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COSY CRIME: Lucy kann als Medium mit den Geistern Verstorbener sprechen und macht sich Sorgen um den befreundeten Geist Vadim, der seit einigen Wochen spurlos verschwunden ist. Um sich abzulenken, stürzt sie sich voller Elan in ihren Job als Maßschneiderin. Doch plötzlich steht ihr ehemaliger Personenschützer Ben vor ihrer Haustür und bittet sie in einem kniffligen Fall um Hilfe. Lucy ist froh über die willkommene Abwechslung und gerne bereit, ihn zu unterstützen. Als jedoch eines Nachmittags ein fremder Mann in ihrem Wohnzimmer steht und behauptet, dass er Vadim sei, fängt das Chaos erst so richtig an.
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Seitenzahl: 366
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Buch
Lucy kann als Medium mit den Geistern Verstorbener sprechen und macht sich Sorgen um den befreundeten Geist Vadim, der seit einigen Wochen spurlos verschwunden ist. Um sich abzulenken, stürzt sie sich voller Elan in ihren Job als Maßschneiderin. Doch plötzlich steht ihr ehemaliger Personenschützer Ben vor ihrer Haustür und bittet sie in einem kniffligen Fall um Hilfe. Lucy ist froh über die willkommene Abwechslung und gerne bereit, ihn zu unterstützen. Als jedoch eines Nachmittags ein fremder Mann in ihrem Wohnzimmer steht und behauptet, dass er Vadim sei, fängt das Chaos erst so richtig an …
Autorin
Schon seit sie acht Jahre alt ist, schreibt Janine Meester Geschichten und liebt unterhaltsame Literatur. Auch die Musik hat sie immer fasziniert, daher schloss sie neben dem Studium eine Gesangsausbildung ab. Zurzeit arbeitet sie in einer Agentur in der Weiterbildungsbranche und bildet sich zur Therapeutin weiter. Privat hat sie sich dem Schreiben von Romanen gewidmet, lebt mit ihrem Mann im Bergischen Land und reist gerne – am liebsten ans Meer.
Bisher von Janine Meester erschienen
»Bergische Nacht«, Kriminalroman, Emons Verlag (2022)
»Ein Wispern in der Nacht – Lucys 1. Fall«, Cosy Crime, BoD (2023)
»Todesfluch« 2. Auflage, als Kaya Meester, Fantasyroman, BoD (2023)
Für Dich, Marc.
Ich liebe Dich.
Dieses Vorwort richtet sich an alle Leserinnen und Leser, die das erste Buch der Reihe nicht kennen.
Lucy Maiwald ist 28 Jahre alt und kann als Medium die Stimmen verstorbener Menschen hören, die nicht ins Licht gehen, sondern als Geist auf der Erde verweilen. Diese Gabe liegt mütterlicherseits in ihrer Familie. Einer dieser Geister ist Vadim, ein ehemaliger Profikiller einer Regierung, der vier Jahre lang an Lucys Seite war.
Nachdem Vadim in Lucys erstem Fall den Mörder von ihrer Nachbarin gesehen hat, wollte sie dem ermittelnden Kommissar Niklas Eibisch mit einer Personenbeschreibung helfen, geriet dadurch als Zeugin jedoch selber ins Visier des Täters. Zum Glück hatte sie den privaten Personenschützer Ben Stevens an ihrer Seite, der ihr das Leben gerettet hat. Lucy fühlt sich seitdem ein wenig zu ihm hingezogen, wovon Ben aber nichts weiß, denn sie ist überzeugt davon, nicht sein Typ zu sein.
Nachdem der Mord an Lucys Nachbarin aufgeklärt werden konnte, hat sich völlig unerwartet Vadim von ihr mit den Worten verabschiedet, dass er dringend wegmüsse. Seitdem macht Lucy sich Sorgen um ihn, weil sie nicht weiß, ob er ins Licht gegangen ist, oder was sonst mit ihm geschehen ist. Weiterhin wird Lucy jedoch von dem Geist Mascha begleitet, die ihr bereits seit ihrer Ausbildung zur Maßschneiderin eine treue Weggefährtin ist. Niklas Eibisch hingegen hat gemerkt, dass der Job bei der Polizei ihm nicht mehr guttut, und hat seine Karriere als Kommissar beendet.
Der zweite Fall spielt knapp drei Monate nach der Handlung des ersten Teils.
Vorwort
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Danksagung
Kritisch begutachtete er sein Gesicht im Spiegel. Der Chirurg hatte gute Arbeit geleistet und von dem Eingriff war äußerlich nichts mehr zu sehen. Das war an seinem Bauch anders. Er zog das eng anliegende T-Shirt hoch, dann fuhr er mit dem rechten Zeigefinger über die gerötete und etwas wulstige Stelle. Seit einigen Wochen konnte er wieder trainieren und spürte keine Einschränkungen mehr beim Sport, doch die Narbe würde ihm für immer bleiben.
Er strich das Shirt glatt und ging in die Küche, wo er seine tägliche Dosis an Vitamintabletten einnahm, bevor er diese in der kleineren Reisetasche verstaute. Sein Bruder war ein Frühaufsteher und längst auf dem Weg zur Arbeit, daher hatten sie sich bereits am Abend zuvor voneinander verabschiedet. Es war es an der Zeit für ihn, sich um ein paar Angelegenheiten zu kümmern, und nach Deutschland zurückzukehren. Es war sowieso nie sein Ding gewesen, länger an einem Ort zu bleiben. Sein damaliger Job hatte ihn durch die ganze Welt geführt und er war nicht sicher, ob er zukünftig bereit war, seine Lebensweise zu ändern. Auch wenn nun alles anders war.
Er fuhr sich mit der Hand über die dunklen Bartstoppeln, hatte aber keine Lust, den Rasierer wieder auszupacken. Also schnappte er sich die beiden Reisetaschen und betrat den Hausflur. Es war mitten in der Woche und genau die Uhrzeit, zu der die Nachbarn normalerweise in den Tag starteten. Doch gerade war er erleichtert darüber, dass er der Einzige war, der durch das Haus lief, sodass ihm niemand begegnete. Er war nicht in der Stimmung für einen Small-Talk.
Kein bisschen außer Atem erreichte er den Parkplatz vor dem Haus, auf dem sein BMW stand. In dem Kofferraum der dunklen Limousine verstaute er sein Gepäck, dann nahm er Platz auf dem Fahrersitz und startete den Motor des Autos, das ihn dank offener Grenzen problemlos nach Deutschland bringen würde. Doch bevor er sich auf den Weg in das Land machte, das ihm in den letzten Jahren zu einer zweiten Heimat geworden war, hatte er noch etwas anderes zu erledigen. Etwas, das er nicht mehr länger aufschieben wollte.
»Das ist kein Zufall mehr. Das ist jetzt das vierte Mal in wenigen Monaten!« Verärgert blickte Steffen auf die Werbeanzeige in der Regionalzeitung, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Aber ich kann denen ja nichts nachweisen. Unser IT-System ist sicher, die haben uns nicht gehackt. Das habe ich natürlich längst überprüfen lassen.«
Ben betrachtete seinen besten Freund besorgt. Sie kannten sich schon lange, doch nur selten hatte er ihn so aufgebracht erlebt. Steffen war der Gründer und Geschäftsführer von Safetec Security. Seit bald anderthalb Jahren arbeitete auch Ben für das private Sicherheitsunternehmen. Seinen vorherigen Job beim SEK hatte er dafür aufgegeben. Eine Entscheidung, die er bisher nicht bereute.
»Du denkst also, einer von den Kollegen leitet Informationen an die Konkurrenz weiter?«
Steffen seufzte. »Ja, ich weiß schon. Es ist eine schlimme Anschuldigung.« Er griff nach einem Notizblock, den er aufschlug. »Aber denk doch mal an die Kampagne von denen im Juli, als wir unsere Sommer-Rabattaktion geplant hatten. Nur drei Tage vor unserer Werbung kam die Anzeige von Security4U raus. Und sie warben mit genauso viel Rabatt auf Einbruchschutzberatungen, wie wir es vorhatten. Allein mit der Aktion haben sie uns sicherlich einige Neukunden weggeschnappt.« Nachdenklich sah er auf seine Notizen. »Danach hatten wir für August die kostenlose telefonische Erstberatung vorgesehen, die wir bewerben wollten. Und was passiert? Einen Tag vor unserer Anzeige in der Wochenpost lief im lokalen Radio die Werbemeldung von Security4U mit exakt der gleichen Aktion!« Er verdrehte die Augen. »Heiße Angebote für heiße Tage. Ich habe es noch immer im Ohr.«
Ben unterdrückte ein Lachen.
»Danach unsere Einladung hierher zum Tag der offenen Tür, zu dem wir ebenfalls kostenlose Beratungsinformationen bereitgestellt haben. Als unsere Aktion in der Zeitung stand, war plötzlich so eine Einladung von Security4U im Radio zu hören und auf deren Website zu finden.«
»Ich erinnere mich.«
»Und jetzt, pünktlich zu Beginn der dunklen Jahreszeit, wollen wir Neukunden ab nächster Woche zwölf Prozent Rabatt auf die Installation technischer Sicherheitsmaßnahmen anbieten. Und siehe da!« Steffen tippte auf die Zeitung und Bens Augen flogen über die Seite. Eine vergleichbare Werbeanzeige von ihrem Wettbewerber prangte dort nun im XL-Format.
»Sie sind uns wieder zuvorgekommen und bieten sogar fünfzehn Prozent Rabatt. Im Leben ist das kein Zufall mehr! Und dass uns die Konkurrenz immer einen Schritt voraus ist, schadet uns massiv. Das sehe ich inzwischen an unseren Auftragszahlen.«
»Und wenn jemand von der Zeitung die Infos weiterleitet?«, überlegte Ben. »Die wissen doch, was wir für Aktionen planen.«
»Das glaube ich nicht. Zum einen arbeiten wir schon länger mit denen zusammen und früher gab es nie Probleme. Außerdem wäre das zeitlich zu knapp. Wenn die bei der Presse von den neuen Werbemaßnahmen erfahren, hätte Security4U kaum noch genügend Zeit, mit einer eigenen Aktion schneller zu sein als wir.«
»Also müssen wir tatsächlich von einem schwarzen Schaf bei uns ausgehen.«
Steffen verzog das Gesicht. »Das befürchte ich zumindest. Wir haben einige neue Mitarbeiter im Team, also wer weiß schon, ob wir denen wirklich vertrauen können. Die Frage ist nur, wie wir herausfinden sollen, ob jemand von denen dahintersteckt. Am besten wäre, wir könnten mal Mäuschen spielen bei Security4U. Dann wüssten wir, woher sie die Infos zu unseren Aktionen haben, sodass sie uns die Ideen klauen können.«
Ben konnte Steffens Unmut nachvollziehen. Es war bitter, dass sie gerade erst neue Leute eingestellt hatten, und nun die Auftragszahlen schlechter wurden. Das Recruiting war viel Arbeit gewesen und die Gehälter bezahlten sich nicht von allein.
»Vielleicht habe ich eine Idee, wie wir das herausfinden können«, murmelte er, bereute aber zugleich, etwas gesagt zu haben, denn Steffen warf ihm sofort einen erwartungsvollen Blick zu.
»Dann raus damit.«
»Gib mir Zeit bis morgen, ich muss erst was klären.«
»Na gut, ich werde mich gedulden. Ich bin froh über alles, was helfen könnte. Ich will schließlich niemandem kündigen müssen, weil uns ein neuer Wettbewerber am Markt den Rang abläuft.« Steffen schob die Zeitung beiseite und streckte sich. »Wie läuft es denn sonst so bei dir?«
»Was meinst du mit sonst?«
Steffen grinste ihn an. »Hattest du nicht ein Date vorgestern?«
»Das war nur ein Abendessen.« Und keines, an das er sich besonders gerne erinnerte.
»Ja, mit einer Frau. Also ein Date, oder nicht? Ihr könntet mal zu Eleni und mir zum Abendessen kommen. Wenn das Wetter bis zum Wochenende so schön bleibt, könnten wir sogar grillen.«
»Nein.«
»Nein?« Steffen wirkte überrascht. »Seit wann lehnst du ab, wenn man dich zum Grillen einlädt?«
»Ich denke nicht, dass wir uns noch mal wiedersehen sollten.«
»Schade. Was war denn so schrecklich an dem Abend?«
»Es passt einfach nicht, schätze ich.«
»Manchmal lohnt sich eine zweite Chance.« Steffen grinste. »Aber du warst ja schon immer sehr wählerisch. Ich dachte auch eigentlich, dass es mit dir und dieser Lucy was werden könnte.«
»Hm«, machte Ben nur, der nicht daran interessiert war, das Thema weiter zu vertiefen.
»Na ja, du darfst natürlich auch jederzeit alleine zum Essen vorbeikommen.«
»Danke für das Angebot.«
»Immer gerne. Aber nun wünsche ich dir erst mal einen schönen Feierabend.«
»Ebenso. Bis morgen.« Ben stand auf, nickte Steffen noch einmal zu, und ging in sein eigenes Büro, um seine Sachen zusammenzupacken. Als er schließlich auf dem Weg zu seinem Auto war, las er die Nachrichten, die sich vor einigen Minuten via Vibrationsalarm auf seinem Smartphone angekündigt hatten. Eine der Nachrichten war von Cathrin, also von seinem Date. Während des Restaurantbesuchs hatte sie bereits überlegt, dass sie am Wochenende doch gemeinsam ins Kino gehen könnten, aber Ben hatte darauf keine Lust gehabt und eigentlich erwartet, dass Cathrin sein mangelndes Interesse bemerken würde. Da hatte er sich offenbar geirrt. Wie er ihrer Nachricht entnehmen konnte, hatte sie sich bereits die Mühe gemacht und einen Film herausgesucht. Nun wollte sie von ihm wissen, für welche Uhrzeit sie Karten reservieren sollte. Er seufzte. Er hätte besser Klartext sprechen sollen, statt darauf zu hoffen, dass seine Signale bei ihr ankamen. Also würde er wohl doch ins Kino gehen. Vielleicht hatte Steffen ja recht und es lohnte sich, Cathrin bei einer zweiten Verabredung etwas besser kennenzulernen.
Ihr bebender Körper presste sich an seine harten Muskeln. Sie stöhnte leise, als er mit seinen Lippen ihre Brust erkundete. Langsam ließ er seine Hand über ihre weiche Haut nach unten gleiten …
»Ach, du meine Güte!« Lucy klappte das Buch zu und warf es neben sich auf die Couch. »Was für ein kitschiger Schwachsinn!«
»Es ist doch eigentlich recht interessant«, mischte Mascha sich ein. »Ein bisschen Romantik schadet doch nicht, Liebes.«
»Du bist zurück. Wie geht es Anna?«
»Meiner Tochter ist leider sehr übel in dieser Schwangerschaft und sie ist ständig müde.«
»Das tut mir leid. Hoffentlich geht es ihr bald besser.«
»Das hoffe ich auch«, sagte Mascha, klang aber zuversichtlich. Sie hatte in all den Jahren ihre Familie im Auge behalten, denn ihre Kinder und Enkelkinder waren der Grund dafür, dass sie nach ihrem Tod nicht ins Licht gegangen war, sondern als Geist auf der Erde weilte. Lucy war froh darüber, denn Mascha war ihr seit mehr als acht Jahren eine lieb gewonnene Begleitung, die ihr in vielen Lebenslagen mit Rat und Tat zur Seite stand.
»Übrigens Liebes, du bekommst Besuch.«
Die Ankündigung überraschte Lucy, denn sie erwartete niemanden. Deswegen saß sie im bequemen Outfit auf der Couch, weil sie sich auf einen gemütlichen Leseabend eingestellt hatte. Für heute war sie mit den Nähaufträgen fertig und hatte ausnahmsweise früh Feierabend gemacht, obwohl sie als Nachteule sonst gerne nachts in ihrem Dachgeschoss im Nähraum werkelte. Vor allem seit Vadim verschwunden war, arbeitete sie oftmals noch spätabends, wenn sie sich zu viele Gedanken machte und nicht einschlafen konnte. Das Nähen war eine willkommene Ablenkung und viel besser, als sich immer und immer wieder die Frage zu stellen, warum er sie so plötzlich verlassen hatte, ohne sich richtig zu verabschieden.
»Es ist Ben.« Mascha klang höchst erfreut, während Lucy von der Couch sprang und auf den Spiegel im Flur zueilte. Gleichzeitig ärgerte sie sich über sich selbst. Als ob es etwas nutzen würde, wenn sie sich für Ben noch schnell zurechtmachte. Außerdem hätte ihr das gar nicht so wichtig sein dürfen! Dennoch nahm sie rasch ein Gummiband von der Kommode und band sich einen hohen und möglichst glatten Zopf, mit dem sie ihre verwuschelten Haare etwas kaschieren konnte.
»Wie schön, dass er sich mal wieder hier sehen lässt.«
»Vielleicht habe ich was bei ihm in der Wohnung vergessen, das er jetzt erst wiedergefunden hat«, vermutete Lucy, denn als sie im Juni als Zeugin in einem Mordfall in Gefahr gewesen war, hatte Ben sie einige Tage bei sich zu Hause aufgenommen.
»Vielleicht hat er dich vermisst. Ich bin mir sicher, er hatte dich sehr gern.«
»Ich glaube eher, er hat eine Party veranstaltet, nachdem er mich endlich wieder los war«, brummte Lucy.
Ben, der ehemalige SEK-Beamte, hatte ihr ein wenig den Kopf verdreht, aber das würde sie Mascha niemals verraten, die ein großer Fan von ihm war und ihn und Lucy am liebsten miteinander verkuppeln würde. Doch Lucy war bewusst, dass sie nicht Bens Typ war, und sie legte keinen Wert darauf, sich das Herz von ihm brechen zu lassen. Ben war zwar immer höflich zu ihr gewesen, aber auch distanziert, und er hatte nie eine Spur von romantischem Interesse an ihr gezeigt. Erst recht nicht mehr, nachdem er von Lucys Gabe erfahren hatte, dass sie mit Geistern kommunizieren konnte. Eigentlich hätte sie ihre Fähigkeit vor ihm lieber geheim gehalten, aber ihre Rolle als Zeugin hatte ihr keine andere Wahl gelassen, als ihm schließlich davon zu erzählen.
Als es klingelte, zupfte sie noch rasch ihr Langarm-Shirt zurecht, dann öffnete sie ihm die Tür.
»Hi«, sagte sie und musterte ihn, wie er fast die ganze Höhe der Tür einnahm mit seinen knapp einem Meter neunzig Körpergröße. Er sah gut aus, wie immer. Das ärgerte sie ein bisschen mit ihrem flüchtig gebundenen Zopf, dem schlabberigen Shirt und der ollen Sporthose, die sie trug. Das war der Nachteil daran, wenn man so viel von zu Hause aus arbeitete. Man hatte keinen Grund, sich vernünftige Klamotten anzuziehen.
»Hallo«, grüßte Ben sie und fuhr sich durch die kurzen braunen Haare. »Störe ich gerade?«
»Nein.«
»Kann ich reinkommen?«
»Oh! Äh, na klar.« Lucy trat einen Schritt zur Seite, um ihm Platz zu machen. Sein Besuch war wirklich eine Überraschung. Trotz allem, was sie durch die Ereignisse im Sommer miteinander verband, waren sie danach kaum noch in Kontakt geblieben. Das war auch einer der Gründe dafür, weshalb sie überzeugt davon war, dass Mascha sich irrte. Sie hatte Ben ab und zu eine Nachricht an seine Handynummer geschrieben, aber meist nur kurze, einsilbige Antworten von ihm erhalten. Andererseits war das nicht ungewöhnlich, denn Ben war generell kein allzu gesprächiger Mensch. Noch weniger Lust hatte er anscheinend, mit seinen großen Händen auf irgendwelchen Minitasten Chat-Nachrichten zu tippen.
»Kaffee?«, fragte Lucy, während sie ihn in die Küche mit der gemütlichen Eckbank führte, weil es dort aufgeräumter war als im Wohnzimmer.
»Gerne«, antwortete er und setzte sich an den Tisch, während Lucy ihre neue Kaffeemaschine einschaltete. Der Vollautomat machte für sie als allein lebender Single viel mehr Sinn als die vorherige Filterkaffeemaschine.
»Wenn ich in deinem Alter wäre … «, schwärmte Mascha und Lucy versuchte, ihre Stimme auszublenden, denn antworten wollte sie ihr nicht. Dazu hätte sie laut reden müssen, sodass Ben alles mitbekommen würde, was sie zu Mascha sagte. Zwar wusste Ben von ihrer Begabung als Medium, aber dass er ein Typ war, bei dem man ins Schwärmen geraten konnte, war sicherlich kein Thema, das sie ausgerechnet vor ihm erörtern wollte.
»Entschuldige, dass ich unangemeldet hier auftauche. Ich wollte dir keine Arbeit machen.«
»Kein Problem.« Lucy stellte den dampfenden Kaffeebecher vor ihn, bevor sie sich zu ihm setzte. »Was führt dich her?«
»Es gibt ein Problem bei uns in der Firma.«
»Davon hat Elyas gar nichts erzählt.«
»Elyas?« Ben schien verwundert, dass Lucy noch Kontakt mit ihm hatte.
»Ja, ich habe letzte Woche mit ihm telefoniert. Er will die nächsten Tage mal vorbeikommen zum Ausmessen.«
Ben blickte sie fragend an.
»Na ja, wegen des Angebots, dass ich euch was nähen kann als Dankeschön für eure Hilfe. Er hat schließlich auch auf mich aufgepasst.« Zwar hatte die meiste Zeit Ben den Personenschutz für sie übernommen, aber Elyas war zwischendurch eingesprungen und hatte ihn unterstützt, ohne je Geld dafür zu verlangen.
»Verstehe.« Ben griff nach dem Becher.
»Ich hatte ihn gefragt, ob es eilt mit der Kleidung oder es zum Herbst hin ausreicht. Ich hatte so viele Aufträge im Sommer nachzuholen.«
»Verstehe.«
Es war manchmal wirklich schwer, mit diesem Mann ein Gespräch zu führen. »Was ist es denn für ein Problem in eurer Firma?«, fragte sie daher.
»Hast du schon mal von dem Unternehmen Security4U gehört?«
Lucy dachte einen Moment darüber nach. »Hm, ich glaube nicht.«
»Das Unternehmen wurde im Frühjahr erst gegründet. Es bietet ein ähnliches Angebot an wie wir, aber seltsamerweise sind sie uns mit einigen Werbeaktionen immer einen Schritt voraus.«
»Was genau meinst du?«
Ben trank einen Schluck Kaffee, dann erzählte er ihr von verschiedenen Rabattaktionen, die das Team von Safetec Security sich hatte einfallen lassen, um Kunden auf ihr Unternehmen aufmerksam zu machen. Doch egal, was sie planten, der neue Wettbewerber kam ihnen mit ähnlichen Werbemaßnahmen zuvor.
»Wow, das ist echt ärgerlich«, gab Lucy zu. »Also glauben du und Steffen, dass irgendwer aus eurem Team Informationen an diese neue Firma weiterleitet?«
»Leider ja.«
»Das wäre aber übel!«
»Allerdings.« Er räusperte sich und Lucy hatte den Eindruck, dass er sich plötzlich unwohl fühlte. »Ich dachte, du könntest uns vielleicht behilflich dabei sein herauszufinden, wer unsere Ideen an die Konkurrenz verrät«, rückte er mit seinem Anliegen heraus.
»Du bittest mich um Hilfe?« Das hatte sie nicht erwartet.
»Du hast andere Möglichkeiten als Steffen und ich.«
»Ja, das stimmt wohl. Aber du hast deinem Chef doch wohl nichts davon gesagt, oder?«
»Nein. Ich habe Steffen nur gesagt, dass ich eine Idee habe, wie wir vielleicht herausfinden können, ob wir einen Spitzel in der Firma haben.«
»Also soll sich ein Geist bei euch in der Firma umsehen?«
»Das wäre auch eine Lösung, aber ich hatte eher gehofft, dass Vadim sich bei der Konkurrenz ein wenig umhören könnte. Dort wird es jemanden geben, der fürs Marketing verantwortlich ist. Daher denke ich, die Person wäre die beste Quelle, um schnell etwas herauszufinden.«
»Aber wie willst du es Steffen erklären, falls wir so etwas herausbekommen?«
»Ich werde ihm nichts erklären. Er wird mir vertrauen müssen.«
»Okay.« Lucy war noch immer verblüfft, dass Ben sich mit einer solchen Bitte an sie wandte. Ausgerechnet er, der sie aufgrund ihrer Fähigkeit für etwas verschroben zu halten schien. Andererseits wäre das eine Gelegenheit, sich für seine Hilfe als Personenschützer zu bedanken. Doch gab es da ein anderes Problem.
»Deine Idee ist sicherlich gut, nur leider habe ich von Vadim noch immer nichts gehört.« Das auszusprechen versetzte ihr einen Stich ins Herz. Neben Mascha war Vadim ein weiterer Geist gewesen, der sie einige Jahre lang begleitet hatte. So war er ihr zu einem guten Freund geworden und es nagte an ihr, dass er sie Knall auf Fall verlassen hatte. Sie wusste, dass auch Mascha besorgt war und sie haderte mit sich, da sie sich einerseits für Vadim wünschte, dass er seinen Frieden und den Weg ins Licht gefunden hatte, andererseits hoffte sie, dass er eines Tages wieder zu ihr zurückkommen würde. Doch vermutlich war das ein sehr selbstsüchtiger Wunsch und sie schämte sich ein wenig dafür.
»Das tut mir leid«, meinte Ben und es klang aufrichtig.
»Mir auch«, sagte Lucy leise und blinzelte schnell. Um davon abzulenken, dass sie mit den Tränen kämpfte, stand sie auf und bereitete sich einen Kaffee zu, obwohl sie gar keinen Durst darauf hatte.
»Ich kann das machen!«, sagte Mascha in die Stille hinein.
»Ich weiß nicht …«, erwiderte Lucy und Ben warf ihr einen irritierten Blick zu.
»Da ist doch nichts dabei, wenn ich mich ein bisschen in dieser anderen Firma umhöre. Ich muss doch nur herausfinden, wer für die Werbung zuständig ist, hat Ben gesagt. Und die Person ein bisschen beobachten.«
»Das mag sein, aber so was …« Lucy stockte. Eigentlich hatte sie sagen wollen, dass so was eher eine Aufgabe für Vadim gewesen wäre, aber sie wollte Mascha nicht kränken. »Ich will dich damit nicht belasten«, antwortete sie daher und errötete unter Bens Blick. Es war ihr unangenehm, dass er sie in dem Gespräch mit Mascha erlebte. So würde es ihr nie gelingen, dass er sie für einigermaßen normal hielt. Andererseits befand er sich gerade in ihrer Küche, weil er sie darum gebeten hatte, einen Geist als Informanten einzusetzen.
»Ich spreche mit Mascha«, erklärte sie ihm. Ben nickte und betrachtete seinen Kaffeebecher.
»Ich mache das wirklich gerne, Liebes. Ben hat so viel für dich getan.«
Lucy schmunzelte, als ihr dämmerte, weshalb Mascha so engagiert war. Sicherlich hatte sie ein großes Interesse daran, dass Ben wieder eine Rolle in ihrem Leben spielte. Nicht, dass es ihr selbst nicht gelegen käme. Ben gefiel ihr noch immer, obwohl er so wortkarg war, doch er hatte das Herz am rechten Fleck. Auch wenn nie mehr aus ihnen werden würde, konnte sie ihn wenigstens ab und zu sehen, wenn sie wieder in engerem Kontakt stünden.
»Mascha hat angeboten, sich in der Firma umzusehen«, sagte sie daher an Ben gewandt.
Er wirkte überrascht. »Danke. Das weiß ich sehr zu schätzen.«
»Na ja, du hast ja auch einiges gut bei mir. Wo du schon keine Hemden oder so genäht haben willst, so wie Elyas.«
Er nickte und schob den leeren Kaffeebecher ein Stück zur Seite. »Wie geht es dir?«
»Ganz gut eigentlich. Ich hatte viel zu tun in den letzten Wochen. Aber jetzt kann ich wieder ein bisschen kürzertreten mit der Arbeit, denke ich.« Sie lächelte. »Ach ja, drüben in das Haus, in dem Mia ermordet wurde, sind sogar letzte Woche schon neue Nachbarn eingezogen.«
»Frag ihn doch mal, ob er mit dir ausgeht«, schlug Mascha vor, doch Lucy ignorierte sie.
»Willst du noch einen Kaffee?«, fragte sie ihn stattdessen.
»Nein, danke.«
Lucy stellte ihren Kaffeebecher auf der Küchentheke ab und zog den Zopf straff, der sich zu lösen begann. »Und wie geht es dir?«, wollte sie wissen, weil ihr keine bessere Frage einfiel.
»Gut. Abgesehen von dem Problem in der Firma.«
»Vielleicht löst sich das ja bald.« Sie setzte sich wieder zu ihm an den Tisch. »Hast du das von Kommissar Eibisch gehört?«
»Nach dem Fall mit deiner Nachbarin hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihm.«
»Ich auch nicht. Aber Mascha erzählte, dass er seinen Job bei der Polizei gekündigt hat. Er führt nun eine Privatdetektei.« Außerdem hatte Mascha ihr erzählt, dass der Kommissar, der in dem Mordfall an ihrer Nachbarin ermittelt hatte, einen Literaturagenten gefunden hatte. Eigentlich war es ein Geheimnis, dass er Kriminalgeschichten schrieb, doch Mascha hatte ihr dieses heimliche Hobby verraten.
»Ich hoffe, ihm gefällt der neue Job«, sagte Ben.
»Er hat wohl gerade erst damit angefangen, aber das hoffe ich auch. Du hast es doch nicht bereut, bei der Polizei ausgestiegen zu sein, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Hast du dich eigentlich bei dem Selbstverteidigungskurs angemeldet, den ich dir empfohlen hatte?«
»Noch nicht. Aber ich mache inzwischen regelmäßig Sport, auch für die Ausdauer. Ich gehe joggen.«
»So ein Kurs wäre sicher trotzdem gut.« Er griff in seine Hostentasche und holte eine schwarze Geldbörse hervor, in der er nach etwas suchte. Dann reichte er Lucy eine grau-weiße Visitenkarte mit modernen dunkelroten Schriftzügen.
»Das ist die Schule, in der Miriam ab und zu Selbstverteidigung für Frauen unterrichtet. Du hast sie schon kennengelernt, als du mal bei uns im Büro warst.«
»Ich erinnere mich an sie. Sie arbeitet in der Buchhaltung bei euch, oder?«
»Richtig.«
»Sie war sehr nett.«
»Das erste Probetraining ist kostenlos.«
»Okay, danke nochmals für den Tipp.« Nachdenklich schaute Lucy auf die Karte. Sie war zufrieden damit, dass sie sich nun regelmäßig zum Laufen aufraffte, war aber unsicher, ob sie genügend Disziplin aufbringen würde, um auch noch mit Kampfsport zu beginnen.
»Gerne.« Ben stand auf und wandte sich in Richtung des Flurs. »Falls Mascha etwas herausfindet, kannst du mich jederzeit anrufen.«
»Mache ich«, versprach Lucy und folgte ihm zur Haustür, an der er sich verabschiedete. Sie blickte ihm nach, als er zu seinem schwarzen SUV ging, der am Straßenrand parkte.
»Hast du gehört, Liebes? Jederzeit kannst du ihn anrufen, hat er gesagt.«
»Er will angerufen werden, wenn du was herausgefunden hast«, sagte Lucy ein wenig genervt. »Nicht, weil er mit mir telefonieren möchte.«
»Du musst das positiv sehen. Er hat dich um Hilfe gebeten.«
»Weil er vermutlich sonst keine Person kennt, die mit Geistern sprechen kann.«
»Er wäre die perfekte Hochzeitsbegleitung für Amelies Hochzeit«, seufzte Mascha.
»Bitte?«, fragte Lucy entsetzt.
»Deine beste Freundin heiratet nächstes Jahr im April. Da brauchst du doch einen Begleiter, Liebes.«
»Ich kann auch alleine zur Hochzeit gehen«, sagte Lucy entschieden, die sich wahnsinnig darauf freute, dass Amelie, die in Canberra lebte, ihren Verlobten Jack im kommenden Frühjahr in Deutschland heiraten würde.
»Niemand geht alleine zu einer Hochzeit.«
»Ich bin nicht alleine. Mum wird auch da sein.«
»Mit ihrem neuen Freund«, vermutete Mascha.
»Du meinst doch wohl nicht, dass ich alleine am Singletisch sitzen muss, oder?«
»Nicht, wenn du Ben fragst, ob er dich begleitet.«
»Ich glaube, Ben schießt sich lieber eine Kugel ins Knie, als mit mir zu einer Hochzeit zu gehen!«
»Aber, Liebes!«
»Ach, Mascha! Er gefällt mir ja schon … irgendwie. Aber ich glaube, er ist einfach zu perfekt für mich. Weißt du noch, wie gesund er sich immer ernährt hat? Bei ihm in der Wohnung war es immer so aufgeräumt und ständig trainiert er. Ich schätze, er sitzt niemals faul auf der Couch, guckt Fernsehen und futtert Chips.« Frustriert setzte sie sich an den Küchentisch und lugte auf die Dose mit Keksen, die dort stand. Sie war versucht, sich eines der leckeren, selbst gebackenen Schokoplätzchen aus dem Behälter zu fischen, und ihren Frust kurzzeitig durch den Genuss von reichlich Zucker zu vergessen. Doch anscheinend hatten die Tage mit Ben etwas auf sie abgefärbt, denn sie bemühte sich seitdem, sich ein wenig gesünder zu ernähren. Was ihr meistens auch gelang. Doch dass sie seit Jahren Single war und einfach kein Glück mit Männern hatte, war manchmal wirklich zum Zähne knirschen.
»Immerhin habe ich noch gute sieben Monate Zeit bis zur Hochzeit«, murmelte sie gedankenverloren und verließ die Küche lieber, bevor sie wegen der Kekse doch noch die Beherrschung verlor. Als sie im Flur an dem bodentiefen Spiegel vorbeikam, blieb sie abrupt stehen. Kritisch betrachtete sie ihre langen, hellblonden Haare. Vielleicht wurde es Zeit für einen neuen Look – ein paar Stufen oder eine andere Farbe beispielsweise. Sie drehte sich ein paarmal hin und her, unentschlossen, ob sie sich zu einer solchen Veränderung durchringen sollte, dann ging sie in Gedanken versunken zu ihrem Laptop. Neulich hatte sie von einem prominenten Paar gelesen, das sich über eine Dating-App kennengelernt hatte. Bisher hatte sie um solche Angebote einen großen Bogen gemacht, aber vielleicht waren diese Apps ja doch besser als ihr Ruf. Sie war schon über vier Jahre lang Single, und wenn sie mal eine Verabredung gehabt hatte, war immer irgendetwas schiefgelaufen.
Wenn sie im Frühjahr nicht alleine zu der Hochzeit gehen wollte, wurde es Zeit, etwas zu unternehmen, statt frustriert herumzusitzen und darauf zu warten, dass der Mann fürs Leben zufällig an ihre Tür klopfte.
Er genoss einen Moment der Stille, bevor er die letzten Schritte bis zu dem Eingang des Pflegeheims nahm. Vor einigen Jahren hatte sich die Demenz bei seinem Vater erstmals gezeigt und sein jüngster Bruder hatte sich darum bemüht, ein gutes Pflegeheim für ihn zu finden. Ihre Jobs hatten es ihnen nicht erlaubt, sich selbst um ihn zu kümmern, daher war ihnen keine andere Wahl geblieben. Außerdem war es ihm schwergefallen mit anzusehen, wie es ihrem Vater zunehmend schlechter ging. Andererseits war ihr alter Herr inzwischen stolze 86 Jahre alt und konnte auf ein langes Leben zurückblicken, wenn es auch oft ein hartes Leben gewesen war. Sicherlich hatte sein Vater niemals erwartet, dass er seine deutlich jüngere Ehefrau überleben würde. Durch die Ehe mit ihr war er erst spät Vater geworden, und es war öfters vorgekommen, dass er für den Großvater der drei Jungs gehalten wurde.
In der großen Empfangshalle, in der es zahlreiche Sitzmöglichkeiten gab sowie ein kleines Café, roch es nach Kaffee und süßem Gebäck, aber auch nach Desinfektions- und Putzmitteln. Ein hochbetagter Mann, der von einer Pflegerin begleitet wurde, kam ihm entgegen. Die junge Frau nickte ihm freundlich zu und er erwiderte ihren Gruß. Nachdem er ein paar unverbindliche Worte mit einer älteren Frau am Empfang gewechselt hatte, machte er sich auf den Weg zu dem Zimmer seines Vaters. Er hielt einen Moment inne, bevor er an die weiße Tür klopfte, dann trat er ein.
Sein alter Herr saß auf einem dunklen Sessel und war dem Fenster zugewandt, sodass er hinaus auf den Park des Pflegeheims blicken konnte. Noch immer hatte er das volle weiße Haar und diesen für ihn typischen ernsten Gesichtsausdruck.
»Hallo«, sagte er.
Sein Vater drehte sich leicht zur Seite und sah ihn an. Stirnrunzelnd kratzte er sich am Kopf. »Junge?«
Er zog sich einen Stuhl von dem kleinen Esstisch heran und fragte sich, ob sein alter Herr überhaupt bemerkte, mit welchem seiner Jungs er es gerade zu tun hatte. In den letzten Jahren war es ihm schwergefallen, Menschen wiederzuerkennen.
»Wie geht es dir?«
»Gibt es Mittagessen?«, fragte sein Vater. Es war bald zwölf Uhr und vermutlich die übliche Essenszeit.
»Es gibt sicherlich bald Essen«, vermutete er und sein Vater nickte zufrieden. Er griff nach der Hand des alten Mannes. Im ersten Moment wirkte es, als wolle sein Vater seine Hand fortziehen, doch dann ließ er sie unter der seines erstgeborenen Sohnes liegen. Etwa zwanzig Minuten lang saßen sie schweigend nebeneinander und schauten aus dem Fenster, dann störte sie ein Klopfen an der Tür in ihrer einvernehmlichen Ruhe.
»Entschuldigung«, sagte eine junge Pflegerin. Sie war hübsch, mit dunklen Augen und langen Haaren, die sie zu einem glänzenden Dutt hochgebunden hatte. »Störe ich?«
»Nein, kommen Sie herein.« Er schob den Stuhl zurück und stand auf. »Mein Vater fragte bereits nach dem Mittagessen. Ist es jetzt so weit?«
Die Pflegerin nickte.
»Das ist gut. Ich nehme an, er ist hungrig.«
Sie lächelte. »Appetit hat er meistens. Viele unserer Bewohner würden das Essen glatt vergessen, aber er nie.« Sie trat ein paar Schritte näher. »Ich würde ihn heute gerne in den Speisesaal bringen, damit er Gesellschaft hat. An guten Tagen gefällt ihm das. Aber wenn Sie nun hier sind, können Sie sich was aus dem Café holen und mit ihm hier gemeinsam essen.«
Er blickte auf seine Uhr. »Heute nicht. Ich habe nicht mehr viel Zeit und etwas Gesellschaft täte ihm sicherlich gut.«
Wieder lächelte die Pflegerin.
»Kümmern sie sich gut um ihn.« Er drückte seinem Vater zum Abschied noch einmal die Schulter.
»Das machen wir«, versprach die junge Frau und er glaubte ihr. Immerhin zahlten sein Bruder und er sehr viel Geld dafür, dass es dem alten Herrn an nichts fehlte.
»Da bist du ja wieder«, sagte Lucy erleichtert, als sie Maschas Anwesenheit am Samstagmittag wahrnahm. »Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht, als gestern Abend nichts mehr von dir zu hören war.« Sie speicherte den Artikel, den sie für eine Nähzeitschrift verfasste, dann stellte sie ihren Laptop auf dem Wohnzimmertisch ab.
»Entschuldige, Liebes. Ich wollte nicht, dass du dich sorgst. Aber ich war beschäftigt wegen Bens Auftrag. Das hat mich gestern lange in dieser Firma gehalten, von der er erzählt hatte.«
»An einem Freitagabend?«, hakte Lucy erstaunt nach. »Haben die meisten da nicht schon Feierabend?«
»Daran hatte ich gar nicht gedacht, als ich mich dort umgesehen habe. Umso spannender ist es, was ich erfahren habe. Und danach wollte ich bei Anna vorbeischauen. Es gibt da nun leider ein paar Komplikationen in ihrer Schwangerschaft.«
»Das tut mir sehr leid. Wie geht es ihr?«
»Für den Moment ist alles so weit in Ordnung, aber sie muss sich jetzt ein bisschen schonen. Ihr Arzt hat sie vorerst krankgeschrieben.«
»Ich hoffe, es geht ihr bald besser.«
»Das hoffe ich auch, Liebes. Aber ihr Mann kümmert sich gut um sie. Er ist ein wirklich toller Mensch.«
Lucy überlegte einen Moment, ob sie Mascha erneut anbieten sollte, dass sie sich als Medium outen würde, damit Mascha mit ihrer Familie sprechen konnte. Sie hatte es Mascha schon einmal vorgeschlagen, doch Mascha hatte das Angebot damals abgelehnt. Ihre Familie hatte ihren Tod so gut verkraftet, wie es eben ging, und sie hatte keine alten Wunden aufreißen wollen. Mascha war zufrieden damit, auf ihre Art und Weise noch immer am Leben ihrer Kinder und Enkelkinder teilhaben zu können. Daher schob Lucy den Gedanken beiseite.
»Was genau hast du denn Spannendes erfahren?«, fragte sie daher und griff nach ihrem Notizheft. Sie hatte fast in jedem Raum ein solches Heft und einen Stift liegen, damit sie sich jederzeit Ideen für ihre Artikel oder für neue Schnittmuster notieren konnte.
»Aber Ben ist nicht hier.«
»Ich rufe ihn gleich sofort an, damit er Bescheid weiß.«
»Ich finde es besser, wenn er persönlich herkommt.«
»Aber er kann dich sowieso nicht hören. Und außerdem ist Samstag, er hat sicherlich was vor.«
»Das kannst du ja herausfinden, wenn du ihn anrufst und fragst.«
Lucy seufzte laut. »Mascha, kannst du mir jetzt bitte sagen, was du herausgefunden hast? Dann rufe ich ihn sowieso an oder schreibe ihm eine Nachricht.«
»Nein, Liebes. Es ist doch viel netter, wenn Ben vorbeikommt, sodass du es ihm persönlich erzählen kannst.«
*
Seine Augen brannten von dem stundenlangen Starren auf die Fahrbahn. Er brauchte eine Pause. Es brachte ihm nichts, wenn er todmüde an seinem Ziel ankam und zu nichts mehr zu gebrauchen war. Vermutlich hätte er nicht die Nacht durchfahren sollen mit nur einer halbstündigen Pause in einem Schnellimbiss. Denn so, wie er die Situation einschätzte, würde er seine ganze Aufmerksamkeit brauchen, sobald er sein Ziel erreicht hatte. Laut dem Navigationssystem würde er in rund dreißig Minuten in Bad Hersfeld ankommen. Er war noch nie dort gewesen, hatte aber schon von der Stadt gehört, die in Hessen als Fest- und Kurstadt galt. Sicherlich würde er dort ein gutes Hotel finden, in dem er sich für eine Nacht einquartieren konnte. Das würde ihm zugleich die Möglichkeit bieten, noch einmal zu überdenken, ob das, was er vorhatte, wirklich eine gute Idee war.
*
Lucy schmollte noch immer ein wenig, weil Mascha darauf bestanden hatte, dass Ben vorbeikam. Nun saß sie auf dem Rattansessel gegenüber von der Couch, auf der Ben in ihrem Wohnzimmer Platz genommen hatte. Sie hatte ihn nicht direkt auf dem Handy erreicht, aber er hatte sie kurz nach dem verpassten Anruf zurückgerufen. Als sie ihm erklärt hatte, dass Mascha ihr die Neuigkeiten nur verraten wollte, wenn er persönlich vor Ort war, hatte er sofort versprochen, am Nachmittag vorbeizukommen. Das hatte Lucy zum Anlass genommen, endlich mal ihr Wohnzimmer ein wenig aufzuräumen.
Schon beim Öffnen der Haustür war ihr aufgefallen, dass Ben ziemlich zurechtgemacht wirkte. Er roch gut nach irgendeinem Aftershave und trug ein schickes dunkelgraues Hemd zu einer schwarzen Jeans. Anscheinend hatte er noch etwas vor, und nun war er extra bei ihr vorbeigekommen, weil Mascha sonst nicht mit der Sprache herausrücken wollte. Sicherlich dachte Ben, dass das mit Mascha nur ein Vorwand war, um ihn zu sich nach Hause zu locken. Wie peinlich!
»Es tut mir wirklich leid, dass du extra herkommen musstest«, entschuldigte sie sich zum wiederholten Male. »Ich habe Mascha erklärt, dass das eigentlich nicht nötig ist, weil du sie sowieso nicht hören kannst.«
»Das ist in Ordnung. Ich bin froh, dass sie hilft.«
»Also gut. Du kannst dann jetzt berichten, Mascha.«
»Sei doch nicht so ärgerlich, Liebes«, meinte Mascha mit sanfter Stimme, und bevor Lucy ein weiteres Mal drängeln konnte, begann sie zu erzählen. Lucy hörte konzentriert zu, während Ben mit regungsloser Miene auf der Couch saß und sie beobachtete.
»Also, Mascha sagt, dass die Firma noch recht klein ist und dort noch nicht so viele Leute arbeiten. Deswegen hat sie sich zunächst vor allem im Büro des Geschäftsführers aufgehalten. Einem Robert.«
»Robert Weiler.«
»Robert Weiler ist sein vollständiger Name, sagt Mascha. In seinem Büro gab es aber nichts Interessantes zu sehen, also hat sie sich bei seinen Mitarbeitern umgesehen. Es waren gestern aber nur fünf Angestellte dort. Sie sagt, jeder hilft überall mit. Also egal, ob in der Buchhaltung, im Marketing und so weiter.«
»Sie nennen sich Start-up.«
»Weil sie anscheinend noch ein Start-up sind.«
Ben nickte. »Es gibt das Unternehmen erst seit dem Frühjahr.«
»Mascha sagte, es arbeiten außerdem einige weitere Mitarbeiter dort, die offenbar keinen festen Platz im Büro haben, sondern eher im Außeneinsatz tätig sind.«
»Es ist also ähnlich wie bei uns, als wir noch etwas kleiner waren. Über diesen Weiler haben Steffen und ich uns schon erkundigt, aber kaum Informationen über ihn gefunden. Die Lokalzeitung hatte im Mai einen kurzen Artikel über Security4U veröffentlicht, aber es gab keinerlei Fotos zu diesem Weiler oder Infos zu seinem Background. Hat Mascha dazu was herausgefunden?«
»Nein, dazu weiß ich nichts.«
»Leider nicht. Aber ihr ist ein junger Mann aufgefallen, der gestern in das Büro gestürmt ist und ziemlich Rabatz gemacht hat, weil er unbedingt mit Weiler sprechen wollte. Als er dann schließlich zu ihm durchgelassen wurde, wirkte Weiler sehr distanziert und der junge Mann sehr aufgebracht. Leider hat Mascha den Namen von dem anderen Mann nicht erfahren. Weiler hat ihm aber mehrfach gesagt, er solle sich beruhigen, aber der Jüngere meinte, er wolle sein Geld, sonst könne er was erleben. Dann hat er ihm noch eine Frist von zwei Tagen genannt und ist gegangen.«
»Ist Mascha dem jungen Mann gefolgt?«, fragte Ben mit hoffnungsvollem Blick.
»Nein«, antwortete Lucy nach einer kurzen Pause, in der sie Maschas Worten gelauscht hatte. »Der Vorfall war erst gestern Abend und Mascha war fast den ganzen Tag dort, wollte dann aber zurück zu ihrer Tochter, der es derzeit nicht so gut geht.«
»Das tut mir leid mit ihrer Tochter. Danke, dass sie dennoch bei Security4U vorbeigesehen hat. Kann sie den jungen Mann näher beschreiben?«
»Sie sagt, er wäre so mittelgroß, eher schlank und blond.«
»Würde Mascha ihn wiedererkennen? Ich könnte ihr in unserem Büro die Personalakten zeigen. Dort sind die Bewerbungsunterlagen unserer neuen Mitarbeiter mit Fotos auf dem Rechner gespeichert.«
»Du meinst also, der jüngere Mann könnte für euch arbeiten und diesem Weiler Infos verkaufen?«
»Das wäre eine Möglichkeit.«
»Hm, also Mascha meint, wenn ihr Fotos von euren Mitarbeitern habt, dann würde sie den Mann sicherlich wiedererkennen.«
»Das wäre gut. Es muss nichts mit unserer Sache zu tun haben, aber es ist auffällig.«
»Dann müsste ich allerdings mitkommen, wenn du ihr Fotos zeigen willst. Mascha kann vielleicht den Mann wiedererkennen, aber ihr könnt nicht miteinander kommunizieren.«
»Das stimmt.«
»Aber das ist kein Problem«, sagte Lucy schnell.
»Wann sollen wir mal im Büro vorbeikommen?« »Wann habt ihr Zeit?«
Sie zuckte mit den Schultern und überlegte einen Moment, ob sie wirklich zugeben wollte, dass sie an diesem Samstag nichts mehr vorhatte, außer es sich mit ein paar leckeren Knabbersachen vor dem Fernseher gemütlich zu machen.
»Mir würde es jetzt passen«, nahm Mascha ihr die Entscheidung ab. »Danach würde ich gerne wieder bei Anna vorbeischauen.«
»Mascha wäre es jetzt recht«, wiederholte Lucy.
»Passt es für dich auch?«
Lucy blickte auf ihre Armbanduhr und versuchte, geschäftig zu wirken. Ben hatte ihr vor ein paar Monaten geraten, dass sie mehr lebendige Freunde in ihrem Leben brauchte, statt sich fast ausschließlich mit Geistern zu umgeben. Sicherlich hatte er recht damit, doch es war gar nicht so leicht, neue Leute kennenzulernen, wenn man die meiste Zeit des Tages mit seinem Job verbrachte. Außerdem war ihr bewusst, dass sie auf andere Menschen zuweilen seltsam wirkte. Das war einer der Nachteile ihrer speziellen Gabe – es fiel ihr nicht leicht, neue Kontakte zu knüpfen. Vor allem dann nicht, wenn ein geschwätziger Geist in der Nähe war, der irgendetwas Negatives zu berichten wusste über die Personen, die Lucy interessant fand und gerne kennenlernen wollte.
»Ich könnte es schon einrichten«, sagte sie schließlich.
Ben wirkte erfreut. »Willst du bei mir mitfahren? Ich bringe dich danach wieder nach Hause.«
»Oh! Wir fahren gerne mit ihm mit, nicht wahr?«, säuselte Mascha.
»Als ob du irgendwo mitfahren müsstest!«, rutschte es aus Lucy heraus. »Du bist doch vermutlich lange vor uns im Büro.«
Für Geister hatten Entfernungen eine andere Bedeutung. Vadim hatte mal versucht, es ihr zu erklären, doch sie hatte nicht allzu gut zugehört. Mit Physik hatte sie nie besonders viel am Hut gehabt, das Fach hatte sie schon in der Schule gelangweilt.
Ben schaute sie irritiert an.
»Das war an Mascha gerichtet«, klärte Lucy ihn auf und erhob sich aus dem bequemen Rattansessel. »Dann lass uns mal fahren.«
»Tut mir leid, dass Mascha niemanden auf den Fotos erkannt hat«, sagte Lucy knapp eine Stunde später, als sie sich von den Büroräumen von Safetec Security zurück auf den Weg zu Bens Auto machten.
»Besser so«, sagte Ben. »Im besten Falle heißt das, dass wir keinen Spitzel im Büro haben.«
»Es sei denn, der Mann, mit dem Herr Weiler Streit hatte, hat mit diesen Werbezufällen gar nix zu tun.«
»Ich hoffe, das finden wir heraus«, murmelte Ben und entriegelte den SUV. »Hast du Hunger?«, wollte er dann wissen.
»Bitte?«, fragte Lucy verblüfft. Vermutlich hatte sie sich verhört.
»Ich fragte, ob du hungrig bist?«
»Öhm … ja, tatsächlich ein bisschen. Warum fragst du?«
»Auf dem Weg zu dir könnten wir bei einem Imbiss halten. Ich müsste noch schnell was essen.«
»Du isst Fast Food?« Das erstaunte sie. Ben sah nicht aus wie jemand, der Fast Food aß. Als sie vorübergehend bei ihm gewohnt hatte, hatte er fast immer selber mit frischen Zutaten gekocht.
»Selten. Aber die Zeit ist heute was knapp.«
»Von mir aus können wir gerne noch was essen.« Lucy war froh, dass Mascha nicht mehr bei ihnen war, die ein gemeinsames Essen sicherlich sofort als ernsthaftes Date eingestuft hätte. Doch das war Unsinn! Ben hatte lediglich Hunger. Bis sie den Imbiss erreicht hatten, sagte er zudem kein Wort mehr. Er wirkte nachdenklich und auch Lucy hing ihren eigenen Gedanken nach.
Als Dankeschön für ihre Zeit bestand Ben in dem Imbiss darauf, das Essen für sie beide zu bezahlen, und Lucy gab schließlich nach und schaute nach einem Tisch. Ben wartete währenddessen am Schalter, um ihre Bestellung entgegenzunehmen. Lucy blickte sich suchend um. Es war sehr voll an diesem frühen Samstagabend. Insbesondere viele Familien mit Kindern waren um diese Zeit unterwegs, doch schließlich fand sie in einer der hintersten Ecken einen freien Zweiertisch. Als Ben mit dem vollen Tablett zu ihr kam, kommentierte er ihre Tischauswahl nicht, sondern verteilte schweigend die bestellten Sachen.
»Soll ich Mascha bitten, sich noch mal bei Weiler im Büro umzusehen?«, fragte Lucy, nachdem sie ihren Hamburger verzehrt hatte.