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Spannung mit Hund, Herz und Humor. Eigentlich hatte Ria nicht geplant, die Autowerkstatt ihres Großvaters zu übernehmen. Doch als ihr Opa völlig unerwartet stirbt, kann sie dieses Erbe nicht ablehnen. Mit dem einsam gelegenen Betrieb kommen einige Herausforderungen auf sie zu: Der Mieter im Dachgeschoss macht einen fragwürdigen Eindruck, sie erhält Drohbriefe, und ihr Hund wird fast vergiftet. Ria kommen zunehmend Zweifel, ob ihr Großvater wirklich an einem Herzstillstand gestorben ist. Der zuständige Kommissar, der genauso stur wie attraktiv ist, nimmt ihre Bedenken zunächst nicht ernst – bis Ria in eine perfide Falle gelockt wird.
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Seitenzahl: 357
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Schon seit sie acht Jahre alt ist, schreibt Janine Meester Geschichten und liebt unterhaltsame Literatur. Auch die Musik hat sie immer fasziniert, daher schloss sie neben dem Psychologiestudium eine Gesangsausbildung ab. Zurzeit arbeitet sie in einer Agentur in der Weiterbildungsbranche und bildet sich zur Therapeutin weiter. Privat hat sie sich dem Schreiben von Romanen gewidmet, lebt mit ihrem Partner im Bergischen Land und reist gerne – am liebsten ans Meer.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: istockphoto.com/Filippo Carlot
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Dr. Marion Heister
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-965-5
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Verlagsagentur Lianne Kolf, München.
Für Dich, Mama.Danke für die Wurzeln und die Flügel.
In ausgebeulter Jogginghose und einem Shirt, das seine besten Zeiten hinter sich hatte, stand er in der geöffneten Wohnungstür.
»Hallo«, sagte Ria und unterdrückte ein Gähnen. »Entschuldige, dass es so spät geworden ist. Ich habe lange im Stau gestanden.«
»Is okay.«
»Ich könnte Bruno dann mitnehmen.«
Sie tätschelte dem großen, schwarzbraunen Hund den Kopf, der sie neugierig beschnupperte. Ihr Nachbar wandte sich ab und nahm eine Leine von der Garderobe, die neben ihm an der Wand hing.
»Ich bringe den Rest von Brunos Kram gleich runter«, bot er an.
»Das wäre prima.« Ria nahm die Leine entgegen. »Vielen Dank, dass du dich in den letzten Wochen um ihn gekümmert hast. Das war mir eine große Hilfe.«
Simon blickte auf den Boden, als wäre ihm ihr Dank unangenehm.
»Und gib mir doch bitte Bescheid, welche Ausgaben du für ihn hattest. Die erstatte ich dir natürlich.«
»Nicht nötig.«
»Ich bestehe aber darauf. Er frisst ja nicht gerade wenig. Na dann, komm, Bruno«, sagte Ria und wandte sich zum Gehen, doch Bruno blieb sitzen und drehte seinen Kopf zu Simon.
»Komm schon, Großer«, lockte Ria ihn erneut. »Ab sofort wohnst du wieder in deinem alten Zuhause.« Sie bewegte sich auf die Treppe zu, aber auch das beeindruckte Bruno nicht. Simon deutete auf die Leine, die er ihr gegeben hatte.
»Verstehe«, brummte Ria und machte die Leine an Brunos Geschirr fest.
Doch erst als sie mit etwas mehr Kraft an der Leine zog, setzte er sich in Bewegung. Leider hatte ihr Opa Konrad nicht viel Wert auf Brunos Erziehung gelegt. Er hatte den Hund angeschafft, damit er auf dem Hof und im Haus wachte, und das tat der Hovawartmischling, dem das Wachen in den Genen lag. Mehr hatte ihr Opa nie von seinem vierbeinigen Mitbewohner verlangt.
Im Erdgeschoss angekommen, zog Ria den widerwilligen Bruno in die Wohnung und ließ die Tür offen stehen, da sie Simons Schritte hinter sich auf der Treppe hörte.
»Das ist alles für den Hund?« Erstaunt blickte sie auf zwei riesige Taschen, die ihr Nachbar in den Händen hielt.
Er nickte und wirkte etwas außer Atem.
»Wow. Bruno hat ja fast mehr Gepäck als ich.« Ria schob ihre eigenen Reisetaschen zur Seite, die sie kurz zuvor im Flur abgestellt hatte.
»Wohin?«, wollte Simon wissen.
Ratlos blickte sie sich um und stieß die Tür zu der geräumigen Wohnküche auf. »Am besten dorthin, hier im Flur ist ja alles voll.«
Simon folgte ihrem Vorschlag und schien plötzlich nicht mehr zu wissen, wohin mit seinen leeren Händen. Verlegen guckte er auf den Boden und fuhr sich durch die kinnlangen Haare.
»Vielen Dank noch mal fürs Kümmern. Und denk bitte an die Ausgaben.«
»Is okay. Bis dann.« Er hob kurz die Hand zum Abschied und verließ fast fluchtartig die Wohnung.
Ein Ruck an ihrer Schulter erinnerte Ria daran, dass sie noch immer Bruno an der Leine hielt.
»Du bleibst hier.«
Sie schlug die Tür hinter Simon zu, damit sie Bruno von der Leine lassen konnte. Endlich wieder in Freiheit, setzte der Wachhund sich vor die Wohnungstür und warf Ria einen leidenden Blick zu. Sie wandte sich ab, denn sie wollte nicht weich werden bei den traurig blickenden Hundeaugen. Auch ihr würde es schwerfallen, sich hier wieder einzuleben und mit der neuen Situation zurechtzukommen – da mussten sie nun beide durch.
Obwohl sie vor ein paar Jahren nur wegen ihres Ex-Freundes an die Ostsee gezogen war, hatte sie nach der Trennung nicht geplant, wieder in ihre alte Heimat ins Bergische Land zurückzukehren. Doch die Nachricht vom überraschenden Tod ihres Opas hatte alles auf den Kopf gestellt. Er hatte ihr nicht nur das Zweifamilienhaus vererbt, sondern auch die nebenliegende Kfz-Werkstatt und das riesige Grundstück. Nun war sie also wieder in dem Haus, in dem sie aufgewachsen war, denn nach dem viel zu frühen Tod ihrer Eltern hatten ihre Großeltern sie hier aufgezogen.
Bruno leckte an ihrer Hand, und das erinnerte Ria an die Taschen, die sie auspacken musste. Vielleicht hatte der arme Kerl Durst. Sie suchte nach den Hundenäpfen und hatte ihm gerade etwas Wasser hingestellt, als jemand an die Wohnungstür klopfte. Ein Blick durch den Türspion zeigte ihr, dass Simon der späte Besucher war.
»Hi, hast du noch Sachen vergessen?«, fragte Ria und wurde fast von Bruno umgerannt, der auf Simon zustürmte, als hätte er den Mann seit Wochen nicht gesehen.
»… noch mal ’ne Runde gehen?«
Sie brauchte einen Moment, um zu verstehen, was Simon genuschelt hatte.
»Oh … klar, gerne. Ich glaube, an mich muss er sich erst wieder gewöhnen.«
Simon erwiderte nichts, also wollte Ria ihm die Leine in die Hand drücken, statt ihn zum Small Talk zu zwingen, doch er winkte ab.
»Brauch ich nicht.« Er nickte Bruno zu. »Komm.«
Verblüfft starrte Ria Bruno hinterher, der Simon artig nach draußen folgte, dann ging sie zum Küchenfenster, durch das sie auf den Hof blicken konnte. Tatsächlich lief Bruno noch immer brav an Simons Seite, sogar noch, als Simon im Laufschritt Richtung Wald abbog. Vielleicht musste sie wirklich kein schlechtes Gewissen haben, dass Simon sich die letzten Wochen um Bruno gekümmert hatte. Offenbar waren die beiden bestens miteinander zurechtgekommen.
Ihr Blick fiel auf die nebenliegende Werkstatt. Eigentlich war es kein Wunder, dass ihr Opa sich einen Wachhund angeschafft hatte, denn das Haus und die Werkstatt waren sehr abgelegen. Es gab keine direkten Nachbarhäuser und nicht mal welche in Sichtweite, da durch die vielen kleinen Wäldchen der Blick auf das am nächsten liegende Wohnhaus versperrt war. Vielleicht war das auch der Grund dafür gewesen, dass ihr Opa vor einigen Monaten mit Simon wieder einen Mieter in der oberen Etage aufgenommen hatte. Zuvor hatte die Wohnung für längere Zeit leer gestanden.
Eine Weile hing sie ihren Gedanken nach, bis sie sah, dass Simon mit Bruno zurückkam. Rasch wandte sie sich vom Fenster ab. Sie wollte nicht, dass er sich beobachtet vorkam, auch wenn sie durchaus neugierig auf den Mann war, mit dem sie sich ab sofort das Zweifamilienhaus teilen würde.
Mit einem lauten Gähnen warf sie die Post auf den Küchentisch und schaltete die Kaffeemaschine ein. Koffein hatte sie an diesem Mittag dringend nötig, und der Kaffee in ihrer Küche schmeckte deutlich besser als das Gebräu aus der kleinen Werkstattküche. Am Abend zuvor hatte sie noch lange mit Erik zusammengesessen, um mit ihm über die Werkstatt zu sprechen, und anschließend noch viel zu lange grübelnd wach gelegen. Dieser Schlafmangel rächte sich nun.
Zwar hatten sie und Erik in den letzten Wochen oft telefoniert, damit Ria auf dem Laufenden blieb, aber es war gut gewesen, endlich mal persönlich miteinander zu sprechen. Immerhin hatte Erik sich vor Ort um alles gekümmert, während Ria damit beschäftigt gewesen war, ihren Job in Lübeck zu kündigen, die Erbschaftsangelegenheiten zu regeln und den Umzug zu organisieren. Als ausgebildete Kfz-Mechatronikerin kannte sie sich mit Autos und Motorrädern bestens aus, aber in der Führung einer Werkstatt war sie Neuling, auch wenn sie nach ihrer Ausbildung eine Weile an der Seite ihres Opas gearbeitet hatte. Außerdem musste sie sich an die Rolle der Chefin erst noch gewöhnen und konnte nur hoffen, dass sie dieser gerecht werden würde. Es war ihr sehr wichtig, Erik weiterhin als Mitarbeiter zu behalten, also musste sie dafür sorgen, dass die Werkstatt zukünftig auch ohne ihren Opa, der über die Stadtgrenzen hinaus einen ausgezeichneten Ruf gehabt hatte, genügend Kunden anlockte.
Als endlich der duftende Kaffee vor ihr stand, griff sie nach den Briefen und stellte wehmütig fest, dass noch immer Post für ihren Opa ankam. Den Werbeflyer eines Reiseanbieters warf sie in den Papierkorb, denn zum Reisen hatte sie vorerst keine Zeit. Den Brief mit Rabattaktionen eines Möbelhauses behielt sie jedoch. Abgesehen von ihrem Schlafzimmer war der Rest der Wohnung im Stil ihres Großvaters eingerichtet. Sicherlich würde sie das eine oder andere Möbelstück behalten, aber wenn sie sich auf Dauer in der Wohnung wohlfühlen wollte, ging das nicht ohne ein wenig Veränderung.
Ein weiterer Brief sah nicht nach Werbung aus, denn es fehlte der Absender. Neugierig öffnete Ria das Kuvert, las, stutzte und las die Zeilen noch einmal.
Verschwinde aus dieser Stadt! Sonst passiert etwas, das du bereuen wirst!
Ein ungutes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. Sie war gerade einmal den vierten Tag zurück in dieser Stadt. Wer sollte etwas gegen ihre Anwesenheit haben? Sie prüfte auf dem Umschlag, ob der Brief wirklich an sie adressiert war. Vielleicht hatte sich die Postbotin beim Einwerfen der Briefe vertan. Doch das hatte sie nicht – es waren ganz eindeutig ihr Name und ihre Anschrift, die auf dem Umschlag standen. Ratlos blickte sie auf das DIN-A4-Blatt, auf dem nur die Drohung stand, die Rückseite war leer. Ria konnte sich keinen Reim darauf machen. Wieso sollte sie verschwinden? Und was würde denn passieren, wenn sie blieb?
Sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass es nur ein verärgerter Kunde war, der seiner Wut mit der Drohung Luft gemacht hatte. Oder es war einfach ein dummer Scherz, der sich bald auflösen würde. Ria steckte den Brief zurück in den Umschlag. Am liebsten hätte sie das Schreiben verbrannt, doch ihr Gefühl sagte ihr, dass sie den Brief besser aufbewahren sollte. Um nicht ständig an die unangenehme Nachricht erinnert zu werden, warf sie den Brief mitsamt Umschlag in eine der Küchenschubladen, die sie selten benutzte. Zwar war ihr der Appetit vergangen, dennoch zwang sie sich, ein wenig Müsli zu essen, da ihr Magen knurrte und sie fit sein musste für die zweite Tageshälfte.
Als sie zurück in die Werkstatt ging, durfte Bruno sie begleiten, der vormittags allein in der Wohnung gewesen war. Plötzlich fühlte es sich besser an, einen Wachhund an ihrer Seite zu haben, auch wenn Bruno sogar auf dem kurzen Weg zur Werkstatt wie verrückt an der Leine zog.
»Stört es dich, wenn Bruno in der Werkstatt herumläuft?«, erkundigte sie sich bei Erik, der gerade eine leere Fast-Food-Tüte entsorgte, als sie ihn in der Küche der Werkstatt antraf.
»Nee, bin ich ja gewohnt. Wir müssen dann nur die Glastür zum Kundenbereich zuhalten, damit er die Kunden nicht erschreckt.« Er warf Bruno einen strengen Blick zu. »Ist nämlich schon passiert. Am besten bleibt er hinten bei uns, wenn wir arbeiten.«
»Klar, ich achte darauf«, versprach Ria, die ebenso wenig wollte, dass Bruno irgendwelche Kunden verschreckte.
Das konnten sie zurzeit ganz sicher nicht gebrauchen. Außerdem war der Arbeitsbereich mit der langen Arbeitstheke und den beiden Hebebühnen geräumiger als der Empfangsbereich, sodass Bruno dort mehr Platz hatte, ohne ständig irgendwem im Weg zu liegen. Im Kundenbereich gab es nur die Empfangstheke mit dem Rechner, zwei Regale mit Auto- und Motorradzubehör sowie eine kleine Sitzecke für Kunden, die lieber auf ihr Auto warten wollten, statt sich einen der beiden Leihwagen zu mieten.
»Sag mal, Erik, gab es in letzter Zeit irgendwelche Probleme mit Kunden?«, wollte Ria möglichst beiläufig wissen, während sie ihre mittellangen braunen Haare zu einem Zopf band.
»Wieso? Hat sich jemand beschwert?« Ein Anflug von Ärger huschte über das Gesicht ihres Mitarbeiters.
»Nein, das nicht. Ich dachte nur … ach, egal.« Sie winkte ab, doch Erik blickte sie mit seinen dunklen Augen aufmerksam an und sah nicht so aus, als würde er sich so einfach abspeisen lassen.
»Wenn sich jemand über mich beschwert hat, würde ich das gerne wissen.«
»Es hat sich keiner beschwert«, versicherte sie ihm. »Aber ich habe einen anonymen Brief bekommen, in dem steht, dass ich aus der Stadt verschwinden soll.«
Erik blinzelte. »Was?«
»Keine Ahnung, was das soll. Ich dachte, vielleicht ist irgendein Kunde wütend wegen …« Sie hob ratlos die Arme. »Was weiß ich, wegen einer zu hohen Rechnung oder weil er mit einer Reparatur unzufrieden ist.«
»Nee. Da war nix. Zumindest nicht, dass ich wüsste.«
»Na ja, vermutlich hat es nichts zu bedeuten«, sprach sie sich selbst Mut zu. »Wahrscheinlich ist es nur ein blöder Scherz.«
Erik warf ihr einen zweifelnden Blick zu. »Vielleicht fragst du mal Simon.«
»Simon?«
»Der hat doch bis vor Kurzem im Knast gesessen.«
Betroffen blickte Ria ihn an.
»Du wusstest das nicht«, stellte Erik fest, ohne seine Überraschung zu verbergen.
»Nein.«
»Ach. Krass, dass Konrad dir das nicht erzählt hat. Ist wohl grad erst wieder raus und drüben eingezogen.«
»Du weißt nicht zufällig, warum er im Gefängnis war?«
»Keine Ahnung. Aber immerhin lange genug, um da ’ne Lehre zum Schreiner zu machen. Mehr weiß ich nicht.« Er zuckte die Schultern.
»Das ist ja eine gute Sache.«
Verwundert sah er sie an.
»Also das mit der Lehre, meine ich«, schob sie nach. Die Ausbildung war wirklich eine gute Sache. Andererseits war es nicht so gut, dass Simon lange genug im Gefängnis gewesen war, um dort eine Ausbildung abzuschließen.
»Wie man’s nimmt«, meinte Erik, griff nach einem Apfel und verließ die Küche.
Nachdenklich blickte Ria ihm nach.
Erik hatte sich schon in den Feierabend verabschiedet, also saß Ria gegen Abend allein in der Werkstatt und starrte auf ihren Laptop. Bruno lag neben ihr, während sie die Termine für die restliche Woche durchging. Da die Werkstatt geschlossen war, konnte Bruno keine Kunden mehr anbellen, die es wagten, unerlaubt sein Territorium zu betreten.
Ria griff in die mit Schokolade gefüllte Glasschüssel, die auf dem Empfangstresen stand, um den Kunden die Wartezeit zu versüßen. Sie schmunzelte, während sie den Schokoriegel auspackte. Nicht nur die Kunden hatten sich damit die Zeit versüßt. Ihr Opa war immer eine Naschkatze gewesen, und sie nahm sich vor, bald Nachschub zu holen, denn diese Tradition würde sie auf jeden Fall bewahren. Angelockt durch das Knistern legte Bruno ihr seinen Kopf auf das Knie und sabberte auf ihre Jeans.
»Zeit fürs Fresschen, was?« Ria tätschelte ihm den Kopf und klappte ihren Laptop zu.
Ihre beste Freundin Natalie, die als Informatikerin in Lübeck arbeitete, hatte ihr das Gerät extra für die Werkstatt eingerichtet, damit Ria auch mal von ihrer Wohnung aus arbeiten konnte. So musste sie nicht für jede Kleinigkeit in die Werkstatt rübergehen.
Sie knipste das Licht aus, und Bruno folgte ihr durch den schmalen Flur zum Hinterausgang, wo Ria ihn an die Leine nahm. Prompt fing der große Hund wieder zu ziehen an, sodass selbst das Abschließen der Hintertür zu einer Herausforderung wurde.
»Mann, Bruno!«
Ria blieb stehen. Sie hatten erst wenige Schritte in Richtung der Wohnung gemacht, doch langsam wurde sie wirklich sauer, denn fast wäre ihr die Laptoptasche von der Schulter gerutscht, weil sie dem Hund hinterherstolperte. Bruno drehte sich um, sah kurz zu ihr, dann zog er weiter. Klar, es war seine Zeit fürs Fressen, doch so konnte es nicht weitergehen. Er musste lernen, sich an der Leine ihrem Tempo anzupassen. Ria blieb stehen, und Bruno jammerte.
»Alles okay?«
Ria drehte sich erschrocken um. Sie hatte überhaupt nicht bemerkt, dass jemand hinter ihr war, und musste sofort an den Brief denken, den sie mittags erhalten hatte.
»Toller Wachhund«, brummte sie, während Bruno ihren Nachbarn freudig begrüßte. »Was heißt ›okay‹?«, sagte sie dann an Simon gerichtet. »Bei mir zieht Bruno wie verrückt an der Leine.«
Simon strich sich eine dunkelblonde Haarsträhne aus der Stirn und sah sie ratlos an. Da Bruno endlich aufhörte zu ziehen, setzte Ria sich wieder in Bewegung, woraufhin auch Bruno wieder Gas gab.
»Siehst du! Ich weiß gar nicht, wie du das ohne Leine machst. Ist er dir nie abgehauen?«
»Nee.«
»Dann mache ich wohl irgendwas falsch.« Ganz sicher würde sie nicht testen, ob Bruno auch ihr ohne Leine folgen würde. Es hätte ihr gerade noch gefehlt, wenn er einfach losrannte und sie ihn dann im angrenzenden Wald würde suchen müssen.
Simon schwieg vorsichtshalber und schloss die Haustür auf, die er Ria aufhielt, doch Bruno drängelte sich als Erster in den Flur.
»Danke«, sagte Ria und war einen Moment versucht, ihren Nachbarn auf seine Gefängnisstrafe anzusprechen. Andererseits ging sie das nichts an, und sicherlich war ihm das Thema unangenehm. Also verabschiedete sie sich und versorgte den hungrigen Bruno mit seiner abendlichen Futterportion.
Ihr selbst war nicht nach Essen zumute, denn der Drohbrief lag ihr noch immer schwer im Magen. Sie warf einen säuerlichen Blick auf die Küchenschublade, in der sie den Brief verstaut hatte, dann klappte sie ihren Laptop auf, öffnete eine Suchmaschine und tippte die Begriffe »Straftat« und »Dauer Freiheitsstrafe« ein. Sie musste keine Sekunde warten, schon wurden ihr mehr als eine Million Ergebnisse angezeigt.
Die ersten Links führten sie zu Anwaltsseiten und Foren für Juristen. Doch trotz der zahlreichen Informationen war es gar nicht so einfach herauszufinden, für welche Straftat es welches Strafmaß gab. Das Alter des Täters spielte eine Rolle, ebenso mögliche Vorstrafen, ob der Täter Reue zeigte, zur Zeit der Straftat unter Drogeneinfluss stand und einiges mehr.
Ria überlegte, ob sie noch weiter recherchieren sollte, fühlte sich aber plötzlich schäbig. Offensichtlich hatte ihr Opa aus gutem Grund über Simons Vergangenheit geschwiegen, denn nun, da sie von seiner Verurteilung wusste, war sie besorgt, und zig Vorurteile schwirrten ihr im Kopf herum. Es war auch nicht gerade hilfreich, dass Simon jedem Augenkontakt auswich und kein Small Talk möglich war, um ihn besser kennenzulernen. Aber vielleicht war er einfach bloß schüchtern.
Sie griff nach ihrem Smartphone und rief Natalie an, denn sie musste sich einiges von der Seele reden, und ihre beste Freundin war schon immer eine gute Zuhörerin gewesen.
»Ich fass es nicht«, meinte Natalie, nachdem Ria ihre Erzählung beendet hatte. »Das ist echt das Letzte, dass dir jemand einen Drohbrief schickt! Aber dein Nachbar als Täter? Das wäre ja schön blöd von ihm!«
»Das denke ich eigentlich auch. Ich habe ihm ja keinen Ärger gemacht und Eigenbedarf angemeldet oder so.«
»Hast du ihm die Miete denn erhöht? Du hattest dich doch gewundert, dass die so niedrig ist.«
»Dass die so niedrig ist, wundert mich noch immer, aber ich habe sie nicht erhöht. Ich will mich ja nicht gleich unbeliebt machen.« Sie seufzte. »Und vermutlich war es auch gar nicht so leicht, für die abgelegene Ecke hier einen Mieter zu finden.«
»Da hast du wohl recht. Ich meine, es ist echt schön bei euch, aber ich glaube, mir wäre es auch zu abgelegen«, gab Natalie zu. »Und ohne Auto ist man aufgeschmissen.«
»Ja, das stimmt, aber Parkplätze haben wir hier auf dem Hof dafür genug.« Ria seufzte. »Eigentlich bin ich ganz froh, dass ich nicht allein hier wohne. Zumindest war ich das, bis ich wusste, dass Simon im Gefängnis gesessen hat.«
»Na ja, nur weil er irgendwann mal Mist gebaut hat, heißt das nicht, dass er immer noch kriminell ist.«
»Das will ich zumindest hoffen.«
»Vielleicht hat er bloß mal was Größeres geklaut oder so.«
»Bloß mal?«
»Das ist besser als Körperverletzung, Vergewaltigung und Mord oder so was.«
»Sehr aufmunternd, danke.«
»Du weißt doch, wie ich es meine. Außerdem sitzt man für einen Mord viel länger.«
»Für Mord schon, für Totschlag aber nicht, da sind die Haftzeiten deutlich kürzer.« So viel hatte sie immerhin bei ihrer Recherche herausgefunden.
»Was ist denn da der Unterschied?«
»Das ist ganz schön kompliziert, da spielt das Motiv eine Rolle«, erklärte Ria. »Das ist bei einem Mord besonders verwerflich und bei Totschlag nicht.«
»Aha«, sagte Natalie, klang aber nicht so, als hätte sie den Unterschied wirklich verstanden.
»Ich frage mich, ob Opa Bescheid wusste, warum Simon im Gefängnis war.«
»Und wenn er es wusste, hätte er sicherlich nie jemanden einziehen lassen, der dir gefährlich werden könnte.«
»Aber Opa wusste ja nicht, dass ich so bald hier wohnen würde.«
»Du hast ihn aber regelmäßig besucht. Ich glaube also nicht, dass er einen Mörder, Totschläger oder Vergewaltiger als Mieter aufgenommen hätte.«
»Simon könnte meinen Opa angelogen haben.«
»Frag Simon halt, wenn du dir deswegen Gedanken machst.«
»Sicher nicht!«
»Warum nicht?«
»Er soll nicht glauben, dass ich schlecht von ihm denke.«
Das brachte Natalie zum Lachen. »Aber genau das tust du doch. Schaff es halt aus der Welt.«
»Nein. Du hast ja recht. Wenn er entlassen wurde, ist das Vergangenheit, und ich sollte dem Urteil meines Opas trauen. Außerdem hat Simon sich wirklich gut um Bruno gekümmert. Bruno mag ihn sogar mehr als mich. Und er hört auch viel besser auf ihn«, gab sie äußerst ungern zu.
»Na dann, gib ihm eine Chance.«
»Wem? Bruno oder Simon?«
»Beiden eigentlich. Ich sollte dich wohl bald mal besuchen kommen.«
»Möchtest du dann wieder eine Radtour mit mir machen?«, frotzelte Ria.
»Ja, ja, amüsiere dich nur! Ich habe halt die Berge bei euch unterschätzt, na und?«
Ria lachte. Natalie hatte auf gar keinen Fall auf einem E-Bike fahren wollen, weil das ihrer Meinung nach nur für alte Leute gedacht und peinlich war. Nach einer dreistündigen Radtour im Bergischen Land hatte Natalie ihre Entscheidung allerdings bitter bereut.
»Radfahren kannst du nächstes Mal allein. Ich will dann lieber deinen mysteriösen Nachbarn genauer unter die Lupe nehmen. Als ich wegen der Beerdigung bei dir war, war dafür ja kaum Zeit.« Sie seufzte. »Tut mir leid, ich wollte dich daran nicht erinnern.«
»Schon in Ordnung.«
»Aber so vom ersten Eindruck her ist dein Nachbar eigentlich ein recht heißer Typ. Und wirklich unheimlich wirkte er nicht.«
»Heißer Typ?«, fragte Ria ungläubig. »Du hast ihn doch bloß kurz gesehen, als du wegen der Beerdigung hier warst.«
»Ja, und ich fand, er hat was. Stell ihn dir doch mal mit einem anderen Haarschnitt und vernünftigen Klamotten vor.« Natalie kicherte. »Oder nackt.«
»Sehr witzig!«
»Aber mal ehrlich, wenn du dir Sorgen machst, dann komm doch wieder zurück. Zumindest vorübergehend. Du könntest bei mir wohnen.«
»Ich kann doch nicht alles stehen und liegen lassen wegen eines blöden Briefes.«
»Ich glaube, ich hätte deswegen schon ein bisschen die Hosen voll«, gab Natalie zu. »Du kannst ja einfach Urlaub machen.«
»Ich bin doch gerade erst wieder hier. Ich kann Erik nicht schon wieder mit der Werkstatt alleinlassen.« Ria dachte an den gut gefüllten Terminkalender ab der nächsten Woche.
»Ja, das verstehe ich. Obwohl er ja anscheinend ganz gut zurechtgekommen ist.« Natalie schwieg einen Moment. »Aber dann pass auf dich auf, nur für den Fall, dass der Brief doch kein blöder Scherz ist. Vielleicht hegt ja ein Ex-Freund noch einen Groll gegen dich.«
»Haha. So viele Ex-Freunde gibt es nicht. Opa hat immer dafür gesorgt, dass ich gut in der Werkstatt beschäftigt war. Und mit keinem gab es Ärger.«
»Vielleicht ist es auch nur eine Verwechslung, und der Brief ist gar nicht für dich.«
»Es stand aber mein Name auf dem Umschlag.«
»Es gibt bestimmt einige Frauen, die so heißen wie du. Vielleicht hat der anonyme Absender bloß die falsche Adresse erwischt.«
»Ich bin mir gerade nicht sicher: Willst du mich nun beruhigen oder dafür sorgen, dass ich auf mich aufpasse?«
»Ich fürchte, das weiß ich selbst nicht so genau. Aber so vorsichtshalber … vielleicht hat der Bad Boy ja eine Waffe unter seinem Bett, die er dir leihen kann.«
»Das will ich nicht hoffen«, murmelte Ria, die lieber keine Waffe in ihrem Haus haben wollte. Schon gar nicht, solange sie nicht wusste, wie vertrauenswürdig Simon war. Noch hatte sie keine Ahnung, wer hinter diesem Brief steckte, also konnte sie nicht ausschließen, dass Simon etwas damit zu tun hatte.
»Mach dich nicht verrückt und melde dich, wenn irgendwas ist, okay?«
»Das mache ich. Und außerdem habe ich ja Bruno.«
Ria warf ihrem Hund einen zweifelnden Blick zu, der friedlich auf seiner Hundedecke lag, leise schnarchte und ausgerechnet der beste Kumpel des Mannes war, der am ehesten als Absender des Briefes in Frage kam.
»Lange Nacht gehabt?«, fragte Erik mit einem Augenzwinkern, als er Ria vormittags mit dem zweiten Becher Kaffee in der Werkstattküche erwischte.
»Kann man so sagen«, brummte Ria, denn der Drohbrief hatte ihr inzwischen schon zwei unruhige Nächte beschert.
»Hauptsache, du bist fit für den Caruso. Der ist ja eh so pingelig mit seinen Autos.«
Ria nickte. »Ich bin fit genug.«
Erik hatte sie bereits vorgewarnt, dass Edoardo Caruso ein extravaganter Kunde mit einer Oldtimersammlung war, um die sich nur Rias Opa hatte kümmern dürfen. Offensichtlich war dem Kunden zu Ohren gekommen, dass nun Konrads Enkelin für die Reparatur und Wartung älterer Fahrzeuge zuständig war, und hatte einen Termin bei ihr vereinbart. Laut Erik hatte der Kunde am Telefon ausdrücklich darauf bestanden, dass sich nur Fräulein Mertens seines Wagens annehmen dürfe.
»Gönn dir vielleicht besser Schnaps als Kaffee«, schlug Erik mit einem breiten Grinsen vor.
Ria räumte den leeren Kaffeebecher in den Geschirrspüler. »So wie der Kaffee hier schmeckt, ist das gar keine schlechte Idee. Ich werde mal eine neue Kaffeemaschine bestellen.«
»Ich finde den Geschmack eigentlich okay.«
»Warte ab, bis du den anderen Kaffee probiert hast.«
»Okay.« Erik streckte den Kopf aus der Küche, als Motorengeräusche zu hören waren. »Ah, da kommt der Herr schon.«
Ria stellte sich neben ihn, um ebenfalls auf den Hof blicken zu können, und stieß einen Seufzer aus, als sie den Oldtimer erblickte. Sie liebte diese alten Autos und war froh, dass sie trotz des Schlafmangels gut in den Werkstattrhythmus zurückgefunden hatte.
Doch zu ihrer Überraschung war der Oldtimer nicht das einzige Fahrzeug, das auf den Hof fuhr. Hinter dem Chrysler 300 Cabrio aus den sechziger Jahren rollte eine schwarze, moderne Limousine mit getönten Scheiben auf den Hof. Während in dem Oldtimer nur ein Mann in den Fünfzigern saß, stiegen aus der Limousine zwei jüngere Männer aus. Der Fahrer trug einen schicken schwarzen Anzug und blieb neben der Limousine stehen, der Beifahrer trug mit Jeans und einem weißen Hemd legerere Kleidung. Als der Fahrer des Oldtimers ausstieg und in Richtung der Werkstatt ging, folgte der Mann in Jeans ihm.
»Ach du Scheiße, jetzt taucht der wieder mit seinem Bodyguard hier auf«, murrte Erik. »Ich verdrück mich dann mal nach hinten.«
Er schnappte sich die Auftragskladde vom Tresen und entfernte sich eilig.
Rias Herz klopfte ein bisschen schneller, als der jüngere Mann die Eingangstür öffnete und sie für den Oldtimerfahrer aufhielt. Mit strammen Schritten marschierte der ältere Mann in einer braunen Cordhose und einem passenden Jackett, das eigentlich zu warm für das Wetter war, auf Ria zu.
»Schönen guten Tag.«
Ria ging ihm entgegen. »Guten Tag, Herr Caruso.« Sein Händedruck war unangenehm kräftig.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen.«
Ria lächelte. »Ich habe schon viel über Ihre Oldtimersammlung gehört.«
Das war geflunkert, aber immerhin hatte Erik ihr ein wenig über Caruso erzählt, und sie hatte sich in der Kundendatenbank schlaugemacht, welche Autos ihr Opa schon für ihn gewartet oder repariert hatte.
»Das freut mich.« Caruso erwiderte ihr Lächeln. »Nun, wie Sie sehen, steht da draußen schon das Schätzchen.«
Er drehte sich um in Richtung Tür, und Ria folgte ihm nach draußen. Der Bodyguard, falls es denn wirklich einer war, verzog keine Miene, als Ria ihm im Vorbeigehen freundlich zunickte.
Auf dem Hof umrundete Ria das Auto und ließ sich Zeit mit der Begutachtung.
»Auf den ersten Blick macht der Chrysler einen sehr gepflegten Eindruck.«
Caruso nickte zufrieden.
»Es ist der 300, nicht der 300H«, stellte sie fest. »Obwohl es die Radkappen vom H-Modell sind.«
Erstaunt blickte er sie an. »Ich sehe, Sie kennen sich aus.«
»Das liegt wohl in den Genen. Ich habe gesehen, dass der Wagen bisher noch nicht bei uns in der Werkstatt war.«
»Das ist richtig. Ich habe den Wagen erst vor zwei Monaten gekauft. Normalerweise habe ich mir vorher gerne die Meinung Ihres Großvaters eingeholt, aber dies war nun aufgrund der bedauerlichen Umstände leider nicht mehr möglich.«
Ria nickte bedrückt, und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie Caruso bereits auf der Beerdigung ihres Großvaters in der Kirche gesehen hatte.
»Der Wagen fährt sich gut«, erzählte er. »Sofern ich das als Laie beurteilen kann, versteht sich. Aber ich hätte gerne eine professionelle Meinung, ob mit dem Schätzchen wirklich alles in Ordnung ist.«
»Sicher«, sagte Ria. »Ich kümmere mich gleich darum und rufe Sie an, wenn der Wagen zur Abholung bereit ist. Sollte alles in Ordnung sein, dürfte es nicht lange dauern.« Sie blickte zu der schwarzen Limousine, neben der noch immer der Chauffeur stand und wartete. »Einen Leihwagen brauchen Sie wohl nicht?«
»Nein. Aber wenn es Sie nicht stört …« Er winkte den jüngeren Mann in Jeans heran. »Dann würde mein Mitarbeiter gerne ein wenig zusehen, wenn Sie den Chrysler inspizieren.«
Ria hatte sich immer eingebildet, ein gutes Pokerface zu haben, doch in diesem Moment konnte sie nicht verhindern, dass ihre Augenbrauen nach oben zuckten.
Caruso räusperte sich. »Vorausgesetzt, das ist für Sie in Ordnung.«
»Natürlich. Aber Sie werden sehen, Ihr Auto ist bei uns in guten Händen.«
»Sicherlich«, sagte er, doch in seiner Stimme schwang eine gewisse Skepsis mit.
Ria lächelte ihm aufmunternd zu. Vermutlich wäre sie an seiner Stelle ebenso kritisch. Caruso war erst Kunde in der Werkstatt geworden, als sie schon in Lübeck gelebt hatte, sodass er sich bisher nicht von ihren Fertigkeiten hatte überzeugen können. Sie bat Caruso noch einmal ins Büro, um die Unterlagen fertig zu machen, anschließend ließ er sich mit der Limousine vom Hof fahren. Nun war sie mit dem Bodyguard allein, der dem Klischee seiner Berufsgruppe entsprach. Ria war nicht klein, aber er war gut einen Kopf größer als sie und sein Kreuz fast doppelt so breit wie ihres.
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein, danke.« Es klang höflich, aber ablehnend.
»Falls doch, bedienen Sie sich einfach an den Getränken im Wartebereich, Herr …«
»Sturm.« Er räusperte sich. »Axel Sturm.«
»Herr Sturm«, wiederholte sie. »Dann fahre ich den Wagen mal in die Werkstatt.«
Ria machte sich auf den Weg zurück zum Hof, und der Bodyguard folgte ihr. Als Erik sah, dass Ria Carusos Aufpasser im Schlepptau hatte, tippte er sich an die Stirn und verschwand kopfschüttelnd hinter dem Opel, an dem er gerade arbeitete. Ria versuchte jedoch, sich von der ungewöhnlichen Situation nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Das fiel ihr auch nicht weiter schwer, denn kaum dass sie aus dem Auto gestiegen war, verfiel sie in ihre gewohnte Routine und prüfte das Auto auf Herz und Nieren. Zwischendurch erzählte sie ein wenig über das Modell, doch dem Bodyguard war anzusehen, dass er kein Interesse an ihren Ausführungen hatte. Sein fast leidender Gesichtsausdruck erinnerte sie an ihren Ex-Freund Frederik. So ähnlich hatte er dreingeschaut, wenn Ria mit ihm über ihren Job gesprochen hatte. Frederik war Arzt an der Uniklinik in Lübeck und hatte mit Autos nichts am Hut, außer wenn es darum ging, eines zu fahren.
»Abgesehen von dem etwas geringen Ölstand war alles bestens«, sagte sie schließlich an den Bodyguard gewandt. »Jetzt kommt nur noch die Probefahrt, dann kann Ihr Chef das Auto wieder abholen.«
Der gelangweilt wirkende Aufpasser nahm diese Info mit einem Nicken zur Kenntnis, und tatsächlich bestand er darauf, sie auf der Probefahrt zu begleiten. Das kam ihr albern vor, da er ja sowieso nichts tun konnte als Beifahrer, aber der Kunde war schließlich König. Dennoch konnte Ria nun verstehen, weshalb Erik sie gewarnt hatte, und sie war erleichtert, als sie kurze Zeit später einem sehr zufriedenen Caruso, der wieder von seinem Chauffeur gebracht wurde, den fertig inspizierten Oldtimer überreichen konnte.
Während Ria dem ungewöhnlichen Gespann hinterhersah, fuhr eine Harley-Davidson auf den Hof. Sie winkte dem Fahrer zu, denn das Motorrad war unverwechselbar und eindeutig die Harley von Rainer. Rainer war nicht nur ein sehr guter Freund ihres Opas, er war auch Eriks Vorgänger in der Werkstatt gewesen. Vor drei Jahren war Rainer in seine wohlverdiente Rente gegangen, und Konrad hatte Erik eingestellt, der mit seinen neunundzwanzig Jahren noch am Anfang seiner Karriere stand.
Rainer kannte Ria von klein auf, und er ließ es sich nicht nehmen, immer mal wieder die eine oder andere peinliche Anekdote aus ihrer Kindheit und Jugendzeit zu erzählen. Dennoch hatte Ria ihn ins Herz geschlossen und freute sich über seinen spontanen Besuch.
»Mein Mädchen!«
Rainer zog sie zur Begrüßung in seine kräftigen Arme. Mit seinen achtundsechzig Jahren war er noch immer sehr fit, und Ria wusste, dass er ihrem Opa mehrfach geraten hatte, sich ebenfalls in den verdienten Ruhestand zu verabschieden.
»Schön, dass du mal vorbeikommst.« Ria schielte zu der Harley hinüber, von der er soeben abgestiegen war. »Kommst du einfach so, oder macht die Maschine dir Ärger?«
»Na hör mal, Mädchen! Da bist du endlich wieder hier in der Stadt, da muss ich dich doch besuchen.«
Ria lachte, und Rainer tippte auf seine Uhr. »Ist doch gerade Mittagspause, oder?«
»Ja, passt. Bis zum nächsten Termin habe ich etwas Zeit.«
Wie um ihre Worte zu bestätigen, gesellte sich Erik zu ihnen.
»Ich hole mir was beim Imbiss. Wollt ihr auch was?«
Ria und Rainer nannten ihm ihre Bestellwünsche, doch als Ria das Geld auslegen wollte, kam Rainer ihr zuvor.
»Das geht auf mich!«
Erik nahm das Geld an und machte sich auf den Weg, um das Essen zu holen, während Rainer einen Moment im Empfangsbereich beim Motorradzubehör stöberte. Erst als Ria rief, dass der Kaffee fertig war, gesellte er sich zu ihr in die Küche, wo sie Teller und Gläser auf dem Tisch verteilte, an dem genau drei Personen Platz nehmen konnten.
»Dein letzter Kunde«, begann Rainer ein Gespräch, nachdem Ria ihm einen Kaffee eingeschenkt hatte. »Das war doch der Caruso, der da weggefahren ist, oder?«
»Ja. Unverkennbar, nicht wahr?«
»Was wollte er?«
Sie sah ihn verblüfft an. »Er wollte, dass ich mir das neueste Auto in seiner Oldtimersammlung ansehe. Kennst du den Mann?«
»Jo. War früher schon Kunde bei uns, als ich noch hier war. Müsste so vier Jahre her sein jetzt. Hat sich damals ein großes Anwesen in der Gegend gekauft. Besser gesagt ’ne Villa.«
»Geldmangel hat er offensichtlich nicht.«
»Nee. Ist ’ne komische Type, wenn du mich fragst. Ich hatte eigentlich gehofft, er sucht sich ’ne andere Werkstatt, jetzt, wo Konrad nicht mehr unter uns ist.«
»Wieso? Abgesehen davon, dass er seinen Bodyguard als Aufpasser bei mir gelassen hat, kann ich mich nicht beschweren. Er hat seine Rechnung sofort beglichen und war mit allem zufrieden.«
»Wäre mir trotzdem lieber, wenn du keinen Kontakt zu ihm hast.«
»Warum?«
»Es sind zwar nur Gerüchte, aber man sagt ja immer, dass an jedem Gerücht was dran ist.«
Es strapazierte ihre Nerven etwas, dass sie Rainer alles aus der Nase ziehen musste.
»Was für Gerüchte sind das denn?«
Rainer beugte sich zu ihr vor.
»Mafia«, flüsterte er in verschwörerischem Tonfall.
»Mafia?«
»Ja, der soll dieser … Organisation seinen Reichtum verdanken.«
»Du meinst, den Geschäften mit der Mafia?«
»Jo.« Rainer schlürfte seinen Kaffee und schien durchaus zufrieden mit dem Geschmack.
»Aber vielleicht ist er einfach ein erfolgreicher Geschäftsmann oder hat geerbt oder so.«
»Und wieso dann die Bodyguards?«
»Die Bodyguards?«
»Jo. Das ist ja nicht nur einer. Der hat ’ne ganze Meute von den Jungs. Sein Grundstück wird auch überwacht. Was das allein kostet! Was man sich dafür alles leisten könnte!« Rainer schüttelte den Kopf.
»Reiche Menschen haben oft Neider, vielleicht will er sich bloß absichern.«
»Wer will sich bloß absichern?«, fragte Erik, der mit einer großen Papiertüte in die Küche kam.
Der Geruch von Pommes und Burgern breitete sich in der Küche aus, und Ria half Erik dabei, das Essen zu verteilen.
»Herr Caruso«, erklärte Ria. »Rainer hat mir gerade von den Gerüchten erzählt.«
»Ach, vom Mafia-König.« Erik schmunzelte.
»Du wusstest es also auch?«
»Jeder hier in der Gegend weiß das«, bestätigte Erik.
»Und du glaubst das?«
Erik zuckte mit den Schultern und nahm auf dem freien Stuhl Platz. »Keine Ahnung. Irgendwas wird schon dran sein.«
»Sag ich ja!«, meinte Rainer mit einem zufriedenen Grinsen und packte seinen Hamburger aus.
»Das sind doch bestimmt nur Vorurteile«, sagte Ria überzeugt. »Nicht jeder mit einem italienischen Namen, viel Geld und Bodyguards ist gleich ein Mitglied der Mafia. Aber in einer Kleinstadt braucht man ja immer was zum Tratschen.«
»Wie du meinst«, sagte Rainer. »Aber sei einfach vorsichtig. Das habe ich Konrad auch immer gesagt, und man sieht ja, wo es hingeführt hat, dass er nicht auf mich gehört hat.«
»Wie meinst du das jetzt?« Ria legte ihren Burger wieder auf den Teller zurück, während Erik gierig sein Essen in sich reinstopfte. Es war erstaunlich, dass der Mann so schlank war, obwohl er anscheinend täglich Fast Food aß.
Rainer winkte ab. »Ach, das war nur so dahergesagt.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Ria, denn Rainer schien sich plötzlich sehr unwohl zu fühlen. »Also?«
»Ich verstehe einfach nicht, dass Konrad an einem Herzstillstand gestorben ist.«
»Ifft daf fo ungeföhnlich mit über fiebzig?«, fragte Erik mit vollem Mund. »Entschuldigung«, fügte er hinzu, als er Rias strafenden Blick auffing.
»Alter ist doch bloß eine Zahl!«, erwiderte Rainer aufgebracht. »Konrad war fit. Er war einer der Fittesten in unserer Senioren-Yoga-Gruppe. Sein Herz war kerngesund. Erst kurz vor seinem Tod war er zum Check-up beim Arzt.«
»In eurer Senioren-Yoga-Gruppe?«, fragte Ria irritiert.
»Jo. Wird hier von der Stadt angeboten für Menschen ab sechzig. Zweimal die Woche.«
Ria trank schnell einen Schluck von ihrem Wasser und versuchte, ein Lachen zu unterdrücken.
»Da gibt es nix zu lachen, junge Dame. Yoga hält fit, auch in meinem Alter.«
»Ich finde es toll, dass ihr das macht, ehrlich. Ich hätte es nur nicht erwartet.«
»Hätte ich vor dreißig oder vierzig Jahren auch nicht. Aber komm mal in mein Alter, Mädchen. Dann weißt du, wie einen die müden Knochen plagen können.«
»Und was hat das nun mit Caruso zu tun?«, fragte Ria ungeduldig.
»Der Caruso ist einfach kein guter Umgang.« Rainer zerknüddelte das Papier seines Hamburgers. »Aber ich wollte dich nicht beunruhigen.«
Skeptisch blickte Ria ihn an, doch sie erkannte an seinem Tonfall, dass dieses Thema damit für ihn beendet war. Mit wenig Appetit aß sie ihren Burger auf, und Rainer machte sich bereit zum Aufbruch.
»Ich will euch nicht länger aufhalten«, sagte er mit einem Blick auf die Uhr. »Aber lass dich mal wieder im ›5 vor 12‹ blicken, Mädchen. Seit die Leute gehört haben, dass du wieder in der Gegend bist, fragen sie dort ständig nach dir.«
Es freute sie, das zu hören. Wenn sie in den letzten Jahren bei ihrem Opa zu Besuch gewesen war, hatte sie meist auch im Biker-Treff »5 vor 12« im nahe gelegenen Wuppertal vorbeigeschaut, und es war schön zu wissen, dass man sich dort nach ihr erkundigte.
»Ich versuch’s bald«, versprach sie, und mit der Antwort gab Rainer sich zufrieden, bevor er auf seine Harley stieg und sich auf den Weg machte.
Das Gespräch beim Essen hing Ria nach, und sie wusste nicht so recht, was sie von Rainers Äußerungen halten sollte. Hatte Rainer wirklich Sorge, dass ihr Großvater wegen Caruso in Schwierigkeiten geraten war? Oder interpretierte sie da zu viel hinein? Die Obduktion hatte ergeben, dass er an einem Herzstillstand gestorben war, und das ausgerechnet in seiner geliebten Werkstatt, in der er abends noch gearbeitet hatte. Es war Erik gewesen, der ihn am nächsten Morgen leblos aufgefunden hatte. Wahrscheinlich hatte ihr Großvater sich in seinem Alter einfach zu viel zugemutet und das mit seinem Leben bezahlt. Da er allein in der Werkstatt gewesen war, hatte ihm niemand helfen können. Das war etwas, das ihr noch immer ein schlechtes Gewissen bereitete. Während sie in Lübeck ihr Leben gelebt hatte, hatte ihr Großvater einsam in seiner Werkstatt den letzten Atemzug getan.
Ihre Smartwatch vibrierte und kündigte den nächsten Kundentermin an, was eine willkommene Ablenkung von ihren trüben Gedanken war. Auch wenn sie sicher war, dass in dieser Woche kein Kunde den Auftritt von Edoardo Caruso toppen würde.
»Nicht dein Ernst!«
»Leider doch.«
»Ich glaub’s nicht … heißes Pflaster, deine alte Heimat«, stellte Natalie fest.
»Ja, hatte ich irgendwie anders in Erinnerung«, sagte Ria.
»Aber vielleicht machst du dir auch zu viele Gedanken, und es ist alles halb so wild.«
»Tja, wenn ich das mal wüsste.«
»Kann ja sein, dass Rainer sich da bloß einen Krimi zusammenreimt.«
»Das vermute ich auch«, gab Ria zu und drückte das Kissen in ihrem Rücken zurecht, um es auf dem Sofa bequemer zu haben. Diese Ledercouch hatte sie nie besonders gemocht. Um es gemütlicher zu haben, hatte sie eine weiche Decke und mehrere Kissen darauf verteilt.
Bruno lag neben dem Couchtisch und schnarchte leise. Ria hatte sich während des Abendessens ein paar Tipps zur Hundeerziehung durchgelesen. Und als würde Bruno was Böses schwanen, war er an diesem Abend ungewöhnlich lieb und hatte bei der letzten Gassirunde auch weniger an der Leine gezogen als sonst. Vielleicht hatte er aber auch kapiert, dass Ria stehen blieb, je schlimmer er zog, auch wenn es sie einige Anstrengung kostete, dem vierzig Kilogramm schweren Hund standzuhalten.
»Oder er reimt sich da nix zusammen, und er hat mit allem recht, und du solltest einfach wieder zurück nach Lübeck kommen«, schlug Natalie plötzlich vor, doch in ihrer Stimme schwang eine Prise Humor mit.
»Haha.«
Natalie sog laut die Luft ein. »Ich vermisse dich! Und irgendwie mache ich mir Sorgen. Du hast hier alles aufgegeben, jetzt hockst du da unten ganz allein mit einem Mieter, der mal im Gefängnis war, und einem Stammkunden, der mit seinem Bodyguard bei dir aufkreuzt und vielleicht was mit der Mafia zu tun hat.«
»Ja, eben … vielleicht.«
»Wie sah der eigentlich aus?«
»Herr Caruso?«
»Quatsch! Der Bodyguard.«
»So wie man sich einen Bodyguard vorstellt. Kurze Haare, nicht sehr gesprächig, viele Muskeln.«
»Gut aussehend?«
»Hm …« Ria überlegte. »Sah nicht schlecht aus, wenn ich so darüber nachdenke.«
»Single?«
»Keine Ahnung.«
»Aha, vielleicht …«
»Vergiss es. Er interessiert sich nicht mal für Autos.«
»Das hat Frederik auch nicht.«
»Und wir haben uns getrennt.«
»Aber nicht wegen der Autos, oder?«
»Dass er mir als Arzt ständig Vorträge darüber gehalten hat, wie gefährlich das Motorradfahren ist, war aber nicht gerade hilfreich.«
»Aber ein Bodyguard als Freund wäre doch nach dem blöden Brief gar nicht so schlecht.«
»Kannst du bitte damit aufhören, mich an den Mann bringen zu wollen? Meine Trennung ist noch gar nicht so lange her.«
»Fast ein halbes Jahr, und ihr habt euch freundschaftlich getrennt. Tu nicht so, als hättest du davon ein Trauma.«
»Es lebt sich auch als Single gut.«
»Deswegen gibt es so viele Singlebörsen, weil alle Singles so glücklich sind.«
»Ich glaube, ich mag dich gerade nicht besonders.«
»Ist okay, das sagt Piedro mir auch manchmal, und trotzdem bleibt er bei mir, wenn wir uns grad nicht wieder eine Auszeit nehmen.«