Groumdeifl - Fabian Borkner - E-Book

Groumdeifl E-Book

Fabian Borkner

0,0

Beschreibung

Ein schlau durchdachter Kriminalroman mit einer kernigen Portion Oberpfalz, treffsicheren Pointen und einem teuflischen Mord. Kaum ist die Langzeitbaustelle an der Schwandorfer Hauptverkehrsader fertiggestellt, muss sie wegen eines Rohrbruchs wieder aufgerissen werden. Zum Entsetzen der Schaulustigen wird dabei ein Toter gefunden – gekleidet in ein furchterregendes Krampuskostüm mit Hörnermaske. Ein Fall für die Versicherungsdetektive Agathe Viersen und Gerhard Leitner. Schon bald steckt das ungleiche Duo tief in einem Dickicht aus knallharten Geschäften, zerbrochenen Träumen und hinterlistigen Machenschaften – und der Teufel scheint ihnen stets auf den Fersen zu sein ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 352

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Fabian Borkner kam in Rosenheim zur Welt und verbrachte seine Kindheit in München, besuchte die erste Klasse jedoch bereits in Schwarzenfeld in der Oberpfalz. 2014 erhielt der Unterhaltungskünstler und freie Redakteur den BLM-Hörfunkpreis für die beste Comedy und Unterhaltung.www.fabianborkner.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Westend61/Martin Siepmann

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-694-4

Oberpfalz Krimi

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

1

Der Schreck saß so tief, dass sie sich mit einer Hand an der Laterne abstützen musste. Mit langen, gleichmäßigen Atemzügen versuchte Agathe Viersen, ihren Puls wieder auf Normaltempo runterzubringen.

Einige Passanten hatten die Situation beobachtet. Manche davon feixten, manche hatten kurz innegehalten, um zu sehen, ob Agathe bei ihren Pirouetten Hilfe benötigte.

Sie streckte ihren Rücken durch und richtete den Blick auf die Stelle der Straße, wo sie sich eben beinahe den Hals gebrochen hatte. Seit Agathe in der Oberpfalz wohnte, also seit knapp vier Jahren, hatte es in Schwandorf noch nie im November geschneit. Und auch in den darauffolgenden Monaten war Schwandorf normalerweise keine schneeverwöhnte– oder, aus Autofahrersicht, schneebelästigte– Stadt. Daher hatte Agathe sich auch nur für ihre üblichen »Ich muss noch mal schnell in die Stadt«-Sneakers entschieden, um ihre Einkäufe zu erledigen, als sie vorhin die Wohnung verlassen hatte.

Gut, im Nachhinein und jetzt, da ihr Herz wieder langsamer schlug, fiel ihr ein, dass sie tags zuvor in den Nachrichten gehört haben könnte, dass in der Oberpfalz die Möglichkeit auf Schnee bestünde. Aber sie hatte doch nur schnell in vier Geschäfte gehen wollen, und die waren alle nicht mehr als vierhundert Meter von ihrer Wohnung in der Klosterstraße entfernt. In den Laden in der Breiten Straße für ein paar Mandarinen und Orangen, zum Bäcker gegenüber für einen Gewürzlaib, in den Drogeriemarkt, wo sie Geschirrspülertabs und eine Großpackung Toilettenpapier gekauft hatte, und schließlich ins Sportgeschäft in der Friedrich-Ebert-Straße, wo sie nach Laufschuhen hatte schauen wollen. Schließlich hatten Agathe und ihr Kollege Gerhard Leitner sich vor Kurzem dazu entschlossen, sich etwas mehr zu bewegen. Nun war Agathe generell von schlanker Natur. Nicht zaundürr, aber sportlich. Die weiblichen Rundungen hatte der liebe Gott an den richtigen Stellen platziert– mit leichter Priorität auf dem Brustbereich–, und damit das so blieb, hatte Agathe die Idee geäußert, sich in den kalten Monaten, die mit dem November endgültig Einzug ins Land gehalten hatten, körperlich zu betätigen.

Auch bei Leitner konnte niemand davon sprechen, dass er beleibt oder gar dick sei. Er hatte sich ebenfalls immer bewegt und damit eine Grundfitness erhalten, die kleine Sünden des Alltags wieder ausglich. Allerdings gab es im Leben von Agathe und Leitner normalerweise gerade im Herbst und Winter eben sehr viele von diesen Sünden. Sei es in Form von Adventsplätzchen von Leitners Verwandtschaft, sei es durch die eine oder andere Schlachtschüssel, deren Vorzüge Agathe als gebürtiges Nordlicht durch Leitner erst kennen und schätzen gelernt hatte, oder manch dampfende Tasse Schlehenpunsch auf dem Schwandorfer Weihnachtsmarkt, der in wenigen Tagen beginnen würde.

Agathe hatte sich im Sportladen für eine feuerrote Version des letzten Laufschuhmodells von Runfalcon entschieden, einer bekannten Firma aus Herzogenaurach. Damit, dem Obst, dem Brot und den anderen Einkäufen war sie schließlich so beladen gewesen, dass die drei Finger dicke Schneeschicht auf der Friedrich-Ebert-Straße ihr zum Verhängnis wurde. Ein passierender Wagen hielt sich weder an die vorgeschriebenen zwanzig Kilometer pro Stunde, noch schien ihn ein ausreichender Abstand zu ihr zu interessieren, als Agathe die Straße überqueren wollte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mit einer beherzten Drehung in Sicherheit zu bringen. Instinktiv folgte Agathes Körper den auf ihn einwirkenden Fliehkräften, die auch durch ihre Einkäufe verursacht wurden, nutzte sie aber zu seinem Vorteil. Eine Fähigkeit, die Agathe in den Selbstverteidigungskursen während ihrer Ausbildung zur Polizeibeamtin in Hamburg erlernt hatte. Sie landete auf den Händen, dem linken Fuß und dem rechten Knie. Was zwar äußerst schmerzhaft war, aber keine größere Verletzung verursachte, wie es vielleicht eine Verdrehung der Hüfte oder eine unkontrollierte Landung auf dem Steißbein getan hätte.

»Vollidiot!«, schrie Agathe dem Wagen hinterher und rieb sich dabei die Kniescheibe. Dann inspizierte sie ihre Einkäufe. Gottlob war nichts Zerbrechliches darunter. Wahrscheinlich hatten nur die Orangen und Mandarinen ein paar Druckstellen abgekriegt.

Ein älterer Herr trat auf Agathe zu. »Jetzt wird’s glatt, gell?«

Sie fixierte den Mann und war einen kurzen Moment lang versucht, ihn die Glätte des Straßenbelags durch einen gekonnten Judogriff am eigenen Leib spüren zu lassen. Doch der Impuls verflüchtigte sich so schnell, wie er aufgeflammt war, schließlich hatte der Mann die Bemerkung weder hämisch noch spöttisch gemeint. Agathe lebte nun schon lange genug in der Oberpfalz, um zu wissen, dass dies wohl seine Art war zu sagen: »Gott sei Dank ist Ihnen nichts passiert.«

Sie wischte sich die Nässe von der Kleidung und schüttelte den Schnee von ihren Einkaufstüten. »Allerdings. Ich hätte andere Schuhe mit mehr Profil anziehen sollen.«

Damit ließ sie den Mann stehen und lief über die Bahnhofstraße in Richtung der Wohnung, die sie und Leitner sich teilten. Sie lag im Eckhaus an der Bahnhof- und der Klosterstraße, vom Küchenfenster aus hatten Agathe und Leitner einen Blick direkt auf den Platz vor der Sparkasse.

Agathe sperrte die Wohnungstür auf, trat mit ihrer linken Fußspitze auf die Ferse des rechten Schuhs, um aus ihm herauszuschlüpfen, wiederholte den Vorgang mit dem anderen Fuß und stellte die nassen Sneakers in das Schuhregal neben der Haustür. Dabei sah sie, dass die Winterstiefel ihres Arbeitskollegen und Mitbewohners Leitner nicht an ihrem Platz waren. Anscheinend war er noch unterwegs. Auf Socken ging sie den langen Korridor entlang zur Garderobe, um ihre Jacke aufzuhängen, und wollte ihre Einkäufe anschließend in Richtung Küche tragen, als ihr linker Fuß in eine Wasserlache patschte.

»Oh Kerl!«, rief Agathe wütend und sah sich ihren linken hellgrünen Socken an, dessen Sohle nun dunkelgrün war. Sie suchte nach der Ursache der Pfütze, hatte jedoch schon eine Ahnung. Leitners Winterstiefel standen rechts von ihr neben der Wohnzimmertür. Der festgetretene Schnee in den tiefen Rillen des Sohlenprofils hatte sich in der beheizten Wohnung in seine ursprünglich flüssige Form zurückverwandelt und einen Mini-See im Flur gebildet.

Agathe atmete ein paarmal tief durch, bevor sie die Tür zum Wohnzimmer aufstieß.

Leitner saß mit dem Rücken zu ihr auf der Couch und tippte mit flinken Fingern auf der Tastatur seines Laptops. Er drehte seinen Kopf nicht mal zu ihr, als er sagte: »Grüß dich, Agathe. Schau mal her, das musst du dir ansehen.«

Etwas flog an Leitners rechtem Ohr vorbei und landete mit lautem Schmatzen auf dem Bildschirm des Rechners. Leitner fuhr sichtbar zusammen. Über dem Display hing ein nasser Socken, aus dem in zwei kleinen Rinnsalen Schmelzwasser in Richtung Tastatur lief.

»Sag einmal!«, entfuhr es ihm, und er wandte sich erbost zu Agathe um.

»Du hast dafür gesorgt, dass das Oberpfälzer Seenland um einen See in unserem Flur größer geworden ist«, entgegnete sie, hob seine beiden Stiefel auf und warf sie in hohem Bogen durch den Korridor zur Haustür.

»Also, jetzt aber!«, rief Leitner.

»Den Flur muss nachher jemand schrubben, und ich weiß, dass nicht ich das sein werde.«

Damit ging sie in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Bei dem Wetter waren Wohlfühlklamotten und trockene Socken angesagt. Hoffentlich würde Leitner sich erinnern, dass sie ihn nicht nur ein Mal gebeten hatte, die Schuhe nicht einfach irgendwo in der Wohnung auszuziehen und hinzustellen. Zumindest im Winter.

Nach wenigen Sekunden war Agathe wieder bei Leitner und sah, dass er ihren durchnässten Socken in einen leer gegessenen Suppenteller auf dem Couchtisch gelegt hatte.

»Gab’s heute Soupe de la Socke?«, fragte sie.

»Kannst den Teller gerne mit in die Küche nehmen«, erwiderte Leitner gereizt. »Ich habe den nämlich nicht benutzt.«

»Is ja gut, Kerl.« Agathe nahm den Teller samt Strumpf vom Tisch. Ersterer war in der Tat ein Überbleibsel ihrer letzten Mahlzeit, das sie schlicht vergessen hatte wegzuräumen. Im »Großen Spiel des Haushalts« zwischen Agathe und Leitner stand es also wieder einmal unentschieden.

Dieses Spiel war zum festen täglichen Bestandteil der beiden Versicherungsdetektive geworden, nachdem sie vor mehreren Jahren beschlossen hatten, gemeinsam eine Wohnung in Schwandorf zu nehmen. Agathe, die bei der weltweit tätigen Jacortia-Versicherung als Versicherungsdetektivin arbeitete, hatte zu jener Zeit den Ermittlungsauftrag bezüglich einer verschwundenen CNC-Maschine übernommen, weshalb sich ihr Arbeitsort von ihrem eigentlichen Stützpunkt München in die Oberpfalz verlagert hatte. War für sie als Lübeckerin bereits die bayerische Landeshauptstadt ein kleiner Kulturschock gewesen, so war es die Oberpfalz mit ihren Bräuchen und oft ruppigen Bewohnern erst recht. Als sie damals auf der Wirkendorfer Kirwa per Zufall auf eine halb verweste Leiche in einem Güllefass gestoßen war, fand sie sich unversehens mitten in einer Mordermittlung wieder. Dabei erhielt sie Hilfe von Gerhard Leitner, der zu jener Zeit noch hauptberuflich als Musikant mit seiner Blaskapelle unterwegs war und sich als Oberpfälzer in der Gegend bestens auskannte.

Da Agathe zusammen mit Leitner den Fall erfolgreich lösen konnte, ergab sich daraus ein Jobangebot für diesen bei der Jacortia. Und weil die beiden ungleichen Kollegen seither von der Versicherungsgesellschaft mit Ermittlungen in der Oberpfalz betraut wurden, war Schwandorf die perfekte Basis. Niemand– und am allerwenigsten Agathe und Leitner selbst– vermochte zu sagen, was genau sie waren, ob Paar, Freunde mit Extras oder doch nur in erster Linie Kollegen, die sich eine Wohnung teilten und zwischen denen es manchmal gehörig knisterte. Ihre Beziehung hatte sich schon manches Mal geändert, sodass es nie langweilig wurde. Momentan waren sie Freunde und Kollegen.

Agathe packte ihr nasses Wurfgeschoss, beförderte es in den Wäschekorb im Badezimmer und räumte in der Küche den Teller samt Löffel und die übrigen noch rumstehenden Tassen und Trinkgläser in den Geschirrspüler. Dann nahm sie eine der gerade gekauften Orangen und einen Teller, bewaffnete sich mit einem scharfen Obstmesser und ging wieder zu Leitner ins Wohnzimmer.

»Was sollte ich mir eigentlich anschauen?«

»Das Konzert von den Buggles in Originalbesetzung.«

»Ach, die Buggles!« Agathe kniff die Augen zusammen. Die Band sagte ihr überhaupt nichts.

Leitner drehte den Laptop so, dass Agathe auch sehen konnte, und startete das YouTube-Video. Nach einigen Sekunden erkannte sie den Song tatsächlich. Den Frauenchor mit seinem markanten »Aua-Aua« hatte sie schon mal gehört, ihrem Gefühl nach auf einer Party für Menschen jenseits der vierzig. Sie blickte auf den Bildschirm, dann auf ihren Mitbewohner, der total gebannt schien.

»Toller Oldie«, sagte Agathe vorsichtig.

»Oldie? Das ist ein Klassiker«, raunte Leitner, ohne sich zu ihr umzuwenden. »Das war der erste Song, der auf MTV lief!«

Agathe erinnerte sich daran, dass die Gründung des ausschließlich Musik ausstrahlenden Fernsehsenders damals außergewöhnlich gewesen war. Sie schnitt mit dem Messer in die Orangenschale, und sofort breitete sich Zitrusgeruch im Wohnzimmer aus. Während der Song weiterlief, schälte sie die Apfelsine und teilte sie in ihre Segmente. »Auch ein Stück?«, fragte sie Leitner.

Er hielt seine offene Hand hin, ohne Agathe eines Blickes zu würdigen.

Sie gab ihm eins und steckte sich dann selber eins in den Mund.

»Lecker, schon total süß!«, mampfte Leitner vor sich hin und streckte seine Hand nochmals in Agathes Richtung.

Die gab ihm ein weiteres Stück, während in ihren Augen ein kleines schwarzes Feuer aufflackerte. Sie sah sich auf der Couch und auf dem Wohnzimmertisch um, fand, wonach sie suchte, und wartete, bis Leitner ihr abermals seine Hand hinhielt.

Als der sie wieder schloss, zuckte er vor Schreck zusammen und nahm seinen Blick endlich vom Bildschirm. »Spinnst du jetzt?«, fragte er verärgert.

»Ich wollte nur mal sehen, ob dich noch irgendwas von deinen Buggles weglocken kann.« Sie lächelte ihn an und klappte den Verschluss der Honigflasche wieder zu, die noch vom Frühstück auf dem Wohnzimmertisch gestanden hatte.

Leitner betrachtete kopfschüttelnd die zähe goldene Flüssigkeit, die zwischen seinen Fingern hindurchrann, dann stand er auf und verschwand im Bad. Als er wieder zurückkam, liefen gerade die letzten Sekunden des Songs.

»Sogar die Frauen, die den Chorus singen, sind dieselben wie bei der Originalaufnahme von 1979«, sagte er, und Agathe musste seufzend feststellen, dass ihr Ablenkungsmanöver offensichtlich nur kurz funktioniert hatte.

»Ich bin beeindruckt«, sagte sie beiläufig.

Nachdem der Schlussakkord verklungen war, klappte er den Computer zu. »›Video Killed the Radio Star‹. Cis-Dur, klingt einfach spitze«, hauchte er andächtig.

Agathe schob sich noch ein Stück Orange in den Mund. Sie wusste, dass Leitner Töne und Akkorde wegen seines absoluten Gehörs ohne technische Hilfsmittel bestimmen konnte. Dann sagte sie: »Mich hat gerade auch fast jemand gekillt. Vor dem Sportgeschäft.«

»Wie denn das?«

Agathe erzählte ihm, wie der Autofahrer sie beinahe gerammt hätte.

»Sapperlot«, entfuhr es Leitner, als sie geendet hatte. »Unverantwortlich, bei dem Wetter so schnell zu fahren, wo der neue Straßenbelag doch auch sofort rutschig wird, wenn’s draufschneit.«

»Apropos Straße, ich habe heute in fast allen Geschäften, in denen ich war, das Gleiche gehört. Nämlich, dass die diese… Wie heißt die noch gleich?«

»Wer denn?«

»Na, diese Hauptstraße.«

»Friedrich-Ebert-Straße.«

»Genau, dass sie die morgen aufreißen wollen.«

Leitners Kopf wirbelte zu Agathe. »Bitte was?«

»Ja, im Ernst. Im Gemüseladen habe ich das eine Kundin sagen hören, und später im Sportgeschäft hat eine Kassiererin zusammen mit einem Kunden geschimpft, dass der ganze Ärger von wegen Sperrung und Baustelle und so weiter schon wieder losgeht.«

Leitner suchte auf der Couch nach seinem Handy und fand es unter einem großen Kissen. Während er den Bildschirm entsperrte, murmelte er: »Aber die ist doch gerade erst saniert worden. Gerade mal zwei Wochen ist das her, dass die mit den Bauarbeiten fertig geworden sind.«

»Genau das hat die Verkäuferin im Sportladen auch gesagt.«

»Das ist auch so«, sagte Leitner, tippte aufs Display und hielt sich das Telefon ans Ohr. »Das ist ja nicht irgendeine Nebengasse, sondern quasi die Hauptschlagader der Schwandorfer Innenstadt«, fuhr er fort. »Du hast doch mit eigenen Augen gesehen, wie erst die Straße und dann der Wendelinplatz aufgerissen wurden.«

»Natürlich hab ich das. Deswegen dachte ich ja auch zuerst, das wäre Blödsinn, dass sie jetzt wieder anfangen wollen. Aber nachdem es zwei verschiedene Menschen unabhängig voneinander behauptet haben–«

»Das muss trotzdem nichts bedeuten«, winkte Leitner mit seiner freien Hand ab. »Das braucht bloß die eine von der anderen mitbekommen zu haben, und dann geht der Tratsch schon los.« Er machte eine zuschnappende Geste mit der Hand, die ein loses Mundwerk andeuten sollte. »Bei uns hat’s früher immer geheißen: Wenn einer am Marktplatz mit dem Radl umfällt, ist er an der Kirche schon tot… Ah, hallo? Fritz? Grüß dich, der Gerhard hier.«

Agathe ahnte, dass Fritz Detter am anderen Ende der Leitung sein musste, seines Zeichens Chefredakteur des »Wirkendorfer Anzeigers« und Schulfreund Leitners.

»Sag einmal, stimmt das wirklich mit der Friedrich-Ebert-Straße, Fritz? Reißens’ die jetzt wieder auf?« Leitner lauschte angestrengt. »Verstehe«, sagte er dann. »Ein Rohrbruch. Und wie konnte das passieren, wo doch sämtliche Leitungen für Gas, Wasser und Scheiße erst vor sechs Wochen neu verlegt wurden?« Einige Sekunden später nickte er und sagte schließlich noch: »Schon morgen früh? Schöner Mist.« Nachdem er sich verabschiedet hatte, begegnete er Agathes erwartungsvollem Blick.

»Und?«

»Du hast richtig gehört beim Einkaufen. Morgen früh um sieben rollt ein Bagger an und reißt die schöne neue Friedrich-Ebert-Straße wieder auf«, sagte Leitner betreten. »Ich prophezeie einen riesigen Ärger, gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit.«

»Wegen der Geschäfte?«

»Auch. Aber auch die Anwohner werden sich aufregen. Sie haben absolut keine Lust mehr auf Bauarbeiten, nachdem sie die schon die letzten zwei Jahre ertragen mussten.«

Agathe pflichtete ihm bei, und Leitner verließ das Wohnzimmer und kehrte einen Augenblick später mit einer Flasche Bier zurück. Als er sie mit dem typischen appetitanregenden »Flopp« öffnete, nahm Agathe sie ihm aus der Hand.

»Danke, willst du keins?«

Leitner lächelte kurz, bevor er sich ein weiteres Bier aus dem Kühlschrank holte. Nach den ersten Schlucken sagte er: »Dann werde ich heute mal etwas früher schlafen gehen.«

»Warum?«

»Weil ich morgen dabei sein will, wenn die Straße wieder aufgerissen wird.«

»Bist du denn sicher, dass du als heimatverbundener Oberpfälzer diesen schmerzhaften Anblick verkraften wirst? Wie hast du die Friedrich-Ebert-Straße gerade doch gleich genannt? Die Hauptschlagader Schwandorfs?«

»Ja.«

»Dann ist das so etwas wie eine Operation am offenen Herzen.«

»Schöner Vergleich. Auf jeden Fall bin ich morgen um sieben oben. Komme, was da wolle.«

2

Der Schneefall hatte längst aufgehört, als Agathe und Leitner ihre Wohnung verließen und auf die Klosterstraße traten. Die Stadt lag wie mit Zuckerguss bedeckt vor ihnen. Allerdings hatte der Räumdienst seine Arbeit schon gewissenhaft verrichtet, ebenso wie die meisten der Hausbesitzer und Ladeninhaber. Noch vor dem Aufstehen hatte Agathe das markante Kratzen von Schneeschaufeln auf Fußwegen vernommen.

Die Versicherungsdetektive holten sich in der Bäckerei an der Ecke jeweils eine frische Butterbreze und gingen dann die Schwaigerstraße in Richtung Friedrich-Ebert-Straße hinauf.

Dort angekommen hatte Agathe erst einen der Bögen ihrer Breze sowie den besonders knusprigen Knoten im Innenteil gegessen, während Leitner sich soeben das letzte Stück des Laugengebäcks einverleibte. Sie blickten sich um und erspähten an der nächsten Kreuzung in Richtung Marktplatz ein Absperrband, an dem sich schon etwa knapp dreißig Schaulustige eingefunden hatten. Da noch kein Bagger vor Ort war, unterhielten sie sich erregt. Agathe und Leitner gingen näher.

»Wie konnte das bloß passieren? Haben die denn alle miteinander keine Ahnung mehr?«, echauffierte sich ein Rentner.

Sein Gegenüber nickte nur stumm und ließ seinen Freund weiterschimpfen.

»Wenn wir früher so was verbockt hätten! Mit der Schaufel wär der Kapo auf uns los! Mit Ziegelsteinen hätt uns der derschmissen!«

Agathe und Leitner schnappten allerlei weitere Unmutsäußerungen auf, dann erblickte Leitner einen jungen Mann mit Schreibblock und einem Fotoapparat um den Hals.

»Morgen! Ich nehme an, Sie sind für den ›Wirkendorfer Anzeiger‹ hier?«, fragte er ihn.

»Stimmt, ja«, gab der Mann schüchtern zurück.

»Dem Herrn Detter ist es wahrscheinlich zu kalt, so früh am Morgen«, scherzte Leitner und beobachtete belustigt, wie der Reporter zwar grinste, sich aber einem ihm Fremden gegenüber nicht zu einer abfälligen Bemerkung über seinen Chef hinreißen ließ. »Sagen Sie dem Fritz bitte schöne Grüße vom Gerhard.«

Der Journalist notierte sich den Namen. »Und wie weiter?«

»Leitner. Der kennt seinen alten Schulfreund schon noch. Wir haben eh gestern telefoniert.«

»Mache ich gerne«, sagte der Reporter und blickte dann wieder in Richtung Wendelinplatz, von wo aus sich der Bagger nähern müsste.

Leitner betrachtete den Straßenbelag genauer. Die Pflastersteine waren erst vor Kurzem passgenau eingesetzt worden und gaben der viel befahrenen Straße seither ihr neues Erscheinungsbild. »Da brauchen sie nicht mal eine Säge«, murmelte er.

»Bitte was?«, fragte Agathe.

»Wenn das Asphalt wäre, müssten sie erst mit einer Säge vorschneiden, bevor das Loch ausgehoben werden kann«, erklärte er ihr.

»Aha«, sagte sie ohne wirkliches Interesse.

»Aber mit den Pflastersteinen werden sie wohl erst ein paar davon mit dem Stemmeisen raushebeln und dann weitere mit der Hand rausklauben. Die kann man ja später noch mal verwenden.«

»Wenn du das sagst, Gerhard. Ich kenne mich in dem Metier nicht wirklich aus.«

»Ich auch nicht, aber so würd’s am meisten Sinn machen. Zuerst ein Stemmeisen, dann ein kleiner Bagger.«

Agathe blickte ihren Kollegen an und stellte nicht zum ersten Mal in ihrem Leben verwundert fest, wie Männeraugen zu leuchten begannen, wenn von Maschinen die Rede war oder davon, Bauwerke wie in diesem Fall die Straße zu zerstören. Sie sah zu den Schaulustigen. Immerhin lebte sie auch schon vier Jahre in Schwandorf; vielleicht kannte sie ja jemanden von ihnen. Die Männer waren klar in der Mehrheit. An Frauen zählte Agathe nur eine Dame Mitte sechzig, die offenbar mit ihrem Gatten dem Schauspiel beiwohnen wollte, und sich selbst. Die andere lauschte hingebungsvoll den Ausführungen ihres Mannes, der mit einem anderen Passanten über Baustellen fachsimpelte. Dann wandte Agathe ihren Kopf und entdeckte noch eine Gruppe von vier Frauen, die, jede mit skeptischem Gesichtsausdruck, das Geschehen beobachteten. Eine davon deutete auf die Straße, dann auf die angrenzenden Häuser und sagte leise etwas zu ihrer Nachbarin, die ihre Zustimmung mit einem kaum merklichen Nicken bekundete. Die anderen beiden grinsten. Agathe hatte keine Ahnung, wie sie deren Reaktion deuten sollte, aber irgendwie wirkten die vier auf sie wie das Tribunal bei Gericht im alten Rom, auch wenn damals freilich keine Frauen zugelassen waren.

Ansonsten konnte Agathe keine weitere Frau sehen… bis ihr Blick auf eine weitere Geschlechtsgenossin fiel, die vor dem Südtiroler Feinkostladen stand.

»Och nee!«, konnte sich Agathe nicht verkneifen.

»Was denn?« Leitner wandte sich zu ihr um.

Agathe fixierte immer noch die Frau vor dem Spezereiengeschäft Bocconcino. »Sieht so aus, als wären die von der Baufirma nicht die Einzigen, die gleich irgendwo einen Hebel ansetzen.«

»Hä?«, entfuhr es Leitner verständnislos, dann folgte er ihrem Blick. »Du meine Güte…«, stieß nun auch er aus, als er Chris Wendell entdeckte.

Chris Wendell war die direkte Vorgesetzte von Agathe und Leitner bei der Jacortia-Versicherung, die sie mit Ermittlungsaufträgen versorgte. Traditionell war das Verhältnis zwischen ihr und den beiden Detektiven unterkühlt bis frostig. Agathe und Leitner stritten sich bei jedem neuen Auftrag darum, wer ins Oberpfälzer Hauptbüro nach Regensburg fahren musste, fuhren dann aber meist doch gemeinsam, weil sie den anderen nicht hängen lassen wollten beziehungsweise nicht selbst in die Situation geraten wollten, diesem emotionalen Eisklotz in Form ihrer Chefin allein gegenüberzusitzen.

»Was will die denn hier in Schwandorf?«, fragte Leitner genervt.

»Ich kann mir schon denken, was die hier treibt. Gibt ja eigentlich nur eine logische Erklärung.«

»Und zwar welche?«

Agathe löste ihren Blick von Wendell und drehte sich zu Leitner. »Überlege doch mal, du Genie. Was macht die Regionaldirektorin einer Versicherung morgens früh um sieben an einer frisch sanierten Straße, die im Begriff ist, wieder aufgerissen zu werden?«

Leitner dachte kurz nach. »Ach so«, sagte er dann. »Du glaubst, dass die Langzeitbaustelle…«

»…bei der Jacortia versichert war. Genau.«

»Natürlich! Das ergibt Sinn.«

Agathe quittierte Leitners Geistesblitz mit einer entsprechenden »Siehste?«-Geste.

»Wenn bei so einem Riesenprojekt nach so kurzer Zeit ein Schaden auftritt, muss freilich die Chefin ran.«

»Ich bin ganz deiner Meinung. Oh nein, jetzt hat sie uns gesehen!«

Leitner warf einen kurzen Blick zu Chris Wendell, die sich tatsächlich näherte, dann flüsterte er Agathe zu: »Wenigstens darf diesmal sie sich mit der Stadt und der Baufirma rumschlagen. Wenn hier wirklich ein kaputtes Rohr verbaut wurde, ist das kein Grund für uns zu ermitteln.«

Agathe kicherte vergnügt. »Und somit können wir eigentlich gechillt Hallo sagen, oder?«

Damit sahen beide ihrer Chefin relativ entspannt entgegen.

Chris Wendell begrüßte sie mit einem knappen »Guten Morgen!«, welches sie erwiderten.

»Ein ganz ungewohnter Anblick, Sie nicht hinter Ihrem Schreibtisch zu sehen«, eröffnete Leitner das Gespräch etwas ungelenk.

»Sie dürfen mir glauben, dass ich es dort momentan angenehmer fände«, gab Wendell knapp zurück. »Diese… Ortsbesuche liegen mir nicht besonders.«

Verstohlen betrachtete Agathe ihre Chefin und musste sich zusammenreißen, um nicht über das ganze Gesicht zu grinsen. Wahrscheinlich trug die Wendell den pelzbesetzten Mantel üblicherweise, wenn sie im winterlichen Regensburg auf dem Weg ins Stadttheater war. Außerdem hatte sie es nicht übers Herz gebracht, dazu wenigstens dem Wetter entsprechende Schuhe anzuziehen. Stattdessen glänzten im schwachen Licht der Schaufensterlampen und der Straßenlaternen ihre schwarzen Pumps, und ihr ohnehin stets blasses Gesicht leuchtete fast weiß unter ihrem kleinen Hut hervor.

»Nun ja, Sie werden es schon überstehen«, erwiderte Agathe um Fassung bemüht. »Der Fall ist bestimmt nicht kompliziert.«

Leitner legte Unschuld in seine Stimme: »Waren Sie überhaupt schon einmal in Schwandorf?«

»Nein. Fahr immer nur dran vorbei, wenn ich von Thüringen aus nach Regensburg oder umgekehrt unterwegs bin.«

Das wunderte weder Agathe noch Leitner. Es passte zu Wendell, dass sie sich für die Region, für die sie zuständig war, nicht sonderlich interessierte. Ihr genügte es, die nüchternen Fakten und Zahlen an ihrem Schreibtisch zu jonglieren. Aber so war nun einmal die Arbeitsaufteilung. Wendell kümmerte sich um den Papierkram, und wenn es bei Fällen Unklarheiten gab, rief sie die Versicherungsdetektive, die ermittelten und Licht ins Dunkel brachten.

»Wenn S’ einen Tag früher angerufen hätten, hätten wir uns auf einen Kaffee zusammensetzen können«, sagte Leitner nun auch noch.

Agathes Gesichtszüge drohten zu entgleisen. Mit offen stehendem Mund starrte sie ihren Kollegen ungläubig an.

Dies blieb freilich auch der Chefin nicht verborgen. »Das ist schon in Ordnung, Herr Leitner«, erwiderte sie. »Wir müssen nicht so tun, als würden wir uns blendend verstehen.«

»Mei, ich hab ja bloß gemeint…«, sagte Leitner unbedarft, während Agathes Erleichterung sich in hörbarem Aufatmen bemerkbar machte.

»Entschuldigen Sie, aber da ist auch schon der Sachgebietsleiter Tiefbau von der Stadtverwaltung«, sagte Wendell und nickte in Richtung eines großen Mannes, der auf sie zukam. Als beide sich in ein höfliches Gespräch vertieften, drehte Agathe sich zu Leitner.

»Sag mal, leidest du unter Hirnfraß?«

»Wieso fragst du?«

»Na, weil du unsere Spaßkanone von Chefin indirekt zum Kaffeekränzchen eingeladen hast. Was sollte das denn werden? Ein heiterer Plausch, bei dem wir Erinnerungen an unsere Kindheit oder unsere schönsten Reisen austauschen?«

»Jetzt beruhige dich mal wieder.« Leitner schaute sie genervt an. »Sie ist ja nicht drauf eingegangen.«

»Aber das konntest du vorher nicht wissen. Wenn ich auch nur zehn Minuten mit der privat zusammensitzen müsste, ich glaube, ich würde über kurz oder lang das wieder anwenden, was ich in meiner Nahkampfausbildung gelernt habe.«

»Ist ja schon gut, hab verstanden«, wiegelte Leitner ab. »Freu dich lieber, dass sie in diesem Fall in der Schusslinie steht. So können wir total entspannt mit etwas Abstand zuschauen, was passiert.«

Agathe beruhigte sich tatsächlich ein wenig. »Eigentlich hast du recht. Das einzig Ärgerliche für uns ist, dass es in der Stadt schon wieder eine Baustelle gibt.«

»Eben. Aber auch die wird bald wieder Vergangenheit sein, und in der Zwischenzeit können wir zugucken, wie die Wendell sich mit dem Stadtbaumenschen rumschlägt.«

»Soll mir recht sein. Solange ich nicht mit dieser Nudel Kaffee trinken muss…«

»Schau!«, rief Leitner und deutete auf einen Tieflader, der gerade den Bagger anlieferte. »Komm, lass uns ein bisschen näher rangehen!«

Agathe und Leitner gesellten sich zu den anderen Schaulustigen, die sich mittlerweile auf beiden Seiten der Straße versammelt hatten.

Vom Wendelinplatz her bog ein VW-Bus in die Friedrich-Ebert-Straße, fuhr am Tieflader vorbei und parkte. Vier Bauarbeiter stiegen aus, wovon drei zum abgesperrten Bereich der Straße gingen und einer zu dem Bagger auf der Ladefläche. Er stieg in das Führerhaus des Kubota-Fünftonners, ließ ihn mit metallischem Rasseln rückwärts auf die Straße hinunter- und dann die letzten Meter bis zur Baustellenabsperrung rollen. Ein Bauarbeiter hob eines der Metallgitter aus seinem Sockel und klappte es wie eine Tür auf, sodass der Bagger passieren konnte. Dann schloss der Mann das Gitter wieder und besprach sich mit seinen Kollegen.

Wie Leitner es vorausgesagt hatte, rammten nach einem kurzen Gespräch mit dem Stadtmitarbeiter zwei Männer ihre Hebeleisen, wegen der gespreizten Enden auch Geißfuß genannt, ins Pflaster. Nach kurzem Ruckeln lösten sich die ersten Steine, und unter lebhafter Anteilnahme der ungebetenen Zuschauer und ihren ebenso wenig willkommenen Kommentaren fuhren die Bauarbeiter fort, ein etwa zwanzig Quadratmeter großes Stück Fläche freizulegen.

Nach etwa einer halben Stunde ließen die Stemmer ihre Werkzeuge liegen, machten eine Zigarettenpause und dem Bagger Platz. Der Führer der Maschine verstand offensichtlich sein Handwerk, denn er brauchte nur wenige Minuten, um mit der Baggerschaufel das gefrorene Erdreich zu lockern und auszuheben. Bald türmte sich auf der Straße ein großer Erdhaufen, und man konnte bis tief in die Eingeweide der Friedrich-Ebert-Straße zu den erst kürzlich verlegten Rohren blicken. Die Kollegen des Baggerfahrers stiegen vorsichtig in die Grube hinab, schienen etwas zu kontrollieren und schüttelten dann die Köpfe. Offensichtlich hatten sie das fehlerhafte Teilstück des Rohrs noch nicht gefunden. Also setzte der Bagger etwas zurück, und die Arbeiter entfernten weiter einen Stein des Pflasterbelags nach dem anderen.

»Ich glaube, ich habe genug gesehen. Langsam wird es mir doch ein bisschen zu frostig hier«, sagte Agathe zu Leitner, der nickte, ohne sie anzusehen.

»Ich komme mit nach Hause. Das hier wird sich wahrscheinlich noch ein bisschen… He, was ist denn da los?«

Agathe schaute wieder zur Baustelle. Der Bagger hatte seine Grabungen fortgesetzt, doch nun hatte sich die Schaufel offenbar irgendwo festgehakt. Der Baggerfahrer versuchte in rhythmischen Zügen, mit der Schaufel das Erdreich zu lockern, jedoch ohne Erfolg.

»Bestimmt kommt er nicht durch, weil die Erde gefroren ist«, sagte Agathe.

»Aber vorher hat’s doch auch wunderbar funktioniert.« Leitner war skeptisch.

Wieder fuhr die Baggerschaufel ins Erdreich, und wieder steckte sie nach kurzer Zeit fest. Auch die Umstehenden raunten jetzt, als würde etwas Ungewöhnliches vor sich gehen. Aber was?

Leitner machte einige Schritte zur Seite, um einen besseren Blick auf die Stelle werfen zu können, an der die Schaufel festsaß.

Abermals holte der Baggerführer mit der Schaufel aus und ließ das schwere Blatt in die Erde sausen. Das Motorengeräusch wurde lauter, als er die Muskeln des Baggers spielen ließ. Schließlich machte der Bagger einen kleinen Ruck.

»Jetzt tut sich was«, sagte Leitner.

Schnell fuhr die Schaufel in den mühsam erkämpften Keil in der Erde und hob erneut mit aller Kraft an.

Als das Murmeln der Schaulustigen verebbte, warf Agathe einen Blick in deren Richtung. Alle starrten wie gebannt nach vorn.

»Was ist denn los?«, fragte sie Leitner, der ebenfalls die Stelle fixierte, an der die Baggerschaufel zugange war.

Er kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Das gibt’s doch nicht«, flüsterte er. »Was zum Teufel…?«

Als Agathe wieder in dieselbe Richtung sah, kroch ihr eisige Kälte den Rücken hoch. Zwei lange Hörner ragten aus der Erde. Sie waren gebogen wie die einer Gazelle. Die Schaufel hatte sich seitlich unter sie gegraben und wurde nun vom Baggerarm nach oben gezogen. Agathe erkannte einen Kopf. Einen riesigen Kopf mit Hörnern. Je höher die Baggerschaufel fuhr, desto mehr wurde von dem dazugehörigen Körper sichtbar. Ein riesiger steifer Torso wurde aus seinem Grab gehoben, bis er fast senkrecht vor den ihn fassungslos anstarrenden Zaungästen hing.

Voller Abscheu verzog Agathe den Mund, konnte den Blick aber nicht von dem Ungeheuer lösen, welches eben aus der Friedrich-Ebert-Straße auferstanden war. Die Gestalt musste fast zwei Meter groß sein und hatte langes, zottiges Fell. Ihr Gesicht war die grausige Fratze eines Dämons, der sadistisch lächelte. Als sein gehörnter Kopf sich langsam zur Seite drehte, schrie Agathe auf. Das teuflische Gesicht sah sie direkt an.

»Oh Gott!«, rief sie entsetzt.

»Nicht Gott«, erwiderte Leitner, der schwer atmete. »Das ist der Teufel…«

Plötzlich löste sich der leblose Körper, den die Baggerschaufel mit einer Zinke am Kopf erwischt und hochgehoben hatte, und fiel auf seine Füße. Vor Schreck zuckten die Zuschauer zusammen und schrien laut auf. Nach nur einer Sekunde, in der es aufrecht stand, kippte das Monster steif wie ein Brett rücklings wieder nach hinten, schlug mit dem Kopf auf und drehte sich dann einmal um die eigene Achse, wobei seine Füße durch die Luft wirbelten. Seine Hörner und pelz- und klauenbewehrten Tatzen trafen mit dumpfem Ton auf den verdichteten Boden, dazu rasselte und schepperte es ohrenbetäubend.

3

Die Temperatur im Café Schuierer war angenehm. Agathe zögerte zunächst, ihre Winterjacke auszuziehen, doch der aromatische Geruch von frischem, heißem Kaffee, der ihr beim Betreten des Cafés sofort in die Nase stieg, überzeugte sie, es doch zu tun. Zusammen mit Leitner nahm sie an einem dunkelbraunen Holztisch Platz.

»Jetzt sitzen wir doch hier und müssen mit ihr Kaffee trinken«, sagte Leitner trocken, während er von der Karte aufsah.

Agathe warf ihrem Kollegen einen Blick zu, der ihn erwiderte, und wortlos drehten beide ihre Köpfe in Richtung Glastür. Davor stand Chris Wendell und telefonierte.

»Das spielt jetzt keine Rolle mehr, nu is das ja geschäftlich«, meinte Agathe, wobei ihr norddeutscher Dialekt aufblitzte, und beobachtete ihre Chefin noch eine Weile, während Leitner sich in das Getränkeangebot vertiefte.

»Das hätte ich jetzt nicht von ihr gedacht.«

»Was denn?«, fragte Leitner, schaute wieder hoch.

Agathe deutete zu Wendell. »Dass diese Schreckschraube auch nur irgendeine Schwäche haben könnte.«

Zu seiner Überraschung sah Leitner, dass Chris Wendell an einer dünnen, langen Zigarette zog. »Das ist tatsächlich verwunderlich. Sonst frisst sie doch immer irgendwelche Gurken-Dinkel-Sandwiches. Ich hatte angenommen, dass die bloß Gesundheitstee trinkt und viermal die Woche Sport macht. Ist ja kein Gramm Fett an dem zierlichen Püppchen.«

»Und das siehst du durch ihren Wintermantel hindurch, oder wie?«, fragte Agathe spitz.

Leitner bedachte sie mit einem süffisanten Blick. »Wir waren ja auch schon mal im Sommer bei ihr im Büro. Da hatte sie weniger an.«

In dem Moment kam Chris Wendell ins Café und auf ihren Tisch zu und nahm, ohne ihren Pelzmantel abzulegen, zwischen Agathe und Leitner Platz.

»Ein gefundenes Fressen für die Presse«, sagte sie in für Leitner fies klingendem Gis-Dur. »Ich habe gerade diesen jungen Reporter da draußen gehört, wie er mit seiner Redaktion telefonierte und Schlagzeilen für den Artikel auf der Titelseite vorschlug. ›Der Teufel aus dem Grab‹, das war noch eine der harmloseren.«

»Dass sich die Medien darauf stürzen, wird kaum zu vermeiden sein«, meinte Agathe und erinnerte sich an ihre Zeit als Polizeibeamtin in Hamburg. »Meiner Erfahrung nach werden im Fernsehen schneller Bilder davon auftauchen, als die die Leiche wegschaffen können.«

»Meinst du denn, die kriegen so schnell ein Kamerateam her?«, fragte Leitner unbedarft.

Wendell warf ihrem Untergebenen einen mitleidigen Blick zu. »Herr Leitner, Kamerateams, wie Sie sie nennen, brauchen die Medien dafür längst nicht mehr. Es gibt genügend freiberufliche Reporter, die, teils mit Handykameras, teils mit 4K-Equipment, genau bei solchen Gelegenheiten überraschend schnell auftauchen und ihre Videos dann gewinnbringend an alle Medien schicken, von der BILD über RTL bis hin zu OTV.«

»Die sogenannten und hochgeschätzten Blaulichtreporter«, ergänzte Agathe.

»Exakt.« Wendell nickte. »Die uns natürlich die Arbeit auch nicht gerade leichter machen.«

»Ist denn die Kripo schon da?«

»Noch nicht. Deshalb eilt es auch einigermaßen. He, einen Espresso bitte!«, herrschte Wendell die Bedienung an, als die an ihrem Tisch vorüberlief, ohne ihr Beachtung zu schenken.

Leitner und Agathe hatten zwei Cappuccino bestellt, welche kurz darauf zusammen mit Wendells Espresso gebracht wurden.

Leitner ließ einen Löffel Zucker in seine Tasse rieseln, unter dem der Milchschaum in sich zusammensank.

»Ich vermute mal, dass die Baustelle bei unserer Gesellschaft versichert war?«, fragte Agathe und nippte vorsichtig an der weiß-braunen Crema.

»Sonst wäre ich ja wohl kaum um diese Uhrzeit hier, nicht wahr?« Wendell warf ihr einen Blick zu, der suggerierte, dass sie allein schon die Frage als Zumutung empfand.

»Schon klar«, sagte Agathe. »Das Versicherungsvolumen dürfte nicht gerade klein sein. Ich beneide Sie wirklich nicht um Ihre Arbeit, wenn ich ehrlich bin.«

Wendell trank ihren Espresso zur Hälfte aus. Dann entgegnete sie: »Ich Sie auch nicht um Ihre.« Als die Gesichter von Agathe und Leitner einfroren, schien es, als genösse Chris Wendell den Effekt ihrer Pointe einen Augenblick länger als unbedingt nötig.

Agathe fand als Erste ihre Sprache wieder. »Was wollen Sie damit sagen? Unsere Arbeit?«

»Das liegt doch wohl auf der Hand, oder? Irgendjemand hat da vorne einen kostümierten Mann vergraben, und zwei Wochen später haben wir einen Schadensfall genau neben dem Fundort. Praktisch, nicht?«

»Wieso praktisch?« Leitner blickte von einer Frau zur anderen.

Agathe nahm ihren Kaffeelöffel und rollte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. »Das ist für unsere Versicherung aus dem Grunde praktisch, weil dadurch die Möglichkeit besteht, dass der Lieferant das Rohr nicht schadhaft zur Verfügung gestellt hat und dass es nicht die Baufirma war, die es falsch verlegt oder beim Einbau beschädigt hat. Korrekt?«

Wendell nickte knapp. »Sie haben es erfasst, Frau Viersen. Unsere Versicherung– wie jede andere übrigens auch– lebt schließlich davon, dass wir nicht für Schadensfälle aufkommen müssen. Und um das zu gewährleisten, sind jetzt Sie am Zuge.« Sie trank den letzten Schluck ihres Espressos und winkte der Kellnerin.

Leitner lehnte sich matt in seinem Stuhl zurück. »Ach so… Hätte der Lieferant oder die Baufirma Schuld, müssten wir der Stadt Schwandorf die Schadenssumme ausbezahlen. Aber wenn der, der diesen Teufel eingebuddelt hat, den Schaden verursacht hat…«

»…dann nicht. Gratuliere, Herr Leitner.« Wendell sah ihn scheel an, dann sagte sie zur Bedienung: »Ich zahle alles zusammen und hätte dann gern einen Bewirtungsbeleg.«

Die Servicekraft stutzte kurz. »Oh… da muss ich erst… Da weiß ich jetzt nicht genau…«

Wendell seufzte. »Schon gut. Hier.« Damit gab sie ihr einen Betrag, der ein angemessenes Trinkgeld enthielt, und stand schwungvoll auf. »Wie es aussieht, hat sich dieser Verkleidete weder freiwillig noch selbst eingegraben«, sagte sie zu ihren Mitarbeitern. »Wenn also unsere Versicherungsgesellschaft in eine Geschichte verwickelt ist, bei der der Teufel aus seinem Grab steigt, dann will ich schneller als die Polizei wissen, was da vorgefallen ist.«

»Heißt konkret?«, fragte Agathe.

»Finden Sie heraus, wie der Schaden entstanden ist und wer dafür verantwortlich ist. Begeben Sie sich mal wieder auf Mörderjagd.« Wendell musterte sie länger. »Scheint langsam zur Gewohnheit bei Ihnen zu werden, vielleicht sollten Sie es mal bei der Polizei versuchen.«

»Da war ich schon«, sage Agathe abwesend, dann verabschiedeten sie und Leitner sich von ihrer Chefin, die das Café wieder verließ.

»Wie gehen wir denn jetzt vor?«, fragte Leitner, und eine Weile sagte keiner von beiden ein Wort.

Er brach als Erster von ihnen die Stille. »Lass uns zunächst noch mal zur Baustelle gehen. Wir müssen erst einmal wissen, wessen Leiche da in der Friedrich-Ebert-Straße vergraben war. Die Kripo sollte mittlerweile vor Ort sein, vielleicht haben die Beamten ja schon eine Ahnung.«

»Klingt vernünftig«, antwortete Agathe. Dann meinte sie nachdenklich: »Wie verrückt muss man sein, einen Toten in so ein Ungetüm zu verwandeln, bevor man ihn begräbt? Was soll dieses… dieses Tier eigentlich darstellen?«

»Das ist ein Krampus. Erst vor ein paar Jahren gab es einen Kinofilm über einen, eine Horrorkomödie.«

»Stimmt. Jetzt, wo du es sagst, kann ich mich wieder dran erinnern. Habe ich aber nie gesehen.«

»Ich auch nicht. Auf jeden Fall«, fuhr Leitner fort, »steckt hinter einem Krampus normalerweise ein Mensch wie du und ich, der sich in Felle hüllt und eine gehörnte Maske aufsetzt.« Er stand auf und zog sich seine Winterjacke an.

»Und trotzdem bleibt die Frage: Warum sollte jemand einen Toten so verkleiden, bevor er ihn in einer Straße vergräbt?« Agathes Blick huschte zur Eingangstür des Cafés, die sich öffnete.

»Vielleicht irgendein Ritual?«, mutmaßte Leitner, während er sich seinen Schal um den Hals wickelte und die Enden unter den Jackenkragen stopfte. »Aber um deine Frage mit Sicherheit beantworten zu können, will ich noch mal vor zur Fundstelle. Ist ja jetzt auch offiziell unser Auftrag.«

In dem Moment marschierte das Frauenquartett, das vorhin ebenfalls noch an der Baustellenabsperrung gestanden hatte, in Reih und Glied ins Café ein und ließ sich an einem Tisch unweit von Agathe und Leitner nieder.

»Kommst du?«, forderte er seine Kollegin auf.

Doch Agathe hatte schon das für sie so typische dunkle Blitzen in ihren Augen. »Geh schon mal vor«, sagte sie. »Ich komme in ein paar Minuten nach.«

Leitner sah zu dem Tisch mit den Damen, dann zu Agathe. Da er nicht genau zu wissen schien, was die vier Frauen mit ihrem Wunsch, im Café zu bleiben, zu tun hatten, murmelte er nur: »Okay… dann schau ich eben schon mal allein, ob ich was rausfinden kann, was uns weiterhilft«, und verließ zögernd das Café Schuierer.

Agathe kratzte mit ihrem Löffel auch noch das letzte bisschen Schaum ihres Cappuccinos vom Tassenrand, während sie aus dem Augenwinkel das Frauenquartett beobachtete. Offenbar– das hatte sie schon vorhin bemerkt– stand eine von ihnen im Mittelpunkt. Agathe schätzte sie auf etwas über siebzig Jahre. Sie machte ihren strengen Mund, den Agathe bisher noch nicht lächeln gesehen hatte, beim Sprechen nicht weit auf. Ihr volles Haar, das mehr grau als schwarz war, war in einer schwungvollen Welle frisiert. Eine elegante Frisur, die nicht so recht zu ihrem Gesicht mit den fast aus den Höhlen quellenden Augen und den vielen Warzen passen wollte. Und auch der Rest ihres Körpers glich mit seinen deutlichen Rundungen eher dem einer Kröte.

»Man möchte nicht glauben, was den Menschen alles einfällt«, sagte die Frau gerade zu ihren Begleiterinnen. »Einen Toten im Straßenbett zu vergraben…« Mit der Erhabenheit– oder war es eher Überheblichkeit?– einer Dame von Welt, die eigentlich schon alles gesehen hat, schüttelte sie den Kopf und begann, die Speisekarte zu studieren.

»Wirklich schrecklich«, pflichtete ihr eine andere Frau bei. »Die Zeitungen sind ja voll von Schauergeschichten aus aller Welt, aber dass so etwas hier passiert? Bei uns in Schwandorf? Das ist schon ein sehr starkes Stück!«

Auf Agathe wirkte es so, als bestünde die Hauptaufgabe der hageren Frau darin, der anderen wortreich recht zu geben.

»Ein Kännchen Kaffee!«, orderte die Hagere mit fester Stimme.

Agathe wusste nicht, woher ihr Gefühl kam, aber sie bezweifelte, dass diese Frau ohne die drei anderen am Tisch ihre Bestellung ebenso laut durch das Café gerufen hätte. Sie trug ihr glattes graues Haar burschikos kurz, eine durch und durch praktische Frisur ohne jeden Pfiff. Ihre langweilige Bluse hing an ihrem hageren Körper wie ein Sack. Sosehr Agathe sich auch bemühte, sie wohlwollend zu betrachten, sie konnte an dieser Frau nichts Attraktives finden.

Die Krötenfrau schien sich von ihrer Tischgenossin bestätigt zu fühlen und fuhr mit Verve fort: »Zu meiner Zeit wäre so etwas hier nie passiert. Aber heute? Man muss sich doch nur mal umschauen, was jetzt alles bei uns wohnt, dann ist einem so einiges klar. Man erkennt ja seine eigene Stadt nicht wieder.«

»Da hast du recht! Überall diese… Leute«, sagte die hagere Frau.

»Aber an grausamen Geschichten hat’s bei uns in der Gegend doch auch früher nicht gemangelt«, mischte sich jetzt die dritte Dame ins Gespräch ein. »Ich könnte euch Sachen erzählen, da würdet ihr blass werden.«

Die Krötenfrau zog abschätzig die Mundwinkel nach unten und schüttelte den Kopf. »Vielleicht draußen auf den Dörfern, da kennst du dich ja besser aus als ich. Aber hier in Schwandorf gab es kaum Skandale.«

»Hm«, machte die dritte Frau gedehnt und verfiel dann wieder in Schweigen.