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Seinen Artikel über den älteren Bruder Heinrich konnte Thomas Mann laut Tagebuch am 6. Februar 1946 abschließen, nachdem die Arbeit daran ihn einige Tage in Anspruch genommen hatte. Die richtigen Worte zu finden war nicht leicht, denn nicht nur war Heinrich, der ebenfalls in die USA emigriert war, zeitlebens kein großer Erfolg auf dem amerikanischen Literaturmarkt beschieden und die Aufmerksamkeit aus der ehemaligen Heimat war spärlich, verglichen mit derjenigen, die der jüngere Bruder erfuhr. Seit dem Tode seiner Ehefrau Nelly im Dezember 1944 litt Heinrich Mann zudem unter schweren Depressionserscheinungen – auch dies war in einem Text dieser Art selbstverständlich nicht zu erwähnen. Der Erstdruck erfolgte in der deutschsprachigen kommunistischen Exilzeitung Neues Deutschland (ehemals Freies Deutschland, Mexiko City) in der Ausgabe von März/April 1946, mit deren Initiatoren Heinrich Mann gelegentlich in Kontakt stand. Erneut veröffentlicht wurde der Text unter anderem 1950 im Aufbau und in The German American.
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Seitenzahl: 14
Thomas Mann
[Bericht über meinen Bruder]
Essay/s
Fischer e-books
In der Textfassung derGroßen kommentierten Frankfurter Ausgabe(GKFA)Mit Daten zu Leben und Werk
Pacific Palisades den 2. II. 46
Geehrte Herren,
bei Annäherung des fünfundsiebzigsten Geburtstags meines Bruders fragen Sie mich nach seinem Ergehen. Es geht ihm recht wohl, ich danke sehr. Den vor bald anderthalb Jahren erlittenen Verlust seiner Lebensgefährtin, der Frau, die ihn an jenem 21. Februar 1933 in Berlin zur Straßenbahn, zum Bahnhof nach Frankfurt (zunächst nach Frankfurt) begleitete und tapfer dabei ihre Tränen unterdrückte, hat er mit der eigentümlichen Kraft und Gefaßtheit des Geistes, die dem Schicksal ebenbürtig sind, überwunden, und seine Einsamkeit, ein im Grunde natürliches Element für seinesgleichen und ihm vertraut durch viele Jugend- und frühe Mannesjahre, ist belebt und diskret betreut von bewundernder Freundschaft, von der ehrerbietigen Liebe seiner Nächsten. Er erlaubt, läßt es sogar mit Rührung zu, daß andere bis zu einem gewissen Grade die Versorgung und Beschirmung seines bedeutenden Lebens zu ihrer Sache machen, die sonst von der Hingegangenen versehen wurden. Aber das gütige Gewährenlassen hat seine Grenzen; ihrem Vorrecht, ist es auch nur noch ein Andenken, darf dabei nicht zu nahe getreten werden. Eine kleine Geschichte: Da von jeher seine Atmungsorgane empfindlich waren, spielt in seiner Garderobe der Shawl, unterm Mantel zu tragen, oder auch ohne ihn, eine Rolle. Er besitzt einen solchen von der Hand seiner Frau, von ihr gestrickt; der ist schon alt. Ersatz schien wünschenswert. Unter den kleinen Gaben, die man ihm zu Weihnachten darbrachte, war, garnicht übel anzusehen, ein neuer Shawl. Er hat ihn mit sanfter Bestimmtheit beiseite geschoben und ignoriert. Keine Übergriffe! Es bleibt bei dem alten Shawl, bei dem ihren. –
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