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COSY CRIME: Schon früh musste Lucy lernen, dass ihre Begabung als Medium nicht nur ihre guten Seiten hat. Daher will sie ihr Talent vor anderen verbergen, doch das erweist sich als schwierig, als eine Nachbarin ermordet wird. Ausgerechnet der Geist Vadim, der Lucy seit einigen Jahren begleitet, hat den Täter gesehen. Da Vadim der Polizei nicht helfen kann, fühlt Lucy sich verpflichtet, dem ermittelnden Kommissar die nötigen Hinweise zu geben. Allerdings durchschaut dieser schnell, dass seine Zeugin etwas zu verbergen hat, und damit ist er nicht der Einzige. Plötzlich ist Lucy selbst in Gefahr, gerät aber zum Glück an den attraktiven Personenschützer Ben, der eigentlich wenig Wert auf Lucys Gesellschaft legt, aber dennoch bereit ist sie vor den Leuten zu beschützen, welche die unerwünschte Zeugin aus dem Weg räumen wollen.
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Seitenzahl: 339
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Schon früh musste Lucy lernen, dass ihre Begabung als Medium nicht nur ihre guten Seiten hat. Daher will sie ihr Talent vor anderen verbergen, doch das erweist sich als schwierig, als eine Nachbarin ermordet wird. Ausgerechnet der Geist Vadim, der Lucy seit einigen Jahren begleitet, hat den Täter gesehen. Da Vadim der Polizei nicht helfen kann, fühlt Lucy sich verpflichtet, dem ermittelnden Kommissar die nötigen Hinweise zu geben. Allerdings durchschaut dieser schnell, dass seine Zeugin etwas zu verbergen hat, und damit ist er nicht der Einzige. Plötzlich ist Lucy selbst in Gefahr, gerät aber zum Glück an den attraktiven Personenschützer Ben, der eigentlich wenig Wert auf Lucys Gesellschaft legt, aber dennoch bereit ist, sie vor den Leuten zu beschützen, die die unerwünschte Zeugin aus dem Weg räumen wollen.
Schon seit sie acht Jahre alt ist, schreibt Janine Meester Geschichten und liebt unterhaltsame Literatur. Auch die Musik hat sie immer fasziniert, daher absolvierte sie neben dem Psychologiestudium eine Gesangsausbildung. Zurzeit arbeitet sie in einer Agentur in der Weiterbildungsbranche und bildet sich zur Therapeutin weiter. Privat hat sie sich dem Schreiben von Romanen gewidmet, lebt mit ihrem Mann im Bergischen Land und reist gerne – am liebsten ans Meer.
»Bergische Nacht«, Kriminalroman, Emons Verlag (2022)
Für die, die immer da ist, wenn ich sie brauche. Für die, mit der ich am besten streiten, aber auch sehr viel lachen kann. Für meine größte Kritikerin, aber auch beste Freundin. Dieses Buch ist für Dich, große Schwester.
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
»Warten Sie!«
Ben hielt in seiner Bewegung inne und drehte sich zu der Stimme um, die leicht außer Atem klang. Eine junge Frau in einem sportlichen Outfit näherte sich ihm im Laufschritt.
»Sie sollten unbedingt mit den Leuten vom Haus gegenüber sprechen«, sagte sie, als sie etwa zwei Schritte vor ihm stehenblieb. »Hausnummer 54.« Sie drehte ihren Kopf nach links und deutete auf ein Haus auf der anderen Straßenseite.
»So?« Er öffnete den Kofferraum seines schwarzen SUV und verstaute seine schwarze Tasche darin.
»Auf jeden Fall.« Ihr langer, hellblonder Zopf wippte, als sie heftig nickte und noch einen Schritt näher an ihn heranrückte. »Die Nachbarn gegenüber brauchen wirklich dringend so eine Beratung.«
Er beugte sich vor, um eine weitere schwarze Tasche zu öffnen, die im Kofferraum lag. Mit einem Flyer in der Hand wandte er sich ihr wieder zu.
»Die habe ich in der ganzen Straße verteilt. Wenn Ihre Nachbarn Interesse haben, können sie sich jederzeit bei uns melden.« Er schenkte ihr ein kurzes Lächeln. Die junge Frau war ihm schon zuvor aufgefallen, als er ein älteres Ehepaar zum Thema Einbruchschutz beraten und den Garten der Kunden überprüft hatte. Sie war mit ihrem auffälligen hellblonden Haar auf der anderen Seite des Zauns aufgetaucht und hatte sich darum bemüht, unauffällig zu wirken. Was so gut wie immer schiefging, wenn man dafür nicht ausgebildet war.
»Es wäre aber wirklich dringend. Sie könnten doch mal dort klingeln und sich persönlich vorstellen.«
»Sie kennen die Leute?«, fragte er leicht abwesend, denn gedanklich war er schon im Feierabend und freute sich auf eine kalte Dusche nach dem unerwartet heißen Tag. Schon Anfang Juni herrschten Temperaturen wie sonst im Hochsommer und bei der Beratung im Garten hatte er eine Weile in der prallen Sonne gestanden.
»Natürlich! Ich wohne auch hier in der Straße, nur auf der anderen Straßenseite.« Sie deutete auf eines der Häuser, dann strahlte sie ihn an und reichte ihm die Hand. »Lucy.« Es war nur ein kurzer Händedruck, dann ließ sie seine Hand wieder los und tippte auf den Flyer. »Danke auch für die Werbung. Ich melde mich sicher auch noch, aber bei den Nachbarn ist es wirklich wichtiger.«
»Keine Sorge, die Häuser hier in der Straße haben alle den Flyer im Briefkasten«, versicherte er noch einmal und bemühte sich freundlich zurückzulächeln. Immer höflich bleiben, wenn es um potenzielle Neukunden ging. Das hatte sein bester Freund, der inzwischen auch sein Chef war, ihm eingetrichtert. Doch diese Dienstleistermentalität fiel ihm zuweilen noch schwer.
»Melden Sie sich einfach unter der Telefonnummer, wenn Sie eine Beratung wünschen«, schlug er daher vor, in der Hoffnung sie mit diesen Worten endlich abzuwimmeln. Doch da sie den Mund schon wieder öffnete, warf er schnell ein »Schönen Tag noch« hinterher und schloss den Kofferraum. Der Firmenwagen war ein weiterer Vorteil des neuen Jobs, den er inzwischen seit fast einem Jahr ausübte. Allerdings konnte er seinen Chef gedanklich zetern hören, dass er gerade dabei sei, eine mögliche Neukundin zu vergraulen. Wenn Lucys Haus genauso miserabel geschützt war, wie das ihrer Nachbarn, dann könnte sich durchaus ein lukrativer Auftrag für die Firma ergeben. Es war eine ältere Siedlung mit schönen Einfamilienhäusern, die aber keineswegs den neuesten Sicherheitsstandards entsprachen.
»Also gut«, gab er nach, als er ihren enttäuschten Blick auffing. »Ich gehe mal rüber zu Ihren Nachbarn.«
Das Lächeln kehrte auf ihre Lippen zurück. »Danke!«
»Hm«, brummte er, wischte sich die verschwitzten Hände an der Jeans ab und machte sich auf den Weg zu dem Haus auf der anderen Straßenseite. Es war heiß, er schwitzte, er war hungrig und es schlug ihm auf die Laune, seine Feierabendpläne zu unterbrechen.
Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass Lucy ihn beobachtete, während er bei Hausnummer 54 klingelte. Auf dem Schild neben der Klingel stand in altmodischer Schrift »Familie Bäumler«. Er erwartete, dass hier ein älteres Ehepaar wohnte, denn der Vorgarten und die Garageneinfahrt sahen nicht nach einer Familie mit Kindern aus. Doch als die Tür geöffnet wurde, wurde er eines Besseren belehrt. Im ersten Moment fühlte er sich, als wäre er in die Fantasien eines pubertierenden Teenagers geraten. Die Frau an der Tür war groß, blond und sehr hübsch, wenn auch etwas zu stark geschminkt und sie trug fast nichts am Körper. Das Nichts wurde nur von einem dünnen Satin-Bademantel verdeckt, der so weit offenstand, dass er die Farbe ihres BHs sehen konnte, aus dem ihre Brüste fast herausfielen.
»Entschuldigen Sie die Störung«, sagte er, etwas perplex von diesem unerwarteten Anblick.
»Oh, aber Sie stören doch nicht«, hauchte sie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er fragte sich, ob ihm irgendwer hier einen Streich spielen wollte. Erst die penetrante Lucy, jetzt diese aufgetakelte Nachbarin, die angeblich dringend eine Einbruchschutzberatung brauchte. Andererseits war er zu lange beim Spezialeinsatzkommando gewesen, um sich von so etwas aus der Ruhe bringen zu lassen.
»Ben Stevens von der Firma Safetec«, stellte er sich vor. »Eine Nachbarin bat mich, Ihnen unseren Service vorzustellen.« Er hielt der leicht bekleideten Frau den Flyer hin, den gleichen, den sie auch noch in ihrem Briefkasten finden würde.
»Wie reizend. Was für ein Service genau?« Bei den Worten zog sie die Augenbrauen hoch und starrte auffordernd auf seinen Schritt.
»Wir beraten unter anderem zum Thema Einbruchsicherheit, bieten aber auch …«
»Wie spannend!«, unterbrach sie ihn und lenkte ihren Blick auf sein Gesicht. Ben schätzte sie auf Ende dreißig, Anfang vierzig, allerdings war es in den letzten Jahren schwierig geworden, das wirkliche Alter einer Person richtig einzuschätzen.
»Welche Nachbarin denn eigentlich?«, fragte sie dann, ihn nicht aus den Augen lassend. Er drehte sich um, um zu sehen, ob Lucy noch immer neben seinem Wagen stand. Sie war tatsächlich noch da und winkte ihnen fröhlich zu.
»Ah, Lucy.« Die Frau blickte an ihm vorbei und lachte. »Das hätte ich mir denken können. Sie ist immer so besorgt.«
»Jedenfalls, wenn Sie Bedarf haben, rufen Sie einfach unter dieser Nummer an.« Er zeigte auf den Flyer.
»Und dann kommen Sie persönlich vorbei?« Der Blick von Frau Bäumler wanderte wieder tiefer.
»Ein Kollege oder ich.«
»Wann könnten Sie mich denn persönlich beraten? Mein Mann ist viel unterwegs und ich hätte am Freitag Zeit.« Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Den ganzen Tag.«
Zähneknirschend zog Ben sein Smartphone aus der Hosentasche und öffnete den Firmenkalender. »Freitag um zehn Uhr?«, schlug er vor, nachdem er die bisherigen Einträge für die restliche Woche überprüft hatte.
»Das passt mir ganz ausgezeichnet.«
Ben notierte sich den Termin. »Bis Freitag dann, Frau Bäumler.«
»Bis Freitag. Es war wirklich reizend, Sie kennenzulernen.« Sie schlug ihm die Tür nicht vor der Nase zu, sondern lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete ihn, während er sein Smartphone wieder in die Jeanstasche schob. Also hob er zum Abschied noch einmal die Hand und lief die Einfahrt zurück zu seinem Geländewagen. Lucy wartete dort auf ihn und blickte ihn erwartungsvoll an.
»Hat Mia direkt einen Termin mit Ihnen vereinbart?«, fragte sie und klang ein wenig aufgeregt.
»Das müssen Sie dann schon Ihre Nachbarin fragen.« Seine Laune war inzwischen auf dem Tiefpunkt. Dieser Tag hatte ungewöhnlich früh angefangen und er war erschöpft, was selten vorkam. Seit er seinen Job bei der Polizei quittiert hatte, arbeitete er für einen privaten Sicherheitsservice.
In den letzten Monaten hatte sich das recht junge Unternehmen durch Empfehlungen herumgesprochen und zunehmend Anfragen von neuen Kunden erhalten. Das hatte sich positiv auf sein Gehalt ausgewirkt, doch eher weniger gut auf seine Arbeitszeiten.
Er stieg in seinen Wagen und ließ eilig die Scheiben hinunter, um die Hitze herauszulassen – schon jetzt war er dieses Wetter leid.
Lucy beugte sich zu ihm herunter und blickte durch das geöffnete Fenster. »Haben Sie also einen Termin bei ihr?«
Innerlich verdrehte er die Augen über die Hartnäckigkeit dieser Frau. »Schönen Tag noch«, murmelte er und fuhr los. Im Rückspiegel konnte er sehen, dass sie seinem Wagen noch immer hinterher sah, obwohl er das Ende der Straße längst erreicht hatte.
*
»Hoffentlich hilft es«, murmelte Lucy, als sie die Haustür hinter sich zuzog. Es war dunkel in ihrem Haus, denn zum Schutz vor der Sonne hatte sie in allen Räumen die Jalousien unten gelassen. Doch inzwischen stand die Sonne so tief, dass sie wieder Licht in die Räume lassen konnte. Sie fing in der Küche damit an und starrte hinüber auf die andere Straßenseite, auf das Haus mit der Nummer 54. Sie wünschte, Vadim wäre bei ihr, doch sie konnte ihn gerade nicht in ihrer Nähe spüren. Es war so eine Angewohnheit von ihm, zu kommen und zu gehen, wie es ihm beliebte und sie hatte sich daran gewöhnt. Doch jetzt, in diesem Moment, in dem sie besorgt auf das Haus ihrer Nachbarin blickte, wäre ihr seine Gesellschaft lieber gewesen.
Freitagmorgen um neun Uhr vierzig. Ben war lieber zu pünktlich als zu spät, daher hatte er sich zeitig auf den Weg zu seinem Termin mit Frau Bäumler gemacht. Er musste nur noch an der nächsten Kreuzung links abbiegen, dann durch den Kreisverkehr und schon wäre er wieder in der Straße, in der er ein paar Tage zuvor auf Lucy und ihre aufreizende Nachbarin gestoßen war.
Irgendwie war er froh, wenn er diesen Termin endlich hinter sich hatte. Er hatte sogar überlegt, einen Kollegen zu schicken, aber noch war ihr Team zu klein, um spontan Ersatz zu finden. Und wenn sein Chef Steffen etwas hasste, dann eine Situation, in der sie Kunden kurzfristig Termine absagen mussten. Wer als Dienstleister nicht schnell genug war, wurde eben durch die Konkurrenz ersetzt. Dabei war Bens Spezialgebiet eigentlich der Personenschutz, doch da hatten sie bisher nur wenige Anfragen. Also sprang er öfters in anderen Bereichen ein, zumal sie noch keinen Nachfolger für einen Kollegen gefunden hatten, der aufgrund eines schweren Herzinfarkts noch krankgeschrieben war und nun einen vorzeitigen Ruhestand plante.
Nachdem er im Kreisverkehr die erste Ausfahrt genommen hatte, sah er plötzlich jede Menge Blaulicht vor sich. Mehrere Streifenwagen standen in dem sonst ruhigen Wohngebiet. Ben fuhr etwas näher heran, bevor er seinen Wagen am Straßenrand parkte. Das war einer der Vorteile in der Kleinstadt – man fand fast immer eine Stellfläche für das Auto, selbst wenn es ein größeres Modell war. Er stieg aus und kaum, dass sein Fuß die Straße berührte, eilte ein junger Polizist auf ihn zu.
»Wohnen Sie hier?«, blaffte der Mann ihn an und Ben musterte ihn ruhig. Er war solche Reaktionen gewohnt. Vielleicht lag es an seiner kräftigen Statur und seiner Größe von einem Meter neunzig, die manche einzuschüchtern schien, sodass sie sofort klarstellen wollten, wer hier das Sagen hatte.
»Ich habe hier einen Termin«, erwiderte er ruhig, während sein Gegenüber finster zu ihm aufblickte.
»Dann muss ich Sie bitten, zu gehen.«
Doch Ben dachte nicht daran. Er musterte die Reihe der Fahrzeuge, die in der Straße standen, und beobachtete einen Polizeibeamten, der das Haus mit der Nummer 54 betrat.
Vermutlich war in das Haus eingebrochen worden. Ein seltsamer Zufall angesichts der Tatsache, dass der Beratungstermin mit Frau Bäumler nur durch die besorgte Lucy zustande gekommen war.
»Wer übernimmt hier die Ermittlung?«, fragte er, statt dem Rat des Polizisten zu folgen.
»Geht Sie nix an«, schnauzte der.
»Mit dem falschen Fuß aufgestanden, was?«
Sein Gegenüber riss empört den Mund auf, doch bevor der Polizist etwas erwidern konnte, eilte ein weiterer Beamter in Uniform auf sie zu.
»Mensch, Ben! Was machst’n du hier?«
»Malte?« Überrascht blickte Ben den Mann an, der ein Kollege von ihm gewesen war, bevor er damals zum SEK gewechselt hatte. »Neue Dienststelle?«
»Sind umgezogen, meine Schwiegereltern wollten ihr Haus hier nicht mehr und haben es Maike und mir überlassen.« Malte grinste. »Und du? Wie geht’s dir? Haben uns doch ewig nicht gesehen.« Malte gab dem jungen Kollegen ein Zeichen, dass er sich vom Acker machen könne. Der entfernte sich, warf Ben aber noch einen feindseligen Blick zu.
»Gut geht’s, danke. Was ist hier passiert?«
»Weißt doch, darf ich dir nicht sagen, eigentlich«, flüsterte Malte in verschwörerischem Tonfall. »Aber gut, so unter alten Kollegen … eine Frau wurde ermordet.«
»Frau Bäumler?«
»Du kennst sie?«
»Das wäre übertrieben. Ich habe um zehn Uhr einen Termin mit ihr.«
»Den Termin kannste wohl vergessen! Tut mir leid. Was Privates?«
Ben schüttelte den Kopf.
»Ach ja, wegen Security Service, richtig?«, fragte Malte. »Irgendwer hat erzählt, dass du den Job beim SEK geschmissen hast.«
»Safetec Security«, sagte Ben und blickte zu dem Haus auf der anderen Straßenseite – zu Lucys Haus. »Ich würde gerne mit dem Ermittler sprechen. Mir ist da vor ein paar Tagen was aufgefallen.«
Malte überlegte kurz. »Na gut, komm mal mit. Kommissar Eibisch übernimmt die Ermittlung.«
»Eibisch?«
»Ja. Kennste?«
»Nicht, dass ich mich erinnern kann.«
Er folgte Malte, der sich mit schnellen Schritten auf Hausnummer 54 zubewegte. Es würde wieder ein warmer Tag werden, also trug er nur das dunkelblaue T-Shirt mit dem Firmenlogo, auf eine Jacke hatte er verzichtet. Immerhin hatte die Wettervorhersage im Radio versprochen, dass es maximal 24 Grad geben würde, und er hoffte, dass die Vorhersage ausnahmsweise stimmte.
Abgesehen von den Polizeibeamten war es auf der Straße ruhig, Anwohner waren keine zu sehen. In einigen Häusern standen jedoch Leute an den Fenstern und beobachteten das Szenario. Manche vermutlich aufgeregt, weil endlich mal los war in der sonst so ruhigen Siedlung, andere waren sicherlich höchst besorgt. Ben dachte an die Flyer, die er vor ein paar Tagen in dieser Straße verteilt hatte, und war froh, dass Frau Bäumler noch nicht zu ihren Kunden zählte. Das wäre keine gute Werbung gewesen, nun, da sie in ihrem eigenen Haus tot aufgefunden worden war. Die Tür zum Haus mit der Nummer 54 stand sperrangelweit offen. Von draußen konnte Ben mehrere Beamte in dem schmalen Flur sehen, ein Mann in Zivilkleidung stand zwischen den Uniformierten. Der Mann in Zivil war derjenige, der sich umdrehte, als Malte »Kommissar Eibisch, können Sie kurz kommen?« rief.
Ben schätzte den Mann auf Ende vierzig und es war deutlich zu sehen, dass Kommissar Eibisch nicht erfreut über die Störung war.
»Was gibt’s?« Er klang gereizt, als er sich Malte und Ben näherte.
»Ben hier, ein früherer Kollege von uns, möchte mit Ihnen sprechen«, erklärte Malte.
Ben streckte dem Kommissar die Hand hin. »Ben Stevens.« Er sprach seinen Nachnamen Englisch aus, schließlich stammte sein Vater aus England.
»Niklas Eibisch«, brummte sein Gegenüber. »Was haben Sie denn so Dringendes für mich, das nicht warten kann?«
»Ich habe Frau Bäumler am Dienstag kennengelernt.«
»Diese Woche Dienstag?«
»Ja. Ich war wegen einer Einbruchschutzberatung in der Gegend. Für heute hatte ich einen Termin mit ihr vereinbart.«
»Ach, Sie sind das. Wir haben einen Flyer in der Küche gefunden, auf dem ein Termin für heute notiert war.«
»Was genau ist passiert?«, wagte Ben einen Vorstoß, ohne weiter auf den Flyer einzugehen.
»Und was haben Sie mir jetzt zu erzählen, wenn Sie zuletzt am Dienstag hier waren?«, erwiderte der Kommissar, ohne auf Bens Frage einzugehen.
Also berichtete Ben von seiner Begegnung mit Lucy, die ihn vor einigen Tagen so bedrängt hatte, bei Hausnummer 54 zu klingeln.
»Vielleicht wurde Frau Bäumler bedroht und einige Nachbarn wussten Bescheid«, schloss Ben seine Erzählung ab. Schließlich bekamen Nachbarn oft mehr mit, als einem lieb war, und wenn Frau Bäumler von einem Stalker verfolgt worden war, war das in der Nachbarschaft sicherlich nicht unbemerkt geblieben.
»Diese Lucy hat sich also Sorgen um die Nachbarin gemacht«, wiederholte Kommissar Eibisch nachdenklich. »Guter Hinweis. Mit den Nachbarn müssen wir noch sprechen.« Er zog einen abgenutzten Notizblock hervor und schrieb etwas auf. »Vielleicht sollten wir dann mit dieser Lucy anfangen.« Den Satz sprach der Kommissar mehr zu sich selbst als zu Ben oder Malte. »Danke für den Hinweis, Herr Stevens.« Eibisch wirkte nun deutlich weniger abweisend als zuvor, und als jemand nach ihm rief, bat er Ben darum, kurz auf eine Kollegin zu warten, damit diese seine Personalien aufnehmen konnte. Der Kommissar ging zurück in das Haus, streifte sich zuvor jedoch neue Schutzfolien über die Schuhe. Malte und Ben zogen sich vom Hauseingang zurück auf die Straße, wo es plötzlich laut wurde.
»War ja klar, dass die Reporter hier auch auftauchen müssen«, brummte Malte genervt und ließ seinen Blick über die Straße wandern. »Muss dann mal die Gegend sichern vor der Meute«, entschuldigte er sich und entfernte sich eilig.
Gleichzeitig kam eine dunkelhaarige Frau aus dem Haus auf Ben zu. Er schätzte sie auf etwa sein Alter, also Mitte dreißig. Die Frau reichte ihm die Hand und stellte sich als Hauptkommissarin Carla Damico vor, dann nahm sie seine Daten auf. Als sie damit gerade fertig waren, kam Kommissar Eibisch wieder zu ihnen.
»Carla, ich gehe rüber zu der Nachbarin. Sprichst du in der Zeit mit der Reinigungsfrau? Sie ist noch im Haus. Der Arzt sagt, sie hätte sich beruhigt und könnte nun mit uns sprechen.«
»Klar, das übernehme ich.« Sie nickte Ben noch einmal zu, dann ging sie zurück Richtung Tatort.
»Hat die Reinigungskraft sie gefunden?«, fragte Ben, doch der Kommissar presste die Lippen aufeinander und schwieg. Leider war er nicht so gesprächig wie Malte. »Ich würde Sie gerne nach drüben begleiten«, sagte er dennoch, auch wenn er ziemlich sicher war, dass der Kommissar seine Bitte ablehnen würde.
»Danke, das kann ich schon alleine«, meinte Eibisch prompt, doch Ben ließ nicht so schnell locker.
»Mich kennt sie, das könnte vielleicht helfen.«
»Malte sagte, Sie waren mal einer von uns und beim SEK?«
»Ja.«
»Na dann … meinetwegen, kommen Sie mit«, gab Eibisch nach und fasste sich plötzlich mit schmerzverzerrtem Gesicht an den Magen. »Aber die Fragen stelle ich.«
»Sicher.« Ben folgte dem Beamten zu Lucys Haus. Dort angekommen, drückte der Kommissar auf die Klingel und schon kurz darauf wurde die Tür geöffnet, fast als hätte die Bewohnerin sie bereits erwartet. Lucy trug ihre ungewöhnlich hellblonden Haare wieder zu einem hoch gebundenen Zopf, dazu Shorts und ein dunkles T-Shirt, das mit Mehlstaub übersät war. Eine ihrer Hände steckte in einem gelben Backhandschuh.
»Hallo«, sagte sie und wirkte kein bisschen überrascht über den unangekündigten Besuch an einem Freitagmorgen. Ein Geruch nach Gebäck strömte ihnen aus dem Haus entgegen.
»Guten Tag Frau Maiwald«, las der Kommissar ihren Nachnamen von dem Klingelschild ab, auf dem Lucinda Maiwald stand, dann zückte er seinen Dienstausweis. »Ich bin Polizeihauptkommissar Niklas Eibisch und ermittele in einem Mordfall. Ich hätte da ein paar Fragen an Sie.«
Lucy betrachtete schweigend den Ausweis.
»Dürfen wir einen Moment reinkommen?«
»Sicher.« Lucy öffnete die Tür noch ein Stück weiter und trat einen Schritt zur Seite, um den Männern Platz zu machen. Der hellblau gestrichene Flur mit den weißen Holzpaneelen und hellen Möbeln machte einen freundlichen Eindruck.
Lucy führte die beiden Besucher durch die nächstgelegene Tür in eine geräumige Küche, die ebenfalls mit weißen Möbeln eingerichtet war. Dass Ben den Kommissar begleitete, schien sie nicht im Geringsten zu verwundern.
»Möchten Sie Kaffee?«, wollte sie wissen und Ben stellte fest, dass die Kaffeemaschine dampfte. Die Kanne war bereits vollgelaufen, so als hätte Lucy diesen Besuch erwartet. Er nickte, als ihm der Geruch des frisch gebrühten Kaffees in die Nase stieg.
»Immer gern«, sagte auch Kommissar Eibisch und nahm, nachdem Lucy auf die gemütlich aussehende Eckbank gewiesen hatte, dort Platz. Dann kramte er wieder seinen Notizblock hervor und legte ihn auf die Tischplatte, während Lucy drei Becher von einem Regal nahm und sie mit Kaffee füllte.
»Milch? Zucker?«
»Schwarz«, sagte der Kommissar.
»Nur Milch«, brummte Ben. Etwas störte ihn an dieser Frau, aber er konnte nicht benennen, was es war.
Sie stellte die gefüllten Becher und eine offene Packung Milch auf den Tisch, bevor sie ebenfalls Platz nahm. Ben warf einen Blick auf den Ofen, der ordentlich Wärme in der Küche verteilte. Lucy folgte seinem Blick und sprang vom Stuhl hoch, riss die Ofentür auf und zog schnell den gelben Backhandschuh wieder an, den sie zuvor abgelegt hatte.
»Entschuldigung, ich muss die Kekse rausholen.« Sie holte zwei Bleche aus dem Ofen und der Duft nach süßem Gebäck wurde noch stärker. Die beiden Männer sahen ihr zu, wie sie einige Kekse auf einem Teller verteilte, den sie dann neben die Kaffeebecher auf den Küchentisch stellte.
»Zitrone-Kokos«, erklärte sie. »Passend zum Wetter.«
Ben sagte nichts, war aber der Meinung, dass überhaupt kein heißes Gebäck zu diesen Temperaturen passte.
»Seltsame Uhrzeit zum Backen«, sagte er.
Der Kommissar warf ihm einen strafenden Blick zu.
»Ist ideal zum Stress abbauen«, entgegnete Lucy.
Ben musterte sie kritisch.
»Was stresst Sie denn, Frau Maiwald?«, mischte Kommissar Eibisch sich in das Gespräch ein.
Sie wirkte überrascht von der Frage. »Eine Nachbarin wurde ermordet.«
»Woher wissen Sie, dass es ein Mord war?«
Sie blinzelte ihn an. »Sie sagten, Sie ermitteln in einem Mordfall.«
Eins zu null für dich Lucy, dachte Ben.
Der Kommissar räusperte sich. »Herr Stevens erzählte mir von Ihrem Gespräch am Dienstag.«
»Natürlich hat er das.« Lucy lächelte Ben kurz zu.
»Das wirft die Frage auf, warum Sie so besorgt um Ihre Nachbarin waren. Welchen Anlass gab es dafür?«
Lucy seufzte und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Kekse, die vor Hitze noch immer dampften. »Ich hatte halt ein ungutes Gefühl.«
»Ein ungutes Gefühl?«
»Mia, also Frau Bäumler, war viel allein. Ihr Mann ist oft auf Dienstreisen.«
»Und das hat Sie beunruhigt?«
Sie nickte, doch Ben bemerkte, dass sie zögerte.
»Es gab also nichts Konkretes, von dem Frau Bäumler Ihnen erzählt hat?«
Sie zog die Schultern hoch. »Also vielleicht hat sie was beunruhigt, aber dann hat sie mir nichts davon erzählt.«
»Es gab also keine seltsamen Anrufe oder gar einen Stalker, von dem sie mal berichtet hatte?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Sie waren also besorgt, weil Frau Bäumler viel alleine war?«, fasste Eibisch nochmals zusammen.
Lucy nickte wieder.
»Viele Frauen wohnen alleine, Frau Maiwald.«
»Ja, das schon. Ich auch.« Sie schürzte die Lippen und strich sich mit einer Hand über das nackte Bein, dann zupfte sie an ihrem Pferdeschwanz. Ihr ganzes Verhalten wirkte auffällig nervös. »Mia hatte viele … Bekannte.«
»Bekannte?«
»Ja.«
»Können Sie die Bekannten näher beschreiben, Frau Maiwald?«, hakte Eibisch nach, während Ben nach dem Kaffeebecher griff und die warme Flüssigkeit genoss, denn der Kaffee war ausgezeichnet.
»Hm, ich weiß nicht. So genau habe ich sie nicht alle gesehen. Aber es waren ein paar komische Gestalten dabei.«
»Und Sie können diese Gestalten nicht näher beschreiben?«
»Einige vielleicht ja, ich weiß nicht recht. Ich habe sie nur zufällig gesehen und mir die Gesichter nicht eingeprägt.«
»Kennen Sie vielleicht Namen der Bekannten?«
»Nein, über ihre Besucher habe ich mit Mia nicht gesprochen. Ich hatte nur kein gutes Gefühl bei dem Umgang, den sie hatte. Als ich den Flyer in meinem Briefkasten fand, musste ich sofort an Mia denken.« Sie warf Ben einen Blick zu.
Der Kommissar wirkte wenig überzeugt. »Das ist alles sehr unkonkret, Frau Maiwald. Wen meinen Sie mit Gestalten? Männer, Frauen, alte Leute, junge Leute, Teenager, die Blödsinn machen?«
Sie errötete. »Männer.«
Eibisch notierte sich etwas. »Mehrere verschiedene Männer also?«
Sie schürzte die Lippen. »Ja«, sagte sie zögerlich.
»Frau Maiwald, es geht mir hier nicht um eine moralische Bewertung. Ihre Nachbarin wurde ermordet und jeder Hinweis kann hilfreich sein, um den Täter zu finden.«
»Was ist mit ihrem Mann?«
»Verdächtigen Sie ihn?«
Jetzt wirkten ihre Augen unruhig. »Ich habe ihn länger nicht gesehen.«
»Wegen der Dienstreisen?«
»Vermutlich.«
»Vermutlich?«
»Von einer Trennung hat Mia nichts erzählt.«
»Wie würden sie die Ehe der beiden denn beschreiben?«
Lucy zwirbelte ihren Zopf durch die Finger. »Geht so. Er war schließlich viel weg und Mia hatte diese Bekannten.«
»Diese ausnahmslos männlichen Bekannten?«
»Ja.«
Der Kommissar sah auf seine Uhr. »Ist Frau Bäumler ihrem Mann fremdgegangen?«
»Vielleicht, ich bin nicht sicher.«
»Hm. Erzählen Sie doch einfach mal, was Ihnen aufgefallen ist.«
Wieder warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf die Kekse. »Mia bekam häufig Männerbesuch, vor allem dann, wenn ihr Mann nicht da war.«
Ben konnte dem Kommissar regelrecht ansehen, wie Mias Ehemann auf der Liste der Tatverdächtigen auf Platz eins vorrückte. Eifersucht als Mordmotiv – ein Klassiker.
»Ich nahm an, dass es nicht nur gute Freunde waren, weil sie diese Besucher nicht hatte, wenn ihr Mann zu Hause war.«
»Sie haben aber nicht mit ihr darüber gesprochen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir waren Nachbarn, keine Freundinnen. Wir haben uns öfter mal kurz unterhalten, aber nicht über solche Themen.«
»Über welche Themen dann?«
»Gestaltung der Vorgärten zum Beispiel«, meinte Lucy und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Würden Sie die Männer, die bei Frau Bäumler zu Besuch waren, wiedererkennen?«
»Einige vielleicht.«
»Dann versuchen Sie doch einmal, diese Männer zu beschreiben.«
Lucy blickte an dem Kommissar vorbei aus dem Küchenfenster und schien angestrengt zu überlegen. »Einer sah ein wenig, nun ja … bedrohlich aus. Letzte Woche sah ich ihn zum ersten Mal hier in der Straße. Erst dachte ich, er hätte sich vielleicht verlaufen, aber dann hat er bei den Bäumlers geklingelt.«
»Können Sie ein paar Details nennen? Körperbau, Größe, Haarfarbe.«
»Normal groß würde ich sagen und schlank. Er hatte fast eine Glatze, so kurz waren seine Haare. Und er hatte eine lange Narbe auf der Wange. Dann trug er noch so eine Lederjacke, wie man sie von Motorradclubs kennt. Deswegen ist er mir auch aufgefallen, er passte so gar nicht hier in diese Gegend.«
»War er eher ein nord- oder südeuropäischer Typ?«, bemühte sich Kommissar Eibisch die Beschreibung zu präzisieren.
»Eher nordeuropäisch würde ich sagen.«
»Stand auf der Jacke etwas drauf?«
Lucy zuckte mit den Schultern. »Kann sein, aber daran erinnere ich mich nicht. Ich meine aber, dass ein Muster auf der Jacke war.«
»Wie würden Sie die Narbe beschreiben?«
»Auffällig. Es war eine große Narbe, sie verlief fast über die ganze linke Gesichtshälfte.« Sie fuhr sich mit einem Finger über die Wange.
»Und diesen Mann haben Sie letzte Woche zum ersten Mal bei Frau Bäumler gesehen?«
»Ja.«
»Ist er Ihnen danach noch mal aufgefallen?«
Lucy griff nach einem Keks. »Nein, seitdem nicht mehr.«
»Haben Sie das Fahrzeug gesehen, mit dem er hier war?«
»Nein, leider nicht. Wie gesagt, ich dachte ja, er hätte sich hier verlaufen, weil er zu Fuß durch die Straße lief.«
»Gibt es noch weitere Besucher, die Sie beschreiben können?«
»Einen Mann habe ich mehrfach gesehen oder eher gesagt sein auffälliges Auto, das öfter mal vor dem Haus der Bäumlers stand.«
»Haben Sie vielleicht das Kennzeichen von dem Wagen? Auch einzelne Ziffern würden uns schon helfen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, darauf habe ich nicht geachtet. Aber es war ein Porsche, die sieht man ja nicht so oft. In schwarz.«
»Neueres oder älteres Modell?«
»Puh, also es sah eher neu aus, aber ich bin kein Experte für diese teuren Autos.« Sie hob entschuldigend die Schultern.
»Wie würden Sie den Porschefahrer beschreiben?«
Sie zupfte an ihrem Zopf. »Seine Haare waren fast so hell wie meine. Auch eher ein nordeuropäischer Typ, wie Sie es wohl sagen würden. Kurze Haare und vielleicht so Ihre Größe, aber etwas kräftiger gebaut, aber auch nicht dick.« Sie biss in den Keks, schien aber noch etwas sagen zu wollen und der Kommissar wartete geduldig, bis sie fertig gekaut hatte.
»Na ja, und dann war da noch jemand … mit dunkelbraunen, kurzen Haaren. Die Nase sah komisch aus, wie von einem Boxer, der die Nase schon mehrfach gebrochen hatte. Sonst war er schlank, aber er sah aus wie jemand, der viel Sport macht.«
»Also muskulös?«, hakte der Kommissar nach und Lucy stimmte ihm nach kurzem Überlegen zu. Ben fiel auf, dass sie es bei der letzten Beschreibung vermieden hatte, den Kommissar anzusehen.
»Gibt es noch weitere Personen, die Sie beschreiben können?«
»Nein, tut mir leid.«
»Danke, Frau Maiwald. Das ist immerhin ein Anfang.« Der Kommissar räusperte sich. »Wo waren Sie letzte Nacht gegen etwa zwei Uhr morgens?«
Der Themenwechsel überraschte Lucy offensichtlich. »Ich?«
»Ja, Sie.«
»Hier zu Hause. In meinem Bett.«
»Dann haben Sie also nichts Verdächtiges bemerkt letzte Nacht?«
»Nein, tut mir leid.«
»Gibt es Zeugen für Ihre Aussage?«
»Bitte?« Verblüfft sah sie den Kommissar an. »Sie verdächtigen doch nicht etwa mich?« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.
»Das sind lediglich Routinefragen.«
Sie funkelte den Kommissar wütend an. »Nein, es gibt keine Zeugen, denn ich lebe hier ja alleine.«
Der Kommissar machte sich eine weitere Notiz. »Sie haben Herrn Stevens am Dienstag eindringlich nahegelegt, den Security Service bei Familie Bäumler vorzustellen, und heute Morgen wurde ihre Nachbarin tot aufgefunden.«
»Ja, das ist schrecklich.« Lucy wirkte aufrichtig betroffen, ohne auf den indirekten Vorwurf des Beamten einzugehen. Sie hörte auf, sich mit ihrem Zopf zu beschäftigen und nahm den Kaffeebecher zwischen ihre Hände, auf dem der Spruch »Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weitergehen« stand. Kommissar Eibisch blätterte derweil in seinen Notizen, bis er die gesuchte Seite gefunden hatte.
»Wie gut kennen Sie Frau Bäumlers Mann?«
»Nicht so gut, eher flüchtig. Er ist ja immer viel unterwegs.«
»Gibt es Nachbarn, mit denen Frau Bäumler oder ihr Mann mehr Kontakt hatten?«
»Ja, das Ehepaar Schmitten zum Beispiel. Ich glaube, sie haben ab und zu was zusammen unternommen. Mia erwähnte das zumindest mal. Die Schmittens wohnen auch hier, aber am Ende der Straße.«
»Können Sie mir die Hausnummer nennen?«
»Es müsste die Nummer 71 sein.«
»Danke, Frau Maiwald.« Der Kommissar griff in seine Tasche und zog eine Visitenkarte hervor. »Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, rufen Sie mich an. Jederzeit, auch wenn Sie zu den Beschreibungen der Männer noch etwas ergänzen wollen.«
»Okay«, sagte Lucy und griff nach der Visitenkarte.
»Eventuell kommen wir noch einmal auf Sie zu wegen eines Phantombildes. Unter welcher Telefonnummer kann ich Sie erreichen?«
Lucy nannte ihm ihre Handynummer, die sich der Kommissar notierte, dann deutete er auf seinen leeren Becher.
»Vielen Dank für den Kaffee.« Er stand auf und Lucy wollte es ihm gleichtun, doch er signalisierte ihr, dass sie sich wieder setzen könne.
»Danke, ich finde alleine hinaus.« Er verließ die Küche und Ben sah ihm einen Moment nach, bevor er sich an Lucy wandte, die die Visitenkarte beiseitelegte und gerade nach einem weiteren Keks greifen wollte.
»Sie hätten ihm die Wahrheit sagen sollen«, sagte er und nahm sich eines der inzwischen abgekühlten Plätzchen.
»Was?« Lucy wurde blass.
Ben stand auf und sie schob eilig ihren Stuhl zurück und tat es ihm nach. Sie war gut einen Kopf kleiner als er, dennoch blickte sie ihn trotzig an.
»Mich haben Sie jedenfalls nicht überzeugt.«
»Warum? Habe ich was Falsches gesagt?« Sie wirkte verunsichert, hielt seinem Blick aber dennoch stand, was ihn beeindruckte. Das schafften nicht viele Menschen.
»Es geht um das, was Sie nicht gesagt haben. Sie haben nicht gefragt, wie es passiert ist, wer sie gefunden hat, ob es Verdächtige gibt, ob Sie sich Sorgen machen müssen, dass hier in der Gegend ein Mörder unterwegs ist.«
»Dann bin ich ja froh, dass das nicht Ihr Fall ist!«, erwiderte sie hitzig.
»Glauben Sie mir, das bin ich auch. Schönen Tag noch und danke für die Bewirtung.« Er verließ das Haus und fühlte sich beobachtet, als er zu seinem Wagen lief. Aber vielleicht bildete er sich das nur ein, weil Lucy ihm einige Tage zuvor aufgelauert hatte. Hier gab es jetzt nichts mehr für ihn zu tun, zumal er Malte nirgends entdecken konnte. Doch als er in seinem Wagen saß und noch einmal auf die zahlreichen Streifenwagen blickte, beschlich ihn das ungute Gefühl, dass er nicht zum letzten Mal in dieser Straße gewesen war.
*
Sie sah durch das Küchenfenster zu, wie er aus der Parklücke rangierte.
»Wirklich super«, seufzte sie und kaute lustlos auf ihrem Keks herum, der ihr plötzlich nicht mehr schmeckte. »Zwei Jahre Ruhe gehabt und schon stecke ich wieder in Schwierigkeiten.«
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Vadim nichts gesagt hätte, denn dann hätte sie diesen Ben vor ein paar Tagen nicht auf sich aufmerksam gemacht. Andererseits war es schrecklich, was Mia zugestoßen war, und vielleicht würde ihre Aussage dem Kommissar in dem Fall weiterhelfen. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Vadim war nicht bei ihr, vermutlich trieb er sich am Tatort herum und würde sie später mit neuen Informationen versorgen. Frustriert verließ sie ihren Platz am Fenster, denn der schwarze SUV war inzwischen nicht mehr zu sehen. Sie verspürte das Bedürfnis, mit irgendwem über die Ereignisse zu reden und dachte an ihre Mutter, die immer ein offenes Ohr hatte, aber aufgrund der Zeitverschiebung von mehreren Stunden war das keine gute Idee. Außerdem wollte sie niemanden beunruhigen. Also setzte sie sich wieder auf ihren Küchenstuhl, starrte auf die Kekse und wartete darauf, dass Vadim zurückkehrte.
»Lucinda Maiwald ist also der volle Name der Zeugin?«, fragte Carla noch einmal nach, während ihre Finger auf der Tastatur ruhten und sie auf den Monitor blickte.
»Exakt.« Niklas nickte, was seine Kollegin jedoch gar nicht wahrnahm, da sie noch immer konzentriert auf den Bildschirm starrte. Auch er saß an seinem Schreibtisch und war froh, dass es bereits so spät war, sodass die Sonne nicht mehr das gemeinsame Büro aufheizte. Mal wieder waren die Lamellen kaputt, sodass die Sonnenstrahlen tagsüber ungehindert in den Raum fielen. Vor ein paar Jahren hatte er sich über das neue und geräumige Zimmer mit den großen Fenstern gefreut, doch inzwischen wünschte er sich sein kühles und etwas düsteres Büro im Erdgeschoss zurück.
Carla war so vertieft, dass sie auf einem Stift herumkaute. Eine ihrer wenigen schlechten Eigenschaften. Sie war eine ausgesprochen gute Ermittlerin und Niklas arbeitete gerne mit ihr zusammen. Er selbst hatte einen Becher Kaffee vor sich stehen, sicherlich schon den fünften oder sechsten heute, und der Tag war noch lange nicht zu Ende. Seine Frau Silvia würde toben, denn sie hatten für heute Abend einen Tisch reserviert, um mit Freunden gemeinsam Essen zu gehen und er würde sich vermutlich verspäten – wieder mal. Sein knurrender Magen sehnte sich zwar nach einer richtigen Mahlzeit, andererseits wollte er den Fall vorantreiben.
»Lucinda ist ein wirklich ungewöhnlicher Name«, meinte Carla nun.
»Hast du sie schon in unserer Datenbank eingegeben?«
»Lupenreine Weste.« Sie klang fast ein bisschen enttäuscht. »Krimimaltechnisch ist sie bisher noch nicht in Erscheinung getreten. Aber wozu gibt es Google und soziale Netzwerke.« Sie grinste und ihre Finger flogen über die Tastatur, der Stift in ihrem Mund wackelte. Niklas nahm den letzten Schluck von seinem Kaffee und sah seufzend in den leeren Becher. Eine weitere Tasse war tabu, sein Magen machte ihm schon genug Ärger.
Carla murmelte indes vor sich hin, bis sie plötzlich einen Pfiff ausstieß. »Niklas, das musst du dir ansehen!«
Alarmiert stand er auf, ging um seinen Schreibtisch herum und stellte sich neben sie, damit er einen Blick auf ihren Bildschirm werfen konnte. Carla deutete auf den Artikel, den sie gerade gelesen hatte, und Niklas überflog die Zeilen.
»Hm, interessant.«
»Hier ist noch ein Bericht darüber.« Carla klickte eine andere Webseite an und strich sich eine schwarze Haarsträhne hinters Ohr. »Ich kann mich sogar noch daran erinnern, das war eine ziemlich große Sache vor knapp zwei Jahren. Wochenlang wurde darüber in den Medien berichtet.«
»Ja, ich weiß. Es hatte niemand mehr erwartet, dass dieser Fall ein gutes Ende nimmt.«
»Andererseits muss es natürlich nicht dieselbe Lucinda Maiwald sein. Aber das kriegen wir raus.«
»Kannst du dich da dransetzen?«
»Sicher, das dürfte nicht lange dauern. Das Internet vergisst halt nicht.«
Niklas nahm wieder an seinem Schreibtisch Platz. »Und wenn sie es ist, werde ich ihr wohl einen weiteren Besuch abstatten.«
*
»Safetec Security GmbH, hier spricht Elyas Elkin.«
»Oh, hallo, Herr Elkin. Ich wollte eigentlich Ben Stevens sprechen. Ich habe die Nummer von seiner Karte.«
»Sie sind richtig verbunden. Aber Ben ist erst Montag wieder im Dienst, deswegen wurde der Anruf weitergeleitet. Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen.«
»Ich rufe an, weil ich gerne einen Termin für eine Einbruchschutzberatung hätte. Ihr Kollege hatte bei uns in der Straße Flyer verteilt.«
»Wenn Sie einen Moment warten, dann sehe in seinem Terminkalender nach.«
»Das wäre gut, vielen Dank.«
»Mit wem spreche ich denn eigentlich?«
»Mit Lucy Maiwald.«
»Schön, Frau Maiwald. So, ich habe den Kalender geöffnet. Wann passt es Ihnen denn?«
»Geht es vielleicht direkt am Montag? Montagfrüh?«
»Moment, ich sehe nach. Hm, nein tut mir leid. Es geht frühestens ab zwölf Uhr. Besser halb eins. Geht das?«
»Ja, das passt auch.«
»Dann bräuchte ich noch Ihre Anschrift, Frau Maiwald.«
Lucy rasselte ihre Adressdaten herunter und hörte, wie ihr Gesprächspartner eifrig tippte.
»Gut«, sagte er schließlich. »Montagmittag um halb eins, der Termin ist eingetragen.«
»Vielen Dank.«
»Ich danke Ihnen. Ein schönes Wochenende wünsche ich.«
»Danke, Ihnen auch.« Lucy legte auf und atmete tief ein. »Du hast mich echt beunruhigt, Vadim!« Sie lief die Treppen hoch in ihr Schlafzimmer, das zugleich ihr Lieblingszimmer in dem Haus war. Neben dem großen Bett und dem kleinen Nachttisch enthielt es einen Lesesessel und ein riesiges Bücherregal. Für ihre Kleidung hatte sie ein eigenes kleines Ankleidezimmer, das sie direkt vom Schlafzimmer aus betreten konnte. Das war der Vorteil, wenn man alleine in einem Reihenhaus lebte – man hatte jede Menge Platz, den man nicht teilen musste. Andererseits wünschte sie sich oft genug, dass sie jemanden zum Teilen hätte. Vielleicht sollte sie sich ein Haustier anschaffen, doch darüber konnte sie sich ein anderes Mal Gedanken machen, denn jetzt hatte sie eindeutig andere Sorgen.
»Tut mir leid«, nahm sie Vadims Stimme wahr. »Aber ich schätze, so ist es am besten.«
»Ja ja, schon gut. Ich weiß, du willst nur helfen.« Sie kniete sich auf den Boden und zog die kleinere der beiden Reisetaschen unter ihrem Bett hervor. Dann kramte sie ein paar ihrer Lieblingssachen aus dem Schrank und packte die Kulturtasche im Bad. Für ein Wochenende würde sie nicht viel brauchen, denn bereits Montagmittag würde sie wieder hier sein. Pünktlich zu ihrem Termin mit Ben Stevens, der ihr dabei helfen würde, ihr Haus sicherer zu machen. Was, laut Vadims Einschätzung, dringend notwendig geworden war. Sie spürte eine Gänsehaut und zog den Reißverschluss der Reisetasche zu.
Vielleicht war es gar nicht besonders günstig, Ben wiederzusehen, nachdem er ihr so offen mitgeteilt hatte, dass er sie für eine Lügnerin hielt. Schließlich gab es genügend andere Firmen, die ähnliche Dienstleistungen anboten. Aber auch, wenn Ben ihr nicht traute, hatte sie ein gutes Gefühl bei ihm und Vadim hatte keine Einwände gehabt.
Solange ihr Haus nicht sicher war, schien es besser zu sein, für ein paar Tage zu verschwinden. Sie musste gar nicht weit weg. Sie würde einfach in die nächste Großstadt fahren und sich ein schönes Hotel suchen. In Düsseldorf war sie schon länger nicht gewesen und der ein oder andere Spaziergang am Rhein entlang würde ihr sicherlich guttun. Wenn sie schon nicht würde backen können, brauchte sie eine andere Ablenkung, um ihre aufgewühlten Nerven in den Griff zu bekommen. Als sie die Reisetasche nach unten trug, wunderte sie sich, wie viel Gewicht durch ein paar Klamotten zustande kam. Vermutlich hatte sie doch etwas zu viel eingepackt. Sie blieb mitten auf der Treppe stehen und überlegte, zurück ins Schlafzimmer zu gehen und einige Sachen wieder auszusortieren.
»Einige fangen an, sich für das Haus hier zu interessieren«, erinnerte Vadim sie.
»Schon gut«, meinte Lucy und setzte ihren Weg nach unten fort. Mit einem leisen Bedauern, weil sie nun über das Wochenende nicht würde arbeiten können, zog sie die Haustür hinter sich zu und ging zu ihrem Auto.
*