Todessteign - Fabian Borkner - E-Book

Todessteign E-Book

Fabian Borkner

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Beschreibung

Launige Krimispannung mit Oberpfälzer Gemütlichkeit und kernigem Charme. Eine Frau wird dabei ertappt, wie sie im Schwandorfer Müllkraftwerk eine Leiche entsorgen will. Sie gesteht den Mord, doch die Versicherungsdetektive Agathe Viersen und Gerhard Leitner haben Beweise, dass sie nicht als Täterin in Frage kommt. Warum will sie lebenslang in Haft? Kurzerhand machen die Detektive Ferien auf dem Reiterhof des Opfers – und stoßen bei ihren Undercover-Ermittlungen in der scheinbar heilen Urlaubswelt auf dunkle Mauern aus Hass ...

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Fabian Borkner kam in Rosenheim zur Welt und verbrachte seine Kindheit in München. Die erste Klasse besuchte er jedoch bereits in Schwarzenfeld in der Oberpfalz. 2014 erhielt der Unterhaltungskünstler und freie Redakteur den BLM-Hörfunkpreis für die beste Comedy und Unterhaltung.

www.fabianborkner.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Miti74

Umschlaggestaltung nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-043-3

Oberpfalz Krimi

Originalausgabe

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www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München.

Dieses Buch ist all den Wegbegleitern gewidmet,

die »irgendwie« immer dazu beitragen, dass alles passt,

und ohne die »sowieso« alles zu spät wäre …

1

Der Baum strahlte eine große Würde aus. Seine Äste streckte er in alle Richtungen, sodass die Anordnung zwar das kreative Werk der Natur war, sie aber dennoch aussah, als folgte sie einem übergeordneten Plan mit klaren Strukturen. Seine Blätter leuchteten in sattem, dunklem Grün. Sein Stamm schien mit dem darunterliegenden Felsen verschmolzen zu sein, als ob sich zähflüssige Massen zu einer gesamten Formation vermischt hätten.

Gerhard Leitner schürzte aus Respekt vor seiner Erhabenheit die Lippen. Dann wanderte sein Blick von diesem Baum zum nächsten. Jener verfügte über langstielige, strahlenförmig angeordnete Blätter. Leitner vernahm das mehrmalige Zischen einer Sprühflasche, welches ihn von der Bewunderung der natürlichen Schönheit der kleinen Bonsaibäume ablenkte. Er drehte seinen Kopf zum Verursacher der Geräusche. Die bis eben noch empfundene innere Ruhe, die sich in Leitner während der Begutachtung der betagten Bäume eingestellt hatte, wich einem aggressiven Kribbeln, das er immer spürte, wenn er sich in der Nähe von Richard Zapf befand.

Es war nicht so, dass Zapf irgendetwas tun musste, um in Leitner dieses Gefühl hervorzurufen. Oder dass Zapf auch nur irgendetwas hätte sagen müssen. Es waren keine politischen Diskussionen, keine unterschiedlichen Auffassungen von der Aufstellung und Taktik der deutschen Fußball-Nationalmannschaft, ja, noch nicht einmal Dinge des individuellen Geschmacks wie die richtige Sorte Bier, die beste Rebsorte beim Wein oder auch nur, welcher Metzger derzeit das beste Geräucherte oder die deftigsten Pfefferbeißer machte. Es war vielmehr die Tatsache, dass Zapf überhaupt nichts machte. Oder sagte. Gar nichts. Er arbeitete beim Finanzamt Schwandorf. Er war ein schlanker, mittelgroßer, gesunder Mann Ende Dreißig, und er hatte vor zwölf Jahren Leitners Schwester Gerlinde geheiratet.

Seit Gerlinde Richard zum ersten Mal mit ins elterliche Haus gebracht und vorgestellt hatte, konnte Leitner den Drang, sofort in einen tiefen Schlaf zu fallen, sobald er ihn erblickte, nur schwer unterdrücken.

Leitner empfand keine Abneigung seinem Schwager gegenüber. Es war schlicht die Langeweile, die Zapf mit jeder Faser seines Körpers ausstrahlte. Und die sich speziell auf Familienfesten, von denen man nicht einfach die Flucht ergreifen konnte, ohne seine Verwandtschaft dabei vor den Kopf zu stoßen, wie eine schwere Filzdecke über den gesamten Raum legte, in dem man eigentlich fröhlich feiern wollte.

Paradoxerweise war es Langeweile, die bei Leitner als ersten Reflex zwar den Wunsch nach einem mehrstündigen Erholungsschlaf auslöste, die aber einen aktiven und umtriebigen Mann wie Leitner bei längerer Anwesenheit eben auch bis zu einem gewissen Punkt aggressiv machte. Leitner hatte nach eigener Einschätzung weiß Gott alles getan, um sich mit seinem Schwager gutzustellen und auf Geburtstagen oder Hochzeitsfeiern auch mit ihm Konversation zu betreiben. Allerdings schalt er sich unmittelbar nach jedem Versuch einen Narren, weil die statistische Anzahl der geglückten Versuche konstant bei null lag.

So auch in diesem Augenblick. Leitner hatte vor wenigen Tagen Besuch von seiner Schwester bekommen. Gerlinde stand eines frühen Nachmittags vor der Tür der Wohnung in der Klosterstraße in Schwandorf, die Leitner zusammen mit seiner Arbeitskollegin Agathe Viersen bewohnte. Diese war es auch, die die Tür öffnete und die als gebürtiges Nordlicht erst mal nicht verstand, was Gerlinde Zapf ihr mitteilen wollte, als sie sagte: »Da hab ich euch ein Reindl mit Maultaschen mitgebracht!«

Agathe konnte sich einen Reim darauf machen, dass mit einem Reindl jener mit Emaille beschichtete und mit einem Küchenhandtuch abgedeckte Bräter gemeint war, den ihr Gerlinde übergeben hatte. Als dieser dann schließlich im Ofen der Küche vor sich hin schmorte und sich ein wunderbar zimtiger und fruchtiger Duft nach Bratäpfeln in der Wohnung verbreitete, traute sich Agathe schließlich doch, eine kulinarische Frage zu stellen. Sie lebte zwar schon seit etwa sechs Jahren in Schwandorf, aber den Begriff »Maultaschen« hatte sie eher unter einer Art süddeutscher Tortellini abgespeichert.

Daraufhin musste Agathe eine halbe Stunde lang einen Vortrag über sich ergehen lassen, dass dieses Gericht mit Bayern überhaupt nichts zu tun habe, sondern dass es aus dem Baden-Württembergischen stamme, wo man wirklich kleine Fleischhäppchen in einer Art Nudelteig einwickle und dann in Fleischbrühe gare.

Die Oberpfälzer Bedeutung für Maultaschen meinte einen knusprigen und saftigen Apfelstrudel. Das Rezept zu jenem Strudel, der damals in Agathes und Leitners Rohr garte, hatte sich Gerlinde Zapf noch von der Oma zeigen lassen, und Leitner selbst fand, dass die Maultaschen seiner Schwester mindestens ebenso gschmackig waren wie die ihrer Großmutter.

Nachdem diese Oberpfälzer Köstlichkeit verzehrt und das Reindl gesäubert war, hatte sich Leitner auf den Weg zu seiner Schwester gemacht, um ihr den Bräter wieder zurückzubringen. Richard Zapf hatte die Tür geöffnet und Leitner mitgeteilt, dass Gerlinde im Augenblick noch unterwegs sei, aber eigentlich jeden Moment zurückkehren müsse. Richards Angebot, bei einer schnellen Halben Bier auf Gerlinde zu warten, hatte Leitner angenommen – und hätte sich nun am liebsten in den Allerwertesten gebissen, wenn es ihm denn anatomisch möglich gewesen wäre. Wie es der Teufel so wollte, war Gerlinde seit mittlerweile fast einer halben Stunde immer noch nicht heimgekommen. Stattdessen nuckelte Leitner an seinem Bier und war der Aufforderung seines Schwagers gefolgt, ihn bei der Ausübung seines Hobbys zu begleiten und in den Wintergarten zu folgen.

So stand Leitner nun also in eben jenem wunderschönen Freisitz des Hauses der Familie Zapf und begutachtete die Bonsaibäume, die sein Schwager mit für seine Verhältnisse fast schon leidenschaftlicher Inbrunst pflegte. Konnte Leitner selbst zwar die Komplexität der Strukturen dieser Bäumchen bewundern, so passte die Art dieses Hobbys nun wirklich in Gänze zur Persönlichkeit seines Schwagers. Und so reichte es vonseiten Leitners eben auch nur zu zustimmenden Brummlauten, wenn Richard Zapf in seiner schnarchigen Art erklärte: »Die Strahlenaralie. Nennt man auch Lackblattpflanze. Schefflera actinophylla.« Weitere Sprühstöße folgten, als Zapf das Bäumchen vor ihm benetzte. »Bildet Luftwurzeln.«

Höflich nickte Leitner abermals. Er nahm einen Schluck aus der Bierflasche, die im Übrigen schon beim Öffnen nach Leitners Geschmack viel zu warm gewesen war. Zapf hatte sie ihm aus einer Kiste am Boden gereicht. Es sah seinem Schwager ähnlich, dass er im Kühlschrank kein Bier aufbewahrte. Zapf, das hatte Leitner schon häufig beobachtet, trank selbst sein Bier lau. Dass die ersten Apriltage ungewöhnlich warme Temperaturen mit sich brachten, war zwar dem Gemüt zuträglich, nicht aber dem Biergenuss im Hause Zapf. Er beäugte die zu drei Vierteln geleerte Flasche, wollte aus Anstandsgründen noch einige Minuten warten und dann den Rest austrinken und sich rasch verabschieden.

Leitner sagte: »Du, wenn die Gerlinde jetzt dann wirklich nicht kommt, sagst ihr halt einen schönen Gruß. Ich melde mich wieder bei ihr, wenn wir zurückkommen.«

»Ach so, stimmt ja. Ihr seid ja jetzt unterwegs, die Agathe und du, nicht wahr?«

»Wir wollen morgen in aller Frühe los. Drum habe ich ihr ja das Reindl wiederbringen wollen, sonst steht’s zehn Tage lang bei uns herum.«

Noch ein Sprühstoß. Dann noch einer. Zapf nahm sich alle Zeit der Welt, um seine kostbaren Zwergbäumchen zu benetzen. Leitner hatte einen Moment lang gehofft, dass sich so etwas wie eine Unterhaltung ergeben würde. In diesem Punkt hätte es sich allerdings gelohnt, sein gesamtes Geld auf die Verlässlichkeit von Richard Zapf zu setzen. Er enttäuschte nicht und ließ durch sein Schweigen das zarte Keimchen von Konversation wie von einer Planierraupe plattwalzen. Nach einer gefühlt endlos langen Pause sagte Zapf schließlich: »Ihr macht Urlaub, deine Kollegin und du?«

Leitner atmete tief durch. »Ja, Richard. Wir machen Urlaub. Zehn Tage.«

»Aha«, murmelte Zapf. Es folgte eine lange Stille. Ein Stoß, zwei Stöße … und dann verharrte Zapf plötzlich wie vom Donner gerührt.

Leitner, der eben sein restliches Bier trinken wollte, hielt daraufhin ebenfalls inne und beobachtete seinen Schwager. Das war schon fast ein gefühlsüberwältigter Akt für einen Menschen wie Richard Zapf. Leitner folgte seinem Blick und suchte nun ebenfalls akribisch den Bonsai ab, an welchem Zapf irgendetwas Gravierendes aufgefallen sein musste. Wie ferngesteuert und ohne die Augen vom Baum wegzunehmen, stellte Zapf seine Sprühflasche auf das Regal neben dem Porzellanteller ab, auf welchem der Zwergbaum gepflanzt worden war. In Zeitlupe, aber mit größter Präzision näherte sich Zapf mit einer Nagelschere dem Geäst der Strahlenaralie. Leitner musste unwillkürlich die Luft anhalten, als Zapf die in die Finger gespreizte Schere langsam öffnete und einen Mini-Zweig in den offenen Winkel der Schneidflächen positionierte. Er zwickte die Scherenenden zusammen. Leitner zuckte kurz auf. Dann fiel ein kleines Zweigchen, an dem die Blätter kleine braune Unregelmäßigkeiten aufwiesen, auf den Regalboden.

»So, das hätten wir!«, murmelte Zapf und warf das kleine Geäst in den Papierkorb. »Mann, das war ganz schön spannend, gell?«, meinte er zu Leitner.

Der wandte den Kopf kurz weg von seinem Schwager und zum Boden des Wintergartens. Wenn dies Richards Vorstellung von Spannung war, dann war es nun wirklich an der Zeit für Leitner, sich zu verabschieden.

»Wohin?«, fragte Zapf.

»Wohin was?«, entgegnete Leitner.

»Wohin fahrt ihr denn? Die Agathe und du?«

»Ach so. Sie will mir ihre alte Heimat zeigen. Wir fahren nach Schleswig-Holstein.«

»Mhm«, brummte Zapf.

Damit nicht wieder diese erdrückende Stille einkehren würde, führte Leitner weiter aus: »Die Agathe wohnt ja jetzt schon seit über zehn Jahren in Bayern. Zuerst war sie ja in München stationiert, bevor die Versicherung sie dann in die Oberpfalz versetzt hat.«

»Jaja«, murmelte Zapf und suchte weiterhin akribisch die Aralie ab, ob nicht noch irgendein Makel erkennbar wäre.

Leitner war vor einigen Jahren noch beruflich als Musiker unterwegs gewesen, bis eines Tages nach dem traditionellen Männerfrühschoppen am Kirwamontag im Oktober plötzlich Agathe Viersen aufgetaucht war. Sie war von der Jacortia als Versicherungsdetektivin damit beauftragt, im Fall einer verschwundenen CNC-Fräse in der Oberpfalz zu ermitteln.

Durch Zufall war sie mit Leitner zusammengetroffen und hatte mit ihm eine stark verweste Leiche in einem Güllefass entdeckt. Bei ihren weiteren Ermittlungen hatte Leitner ihr mit tatkräftiger Hilfe zur Seite gestanden, und nachdem beide nicht nur den Fall für die Versicherung lösen, sondern im Zuge dessen auch noch einen handfesten Mordfall aufklären konnten, hatte die Versicherung Leitner ein Angebot gemacht, ebenfalls als Versicherungsdetektiv zu arbeiten und zusammen mit Agathe die Fälle zu übernehmen, die sich im Regierungsbezirk der Oberpfalz ergaben. So kam es, dass er und Agathe Viersen sich daraufhin in Schwandorf zusammen eine Wohnung genommen hatten, weil man von dort aus wegen der guten Verkehrsanbindung relativ schnell in jeden Winkel der Oberpfalz reisen konnte.

»Wie seid ihr jetzt da eigentlich aufgestellt, ihr beide? Bist du mit der Agathe jetzt offiziell zusammen?«, fragte Zapf gedehnt.

Das war in der Tat eine gute Frage. Wann immer Leitner sie sich selbst stellte, fiel ihm die Antwort darauf nicht wirklich leicht. Er und Agathe waren beide sehr eigenständige Persönlichkeiten. Hier der heimatverwurzelte und sehr bodenständige Leitner, auf der anderen Seite die norddeutsche und in der Großstadt sozialisierte Agathe Viersen.

Es war in der Vergangenheit mehr als einmal dazu gekommen, dass er und Agathe sich sehr ausgiebig und auch sehr hemmungslos miteinander vergnügt hatten. Sie handhabten dies recht pragmatisch, sodass niemand sein Gesicht zu verlieren fürchten musste, wenn man in dem einen oder anderen Moment der Versuchung einmal nachgab. Dennoch wären weder Leitner noch Agathe am Morgen danach auf die Idee gekommen, sich als feste Lebenspartner zu bezeichnen. So teilten sie sich zwar ihre alltägliche Arbeit, eine Wohnung und ab und zu auch ein Bett, waren aber der Form nach kein festes Paar. Zumindest titulierten sie sich selbst nicht so.

»Nein«, raunte Leitner. »Wir sind nicht fest zusammen.«

»Nun, ich meine ja nur … Ihr habt die Wohnung schon so lange gemeinsam … und jetzt fahrt ihr zusammen in Urlaub …«, langweilte Zapf vor sich hin.

Leitner drängte sich der Verdacht auf, dass sein Schwager diese Konversation irgendwie als befriedigend empfand. »Ja, mei, was heißt Urlaub … Sie will mir halt mal zeigen, wie es da oben im hohen Norden so aussieht und wo sie früher aufgewachsen ist.«

»Jaja, deswegen frage ich ja …«

»Da ist doch nichts dabei!«, sagte Leitner bestimmt und merkte, noch während er dies äußerte, dass es nach außen hin wohl so wirken musste, als verbrächten Agathe und er ihr gesamtes Leben gemeinsam – bis hin zur Freizeitgestaltung.

»Wart ihr nicht auch letztens erst wieder zusammen verreist? Ins Zillertal ging es da, glaube ich …«, nervte Zapf weiter.

»Ja, waren wir«, gab Leitner zerknirscht zu. »Aber das war bloß, weil wir ein paar Freunde besuchen wollten. Die Zellberg-Buam, die kennst du doch, oder?«

»Jaja, da habt ihr halt einfach in eurer Freizeit einen Österreich-Urlaub gemacht und eure Musikantenfreunde besucht … Ist ja kein Problem …«

Leitner zwang sich, tief durchzuatmen. Er leerte sein warmes Bier und stellte die Flasche zurück in den Kasten neben der Eingangstür zum Wintergarten. »Ich geh jetzt trotzdem«, sagte er. »Wenn die Gerlinde kommt, dann sag ihr bitte, dass beim Reindl oben ein kleines Eck von dem Emaille abgeblättert ist.«

»Oha, das wird deiner Schwester aber gar nicht gefallen. Das Reindl hat sie doch noch von eurer Oma geschenkt bekommen.«

»Das weiß ich, Richard. Aber wir haben es ja nicht absichtlich kaputt gemacht.«

»Hat die Agathe das Reindl fallen lassen?«, fragte Zapf, und Leitner musste sich zurücknehmen, um seinem Schwager wegen dieses zwar beiläufigen, aber eindeutig anklagenden Untertons nicht ein paar Grobheiten an den Kopf zu werfen.

»Wenn du es genau wissen willst, ist sie mir beim Abtrocknen aus der Hand gerutscht und auf den Küchenboden geknallt.«

»Mhm, da bist du auch immer schön fleißig im Haushalt«, murmelte Zapf vor sich hin.

Leitner straffte seinen Rücken und meinte schließlich: »Also, sagst ihr bitte Bescheid? Ich melde mich wieder bei ihr, wenn wir zurück sind.«

Ohne weitere Worte verließ Leitner den Wintergarten und ging über den gepflegten Rasen im Garten zum Tor, vor welchem er seinen Wagen geparkt hatte.

Leitner mochte seine Schwester wirklich sehr gut leiden, auch wenn es gerade in Teenagerzeiten natürlich die üblichen Zankereien und Ärgernisse gegeben hatte, die jedes Geschwisterpaar miteinander ausfechten musste. Er dachte darüber nach, dass er und Gerlinde vom Wesen her gänzlich unterschiedlich waren, was bei Geschwistern sicher der Normalfall war. Darum war es Leitner nie ungewöhnlich vorgekommen, dass sich Gerlinde damals am Beginn des Berufslebens für eine solide Ausbildung als Einzelhandelskaufmann entschieden hatte, wie der Berufszweig damals zumindest noch in der Oberpfalz gänzlich ungegendert hieß. Das war dem Vater Werner Leitner freilich lieber gewesen als Gerhard Leitners Weg, der nach dem Erlernen verschiedener Musikinstrumente seine Karriere eben auf den Bühnen der Oberpfalz und später auch darüber hinaus begonnen hatte.

Ganz tief im Inneren hatte es Leitner schon manchmal geschmerzt, wenn Werner Leitner in Bezug auf seine Tochter immer von seiner »Gscheiden« gesprochen hatte. Aber nachdem auch Gerhard im Ansehen der Bevölkerung und als damaliger Leiter einer Blaskapelle immer mehr aufgestiegen war und größere Aufträge erhalten hatte, hatte sich der Umgang mit Gerhard innerhalb der Familie normalisiert, und so waren sich Gerlinde und Gerhard heute stets gut gesonnen.

Umso weniger verstand Leitner darum die Wahl Gerlindes bei ihrem Ehemann Richard. Leitner sagte sich immer wieder, dass es ja nicht er war, der mit Richard tagein, tagaus zusammenleben musste, sondern eben seine Schwester. Trotzdem bereiteten ihm die Treffen bei Familienfeiern oder bei eher häuslichen Angelegenheiten wie der »Reindl-Gate-Affäre« gerade eben fast körperliche Probleme, nämlich bei Richards langsamer Art nicht die Geduld zu verlieren. Nach Leitners Ansicht – die er natürlich nie seiner Schwester mitteilen würde – wäre für Zapf der Name »Schnarch-Zapf« wesentlich angemessener gewesen. Aber diesen internen Spitznamen behielt er aus Rücksicht auf Gerlinde für sich. Leitner befürchtete ohnehin, dass Gerlinde die Tatsache, dass Leitner das von ihrer Oma vermachte Reindl dauerhaft beschädigt hatte, nicht einfach auf sich beruhen lassen würde. Er beschloss, sich mit dieser Problematik erst nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub zu beschäftigen.

Leitner hatte anfangs, als seine Kollegin Agathe ihm zum ersten Mal vorgeschlagen hatte, ihre nächsten Ferien gemeinsam in ihrer alten Heimat zu verbringen, mit Skepsis reagiert. Es war nicht so, dass Leitner in allen Details dem in der Oberpfalz so häufig vorkommenden Wesenszug mit dem Titel »Was der Bauer ned kennt, frisst er ned« entsprochen hätte. Aber ihm waren die Oberpfalz und der Freistaat Bayern schon sehr ans Herz gewachsen, und daher hatte es einige Abende bei so manchem Bierchen gebraucht, an denen Agathe ihm eine solche Reise schmackhaft gemacht hatte.

Morgen also wollten sie in Schwandorf in den Zug steigen, um in den hohen Norden nach Schleswig-Holstein zu fahren, wo Agathe in Lübeck vor etwas über dreißig Jahren das Licht der Welt erblickt hatte. Sie hatten ihre Quartiere oben schon gebucht und auch bereits Leihfahrräder reserviert, mit denen sie sich die Gegend etappenweise erschließen wollten. Lediglich beim Thema Reiten kündigte Leitner seinen Streik an. Für Agathe, die vom Elternhaus her nicht unter erstrebenswerten Verhältnissen aufgewachsen war, stellte die Tatsache, dass eine Kollegin bei der Hamburger Polizei sie mit ihrem eigenen Pferd an den Sport herangeführt hatte, keine Selbstverständlichkeit dar. Umso dankbarer war sie jedoch für diese Chance gewesen. Nun hatte sich, seit Agathe in der Oberpfalz wohnte, teils aus finanziellen, teils aus Zeitgründen noch keine Gelegenheit ergeben, sich wieder dem Reiten zu widmen. Aber bei ihrer Fahrt an die Küste wollte sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, mit einem tollen Pferd den Strand entlangzureiten.

Leitner hatte vor Pferden einen gesunden Respekt, den die anmutigen Tiere ihm schon wegen ihrer schieren Größe einflößten. Da er mit ihnen noch nie im Leben irgendetwas zu tun gehabt hatte, wusste er nichts über den Umgang mit ihnen. Somit hatten Agathe und Leitner eine klare Arbeitsaufteilung: Während Agathe ihren Freiheitsdrang auf dem Rücken eines edlen Blutes ausleben würde, wollte er sich in einer Strandbar ausgiebig über die einheimischen Biere informieren. Das war aber bislang die einzige Differenz, die Leitner mit seiner Kollegin in Bezug auf ihre Reisepläne hatte. So freuten sich beide schon sehr auf die bevorstehende Zeit.

Leitner parkte seinen Wagen auf einem freien Platz in der Klosterstraße und betrat die Treppe, die zu ihrer gemeinsamen Wohnung im ersten Stock führte. Er fand Agathe in der Küche, deren Fenster auf den Platz vor der Sparkassen-Hauptfiliale zeigten. Sie hatte ihre rotbraunen Haare zu dem gewohnten Pferdeschwanz gebunden und trug eine abgeschnittene Jeans sowie ein weißes T-Shirt. Wie Leitner auf den ersten Blick erkannte, war das Shirt das einzige Stück ihrer Oberbekleidung, was ihm außerordentliches Wohlbefinden bescherte. Er fand, dass ihre weiblichen Proportionen perfekt ausgewogen waren, mit leicht höherer Ausprägung im Brustbereich. Sie sah in diesem casual look einfach hinreißend aus.

Da sie im Augenblick telefonierte, fragte er leise: »Wer ist es denn?«

Sie bedeutete Leitner, den Schnabel zu halten, und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Damit wusste Leitner, dass sie mit ihrer Chefin bei der Jacortia-Versicherungsgesellschaft sprach. Chris Wendell und die beiden Versicherungsdetektive pflegten ein – höflich ausgedrückt – unterkühltes bis frostiges Verhältnis zueinander. Zwar hatten sich sowohl Leitner als auch Agathe den Respekt ihrer Vorgesetzten erarbeitet, weil sie in der Vergangenheit bereits häufiger neben ihrem eigentlichen Job als Ermittler in Versicherungsfällen auch zum heimlichen Helfer der Kriminalpolizei geworden waren. Es waren schon einige Mordfälle gewesen, in denen Agathe und Leitner den Mörder oder die Mörderin hatten überführen können. Das hatte dazu geführt, dass beide Mitarbeiter zwischenzeitlich sogar eine Art Sonderstatus innerhalb der Versicherung innehatten. Das hatte Anerkennung mit sich gebracht, aber häufig auch Missgunst, und Chris Wendell hatte sich dazu entschlossen, den beiden mit so wenig persönlicher Offenheit wie möglich und mit einer übertrieben hohen Portion an vermeintlich professionellem Umgang zu begegnen.

Leitner mochte sie schlicht und einfach nicht und schnaubte verächtlich. Eine Sekunde später schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Diese Schreckschraube von Chefin würde doch jetzt, einen Tag vor ihrer Abreise, nicht noch mit irgendeinem Auftrag um die Ecke kommen …?

Leitner hob den Zeigefinger und sagte: »Wenn die jetzt glaubt, dass wir …«

Weiter kam er nicht, weil Agathe vehement abwinkte. »Ja, habe ich verstanden. Herr Leitner wird sich gleich darum kümmern, Frau Wendell«, sagte sie ins Telefon.

»Einen Dreck werd ich …«, flüsterte Leitner mühsam beherrscht.

»Kriegen wir hin. Den Bericht dazu bekommen Sie heute noch, denn ab morgen sind wir verreist, wie Sie wissen.«

Diese Aussage beruhigte Leitner bis zu einem gewissen Grad.

Nachdem Agathe aufgelegt hatte, musste sie gar nicht erst Leitners Blick erwidern, der die Beantwortung seiner Fragen forderte. Sie begann unvermittelt: »Die Wendell hat angerufen, weil sich im Müllkraftwerk hier in Schwandorf ein kleiner Unfall ereignet hat.«

»Das Müllkraftwerk ist auch bei uns versichert?«

»Ja, denn ansonsten hätten wir nicht das unfassbare Glück gehabt, dass uns die Chefin am Tag vor unserer Urlaubsreise noch mal ihr betörendes Stimmchen auf die Ohren gibt«, sagte Agathe. »Jetzt hör zu, da ist wohl eine Frau mit ihrem Kleinbus ins Müllkraftwerk gefahren, um ihren Abfall zu entsorgen. Offenbar ist sie da aber über die Absperrung an der Müllrampe gedüst und hat dabei die Anlage beschädigt.«

»Ach so«, murmelte Leitner und maß vor seinem geistigen Auge den wahrscheinlichen Aufwand seiner von der Chefin gewünschten Ermittlungen ab. Er erschien ihm nicht allzu groß. »Das haut freilich hin. Ich dachte schon, die kommt wieder mit irgendeinem Super-Sonder-Fall …«

»Nein, Entwarnung. Fährst du rasch hin? Ach, übrigens, wie geht es bei deiner Schwester?«

Leitner schnappte sich den Autoschlüssel und ging Richtung Tür. Er schenkte Agathe einen entnervten Blick.

»Gerlinde war nicht zu Hause, und du musstest dich mit deinem Schwager unterhalten?« Sie setzte ein süßes Lächeln auf.

Leitner nickte. »Wobei ›unterhalten‹ fast ein zu mächtiges Wort ist für das, was der Richard wieder von sich gegeben hat.«

Agathe wechselte in einen vorwurfsvollen Tonfall. »Nun, da er sonst ja so gut wie überhaupt nicht spricht, muss man das doch als tolle Entwicklung werten, findest du nicht?«

Leitner schnaufte. »Schau lieber, dass unsere Rucksäcke nicht überquellen. Ich komme gleich wieder.«

2

Es war schon häufiger vorgekommen, dass Gerhard Leitner das Gelände des Müllkraftwerks im Schwandorfer Stadtteil Dachelhofen betreten hatte. Als seine Eltern ihn und Gerlinde gebeten hatten, ihnen beim Ausräumen des Kellers zu helfen, oder wenn bei der Einrichtung seines früheren Unternehmens neue Lautsprecherboxen oder Mischpulte geliefert worden waren und die Verpackung davon voluminös gewesen war. Oder als sein Freund und Mentor, der Musikhändler Roland Schweller, verstorben war und Gerhard seinen Nachlass verwaltet hatte – das waren Momente, in denen er, wie so viele andere Anwohner aus der Umgebung auch, mit voll beladenen Kleinbussen oder mit Anhängern zum sogenannten ZMS-Gelände gefahren war. Außerdem hatte Leitner mit seiner Blaskapelle schon mehrere Male bei Neujahrsempfängen oder am Tag der offenen Tür gespielt, sodass ihm die mächtige Anlage mit all ihren verwinkelten Gebäudeteilen, Rohren und Schloten nicht wirklich fremd war.

Im Normalfall konnte man mit seinem Vehikel an die Schranke fahren, die ein Mitarbeiter am Tor per Knopfdruck öffnete. Heute aber fand Leitner einen ganzen Korso an Autos vor, die vor der geschlossenen Schranke eine Schlange bildeten. Manche Wagen scherten aus, wendeten und verließen das Gelände, zumeist mit schimpfenden Fahrern am Lenkrad.

Leitner machte gar nicht erst den Versuch, sich einzureihen. Schließlich war er diesmal nicht gekommen, um seinen Müll in den Abfallschacht der Verbrennungsanlage zu werfen. So parkte er seinen Wagen auf dem Busstreifen gegenüber der Hofeinfahrt und ging zu Fuß zum Häuschen des Torwächters. Der stellte einen mürrischen Gesichtsausdruck zur Schau. Der große Andrang musste ihm wohl gewissen Stress bereiten. Genervt blickte er zu der mit Löchern versehenen kleinen Luke, die in die große, dicke Glasscheibe am Eingangstor eingelassen war.

»Sie können jetzt nicht rein hier«, sagte er und klang dabei atemlos. »Das geht auch nicht schneller, wenn Sie aussteigen und zu mir laufen!«

»Ich hab keinen Abfall dabei, ich komme wegen der Schadenssache an der Rampe«, erklärte Leitner.

Jetzt erst sah der Mann Leitner wirklich ins Gesicht, und seine Miene erhellte sich. Leitner erinnerte sich, dass dieser Mann bei einigen der Betriebsfeiern großen Gefallen an der Musik von Leitner und seiner Kapelle gefunden hatte.

»Ach, der Gerhard, du bist es!«, stieß er aus und klang beinahe erleichtert. »Du kommst wegen der Geschichte oben an der Steige?«

Leitner wusste nur so viel über das vorliegende Problem, wie Agathe ihm eben nach dem Telefonat erzählt hatte, und deshalb nickte er knapp. »Ja, eure Anlage hier ist bei unserer Gesellschaft versichert. Da müsste ich schnell nachschauen, was passiert ist und wie schlimm der Schaden ist.«

»Ja, dann geh rauf«, sagte der Bedienstete und verzog dabei die Lippen. »Das ist wirklich ein schöner Mist, den die uns da eingebrockt hat!«

Leitner vermutete, dass mit »die« die Dame gemeint war, die mit ihrem Kleinbus den Unfall an der Müllrampe verursacht hatte. Als er zu Fuß der großen gebogenen Kurve der Straße folgte, die sich weiter oben gabelte und links zu den vier Müllanlieferungsschächten und rechts zum Verwaltungskomplex der Anlage führte, grübelte er, was der Pförtner gemeint haben mochte. Ein schöner Mist, den sie uns eingebrockt hat … So tragisch erschien Leitner die Aussicht auf etwa einen beschädigten Betonpfeiler oder eine verbogene Metallstange nicht, und um recht viel mehr konnte es sich nach seiner Einschätzung auch nicht handeln. Er kannte schließlich die Müllschächte und deren Beschaffenheit.

Auf halber Höhe betrachtete er sich die ZMS-Verwaltung. Diese war in einem Gebäude untergebracht, welches Leitner immer wieder faszinierte. Es war zweistöckig und schlang sich wie ein eng anliegender Schal über die hügelige Landschaft, auf welcher es errichtet worden war. Er dachte an den großen Saal im Obergeschoss, der neben aufwendig gearbeiteten geschwungenen Holzwänden auch eine breite, bis zum Fußboden reichende Glasfront aufwies. Genau dort oben hatte Leitner mit seinen Musikanten schon mehrmals Auftritte gehabt. Bei Neujahrsempfängen, wenn der Saal erleuchtet war, hatte er oft an einem der Fenster gestanden und die unwirklich blau schimmernden nächtlichen Lichter der Anlage, auf die die Saalfenster wiesen, begutachtet. Die Architektur sowie die Illumination hatten bei ihm bleibende Eindrücke hinterlassen.

Ein paar Schritte weiter wandte er den Kopf nach rechts. Er wurde langsamer, schließlich blieb er stehen. Vor den großen Toren des Müllkraftwerks flatterten rot-weiße Absperrbänder. Die Warnlichter des Krankenwagens, des Notarztwagens, der Feuerwehrzüge und der Polizeiautos gaben ein hektisches Leuchtkonzert, allesamt in Blau wie bei den Empfängen. Ein solch großes Aufgebot hatte Leitner nicht erwartet.

Seine Augen suchten gleich einem Habicht akribisch die Details der sich ihm bietenden Szene ab. Nach wenigen Momenten fiel sein Blick auf einen schwarzen Audi, auf dessen Dach ebenfalls Blaulicht tanzte. Das konnte eigentlich nur die Kriminalpolizei sein, vermutete Leitner. Bei einem weiteren Gefährt musste er keine Vermutungen anstellen. Durch die hinteren Fenster der lang gezogenen Mercedes-Limousine, ebenfalls in Schwarz gehalten, schienen gefaltete Vorhänge nach draußen. Ein goldenes Emblem signalisierte, dass hier die Leichenbestatter am Werk waren.

Es mochten etwa zehn Personen sein, die sich im Karree befanden. Neben vier uniformierten Polizeibeamten und drei Beschäftigten des Müllkraftwerks in grünen Arbeitsanzügen entdeckte Leitner noch deren Vorgesetzten, welchen er aus verschiedenen Berichten aus der Zeitung sowie von persönlichen Treffen bei den Veranstaltungen auf dem Gelände her kannte. Mit ihm unterhielt sich ein Anfangvierziger, der in Bluejeans und ein kurzärmliges weißes Hemd gekleidet war.

Leitner brauchte die Waffe in dessen schwarzem Holster am Gürtelbund nicht als Indiz, um ihn der Kriminalpolizei zuzuordnen. Er kannte Kriminalhauptkommissar Deckert von der Kripo Amberg bereits gut von früheren Fällen her, die er zusammen mit Agathe bearbeitet hatte. Es war in der Tat schon einige Male vorgekommen, dass Leitner und seine Kollegin über Mordfälle gestolpert waren, die mit ihren eigenen Ermittlungen als Versicherungsdetektive im Zusammenhang standen. In einigen Fällen waren es sogar Gerhard Leitner und Agathe Viersen gewesen, die die entscheidenden Hinweise zur Lösung jener Mordfälle geliefert hatten. Offiziell war es nach außen hin immer die Kriminalpolizei unter Deckerts Leitung gewesen, die die mysteriösen Fälle aufklären konnte, und so waren sich der Kommissar und das Detektivduo wohlgesonnen.

Deckert sah während seines Gesprächs immer wieder zu der Müllrampe, zu seinen Mitarbeitern vom kriminaltechnischen Erkennungsdienst und in Richtung des Verwaltungsgebäudes. In diesem Moment fiel sein Blick auf Leitner, und ein wissendes Lächeln erschien auf seinen Lippen.

Leitner war pietätvoll genug, um sich nicht aufzudrängen oder gar das laufende Gespräch zu unterbrechen. So hielt er sich dezent im Hintergrund und wartete ab, bis Deckert das Gespräch beendet hatte.

»Grüß Gott, Herr Leitner«, sagte er freundlich und ging innerhalb des abgesperrten Vierecks auf ihn zu.

Leitner erwiderte seinen Gruß und fragte jovial: »Was machen denn Sie hier, Herr Kriminalkommissar? Man hat mir gesagt, dass eine Frau hier mit ihrem Wagen eine Rampe beschädigt hätte. Ist das schon so ein schlimmes Verbrechen, dass sich die Kripo drum kümmern muss?«

Deckert lächelte milde. »Nein, Herr Leitner, wegen der kaputten Steigen sind wir nicht mit der kompletten Mannschaft hier angetreten.«

»Weswegen dann?«, forschte Leitner behutsam nach.

Deckert musste tief durchschnaufen, bevor er sich zu einer Antwort überwinden konnte. »Sie wissen doch, wie das Spiel hier läuft. Ich kann Ihnen zu laufenden Ermittlungen keine Auskunft geben. Wenden Sie sich an unsere Pressestelle.«

»Ja, das werde ich freilich machen, Herr Kommissar«, spielte Leitner mit. »Aber vorne an der Pforte sitzt ein Freund von mir. Der kann mir bestimmt auch detailgenau erklären, was hier heute passiert ist. Dann frage ich einfach den.« Damit drehte sich Leitner in Richtung des Tores. Er wartete ab, ob sein Bluff aufgehen würde.

»Wir haben hier einen Todesfall zu verzeichnen.«

»Wie bitte?«, fragte Leitner verdutzt und dachte unmittelbar an den Leichenwagen, den er vor wenigen Minuten erspäht hatte.

Der Kommissar fuhr fort: »Diesmal ist es aber absolut kein Fall für Sie und die Frau Viersen, so viel kann ich Ihnen versichern.«

»Ich dachte, fürs Versichern sind wir zuständig«, versuchte Leitner einen kleinen Scherz.

Deckert aber blieb ernst. »Was ich Ihnen jetzt sage, Herr Leitner, bleibt bitte so lange unter uns, bis die Pressestelle eine offizielle Version in ihren Bericht schreibt. Verstehen wir uns da?«

»Voll und ganz.«

»Gut, dann hören Sie zu. Heute früh kam eine Frau hier mit ihrem VW Caddy angefahren und hat sich an der Pforte ganz normal angemeldet, um ihren Hausrat in der Verbrennungsanlage zu entsorgen. Der Mitarbeiter hat sie angewiesen, an das erste Tor zu fahren. Sie hat den Kleintransporter ziemlich sportlich von der Pforte weg die Kurve hinaufgejagt, und bevor der Einweiser hier oben an der Rampe ihr sagen konnte, wie sie ihren Wagen am besten in die Schneise bugsieren sollte, hatte sie schon das Heck Richtung Rampe gerichtet und ist zurückgestoßen wie der Teufel.«

Leitner versuchte, sich die Szene vorzustellen. Dies fiel ihm nicht sehr schwer, da der braune VW Caddy mit einigem Abstand auf dem Parkplatz vor der Absperrung stand. »Ist sie über den Polder am Boden drübergerauscht?«, fragte er.

»Genau«, bestätigte der Kommissar. »Das halbe Fahrzeug hing auf einmal über der Grube, und die Mitarbeiter hatten Angst, dass das ganze Ding samt Fahrerin reinkippen könnte. Zwei Leute vom Müllkraftwerk sind sofort hingelaufen und haben sich die Schläuche an der Wand geschnappt. Damit haben sie den Wagen an der Abschleppschlaufe unterhalb der Stoßstange zumindest so weit fixiert, dass er nicht weiter kippen konnte. Dann haben sie weitere Mitarbeiter zu Hilfe gerufen, und gemeinsam konnten sie den Caddy wieder auf sicheren Boden schieben.«

»Und die Fahrerin? Ist die dann rausgefallen und tödlich verunglückt? Ich meine nur, weil Sie sagten, es gebe einen Todesfall …«

»Nein, der Fahrerin ist nichts passiert. Die Männer hier hatten genug damit zu tun, sie zu beruhigen. Der Wagen hatte auf dem Polder aufgesetzt, die ganze Aktion war recht ruckelig. Zu guter Letzt haben sie es wohl geschafft, den Wagen über die Betonbrocken zu ziehen, aber dabei ist die Heckklappe des Caddys aufgegangen. Und hier kommt das, was ich Ihnen eben gesagt hatte.«

Gespannt rückte Leitner einen halben Schritt näher an den Kommissar heran. »Was war im Heck des VW?« Er hielt die Luft an.

»Eine Leiche. Männlich.«

Das saß. Leitner stieß einen Pfiff aus und beäugte Deckert. »Eine männliche Leiche? Einfach so?«

»Letztlich einfach so. Nachdem alle Mann zusammen den Caddy wieder sicher sozusagen an Land gezogen hatten, bestand die Fahrerin darauf, die Polizei zu verständigen.«

»Sie bestand darauf?«

»Das war die übereinstimmende Aussage aller Beteiligten.«

»Sie hat nicht panisch reagiert?«

»Als die Kollegen von der Funkstreife eingetroffen sind, war die Frau offenbar die Ruhe selbst.«

»Allerhand …«, murmelte Leitner und grübelte einen Augenblick nach.

Deckert gab unterdessen seinen Kollegen einige Anweisungen und widmete sich wieder dem Detektiv. »Das habe ich auch vorhin gemeint, Herr Leitner. Sie brauchen sich nicht den Kopf zu zerbrechen, dass Sie womöglich bei Ihren versicherungsrechtlichen Geschichten schon wieder über einen Mord gestolpert wären, für den wir Polizisten zu blöde sind.«

Leitner blickte wie ertappt zu Boden.

»Es stellte sich heraus, dass der Tote keines natürlichen Todes gestorben war …«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Das geht Sie nichts an, Herr Leitner. Wichtig für Sie ist alleine, dass die Frau gestanden hat, den jungen Mann getötet zu haben.« Damit blickte der Kriminalbeamte mit einiger Belustigung auf das verdutzte Gesicht Leitners.

»Das ist nicht Ihr Ernst …«

Deckert hob die Schultern. »Mein voller. Sie hat diese Tat eingestanden und sich ohne Widerworte oder Verlangen nach einem Anwalt verhaften und abführen lassen.«

Leitner hatte Mühe, diese Information gelassen zu verarbeiten. Er vernahm ein leises Lachen von Kriminalhauptkommissar Deckert.

»Solche Fälle gibt’s eben auch mal. Der Schaden, den die Frau hier am Werk verursacht hat, wird von ihr ebenfalls nicht bestritten, außerdem gibt es dafür ja jede Menge Zeugen. Damit ist für Ihre Versicherungsgesellschaft der Käse geschnitten. Sie haben sich vom Sachverhalt überzeugt. Heißt für Sie: früh Feierabend heute.«

Leitner zog die Mundwinkel nach unten, nickte nach einigen Sekunden aber. Er sagte, mehr zu sich: »Ich weiß zwar nicht, ob sich unsere Chefin mit diesen Informationen abspeisen lässt, aber …«

»Ja, ich habe schon gehört, dass sie die Zügel fest in der Hand hält. Ich habe sie ja kurz kennengelernt beim Fall des vergrabenen Krampus, der aus der Friedrich-Ebert-Straße drinnen in Schwandorf vom Bagger zutage befördert worden ist.«

»Ja, es ist unsere tägliche Freude, mit der Dame zu sprechen. Aber Sie haben recht, das passt für uns eigentlich ganz gut. Der Schaden kann klar zugewiesen werden, und das mit der Leiche geht uns nichts an.«

»So sehe ich das auch. Sie können wieder heimfahren.«

»Das mache ich jetzt auch. Die Agathe … also die Frau Viersen und ich haben eigentlich schon Urlaub. Und morgen wollen wir verreisen.«

»Na, sehen Sie? Besser kann es doch für Sie gar nicht laufen«, freute sich der Kommissar. »Wohin geht’s denn?«

»In die alte Heimat von Frau Viersen. Meer, Pferde, Wandern und so weiter …«

»Dann wünsche ich Ihnen dazu viel Spaß! Machen Sie es gut, Herr Leitner!«

Als Leitner wenige Minuten später die Tür zu seiner Wohnung aufsperrte, kam ihm Agathe gerade aus dem Wohnzimmer entgegen. Sie zuckte kurz zusammen, weil sie ihren Mitbewohner offenbar nicht hereinkommen gehört hatte.

»Jetzt habe ich noch mal alles kontrolliert, was ich einpacken wollte. Sieht so aus, als wäre alles Wichtige dabei, und das einen ganzen Tag vor Reiseantritt. Ich glaube, ich werde alt.«

»Das glaube ich auch«, sagte Leitner trocken und fragte sich, wo ihn Agathes Rache treffen würde. Es war sein Gesäß, das sie mit der rechten Fußspitze erwischte, als sie nach ihm trat. »Frecher Kerl!« rief sie mit gespielter Empörung.

Leitner gab sich betont unschuldig. »Ich weiß gar nicht, was du hast. Da gebe ich dir mal recht, dann passt’s wieder nicht …«

»Nu sabbel man nich so viel!«, entfuhr es Agathe, die in ihren alten nordischen Dialekt verfiel. »Sag mir lieber, wie es bei dem Müllkraftwerk gelaufen ist. Ist unser Urlaub in Gefahr?«

Leitner warf seinen Autoschlüssel in einen kleinen Korb auf den Küchentresen. »Nein, da ist gar nix in Gefahr.«

Agathe hörte seinen Ausführungen gespannt zu. Dann meinte sie nachdenklich: »Es geht uns zwar wirklich nichts an, aber wer die Frau war oder der Tote … das hat dir Deckert natürlich nicht verraten, oder?«

»Leider nein …«

»Das is doof …«

»Ich meinte, dass Deckert mir das nicht gesagt hat«, sagte Leitner süffisant.

Agathes Kopf schnellte in seine Richtung. »Deckert nicht, aber wer anders?«, tippte sie.

»Erraten. Ich habe mich auf dem Weg zurück zu meinem Auto natürlich bei den Mitarbeitern noch ein wenig umgehört. Und die haben mir schon noch einiges erzählt …«

»Wie kommen die denn dazu?«, fragte Agathe ungläubig.

»Na, wofür habe ich denn dort unten immer Musik gespielt mit meiner Kapelle? Ich kenne die halt. Oder besser umgekehrt: Die kennen mich.«

»Ja, dann schieß los, du ach so bekannter Mensch!«

Leitner setzte sich auf einen der Küchenstühle am Fenster und sagte: »So wie es aussieht, war die Frau aus Neumarkt. Zumindest hatte der VW Caddy ein ›NM‹ auf dem Nummernschild.«

»Neumarkt?«

»Das ist ein Nachbarlandkreis von Schwandorf, Richtung Nürnberg rüber. Die genaue Bezeichnung heißt ›Neumarkt in der Oberpfalz‹. Abgekürzt heißt das ›i. d. Opf.‹«, sagte Leitner genüsslich.

Agathe kniff die Augen zusammen und erwiderte nichts. Sie legte den Kopf zur Seite und fragte sich, wie sie Leitner eine Retourkutsche für diese kleine Gemeinheit geben konnte. Bei einem ihrer letzten Aufträge in der Region hatte sie nämlich auf einem Wegweiser eben dieses Kürzel »i. d. Opf.« an den voranstehenden Ortsnamen einfach angehängt, als sie ihn laut vorlas. Leitner konnte sich vor Lachen kaum noch halten, als Agathe damals die niedliche Neuwortschöpfung »Bruckidopf« aussprach, anstatt den Markt mit seinem korrekten Namen »Bruck in der Oberpfalz« zu versehen.

Mit einer gehörigen Portion Sarkasmus in der Stimme sagte sie: »An deiner Stölle würd ich weitererzählen, und zwar schnöll!«

Mit der Tatsache, dass der Oberpfälzer Dialekt in seiner Aussprache für die Ohren von Nichteinheimischen oft eher nach tiefem kehligen Bellen klang, hatte nun wiederum Agathe ihrerseits den gebürtigen Oberpfälzer Leitner schon oft genug aufgezogen. Daher waren die beiden für den Augenblick quitt.

»Also?«, raunte Agathe.

»Jedenfalls muss diese Neumarkter Frau wie eine gesengte Sau diese Kurve da raufgebrettert sein, und zuerst, als sie rückwärts dann den Polder durchbrochen hat, war sie aufgeregt wie ein Huhn, wenn der Fuchs vorbeischaut.«

»Verstehe. Du sagtest ›zuerst‹?«

»Ja, weil sie offenbar später, als die Heckklappe aufging und der tote Heini da rausgeschaut hat, auf einmal die Ruhe selbst war.«

Agathe lehnte sich an die Arbeitsplatte und dachte eine Sekunde lang nach. »Die Ruhe selbst? Das ist merkwürdig … Wenn sie vorher schon so aufgeregt war, bevor man die Leiche bei ihr entdeckte …«

»Irgendwie kam mir das auch komisch vor. Aber wie auch immer, die Mitarbeiter im Werk haben mir erzählt, dass sie auf einmal total gefasst reagierte und nach der Polizei verlangte. Noch witziger ist es dann geworden, als sie gestanden hat, den Typen umgebracht zu haben.«

»Was weiß man denn von dem Toten?«

Leitner schüttelte den Kopf. »Nicht viel. Um die fünfundzwanzig oder dreißig Jahre, normale Straßenkleidung, keine besonderen Merkmale oder so was.«

»Da die Dame geständig war und der Schadensfall durch die Zeugen ebenfalls geklärt ist, kann uns das Ganze ja im Prinzip auch völlig schnuppe sein.«

»Ganz meine Meinung. Lassen wir die Toten ruhen, und wir beide machen uns morgen auf den Weg. Wäre ja auch noch schöner gewesen, wenn uns die Chefin einen Tag vor der Abreise da noch so einen Todesfall reingewürgt hätte.«

Agathe schnappte sich einen Apfel aus der Schüssel auf der Anrichte und biss hinein. Knurpsend sagte sie: »Das hätte die aber ohne jeden Skrupel durchgezogen, da kennt die nix!«

»Stimmt. Der Hintertuxer Gletscher ist eine Sauna gegen die Kälte von der Wendell. Aber mit der ist es wie mit dieser Leichenspediteurin im Müllkraftwerk – beide können uns getrost den Buckel hinunterrutschen!«

3

Am Morgen räkelte sich Agathe in ihrem Bett und gähnte tief. Nebenan im Badezimmer hörte sie, wie ihr Mitbewohner soeben eine Dusche nahm. Das kam ihr gerade recht, denn so konnte sie sich noch ein paar Minuten in ihre Decke kuscheln, bevor sie selbst den Weg ins Bad einschlagen würde.

Als beide geduscht und frisch angezogen am Küchentisch saßen und die Reste ihres Kühlschrankinhalts verspeisten, damit diese während des Urlaubs nicht verdarben, sagte Leitner: »Ich habe noch mal über die ganze Geschichte gestern nachgedacht. Ich weiß zwar, dass es uns nichts angeht, aber irgendwie würde es mich schon interessieren, was da dahintersteckt. Ich denke, dass das ja wohl auch nicht jeden Tag vorkommt, dass da jemand eine Leiche im Müllkraftwerk anliefert …«

Agathe biss in ihren Käsetoast. »Kannst es nicht lassen, hm? Ist doch nicht unser Fall.«