckereiständen jede Menge Leute ihrer Verköstigung harrten, waberte über dem Platz vor der erhabenen Marienkirche ein wohliger Hauch der Gemütlichkeit, dem sich selbst Agathe als Nordlicht nicht widersetzen konnte. Sie hätte sich hier wohlfühlen können, hätte sich ihr Begleiter nicht nach einer knappen Stunde schon ins Aus geschossen. Während Agathe und Leitner gerade genüsslich an ihrer zweiten Mass mit fester Schaumkrone nippten, ging Alfred Ingelstetters vierte bereits zur Neige.
»Säuft sich wunderbar!«, rief er und sah sich nach der Bedienung um, damit es ja zu keinem Engpass in der Bierversorgung käme.
»Eigentlich geht man ja nicht zum Saufen auf den Berg«, sagte Leitner, dem nicht entgangen war, dass Alfred nur noch unter Mühen dazu in der Lage war, aufrecht zu sitzen.
»Schmarrn! Warum denn sonst? Glaubst du, wir marschieren am Donnerstag kilometerweit, bloß, dass wir dann Wasser trinken?«
Leitner wusste, dass bei der Soldaten-Wallfahrt, die traditionell am Donnerstag der Bergfestwoche stattfand, im Anschluss an den Feldgottesdienst freilich einiges an Bier gebechert wurde. Alfred, stationiert in der Schweppermann-Kaserne in Amberg, machte da bestimmt keine Ausnahme. Leitner versuchte nochmals sein Glück. »Schon, aber heute bist du doch sozusagen in Zivil da.«
»Eben! Der Bürger in Uniform ohne seine Uniform. Da kann man wenigstens schlucken wie alle anderen auch. Prost!«, schrie Alfred und leerte den Keferloher. »Resi! Noch eine Mass!«, brüllte er dann, weil er dies wohl für den üblichen Namen einer Bedienung hielt, obwohl die für seinen Tisch zuständige Kerstin hieß. Als er seinen Krug wieder auf den Tisch knallte, fiel durch die Erschütterung eine Gabel vom leer gegessenen Bratwürstelteller zu Boden. »Hoppala«, lallte Alfred und wollte der Gabel hinterher, verlor dabei aber das Gleichgewicht und fiel mit dem Kopf in den Schoß eines Mannes am Nachbartisch, der gerade in ein intensives Gespräch mit seinem Banknachbarn vertieft gewesen war.
»Ja, sag einmal!«, entfuhr es diesem.
Agathe und Leitner sprangen auf und zerrten an Alfreds Armen, um ihm wieder aufzuhelfen.
»Lassts mich in Ruh!«, schrie dieser. »Ich komm schon allein wieder hoch!«
Agathe ließ von ihm ab, stemmte eine Hand in die Hüfte und hielt sich den Rücken der anderen aus Scham vor den Mund. Dabei fiel ihr Blick auf den Mann am Nachbartisch, ein Mittvierziger mit grau durchzogenem lockig-halblangem Haar.
»Na, du hast es heute anscheinend recht eilig, hm?«, sagte er in Alfreds Richtung, und Agathe fiel ein Stein vom Herzen, dass der Mann den Zwischenfall offenbar mit Humor nahm. Er griff Alfred unter die Arme und half ihm beim Aufstehen.
»Ist dir was passiert?«, fragte Alfred den Mann.
Der lachte laut auf und sagte: »Das müsste ich wohl eher dich fragen. Du bist doch abgeschmiert, nicht ich.«
»Ich mein ja bloß. Aber wenn alles passt, können wir quasi in Ruhe noch eine Mass trinken, oder?«
»Nein, Alfred!«, flüsterte Agathe.
»Auweh …«, brummte Leitner leise.
Aber der Mann am anderen Tisch sagte schon: »Na freilich, du verträgst schon noch eine oder zwei!«
»Siehst du, der hat ein Hirn!« Alfred nickte übertrieben zustimmend in Richtung seines Nachbarn und ließ sich wieder auf die Bank sacken. Die Gabel hatte er vergessen.
Auch Agathe und Leitner nahmen wieder Platz. Leitner beschloss, sich heute über nichts mehr zu wundern, und trank genüsslich einen großen Schluck Bier.
Agathe wandte sich an Alfred, obwohl sie dessen Antwort schon vorausahnte. »Und das hältst du wirklich für eine gute Idee?«
»Logisch, Spatzerl. Schau, ein gestandenes Mannsbild verträgt schon seine sechs Mass!«
»Wenn er’s denn verträgt«, kommentierte Leitner.
»Haben die dir das bei der Bundeswehr so beigebracht? Im ›Seminar für bayerische Männlichkeit‹?«, fragte Agathe, die ihren Schreck nun auch überwunden und beschlossen hatte, Alfreds Zustand für den Rest des Tages einfach zu akzeptieren.
»Rrrrresi!« Alfred fuchtelte Kerstin an den Tisch.
»Darf’s noch eine sein?«, schlug sie ermunternd vor.
»Ich bitte förmlich darum!«
Kerstin ging mit einer Handvoll leerer Krüge zum Ausschank und kicherte vergnügt, weil sie aus Erfahrung wusste, dass bei Typen in Alfreds Zustand meist das Trinkgeld recht locker saß.
Agathe nahm ebenfalls noch einen Schluck, lehnte sich zurück und betrachtete Alfred und Leitner, die auf der gegenüberliegenden Bank hockten. »Da hab ich mir ja was Schönes eingebrockt mit euch bayerischen Männern …«, stöhnte sie.
Leitner winkte ab. »Mich brauchst du nicht anzuschauen. Da«, er deutete mit dem Daumen auf Alfred, »hockt deiner.«
»Und der ist nicht einfach nur ein Bayer«, referierte Alfred mit verletztem Stolz, »sondern ein Oberpfälzer! Das ist ein Riesenunterschied!«
Agathe nickte, um die offensichtlich für Alfred so immense Bedeutung seiner Oberpfälzer Herkunft nicht zu schmälern, während ihr Blick heimlich zu dem dritten Oberpfälzer in ihrer Nähe glitt, dem Mann am Nebentisch. Er trug sandfarbene Leinenhosen, die nicht preiswert aussahen, und über seinem weißen Poloshirt lässig einen hellgrünen Pullover, dessen Ärmel locker zusammengeknotet waren. Seine Haare standen in ungezähmten, kreativ anmutenden Büscheln vom Kopf ab. Sein dunkler Teint gefiel Agathe. Der Mann hätte locker als Italiener durchgehen können, wenn er nicht Oberpfälzisch gesprochen hätte – was er jedoch bei Weitem nicht in der lauten, bellenden Art tat wie so viele andere Bewohner der Region, die Agathe in ihrer Zeit hier bereits gehört hatte. Überhaupt umgab den Fremden eine Ausstrahlung, die Agathe faszinierte. Er versprühte Stilsicherheit und Souveränität, und Agathe wusste genau, dass seine anziehende Aura nicht nur dem offensichtlichen Kontrast zu Alfred geschuldet war. Alfred Ingelstetters Kopf war kahl geschoren, auch wenn er selbst nichts mit rechten Dumpfbacken am Hut hatte. Er betrachtete diese Frisur schlichtweg als die für ihn beste. Er hatte trainierte starke Arme, die Tribals zierten, und eine animalische Anziehung, der sich Agathe selbst jetzt, in seinem Vollsuff, nicht wirklich entziehen konnte. Sie fand beide Männer auf ihre Art attraktiv.
Zufällig sah der Mann am Nebentisch nun zu ihr herüber, und ihre Blicke hingen länger aneinander als der Situation angemessen. Als sein Nachbar ihn scharf antippte, wandte er sich ihm wieder zu, und beide nahmen ihre recht lebhafte Unterhaltung erneut auf.
Da Agathe nicht genau hören konnte, worum es ging, widmete sie sich stattdessen wieder den beiden Herren an ihrem Tisch. Der eine versuchte gerade, eine Portion Bärlauchfrischkäse mit einem kleinen Holzspatel gleichmäßig auf einem Stück Roggenkipferl zu verstreichen, der andere, Leitner, hatte seinen Blick Richtung Wolken gerichtet, so als würde er scharf über etwas nachdenken.
»Wenn ich mich richtig erinnere, müssen wir morgen eigentlich nur zu der Autowerkstatt«, wandte er sich an Agathe.
»Glaube schon«, sagte sie und erhob sich halb von der Bank, um ihr Smartphone aus ihrer engen Jeans zu ziehen.
Leitners Augen folgten den Kurven ihres Körpers. Bei Agathe stimmte das sogenannte A:T-Verhältnis, also die Proportionen zwischen Gesäß- und Brustbereich, wobei Leitner immer der Ansicht war, dass die obere Partie besonders stark ausgeprägt war. Dies bestätigte sich ihm auch in diesem Moment, da sich die Dinge sozusagen auf Augenhöhe abspielten.
Agathe nahm wieder Platz, wischte mit dem Finger über das Display und tippte dann darauf herum. »Wir sollten um neun Uhr dreißig beim Autohaus sein. Ich denke, damit ist der Fall Sanic dann auch erledigt.« Wie zufällig fing sie wieder den Blick des Herrn am Nachbartisch auf. Es kam ihr fast so vor, als hätte er sie schon seit geraumer Zeit beobachtet. Sein Lächeln war schlichtweg so überwältigend, dass Agathe den Blickkontakt abbrach und wieder zu ihrem Kollegen sah.
Leitner nickte, trank einen Schluck Bier und ging den Fall Sanic nochmals in Gedanken durch. Es handelte sich bei der Firma Auto Sanic GmbH um eine der zahlreichen Firmen, die alte Autos kauften. Jene, deren Visitenkarten immer an den Wagenscheiben oder unter dem Scheibenwischer steckten, wenn man aus dem Supermarkt vom Einkaufen zurückkam. Viele dieser Betriebe agierten weitgehend im Rahmen des geltenden Rechts, wenngleich sie natürlich auch den Standstreifen links und rechts neben dem Gesetzbuch ausnutzten. Doch die juristischen Einzelheiten interessierten Leitner und Agathe nicht. Ihr Arbeitgeber, die Jacortia-Versicherung München, wollte stets nur wissen, ob er bezahlen musste. Im Fall Sanic war die Jacortia aufmerksam geworden, weil schon zum zweiten Mal ein neuer Anspruchsteller den gleichen Wohnsitz angegeben hatte wie ein anderer. Es ging jeweils um nicht mehr ganz neue Autos, deren Verkäufe – so der Verdacht – durch einen kleinen Versicherungsbetrug für beide Seiten finanziell etwas lukrativer gestaltet werden sollten. Leitner und Agathe hatten sich also im Industriegebiet von Burglengenfeld auf die Lauer gelegt, wo die von Muamar Sanic geführte Firma ansässig war. Das regelmäßige Kommen und Gehen auf dem Hof hatten sie durch Fotos dokumentiert und waren bald auf Personen gestoßen, die auffallend häufig auftauchten. Damit hatten Leitner und Agathe genügend Verdachtsmomente beisammen, um die Rechtmäßigkeit der Zahlung der angeforderten Summen anzuzweifeln. Um die Dinge abschließend zu klären, mussten sie morgen nochmals zu Herrn Sanic. Konfrontationen dieser Art gehörten in Agathes und Leitners Beruf nun mal dazu. Leitner beschloss, sich an diesem Abend nicht mehr mit der Arbeit zu beschäftigen.
Er arbeitete in seinem neuen Beruf erst seit letztem Herbst, davor war er hauptberuflich Musiker gewesen und hatte einen Verleih von Bühnentechnik gehabt. Auf der Wirkendorfer Kirwa hatte er Agathe Viersen kennengelernt, die von der Versicherung nach Wirkendorf geschickt worden war, um im Fall einer verschwundenen CNC-Maschine zu ermitteln. Keine Versicherung zahlte knapp einhunderttausend Euro, ohne nicht gründlich nachgeforscht zu haben, ob sie dazu vertraglich verpflichtet war. Statt der Maschine fand Agathe zusammen mit Leitner zuerst einmal eine ziemlich übel aussehende Leiche in einem Gülletank, und kaum, dass die beiden sich’s versahen, steckten sie auch schon mitten in einer privaten Mordermittlung. Als der Fall aufgeklärt war, zeigte sich die Jacortia so begeistert von Leitners Leistungen, dass sie ihm einen Job als Versicherungsdetektiv anbot. Agathe und er waren der Filiale in Regensburg zugewiesen worden und kümmerten sich fortan um alle Angelegenheiten in der Region Oberpfalz. Agathe war zunächst wenig begeistert gewesen, in die Provinz versetzt zu werden. Schon der Schritt vor fünf Jahren von Norddeutschland nach München war für sie ein immens großer gewesen. Allerdings hatte sie durch Leitner mittlerweile auch die angenehmen Seiten des »Lebens auf dem Lande«, wie es immer hieß, kennengelernt. Es verlief nicht so hektisch wie in den Großstädten, und die Menschen wirkten zwar anfangs immer ein wenig ruppig, meinten es aber wenigstens auch so. Als ehemalige Polizistin in Hamburg, die weder auf den Mund gefallen noch schüchtern war, kam Agathe gut mit ihnen aus.
»Das wird noch schön laut heute«, sagte Leitner mit einem Blick auf Alfred.
Agathe sah ihren Freund ebenfalls an und ahnte, was Leitner meinte. Sie und ihr Kollege hatten sich eine gemeinsame Wohnung in der Innenstadt von Schwandorf genommen. Sie mussten irgendwo ortsnah in der Oberpfalz wohnen, und da sich die Regensburger Mietpreise mit dem Salär zweier Versicherungsdetektive nicht unbedingt in Einklang bringen ließen, hatte Leitner auf die nördlichere Oberpfalz gedrängt. Das Resultat war ebenjene recht geräumige Wohnung in Schwandorf, die ihnen ein Musikerkollege von Leitner vermittelt hatte. Ihre gemeinsame Nutzung durch die beiden Singles hatte das letzte halbe Jahr im Prinzip recht gut geklappt. Nur wenn einer der beiden seinen Partner mit nach Hause nahm, wurde es problematisch. Dick waren die Wände in der Wohnung in der Klosterstraße nämlich nicht.
»Ich glaube, du brauchst heute keine Ohrenstöpsel. Heute ist zwar mein Tag, aber ich zweifle daran, dass es später noch stürmisch wird.« Agathe lächelte Leitner schief an. Nachdem zurzeit beide in einer festen Beziehung waren, hatten sie sich darauf geeinigt, wer wann die komplette Wohnung nutzen durfte. Die »Mein Tag – dein Tag«-Regel hatte ihre Tücken, war aber im Großen und Ganzen praktikabel.
»Stürmisch«, flüsterte Leitner, sodass es Alfred nicht hören konnte, »glaube ich auch nicht.« Rülpser von Alfred. »Aber so, wie der heute beieinander ist, sägt der den Oberpfälzer Wald kurz und klein.«
»Dann fahr später halt noch zu … Wie heißt dein Dummchen doch gleich wieder?«
»Nadine«, sagte Leitner, und seine Gesichtszüge wurden ernst.
»Ach, genau. Nadine. Die wird sich bestimmt freuen, wenn sie Besuch von dir bekommt.«
»Die hat heute Gymnastik, und danach geht sie immer noch mit ihren Damen weg.«
»Wie schade. Ich befürchte, dann musst du da wohl einfach durch«, retournierte Agathe schnippisch und wollte sich mit einem Blick zu ihrem Banknachbarn aufheitern, doch dort saß niemand mehr.
»Ich … ich komm gleich wieder. Ich muss schiffen wie ein Brauereigaul«, hickste Alfred und erhob sich umständlich vom Tisch.
»Oder du«, schnitt sich Leitner eine kleine Retourkutsche für Agathe zurecht. Und rief, um seinen Standpunkt zu untermauern, Alfred hinterher: »Du gehst in die falsche Richtung, Alfred! Das Klohäuschen ist da hinten!«
»Ich brauch kein Klohäuschen!«
»Aber der Wald ist auch da hinten!«
»Ich brauche beim Bieseln Aussicht!« Mit großer Geste zur »Aussicht« torkelte Alfred in Richtung Marienkirche, hinter der man einen grandiosen Blick über das sommernächtliche Amberg hatte.
Leitner sah beeindruckt zu Agathe. »Der Herr ist ein Genießer. Pinkeln nie ohne Panorama. Respekt!« Er grinste sie an.
Sie grinste zurück.
»Au!«, schrie Leitner auf und rieb sich sein Schienbein, gegen das ihn Agathe getreten hatte.
»Entschuldige. Da war wohl dein Bein im Weg.« Sie sah ihn mit unschuldigem Blick an.
»Macht ja nichts, macht ja nichts«, brummte Leitner. »Ist doch der beste Beweis dafür, dass ich recht habe. Der Alfred ist schon ein grober Lackel. Das muss man mögen, aber bei den Preißen kommt so was meistens gut an.«
Nun gefror Agathes Lächeln, und sie flötete: »Soso, seinen Gymnastikkurs hat dein Blondchen also heute. Ebenso Respekt! Ist bestimmt schrecklich kompliziert, da muss man sich doch mindestens zwei Dinge auf einmal merken. Erst rechter Fuß, dann der – wie hieß der noch? –, ach ja, der linke Fuß. Eine echte Herausforderung für Nadumm.«
»Nadine!«
»Meine ich doch.«
Leitner streckte seinen Rücken durch. »Weißt du, ehrlich gesagt mache ich mir da auch keine großen Illusionen. Nadine und ich wollen ja nicht heiraten. Aber wir sind beide Single, und das kann man doch ein wenig genießen.«
»Stimmt. Und bei dem Wesentlichen, was eure Beziehung ausmacht, muss sie sich ja auch nicht auf das rechte oder linke Bein konzentrieren, sondern bloß auf das, was dazwischenliegt. Das sollte selbst sie hinkriegen.« Agathe trank siegessicher einen Schluck Bier.
Leitner nickte versonnen. »Tut sie auch. Und zwar in jeder nur vorstellbaren Hinsicht.«
»Dann hat sich ihr Gymnastikkurs für dich ja gelohnt.« Abermals sah Agathe zum Nachbartisch hinüber, aber die beiden Männer von vorhin waren nicht wieder aufgetaucht.
»Der hat’s dir aber angetan, was?«
»Wen meinst du?«
»Den Italo-Typen, auf den dein Verehrer draufgesegelt ist.«
»Blödsinn.«
»Hallo! Das ist doch nichts Schlimmes. Schauen darf man immer.«
»Aber ich habe nicht nach dem Typen geschaut. Ich habe mir erstens nur Gedanken gemacht, wie ich den Alfred jetzt dann nach Hause bekomme, und zweitens«, Agathe holte tief Luft, »ist der Typ doch jetzt sowieso schon nach Hause gegangen.«
Ihre Ehrlichkeit entlockte Leitner ein sattes Grinsen. Er hob den Masskrug. »Du bist mir schon auch a Matz …«
Nachdem sie angestoßen hatten, erspähte Agathe im Hintergrund ihren Freund. Seltsamerweise schien er es sehr eilig zu haben. Mit flotten, aber unsicheren Schritten lief er auf das Zelt zu, in dem Agathe und Leitner saßen. »Er kann heute wohl wirklich nicht schnell genug zurück zu seinem Bier kommen«, seufzte Agathe kopfschüttelnd.
Leitner sah über seine Schulter und beobachtete, wie Alfred im letzten Moment einen Sturz vermied. »Nun ja, er hat gemeint, dass er mindestens sechs Mass trinken will, und hat erst knapp fünf intus.«
»Scheiße!«, brüllte Alfred. »Dahinten … da …« Er übersah den Bordstein, der auf der sonst als Parkplatz genutzten Fläche die Parkzonen abteilte, und schlug hin. Seine Schulter kollidierte als Erstes mit dem Asphalt. Diesmal war es ihm unmöglich, den Sturz abzufangen.
»Aua, das hat jetzt wehgetan.« Agathe verzog vor mit erlittenem Schmerz das Gesicht, erhob sich und lief zu Alfred. »Ist schon okay, das ist mein Freund«, sagte sie zu einem Ehepaar, das Alfred gerade zu Hilfe kommen wollte. »Der hat heute leider schon zu viel gebechert.« Das Paar nickte verständnisvoll und ging seines Weges, während Agathe Alfred aufhalf, der jedoch immer wieder zu Boden sackte.
»Dahinten … da hängt einer …«, keuchte er.
Leitner hatte Agathes Schwierigkeiten bemerkt, war ebenfalls aufgesprungen und packte Alfred nun an der Seite. Gemeinsam stellten sie ihn wieder auf seine eigenen zwei Beine.
»Bitte, was hängt wo?«, fragte Agathe barsch, weil sie die Faxen nun wirklich dicke hatte.
Alfred schnaufte schwer. »Ich … ich bin beim Bieseln …«
»Wir wissen, dass du beim Pieseln warst!«
»Ja, aber ich geh dahinter und mach grad mein Hosentürl auf …«
»Gibst du uns jetzt eine Gebrauchsanleitung?«, scherzte Leitner.
»Arschloch! Jetzt hör halt zu! Also, ich schau grad, dass ich mich gescheit hinstelle, und auf einmal seh ich neben mir einen am Zaun hängen! Der … der ist tot!«
Leitner und Agathe nickten sich zu wie zwei Wärter in der Irrenanstalt, denen ein Insasse eben erzählt hatte, dass er wisse, wo Adolf Hitler sein Privatvermögen vergraben hatte.
»Jetzt schauts nicht so blöd! Der ist hin!«
»Hinter der Kirche?«, fragte Leitner und wollte die Situation beruhigen.
»Ja, dahinten am Zaun!«
»Und du meinst nicht, dass dem einfach nur schlecht war vor zu viel Bier?«
»Ich hau dir gleich eine in die Fresse!«, schrie Alfred und wollte auf Leitner lospreschen.
Agathe ging dazwischen und hielt ihn ab. »Ruhig, Brauner.«
Doch Alfred beruhigte sich keineswegs. »Dahinten … Ihr müssts dahinten schauen!«
Agathe nahm erst jetzt wahr, dass Alfred im Gesicht blutete. Er schien sich beim Sturz verletzt zu haben. »Gar nichts müssen wir. Jetzt gehen wir erst mal zu den Sanitätern, lassen dich anschauen, und dann bringe ich dich nach Hause.«
»Ihr seids ja wahnsinnig! Da, hinter der Kirche …«
»Ich schaue gleich nach, versprochen«, sagte Leitner mit fester Stimme. Und fügte, als Alfred verwirrt schwieg, hinzu: »Aber die Agathe hat recht. Zuerst lassen wir dich verarzten.«
Alfred, der sich nicht mehr wehren konnte, wurde von den beiden untergehakt, und gemeinsam bahnten sie sich als Dreiergespann durch die vielen Menschen hindurch langsam einen Weg zum Zelt der Sanis. Davor rauchten zwei junge Männer in leuchtend roten Jacken, ein etwas älterer saß auf einem Campingstuhl und trank Kaffee aus einer Thermoskanne. Die jungen traten rasch ihre Kippen aus, als sie die drei sahen.
»Was haben wir denn da angestellt?«, wollte der ältere wissen.
»Er ist gestürzt«, sagte Agathe.
»Das haben wir gleich«, murmelte einer der jungen und bereitete Desinfektionsmittel sowie ein Wundpflaster vor.
Alfred war inzwischen recht bleich geworden und richtete seinen Blick flehend zu Leitner. »Du wolltest doch …«
Leitner nickte und machte sich auf den Weg zurück den Berg hinauf. Ohne Alfred konnte er sich viel schneller durch die Besucher des Bergfestes hindurchschlängeln. Nein, er mochte ihn auch heute noch nicht.
Leitner schaute in die Zelte und winkte hin und wieder einem Bekannten zu, von denen er als ehemaliger Musiker natürlich viele besaß. Wo, hatte Alfred gesagt? Ach ja, hinter der Kirche. Beim Panoramabieselplatz. Am oberen Ende des Festplatzes ging Leitner nach links und passierte den Hintereingang der Marienkirche. Eine Sekunde lang ergötzte er sich am wunderbaren Ausblick und sah sich dann um. Am Zaun hängt einer. Und der ist tot.
Der Zaun verlief parallel zur Kirchenmauer und sollte Besucher und Wanderer davor schützen, den Abhang hinunterzustürzen, der dahinter begann. Leitner blickte am Zaun entlang. Nicht ein einziger Mensch war zu sehen. Tot oder lebendig. Kunststück, dachte er. Wozu soll sich hier hinten jemand herumtreiben, wenn er vorne das schönste Fest der Welt haben kann? Aber da Leitner sein Versprechen gegeben hatte, sich genau umzusehen, ging er den ganzen Zaun ab. Nirgends war etwas Auffälliges zu sehen. Er lief wieder zurück und hielt immer noch die Augen offen. Nichts. Auf dem Rasenfleck vor dem Hintereingang der Kirche bemerkte er lediglich vier Masskrüge, wovon einer zerbrochen war. Wahrscheinlich hatten sich Jugendliche hierher verzogen, um zu rauchen, zu schmusen oder sonst irgendwelche Dinge zu tun, von denen sie glaubten, dass die Erwachsenen sie besser nicht mitkriegen sollten. Außer der Turmuhr, die gerade lautstark sechs Uhr schlug, war alles ruhig und friedlich. »Depp, besoffener!«, stieß Leitner zwischen den Zähnen hervor, dann ging er wieder zum Festplatz.
Von Weitem sah er, wie Kerstin, die Bedienung, gerade seinen Krug abräumen wollte. »He, lass mir den noch stehen!«, rief er.
Sie sah ihn überrascht an. »Ich habe gedacht, ihr kommts nicht mehr, nachdem es euren Freund hingehauen hat.«
»Ich glaube auch nicht, dass der noch mal kommt. Aber ich trink noch in Frieden aus.«
»Passt. Dann lass ich’s stehen.«
»Ich bin gleich wieder da.« Leitner kämpfte sich wieder ans untere Ende des Platzes durch.
Dort war Alfred inzwischen versorgt worden. Ungeduldig fuhr er Leitner an: »Jetzt red halt! Hast du ihn gesehen?«
Auch Agathe war neugierig, aber Leitner winkte ab. »Da hinten war keine Menschenseele. Weit und breit nix und niemand.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass der am Zaun hängt!«
»Und ich hab alles abgesucht. Da ist keiner gehängt, gestanden, gelehnt oder gelegen. Das hast du dir wahrscheinlich eingebildet.«
»Wunder wär’s keins«, bemerkte der ältere Sanitäter trocken. »Wie man sich den Kragen nur so volllaufen lassen kann.«
»Aber … aber wir müssen den finden!«, beschwor Alfred die Umstehenden.
»Sie dürfen heute schon froh sein, wenn Sie Ihr Bett finden«, meinte der Sani.
»Dabei helfe ich ihm schon«, erwiderte Agathe, »und zwar jetzt gleich.«
»Nein, wir müssen doch –«
»Nach Hause fahren.«
Leitner blickte auf seine Armbanduhr. »Wenn ihr euch ein Taxi nehmt, kriegt ihr noch den nächsten Zug nach Schwandorf.«
»Wird wohl das Beste sein«, sagte Agathe.
Doch Alfred war entschlossen. Er setzte nochmals an: »Aber … da war doch diese Leiche am Zaun … die war tot!«
»Das haben Leichen so an sich, dass sie tot sind«, brummte der ältere Sani, stand auf und ging einen Schritt auf Alfred zu. »Seien S’ gescheit. Hören S’ auf Ihre Frau und gehen S’ heim.«
»Aber –«
»Und seien S’ froh! Nicht eine jede ist so freundlich, wenn ihr Mann einen Rausch hat.«
»Dahinten stehen gleich die Taxis«, flüsterte Leitner Agathe zu und deutete in die entsprechende Richtung.
Aller Protest half Alfred nichts. Er wurde von Agathe und Leitner ins Taxi gehievt, welches sodann Fahrt Richtung Amberger Bahnhof aufnahm.
Leitner sah ihm hinterher und schnaufte erleichtert aus. Dann kehrte er zu seinem Platz zurück, wo er tatsächlich noch seinen Masskrug und seinen freien Platz vorfand. Er setzte den Krug schon an die Lippen, da klang es vom Nachbartisch herüber: »Wirklich ein schöner Abend heute, nicht wahr? Wo haben Sie denn Ihren angeheiterten Freund gelassen?«
Leitner blickte auf und in das Gesicht des Mannes von vorhin. »Der ist heim. Ich glaube, dem hat es heute gelangt.«
»Mei, so einen Tag hat jeder mal.«
»Stimmt schon …«, murmelte Leitner.
»Vielleicht hat er nur für Sulzbach-Rosenberg in vierzehn Tagen geübt.«
Leitner musste lächeln. Der Hinweis auf das nächste Bergfest verriet ihm, dass der Mann so wie er selbst ein fleißiger Besucher aller vier Bergfeste sein musste. Das nächste Fest auf dem Annaberg begann turnusmäßig zwei Wochen nach Ende des Amberger Bergfests. »Hoffen wir’s!«, sagte er und machte sich, nachdem er seinen Bierkrug geleert hatte, ebenfalls auf den Weg zum Bahnhof, allerdings zu Fuß.
Der Spaziergang war nach »dem Berg«, wie man das Fest verkürzt nannte, eine willkommene Abwechslung, bei der der Kreislauf wieder angekurbelt wurde. Am unteren Festplatz bemerkte Leitner einen großen Auflauf von Menschen. Am Haupteingang der Marienkirche, auf den Stufen der Ehrfurcht gebietenden Haupttreppe, scharten sich die Leute. Seltsam, so ein Ansturm herrscht ja nicht einmal, wenn dort Gottesdienst ist, dachte Leitner und lenkte seine Schritte in Richtung Portal. Er ging seitlich an den Menschen vorbei und sah von unten, wie Sanitäter und Polizisten die Treppe hinaufliefen. Jemand sagte: »Der ist hin!« Eine andere Stimme rief: »Da oben hängt er!«
Leitner drängelte sich weiter bis in die Kirche und sah zum Altar. Nichts. Er blickte sich um. Die Augen aller in der Kirche waren nicht nach vorne, sondern nach hinten gerichtet, auf die Kirchenorgel. Langsam drehte sich Leitner um.
Ein schwarzes Bündel hing unterhalb der Orgelpfeifen am Balkon, aus dem zwei Gliedmaßen in unnatürlicher Haltung hervorragten. Es war tatsächlich ein Mensch. Ein toter Mensch. Leitner öffnete fassungslos den Mund. »Ich glaub, ich spinn.«
Am darauffolgenden Freitagmorgen saß Leitner um halb acht am Küchenfenster seiner mit Agathe geteilten Wohnung und blies behutsam in die Crema seines Kaffees. Er überflog die Tageszeitung, fand jedoch im sich ankündigenden Sommerloch keine Neuigkeiten in der Weltpolitik, die ihn interessiert hätten. Auch im Lokalteil las er nichts Spannenderes als Artikel über das Sommernachtsfest des Obst- und Gartenbauvereins sowie das Bambini-Turnier der Tennisabteilung. Er sah hinab auf die Klosterstraße, auf der sich vor dem Zeitungs- und Tabakgeschäft der morgendliche Verkehr staute, weil es dort hervorragenden Kaffee to go zu kaufen gab. Die Sonne stieg gerade hinter dem gegenüberliegenden Haus empor, und Leitner musste geblendet blinzeln. Er hob die Tasse und genoss einen Schluck seines starken Kaffees.
Das war schon der Hammer gestern!
Das blöde besoffene Gequatsche über einen Toten am Zaun von Alfred Ingelstetter, dessen Schnarchen im Übrigen noch immer aus Agathes Zimmer drang, hätte man ja wirklich noch wegstecken können. Aber dass in der Kirche tatsächlich eine Leiche gehangen hatte, das war schon ein starkes Stück.
Leitner hörte, wie sich die Badtür öffnete. Agathe würde also gleich in der Küche auftauchen.
Als sie im Türrahmen stand, roch sie nach fruchtigem Pfirsich-Duschbad und hatte sich angesichts ihres gemeinsamen Termins beim Autohaus in Jeans und eine strenge weiße Bluse geworfen. Das wirkte respektvoller als ein sommerliches Outfit mit lockerem Shirt und kurzen Chinos. Ihr erster Weg führte – wie jeden Tag – zum Vollautomaten, der nach einem Knopfdruck mit aggressivem Dröhnen die Arabica-Bohnen zermalmte.
»Na, sägt er noch?«, fragte Leitner mit schelmischem Blick.
Agathe sah ihn eisig an. »Danke, gut! Und selber?«
Leitner schnaubte ein genüssliches »Hmmm« und nahm einen Schluck Kaffee. »War noch ganz spannend gestern.«
»Schon klar.«
»Nein, tatsächlich. Ist noch einiges passiert.«
»Das kenne ich. Nach drei Mass Bier trifft man irgendjemanden, quatscht über alte Zeiten, schlägt sich vor lauter Bierseligkeit gegenseitig auf die Schultern und beteuert schließlich, wie toll doch die Vergangenheit war und dass man sich unbedingt öfter sehen sollte.«
»Ja, so was gibt es freilich«, gab Leitner zu. »Aber –«
»Ich tippe mal auf jemanden aus deiner Regensburger Zeit, richtig?«
»Nein, Agathe, es –«
»Warte, ich rate! Dann ein Mitmusiker von früher. Korrekt?«
»Sie liegen immer noch so was von falsch, meine sehr verehrte Frau Kollegin.«
Agathe musterte ihn genau. »Wahrscheinlich hast du nur dein Bier ausgetrunken und bist dann heim.«
»Auch nicht richtig. Ich war schon noch eine ganze Zeit lang auf dem Berg.«
»Also hast du dich doch mit irgendwem verquatscht.«
»Ich war spät zu Hause, das stimmt, aber nicht wegen dem Verquatschen, sondern wegen der Leiche.«
Agathe stellte ihre Tasse neben Leitners und ging zum Kühlschrank. Da sie vermutete, dass er sie in der nächsten Zeit noch ein paarmal wegen der Szene ihres Freundes am Vortag aufziehen würde, trat sie die Verteidigung durch Ehrlichkeit an. »Sag bloß nichts! Die ganze Heimfahrt habe ich mir das noch anhören dürfen. Ob dem Schaffner oder den Mitreisenden im Zug – allen hat Alfred von seiner nicht existenten Leiche vorgelallt.«
Leitner konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen. »Wann hat er denn die Segel gestrichen? Noch im Zug?«
»Aber erst kurz vor Schwandorf. Dann musste ich ihn leider wieder aufwecken und irgendwie herbringen.«
»Nun, das ist ja nicht sooo weit.«
»Nüchtern nicht. Aber ›betreutes Heimbringen‹ dauert nun mal ein bisschen länger.«
Leitner schmunzelte. Er fand Agathes nordisches »’n büschen« einfach niedlich.
»Wo ist die Butter?«, fragte sie.
»Steht schon hier.«
Agathe schmierte sich ein Toastbrot und kleckste Erdbeermarmelade darauf. »Und dann hat Alfred noch vorm Bahnhof in die Rabatte gekotzt.«
»Der Alfred hatte doch nur Bier gestern, oder? Verträgt, scheint’s, auch nix mehr.«
»Auf jeden Fall war ich froh, als ich ihn endlich seiner Schuhe und Hose entledigt hatte. Von daher reichen mir meine eigenen Erlebnisse gestern Abend.«
Leitner zuckte gespielt gleichgültig mit den Schultern.
Als Agathe bemerkte, dass er ihr eigentlich etwas für ihn Wichtiges hatte erzählen wollen, fragte sie versöhnlich: »Wen hast du also gestern noch getroffen?«
»Getroffen kann man nicht sagen …«
Plötzlich stand Alfred – oder was von ihm nach dem vergangenen Abend noch übrig war – im Türrahmen und kratzte sich den linken Oberschenkel.
Leitner sagte: »Guten Morgen, junger Mann!«
Alfred brummte nur zur Antwort.
»Café au Lait und ein Croissant au beurre, wie immer?«, mimte Leitner den Hotelangestellten.
»Am Arsch kannst du mich lecken!«
»Das hebe ich mir fürs zweite Frühstück auf«, feixte Leitner.
Agathe ging zur Kaffeemaschine. »Ich lass dir mal ’nen starken Espresso raus, mein Held.«
Alfred ließ sich stöhnend auf Agathes freien Stuhl sinken und rieb sich mit den Zeigefingern seine Schläfen.
Während Agathe den Mokka vor ihn hinstellte, fragte sie Leitner: »Wen hast du denn auf dem Bergfest also nicht getroffen?«
Leitner machte eine bedeutungsschwangere Pause und meinte dann: »Eine Leiche!«
Alfred blinzelte ihn an und ersparte sich und den anderen eine schlaue Bemerkung.
»Es ist ja nun irgendwann mal gut, Gerhard!«, wurde Agathe lauter. »Über den Scherz hab ich gestern schon häufig genug gelacht. Das wird nun langsam ein bisschen dünn!«
’n büschen.
»Aber das ist mein Ernst.«
Alfred hob den Kopf. »Ich habe es schon gestern kapiert, dass ihr mir das nicht glaubt«, raunte er feindselig. »Und wenn ihr hundertmal sagt, dass ich besoffen war – ich habe einen Toten am Zaun hängen sehen, wie ich beim Bieseln war!«
»Ich habe auch einen Toten hängen sehen«, sagte Leitner. Agathe wollte eben entnervt einhaken, doch Leitner ließ sie nicht zu Wort kommen: »Allerdings habe ich gar nicht gewusst, dass du das Wort ›Kirchenschiff‹ so wörtlich nimmst und tatsächlich in der Kirche schiffen warst.«
Alfred konnte ihm nicht folgen.
»Wenn du die Leiche beim Pinkeln gesehen hast, musst du es in der Kirche erledigt haben. Dort hat man nämlich einen toten Mann gefunden. Der Örtlichkeit geschuldet hing er nicht am Zaun, sondern unter den Pfeifen der Kirchenorgel.«
»An der Kirchenorgel?«, fragte Alfred entgeistert.
»Gerhard, es reicht!«, herrschte Agathe ihren Mitbewohner an.
»Mir reicht’s auch!«, brummte Alfred, der sich wieder berappelt hatte. »Verarschen kann ich mich allein.«
»Aber ich verarsche dich nicht. Auf dem Amberger Bergfest wurde ein Toter an der Orgel der Marienkirche gefunden. Das wird dir auch die Polizei nachher bestätigen.«
»Wieso?«
»Weil du später mit uns auf die Wache musst. Ich habe den Beamten natürlich von deinem Leichenfund erzählt, und sie wollen, dass du den Toten identifizierst.«
»Aber ich habe doch keine Ahnung, wer da am Zaun hing!«
»An der Orgel, nicht am Zaun. Und du sollst ja auch nur sagen, ob der arme Kerl, den sie da runtergeschnitten haben, der ist, den du davor gesehen hast.«
Agathe fragte sich mittlerweile, wer am Tag zuvor mehr getrunken hatte – ihr Freund oder ihr Arbeitskollege. »Sagt mal, kann es sein, dass ihr beide spinnt?«
»Ich habe den Cops schon erklärt, dass du heute Morgen ein bisschen länger brauchen wirst, um in die Gänge zu kommen, Alfred. Von daher werden Agathe und ich erst mal unseren Termin beim Autohaus wahrnehmen und hinterher, gegen Mittag, raus zur Inspektion fahren.«
Alfred gab es auf, etwas Schlaues zu erwidern, und kramte schweigend in seiner vernebelten Erinnerung des letzten Abends herum.
Leitner schnappte sich seine Windjacke und wandte sich an Agathe. »Kommst du?«
Da sie ebenfalls gemerkt hatte, dass sie den Fall der »wandernden Leiche« im Augenblick nicht lösen konnte, beschloss sie – ganz Profi – ihrer anstehenden Aufgabe nachzugehen, und erhob sich.
Als sie die Wohnung verließen, flüsterte Leitner: »Ich habe dir doch gesagt, dass es gestern noch interessant war.« Dann schlug die Tür zu.
Alfreds Augen fixierten noch eine gute Minute lang einen Punkt auf dem Küchentisch. Dann schnaufte er tief durch und seufzte: »Es war wohl doch eine Mass zu viel.«
Auf der Amberger Kriminalpolizeiinspektion scrollte Hauptkommissar Deckert die Bilder auf seinem Monitor langsam nach oben. Der Bildschirm war von ihm weggedreht und zur anderen Seite des Schreibtisches ausgerichtet.
Alfred besah sich die Fotos des Leichnams schweigend. Es wirkte so, als kämpfte er gegen ein Gefühl des Ekels an, was sowohl Agathe als auch Leitner verwunderte, die ebenfalls anwesend waren. Sonst war Alfred bei derlei Dingen nämlich nicht so zimperlich. Er seufzte tief und ließ die Luft geräuschvoll entweichen, bevor er den Kopf schüttelte. »Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt: Das ist er nicht.«
Hauptkommissar Deckert suchte Blickkontakt mit Agathe und Leitner. Die drei schienen sich zu verstehen: Alfred hatte einen solchen Rausch gehabt, dass man seine Fähigkeit, die Identität des Toten zuverlässig zu bestätigen, zu Recht anzweifeln konnte. »Schauen Sie doch noch mal genau hin«, ermunterte ihn der Kriminalbeamte.
Alfred bedachte ihn mit einem Blick, der von Genervtheit durchtränkt war; betrachtete die Bilder dann aber ein weiteres Mal.
»Du hast doch gestern steif und fest behauptet, du hättest eine Leiche auf dem Bergfest gesehen«, meinte Leitner.
»Hab ich ja auch. Aber nicht die. Also, ich meine, nicht den da!«
»Ah ja«, ließ Deckert sich enttäuscht vernehmen.
»Nix ›Ah ja‹! Das war ganz bestimmt nicht der Kerl, der mir vor der Nase gehangen hat!«
Agathe riss ungeduldig die Arme nach oben und ließ die Hände lautstark auf ihre Oberschenkel zurückpatschen. »Mann, was glaubst du denn, wie viele Leichen es da oben gegeben hat?«
Alfred fuhr wütend auf seinem Stuhl herum. »Der da war es jedenfalls nicht! Der hat rote Haare, meine Leiche hatte braune.«
»Rot, braun … Im Halbdunkel sind Nuancen doch schwer zu unterscheiden«, probierte Leitner, eine Brücke zu bauen.
»Kruzifix noch einmal! Warum wollt ihr mir eigentlich nicht glauben? Außerdem war mein Toter viel jünger als der da. Der ist doch mindestens schon sechzig.«
Hauptkommissar Deckert blätterte in einem Aktenordner. »Genau … dreiundsechzig Jahre war er.«
»Bitte schön! Den, wo ich gesehen habe, war um die vierzig. Höchstens«, murrte Alfred bockig.
Der Kommissar gab es auf und drehte den Monitor wieder zu sich. »Ja, dann …«
Agathe ging näher an den Schreibtisch heran und fragte, einer alten Gewohnheit folgend: »Wer ist der Tote eigentlich? Weiß man schon etwas?«
Deckert nickte und suchte in der Akte nach den Personalien. »Heinrich Merz, wohnhaft in Pittersberg, Beruf –«
»Pfarrer«, ergänzte Leitner.
»Stimmt. Haben Sie ihn gekannt?«
Leitner winkte ab. »Freilich, das war doch so eine Art Wanderprediger.«
»Wanderprediger?«, fragte Agathe.
»Nicht so, wie du denkst. Aber bei uns gibt es viele Gemeinden, die keinen Pfarrer mehr haben.«
»Nachwuchsprobleme?«, fragte Agathe keck. Sie gehörte seit ihrer Zeit als Polizistin in Hamburg keiner Konfession mehr an und zog die in der Oberpfalz noch vorherrschende Gottesfurcht gern ein wenig ins Lächerliche.
Leitner ließ die Parade an sich vorübermarschieren und sagte: »Ja, auch wenn man gelegentlich anderes hört. Auf jeden Fall gibt es solche Priester, wie der Merz einer war, die an bestimmten Tagen in den einzelnen Gemeinden in den kleinen Kirchen die Dorfgottesdienste abhalten.«
Hauptkommissar Deckert nickte zustimmend. »Richtig. War Merz denn beliebt bei den Leuten?«
Leitner überlegte kurz. »Nun ja, ich glaube, die Alten haben ihn schon gemocht.«
»Und die Jungen?«
»Die Jungen gehen ja nicht mehr häufig in die Kirche«, wich Leitner aus.
»Na kommen Sie schon, sagen Sie mir, was Sie wirklich denken.«
»Mei, ich habe ihn nicht sehr gut gekannt. Bei ein paar Hochzeiten und Beerdigungen, auf denen wir mit der Kapelle gespielt haben, hab ich ihn gesehen. Mir persönlich war er immer ein bisschen zu … glatt.«
»Glatt?«
»Seine Sprüche halt. ›Ich künde die Botschaft des Herrn. Und der Herr vergibt, so steht es geschrieben.‹ War mir immer ein bisserl zu viel Butter aufs Brot. Aber wie gesagt, den Alten hat’s gefallen. Für die war er noch ein Pfarrer vom alten Schlag. Darum haben sie ihn durchgefüttert. Und gesoffen hat er auch wie ein Loch.«
Agathe trat von einem Fuß auf den anderen. »Woran ist er denn gestorben?«
»Das wissen wir noch nicht, weil die Leiche heute erst nach Erlangen gebracht wurde. Aber es gab keinerlei Spuren von Gewalteinwirkung oder sonstige Verletzungen. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Die Ergebnisse bekommen wir erst noch.«
Agathe dachte immer noch angestrengt nach. »Und wo wurde Merz gefunden?«
»Er hing mit dem Oberkörper über der Brüstung vor der Orgel. Wie er da raufgekommen ist, wissen wir noch nicht. Vielleicht wollte er sich die Kirche von der Empore aus anschauen.«
»Aber warum? In seinem Job hat er doch bestimmt schon Tausende Kirchen gesehen«, meinte Agathe skeptisch.
»Die Marienkirche ist sehr prächtig und prunkvoll, Frau Viersen. Die lohnt immer einen Blick.«
Agathe zuckte mit den Schultern.
»Ist ja bisher auch nur eine Vermutung«, fuhr Deckert fort. »Er könnte da oben auch einen Schwächeanfall erlitten haben und dann einfach unglücklich gestürzt sein.«
Alle im Büro ließen sich die Möglichkeit durch den Kopf gehen. Dann sagte Alfred: »Eine brunzdumme Art zu sterben.«
Nadine Berger rümpfte die Nase, als ihr der Kellner der großen Pizzeria Rossini auf dem Schwandorfer Marktplatz ihren Teller servierte. Darauf lag eine halbe Pizza, deren andere Hälfte Gerhard Leitner kredenzt wurde. Nadine schaute ihren Freund angewidert an. »Was sind das da für Würmer?«
Leitner wickelte sein Besteck aus der Serviette und begann mit großem Appetit, sein Pizzastück in drei Dreiecke zu schneiden. »Das sind Scampi. Schmecken hervorragend.«
Nadine stocherte mit ihrer Gabel in den rosa gegarten Krustentieren herum. »Fisch oder was?«
Leitner sah verstohlen zu Agathe, die zusammen mit Alfred ebenfalls am Tisch saß. Ihr Blick sprach Bände. »Das sind Krabben. Probier einfach mal.«
Nadine biss in ein Pizzastück und sagte, nachdem sie gekaut und geschluckt hatte, ohne jede Begeisterung: »Schmecken irgendwie total leer.«
Leitner fixierte mit einem Auge immer noch Agathe, die sich nicht lange bitten ließ. »Nun, solange nur der Geschmack ein bisschen leer ist, ist ja alles in schönster Ordnung, nicht wahr?«
Leitner schoss retour: »Und wie ist das Bier, Alfred? Geht schon wieder was?«
Der Angesprochene probierte halbherzig ein wenig von seiner Halben und schüttelte sich. »Das bringe ich heute noch nicht runter. Ich glaub, ich bestell mir ein Spezi.«
»Freilich«, sagte Leitner kumpelhaft. »Man muss ja nicht immer den Helden spielen, gell?«
Nun war es an Agathe, Leitner durchdringend zu mustern.
Dieser wusste wohl, dass seine Kollegin nicht viel mit Nadine anfangen konnte. Aber da er diese nicht als Lebensgefährtin sah, sondern nur gelegentlich ein paar schöne Stunden mit ihr verbrachte, trafen Agathes Spitzen ihn nicht besonders. Eine Zeit lang aßen die vier in stillschweigendem Frieden.
»Aber komisch ist die Sache«, sagte Leitner dann. »Da muss einer schon saublöd fallen, dass er so über dem Balkon der Orgel hängen bleibt.«
Alfred reagierte als Einziger, indem er verächtlich schnaubte.
»Schwächeanfall mit dreiundsechzig … auch ein bisserl früh«, fuhr Leitner fort.
»Er war ja nicht eben gertenschlank«, wandte Agathe ein. »Wenn er wirklich gern und viel getrunken hat, dann kann das schon auf den Kreislauf gehen.«
Nadine lehnte sich in ihrem Korbstuhl zurück. »So ein Pech«, sagte sie vergnügt, »da findet ihr gleich zwei Tote auf dem Bergfest, und ich bin nicht dabei, hihi!«
Leitner versuchte mit einer Hand auf ihrem Oberschenkel, ihre freudige Erregung zu dämpfen. »Es war bloß ein Toter, Herzerl.«
Doch Nadine ließ sich nicht beirren. »Und wie ist der dann vom Zaun rauf zur Orgel gekommen?«
Alfred ließ unter lautem Klirren seine Gabel auf den Teller fallen, sodass die umsitzenden Gäste aufsahen. »Der oben an der Orgel, der Pfarrer Merz, war nicht der, den ich gesehen habe!«
»Also waren es doch zwei«, triumphierte Nadine. »Und ich hab keinen von beiden gesehen, wie schade.«
»Es gibt ja auch Vergnüglicheres als tote Menschen«, sagte Agathe scharf.
»Wieso? So eine Leiche ist doch cool!«, grinste Nadine breit und nahm einen Schluck Rotwein.
»Cool?«, sagte Alfred aufreizend. »Da hättest du mal bei dem Unfall letztes Jahr in Grafenwöhr die drei Toten im Unimog sehen müssen. Die hat’s zerbatzt.«
»Wow!«, sagte Nadine anerkennend, und Alfred freute sich, dass er endlich einmal nicht das Objekt mitleidigen Spotts in der Runde war.
»Also, ich glaube immer noch nicht, dass es zwei Leichen waren«, sagte Agathe. »Eine ist ja schon genug.«
»Mir ist das langsam wurscht, was du glaubst«, brummte Alfred und wandte sich wieder seiner Pizza zu.
Eine halbe Stunde später orderte Leitner die Rechnung.
»Heute sind wir bei mir, oder?«, fragte Alfred, nachdem alle bezahlt hatten.
Agathe nickte und erhob sich. Zu Leitner sagte sie so, dass die anderen beiden sie nicht hören konnten: »Und vielleicht könnte die Madame morgen früh ihre blonden Haare aus dem Duschabfluss entfernen.«
Leitner blickte verständnislos zu Nadine. »Aber sie ist doch brünett.«
»Nein, darunter ist sie blond. Warte, ich beweise es dir.« Damit wandte sie sich an Nadine. »Meine Süße, weißt du eigentlich, warum dort oben am Kirchturm zwei Uhren angebracht sind?«
Nadine sah auf die beiden Ziffernblätter der Kirche St. Jakob. »Nein, warum?«
»Damit zwei Menschen gleichzeitig darauf schauen können.«
Nadine nickte erstaunt. »Das ist ja toll.«
Agathe lächelte sie übertrieben freundlich an. »Gell? Dann euch viel Spaß heute Abend.«
Leitner bedachte Agathe, die sich schon zu Alfred drehte, mit einem eisigen Blick und empfand eine gewisse Genugtuung, als er Alfred im Weggehen sagen hörte: »Aber das ist doch eigentlich ein Schmarrn. Weil wenn s’ bloß eine Uhr hätten, könnten doch auch zwei Leute gleichzeitig …« Leitner schmunzelte.
»Warum ist die Agathe eigentlich immer so komisch?«, fragte Nadine kurz darauf, nachdem sie ihre Korrespondenz via WhatsApp erledigt hatte.
»Na ja, sie mag es eben, im eigenen Bett zu schlafen.«
»Das kann sie doch.«
»Theoretisch schon. Aber wir haben uns halt darauf geeinigt, dass wir an besonderen Tagen die Wohnung einem allein überlassen.«
»Wie lange wohnt ihr eigentlich schon zusammen?«
»Wir wohnen nicht zusammen, wir teilen uns nur eine große Wohnung. Das ist ein Unterschied.«
Nadine steckte ihr Handy in ihre kleine Handtasche. »Mir wäre das zu blöd.«
Leitner verzichtete darauf, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Sie würde sie bestimmt nicht interessieren. Als sie sich näher kennenlernten, hatten Leitner und Agathe nicht recht gewusst, ob sie sich mit dem anderen in eine feste Beziehung begeben hatten oder nicht. Sie fühlten sich zwar heftig zueinander hingezogen, aber niemand von beiden nahm das Ruder in die Hand, sodass nichts daraus entstanden war. Jetzt teilten sie sich sowohl die Wohnung als auch einen Teil ihres Privatlebens, auch wenn beide stets behaupteten, dass Letzteres eben nicht der Fall war. Auf Außenstehende, wie zum Beispiel Leitners Musikerkollegen, wirkte das Arrangement äußerst merkwürdig.
Nadine beschäftigte sich immer noch mit dem Problem des eigenen Bettes. »Agathe kann doch daheimbleiben. Mich stört das nicht.«
»Dich vielleicht nicht. Aber sie.«
»Und warum?«
Leitner beugte sich mit einem herrenhaften Blick zu ihr hinunter. »Wenn wir jetzt heimkommen, werden wir nicht fernsehen, nicht wahr?«
Nadine grinste breit und entblößte ihre makellosen weißen Zähne. »Logisch nicht, da fällt uns was Besseres ein.«
»Richtig. Und du weißt auch, wenn du dich zum Beispiel auf den Bauch drehst, dann bist du nicht gerade leise.«
»Mei. Das tut mir halt gut.«
»So soll es sein. Wo gehobelt wird, da fallen auch Späne, aber die Agathe muss ja nicht unbedingt zuhören, wie laut die fallen, verstehst du?«
»Solange du mir gleich deinen Hobel zeigst.«
Leitner feixte in sich hinein. Es waren Nadines kleine geschmacklose Derbheiten, die er so erregend fand. Und die seiner Mitbewohnerin unendlich auf die Nerven gingen.