Berlin Monster - Ein Dieb kommt selten allein - Kim Rabe - E-Book

Berlin Monster - Ein Dieb kommt selten allein E-Book

Kim Rabe

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Privatermittlerin Lucy hat sich auf übernatürliche Fälle spezialisiert. Und von denen gibt es so einige in Berlin, wo Geister in den Plattenbauten spuken und Kobolde den Kiez unsicher machen. Den Auftrag vom Pergamon-Museum, mythische Artefakte zu überprüfen, hält sie für eine leichte Sache. Als sie ausgerechnet die zwei gefährlichsten als Fälschungen identifiziert, wird Lucy auf einmal verdächtigt, die echten gestohlen zu haben. Gejagt von der Polizei heftet sie sich an die Fersen der Diebe, um ihre Unschuld zu beweisen. Doch dann werden die geraubten Artefakte auch noch bei einer Serie dreister Banküberfälle eingesetzt, und plötzlich steht mehr auf dem Spiel als nur Lucys Glaubwürdigkeit ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 538

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumInhaltswarnung1234567891011121314151617181920212223242526272829303132

Über das Buch

Privatermittlerin Lucy hat sich auf übernatürliche Fälle spezialisiert. Und von denen gibt es so einige in Berlin, wo Geister in den Plattenbauten spuken und Kobolde den Kiez unsicher machen. Den Auftrag vom Pergamon-Museum, mythische Artefakte zu überprüfen, hält sie für eine leichte Sache. Als sie ausgerechnet die zwei gefährlichsten als Fälschungen identifiziert, wird Lucy auf einmal verdächtigt, die echten gestohlen zu haben. Gejagt von der Polizei heftet sie sich an die Fersen der Diebe, um ihre Unschuld zu beweisen. Doch dann werden die geraubten Artefakte auch noch bei einer Serie dreister Banküberfälle eingesetzt, und plötzlich steht mehr auf dem Spiel als nur Lucys Glaubwürdigkeit …

Über die Autorin

Kim Rabe wurde Weihnachten 1981 im verschneiten Alpenvorland geboren. Heute lebt und schreibt sie in der schönen Stadt Nürnberg. Sie arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in einem Forschungsinstitut und nutzt jede freie Minute, die ihr neben Arbeit und Familie bleibt, zum Schreiben von magischen Geschichten. Ihr neuster kreativer Ausflug führt die Leser nach Berlin.

KIM RABE

ROMAN

EIN DIEB KOMMTSELTEN ALLEIN

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch-Download erschienen

Originalausgabe

Copyright © 2021/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Hanka Leo

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock: Marco Richter | alamella | Kconstantine | Sabphoto | Kozyreva Elena | solar22 | TRONIN ANDREI

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-2107-3

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Inhaltswarnung:

Dieses Buch enthält Szenen mit folgenden Themen, die für Leser:innen belastend sein könnten: Alkoholkonsum, Drogenkonsum, Gewalt, Rassismus, Gefangenschaft, Ersticken, Suizidversuch, Mord.

1

Es gibt diese Tage, an denen nichts geschieht. An denen wir die Zeit für Wochen anhalten könnten oder vorspulen, ohne in der Erinnerung einen Unterschied zu bemerken.

In meinem Fall waren es zwei frustrierende Monate und zwei mickrige Fälle. Ich hatte eine wochenlang schmerzlich vermisste Siamkatze gesucht, die sich als treuloses Biest entpuppte und mich blutig kratzte, als ich sie fett gefressen aus der Nachbarwohnung zurücktrug. Und ich hatte eine ebenso treulose Ehefrau beschattet, deren Mann nach meinen Enthüllungen so untröstlich war, dass er sich mit meinem Honorar nach Teneriffa davonmachte. Etwa vierzehn Mal musste ich meine Vermieterin beschwichtigen, weil ich mit der Miete im Rückstand bin.

Wenn es so weitergeht, wird auf meinem Grabstein stehen: Keine besonderen Vorkommnisse – und das wäre eine Schmach, als Privatdetektivin in einer Stadt, in der kaum ein Vorkommnis nicht besonders ist.

Aber weil die Zeit zum Glück ein verrücktes Konstrukt ist, gibt es auch diese Tage, an denen dann alles auf einmal geschieht.

So wie heute. Es ist eigentlich ein Sonntag zum Ausschlafen und Kater kurieren. Stattdessen stehe ich im Treppenhaus am Fenster, ein Umzugskarton unter dem Arm, und gähne Zigarettenrauch in die Morgendämmerung – als ein Schatten vor dem Fenster vorbeirauscht. Ein Knall schlägt mir wie eine Faust auf die Ohren, gefolgt von einem misstönenden Scheppern und Klimpern. Zeitgleich schrillt in meiner Tasche das Telefon los, und vom oberen Stockwerk rast eine Palme auf mich zu.

Ich werfe die Kippe aus dem Fenster und gehe in Deckung. Die Palme poltert an mir vorbei die Stufen hinab. Wedel kratzen über meine kurzen Locken, als versuchten sie, sich daran festzukrallen. Zehn Stufen tiefer geht der Tontopf zu Bruch. Scherben klirren, Blähtonkügelchen kullern durchs Treppenhaus.

»Oh Lucy, Entschuldigung!« Cosimas Gesicht taucht über mir auf, fast so pink leuchtend wie ihr Trainingsanzug. Locken ringeln sich aus ihrem Pferdeschwanz, Mascara gerinnt mit Schweiß zu schwarzen Streifen an ihren Schläfen. Trotzdem vollbringt sie das Kunststück, bei ihrem Umzug zauberhaft auszusehen.

»Mir ist die Palme vor Schreck aus den Händen gerutscht«, ruft sie. »Was war das für ein Knall?« Schon springt sie zu mir herab und beugt sich aus dem Fenster.

»Mein Klavier!« Ihre Stimme klirrt vor Entsetzen.

Ich schaue hinaus auf eisbereifte Platanen und dösende Häuserzeilen, dann hinunter zur Straße. Zwischen umgenieteten Pfosten und dem Grünstreifen des Sparrplatzes parken Cosimas rostgrüner Mini und der zerbeulte Sprinter der Spedition Trylle. Und auf dem Kopfsteinpflaster liegt Cosimas Klavier – besser gesagt das, was einst ihr Klavier gewesen ist.

Ein Trümmerhaufen zerschmetterter Holzplanken, aus denen Drahtsaiten baumeln. Weiße und schwarze Klaviertasten verteilen sich übers Pflaster wie ausgeschlagene Zähne.

Cosima stößt eine Reihe unflätiger Worte aus, dann schlägt sie die Hände vor den Mund. Ich recke die Faust und füge ihren Flüchen noch ein paar meiner eigenen hinzu. Das Dutzend Pixies, das über dem Debakel in der Luft herumsaust, wird still und lugt zu uns herüber.

Nur das Telefon in meiner Tasche schrillt immer noch.

»Ihr elenden Nichtsnutze«, brülle ich. »Ich hoffe, ihr seid versichert!«

Dem entsetzten Blick des Trolls, der soeben aus dem Transporter steigt, entnehme ich, dass dem nicht so ist.

Verdammt. Es war meine Idee gewesen, Trylle eine Chance zu geben. Ein Umzugsunternehmen, geleitet von einem schwedischen Felstroll und einem fliegenden Kobold, hielt ich für eine unterstützenswerte Sache. Stifs haben es immer noch schwer, eigene Geschäfte aufzuziehen. Außerdem waren sie günstig.

»Casrentin wars«, schreit einer der Pixies los, ein rothaariger Kerl mit Libellenflügeln. »Der hat dit Klavier losjelassen.«

»Dit war Melmuyres Schuld«, keift ein Blonder. »Der hat mir ins Ohr jebissen.«

»Weil du zujegeben hast, dass du Gwenny den Ring jeschenkt hast«, kreischt ein anderer und versetzt Casrentin einen Hieb.

»Na und?« Casrentin senkt den Kopf und rammt ihn Melmuyre in den Bauch, der packt ihn und wirft ihn zurück durch die Luft, dass er einen Salto hinlegt. »Sie is meene Freundin!«

»Warum weeß se dann nüscht davon?«

Flügelschlagend prallen sie gegen die anderen Pixies, und im Nu ist eine luftige Keilerei im Gange.

Ich will in Grund und Boden versinken. »Oh Mann, diese Trottel. Das tut mir so leid.«

Tränen glitzern in Cosimas Augen. »Kannst du nichts für, Lucy.«

Doch, das kann ich. »Ich klär das für dich.«

Wir eilen die Treppe hinunter. Sie richtet unterwegs die Palme auf, ich schalte mein Telefon stumm.

Wir sind nicht die Einzigen, die sich das Desaster aus der Nähe anschauen. Bei Müllers im zweiten Stock wackeln entrüstet die Gardinen, im ersten Stock hat Frau Can ihr Fenster geöffnet. Vom Späti kommen Volkan und seine Tochter herbeigeeilt. Zwei Rentnerinnen in Daunenmänteln nehmen auf der Parkbank Platz, Vogelfuttertüten als Alibi auf den Knien, und vom Sparrplatz schlappen ein paar Teens heran, wahrscheinlich auf dem Heimweg von irgendeiner Party. Sie fläzen sich mit Augenringen und Bierflaschen auf Cosimas Stühle, die hinter dem Heck des Transporters im steif gefrorenen Gras stehen. Der Erste macht sein Handy startklar.

»Willkommen im Wedding«, murmele ich. »Gleich baut jemand ’nen Grill auf.«

Cosima betrachtet schluchzend die Reste ihres Klaviers.

Ich verschränke die Arme und brülle: »Trylle!«

Er kommt auf uns zumarschiert, seine Omega-Strahlung brummend wie ein Bergwerk. Schwarze Augen stechen unter felligen Brauen hervor, und sein Kiefer ist so breit, dass er ein Croissant quer essen könnte.

Trolle wirken auf die meisten Leute finster bis bedrohlich, doch ihre Mimik kennt feine Nuancen. Trylles Nase bebt, und er zerknüllt sein Käppi mit dem grünen Firmenlogo zwischen den Fingern. Er ist äußerst zerknirscht.

Einer der Pixies landet auf seiner Schulter und lässt sich zu uns transportieren. Rotblond, vielleicht irisch, das gleiche Käppi in Klein. Trylles Geschäftspartner. Er schaut deutlich giftiger drein, und sein Omega surrt wie ein Moskito. Ich hüte mich, ihn zu unterschätzen. So zierlich wie die Kobolde wirken, sind sie doch stark genug, um zu viert ein Klavier durch die Luft in den fünften Stock zu tragen. Außerdem ist ihre Spucke ätzend.

»Tut mir leid, Frau«, grollt Trylle in Cosimas Richtung, woraufhin sie einen Schritt zurückweicht. »Sehr leid.«

»Dieses Klavier«, zische ich. »War Cosimas Ein und Alles. Ihr habt es kaputt gemacht. Ihr habt ihr diesen wunderbaren Tag versaut.«

»Ich weiß.« Er knetet seine Kappe so fest, dass der Stoff quietscht.

»Ihr kriegt ’nen Nachlass«, sagt der Pixie auf seiner Schulter. »Dreihundert Euro.«

»Dreihundert Euro?« Ich stoße den Atem aus, dass er wie ein empörter Geist zwischen uns in der Luft schwebt. »Hast du jemals Klavier gespielt? Weißt du, wie viel so ein Instrument wert ist? Da hängen Erinnerungen dran!«

Trylle stöhnt auf. Die Teens filmen, Cosima kniet sich aufs Pflaster und streicht über das zerschmetterte Holz.

»Fünfhundert.« Der Pixie verschränkt die Arme. »Mehr war der Holzkasten nich wert.«

»Achthundert«, sage ich. Hinter mir nehme ich plötzlich eine weitere Präsenz wahr. Ein Omega-Schnurren, das mich so wohlig umfängt, dass ich mich direkt hineinkuscheln könnte.

»Außerdem räumt ihr die Straße wieder astrein sauber und entsorgt alles«, füge ich hinzu.

»Und sobald Cosima ein neues Klavier erworben hat, liefert ihr es kostenfrei in den fünften Stock«, ergänzt eine kultivierte Männerstimme. »Ohne es fallen zu lassen.«

Aki. Er tritt lautlos neben mich. Mit seinem eleganten Mantel sieht er aus, als käme er von einem Geschäftstermin, dabei ist er Schriftsteller und trägt statt einem Aktenkoffer eine Katzentransportbox, aus der zwei neugierige Augen blinken. Sie gehören zu Professor, Cosimas Kater. Doch das Schnurren stammt von Aki, und ich bin die Einzige, die es wahrnehmen kann.

Akaman Div – eigentlich Akwân-e Dîw – ist ein Dämon. Genauer gesagt, der persische Erzdämon der bösen Gedanken, entsprungen aus dem Aberglauben einiger Wüstenvölker.

Man sieht es ihm nicht an. Er ist schmal, nur ein Daumen breit größer als ich. Sein schwarzes Haar ist leicht wellig und sein Gesicht auf eine unaufdringliche Weise attraktiv. Nur seine geschwungenen Augenbrauen verraten ihn. Je nach Mienenspiel geben sie ihm etwas Katzenhaftes – oder etwas Teuflisches.

Aber vor allem ist er mein Mitbewohner und bester Freund. Seine Omega-Strahlung würde ich aus jeder noch so großen Menge herausspüren.

»Könnt ihr vergessen!«, schimpft der Pixie.

Trylle hebt die Pranke, als wolle er ihn fortwischen. »Gut, achthundert.« Er streckt die Hand Richtung Cosima aus, ignoriert das fauchende Gezappel auf seiner Schulter.

Cosima zögert.

»Nimm es an«, sage ich, und auch Aki nickt ihr zu. Achthundert kostet der gesamte Umzug. Da Trylle keine Versicherung hat und der Deal steuerfrei lief, haben wir keine Chance, mehr herauszuschlagen. Außerdem will ich niemanden übers Ohr hauen. Zumindest niemanden, der eigentlich in Ordnung ist.

»Okay.« Cosima hält Trylle die Hand hin und guckt mit ängstlicher Miene zu, wie er sie drückt. Das Publikum zieht murrend von dannen, es hatte wohl mehr erwartet.

»War das nicht ein bisschen hart?«, raunt Cosima. »Die haben es doch nicht mit Absicht fallen lassen. Und ich kann mir ein Neues kaufen. Ich meine, sie sind eben …«

»Sie sind in erster Linie Geschäftsleute«, flüstere ich zurück. »Und wenn du sie respektierst, solltest du sie auch so behandeln. Außerdem war das Klavier mehr wert.«

Ich weiß, dass sie uns zuhören. Ihr Gehör ist deutlich feiner als unseres. Die Pixies beginnen aufzuräumen, zischen sich dabei gegenseitig Beleidigungen zu. Trylle schnappt sich einen Stapel Kisten und stampft durchs Treppenhaus.

Aki hebt die Box mit dem maunzenden Professor hoch.

»Ihr friert«, stellt er fest. »Kommt, ich mache euch einen Kaffee.«

»Tee ist auch in Ordnung«, sagt Cosima. »Ihr trinkt doch lieber Tee? Ich hab in der Küche den Stapel Earl-Grey-Packungen gesehen.«

Aki und ich wechseln einen Blick, dann schaut er weg.

»Kaffee passt schon«, sage ich.

Earl Grey war Lores Lieblingsgetränk. Mit einer Prise Meersalz.

Letzte Woche ist Lore bei uns ausgezogen. Sie ist eine Sirene – ein Wasserwesen mit betörender Stimme – und war so etwas wie unser Schützling. Eigentlich Akis Schützling. Was Freundschaften angeht, bin ich nicht so der Knüller. Und daran ist meine Arbeit nur zum Teil schuld.

Dabei dachte ich vor drei Monaten noch, ich wäre auf der Gewinnerseite. Ich hatte ein paar emotionale Schluchten durchschritten, okay, aber dafür hatte ich immerhin eine Mordserie aufgeklärt. Darüber hinaus hatte ich erfolgreich mit meinen Ex-Kollegen bei der ÜSG 9 zusammengearbeitet, ein paar neue Seilschaften geknüpft – und die Affäre mit meinem Ex-Boss Tom Thomsen wieder aufleben lassen.

Doch nach dem Rausch des Erfolgs kam der Kater. Fast das gesamte Beraterhonorar der Polizei ging für die Renovierung meines Büros und einen neuen Laptop drauf, weil beides von ein paar wütenden Nazis zerlegt worden war. Meine Ex-Kollegen meldeten sich nicht mehr – bis auf Tom, aber der hatte kein dienstliches Anliegen. Weil es sich doch nicht bewährte, alte Flammen aufzuwärmen, ignoriere ich seit Wochen seine Anrufe.

Auch eine der neuen Seilschaften entpuppte sich als Fluch. Denn ich schulde seither der Faerie-Königin einen Gefallen – und das tut niemand, ohne es zu bereuen.

Meine Mitbewohnerin Lore nahm die Geschehnisse zum Anlass, um all ihren Mut zusammenzukratzen, ihren lausigen Job zu kündigen und sich für ein Studium in Kopenhagen einzuschreiben. Ich hätte nicht gedacht, dass sie mir so fehlt. Mit ihr zusammen waren Aki und ich ein Dreiergespann, wenn auch ein oftmals hinkendes.

Und Aki? Zwischen die beiden passt kein Blatt Papier, hätte meine Tante Greta über uns gesagt. Doch aktuell passt ein ganzes Buch unausgesprochener Dinge zwischen uns.

Wir gehen die Treppe hoch. Frau Can schenkt uns ein Zahnlückengrinsen. Sie kehrt unsere Scherben im Treppenhaus zusammen und lässt sich auch von meinem Protest nicht davon abbringen.

»Entschuldigt mich.« Jäh drückt Aki Cosima die Katzenbox in die Hand, springt gewandt die Stufen empor und schlüpft im zweiten Stock gerade noch an der Wohnungstür vorbei, ehe die sich öffnet. Sein Dämonen-Talent, böse Gedanken zu lesen, hat ihn offenbar vorgewarnt.

Schon streckt Müller den Unterhemdbauch aus der Tür. »Stifs als Umzugshelfer«, schimpft er mir entgegen. »Nehmen uns die Arbeit weg und könnens nicht mal. Und Sie lassen die auch noch in unser Haus? Ick gloobs nich! Zählen Se ja Ihre Schlüssel nachher.«

Cosima stapft mit der Katzenbox die Stufen hinter mir hinauf.

»Guten Tag, ich bin Cosima Jansen, Lucys neue …« Ihre Stimme verebbt.

Er starrt sie an, von oben bis unten, dann wieder mich. »Dit zieht bei Ihnen ein? Na, halleluja. Aber wenigstens is dit ’n Mensch.«

»Wenigstens kann man sich seine Mitbewohnerinnen aussuchen«, knurre ich. »Im Gegensatz zu seinen Nachbarn.«

Er bläht seine Brust auf. Ich trete einen Schritt vor. Ich bin ein Meter siebenundsiebzig, und wenn ich will, kann ich sehr grimmig dreinschauen – ein Vermächtnis meiner Zeit als Polizistin. Müller weicht zurück und schlägt die Tür zu.

Cosima zieht mich weiter. »Du musst nicht jeden Kampf für mich kämpfen.« Als sie meine Miene sieht, lächelt sie. »Denkst du, ich lass mich von so was kleinkriegen? Egal, was heute noch passiert, ich bin froh, aus meinem schimmligen Kellerloch raus zu sein. Souterrain-Loft, so steht es seit heute beim Immobilienportal, kannst du das glauben? Klavier konnte ich dort auch nicht spielen, weil die Vermieter es nicht wollten.« Sie guckt auf einmal besorgt. »Lucy, ich muss mir kein neues Klavier besorgen, wenn es euch stört. Ich kann ja nur abends spielen. Wegen meiner Schichten schlafe ich tagsüber wie ein Stein. Der arme Professor findet mich total langweilig.«

»Ach was«, sage ich. »Hier kannst du auf die Tasten hauen, wann du willst. Und Professor wird sich den ganzen Tag auf Akis Schoß rekeln und ihn vom Schreiben abhalten, wirst sehen.«

»Oh Honey.« Sie lacht ihr kratziges Lachen, aus dem kurz die Person hervorblitzt, von der ich anfangs glaubte, sie wäre alles, was sie ausmacht. Vor ein paar Monaten habe ich sie kennengelernt, an ihrer Arbeitsstätte, dem mondänen Nachtclub Elite. Sie half mir dort bei einem Fall.

Cosima ist in der Clubszene der Berliner Schickeria äußerst populär; eine hinreißende trans Frau und Barkeeperin, ironisch und eine Prise verrucht, die jedem Gast einen einzigartigen Cocktail mixt. Allein vom Trinkgeld könnte sie leben. Müsste sie für jeden blöden Spruch, den sie zusätzlich einsteckt, Geld zurückgeben, käme sie allerdings bei null raus. Sie mag ihren Job trotzdem, sagt sie. Für sie ist er wie ein schillerndes Kostüm, das sie allmorgendlich in der Garderobe zurücklassen kann. Doch Kostüme kann man in die Reinigung geben, Gefühle nicht. Und Cosima ist ein feiner, mitfühlender Charakter. Ich bin mir sicher, dass sie Trylle nachher heimlich Lohn für die Schufterei zustecken wird.

»Ich rieche Kaffee«, sage ich und hake sie unter. »Komm.«

Mit dem Fuß schiebe ich Umzugskartons beiseite, dann die Tür auf. Unsere Wohnung ganz oben im fünften Stock ist auf behagliche Weise heruntergekommen. Stuck blättert an der Decke, Holzbohlen knarzen, und der winzige Balkon hängt so windschief, dass wir ihn lieber nicht alle gleichzeitig betreten. Es ist die größte Wohnung im Haus, um die uns die Nachbarn jedoch nicht beneiden – die meisten von ihnen sind alt genug, um Treppen zu meiden. Wer sagt, unser Kiez sei hip, nur weil jedes Jahr ein paar neue Trendlokale und Ateliers öffnen und wieder schließen, hat keine Ahnung von der Zähheit der alten Weddinger. Nur die Stifs sind zäher – aber bisher hat es sich neben Aki nur eine Handvoll von ihnen in unserem Viertel heimisch gemacht.

Ich wühle in meiner Tasche, weil mein Handy schon wieder vibriert. Drei Anrufe in Abwesenheit. Jemand meint es ernst. Das kann gut oder schlecht sein.

Ich bin eher auf das Schlechte eingestellt.

Genieße das Leben, solange deine Würfel noch in der Luft sind, sagte die Faerie-Königin Maeve vor drei Monaten zu mir. Bald werden sie fallen.

Der Teufel, so heißt es, will deine Seele. Ein Faerie will einen Gefallen. Schuldzettel-Deals mit ihnen sind illegal, und das aus gutem Grund. Sie geben dir das, was du willst – Geld, Rache, einen Karrieresprung oder die Heilung eines Angehörigen, aber irgendwann fordern sie deine Schulden ein. Als ich noch bei der Polizei arbeitete, hatten wir ein paar dieser Fälle, bei denen unbescholtene Bürger Morde für einen Faerie ausführten oder ihre neuen Posten für Betrug missbrauchten. Wir konnten ihnen nie etwas nachweisen. Denn es läuft wie bei der Mafia: Wenn du nicht tust, was sie einfordern, bist du dran, ebenso, wenn du plauderst. Und wenn du abhaust, wird deine Familie bestraft.

Meine Familie ist sowieso schon fragil genug.

»Was ist los?« Aki drückt mir eine Kaffeetasse in die Hand. Sein Spürsinn für meine Probleme ist übernatürlich. Doch er weiß nichts von meinem Deal mit Maeve, den ich damals einging, um ihn zu retten. Und so muss es bleiben.

Ich zucke mit den Schultern. »Irgendwer versucht den ganzen Morgen schon, mich zu erreichen.«

»Vielleicht will er dich engagieren.«

»Oder es ist meine Vermieterin. Bin ein bisschen mit der Büromiete im Rückstand.«

»So schlimm, dass sie an einem Sonntag anruft?« Aki runzelt die Stirn.

Cosima, die gerade Professor aus der Box lässt, den prächtigen, flammend roten Kater, hält inne. »Laufen deine Aufträge nicht gut, Lucy?«

Um Zeit zu schinden, krame ich in der Parkatasche nach meiner Zigarettenschachtel. Nur um festzustellen, dass sie leer ist.

»Gut ist relativ«, murmele ich. Beschissen wäre die Wahrheit. Oder das Geständnis, dass ich mir erst mal keine neuen Zigaretten leisten kann.

»Nimm meine.« Cosima reicht mir ihre Schachtel. Professor, der auf ihrem Arm sitzt, schlägt mit den Krallen danach.

»Ich hab’s noch immer aus den roten Zahlen geschafft«, sage ich. »Ihr werdet sehen, bis heute Abend habe ich einen neuen Fall. Ich spüre es in den Knochen.«

Ich mache mich auf den Weg zum Balkon, bevor sie weiterfragen können. Weil ich nämlich Bullshit rede. Ich spüre gar nichts. Seit mehr als zwei Jahren balanciere ich über dem Abgrund zwischen abgebrannt und pleite, ohne dass sich nennenswert was ändert. Gerade als ich die Balkontür öffne, vibriert mein Handy erneut.

Aki und Cosima blicken von Professor auf, der geduckt sein neues Revier erkundet.

»Ich spendiere eine Flasche Champagner«, ruft Cosima. »Wenn das dein neuer Fall ist.«

Ich trete hinaus in die Kälte, schließe die Tür hinter mir und nehme den Anruf an.

»Spreche ich mit Lucy Wayne?« Eine barsche Frauenstimme.

»Ja.«

»Warten Sie, ich stelle Sie durch.« Klick.

Ich zünde mir die Zigarette an, ziehe die Kapuze über den Kopf und blicke über den Hinterhof. Zwei Matratzen voller Schimmelflecken lehnen neben ausgeschlachteten Fernsehern. Everything’s possible, hat jemand mit euphorischem Schwung auf den Müllcontainer gesprüht – entweder war er naiv oder high.

Oder vielleicht ist am Telefon tatsächlich ein Klient. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Klick.

Hinter mir stecken Aki und Cosima über Professor die Köpfe zusammen und lachen über irgendwas. Cosima ist größer als Aki, ihre Schultern sind kantiger als seine – und doch lugt sie scheu zu ihm hinüber, als wäre sie ein Reh und er ein Panther. Wenn sie ihn besser kennenlernt, wird ihre Befangenheit verschwinden. Die beiden haben mehr miteinander gemeinsam als mit mir.

Ich ziehe an meiner Zigarette und fluche. Hat mich die Telefonfrau in einer toten Leitung geparkt?

Klick.

Die Hoffnung hat mich mal wieder aufs Kreuz gelegt. Gerade als ich die Verbindung beenden will, meldet sich ein Mann in der Leitung.

»Du meine Güte«, schnauft er. »Frau Wayne. Gott sei Dank erreichen wir Sie endlich. Ich weiß, das ist kurzfristig und auch noch Wochenende, aber uns ist jemand ausgefallen. Wir würden Sie gerne für heute Abend buchen.«

Mir fällt fast die Zigarette aus dem Mund. »Worum geht es?«

»Um die Verifizierung der Echtheit von magischen Artefakten.« Er hat ein zittriges Tremolo in der Stimme. Er ist alt. »Sie sind doch die Ermittlerin mit der Fähigkeit, die Omega-Strahlung von manifestierten Wesen und Dingen wahrzunehmen?«

»Die bin ich. Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«

»Entschuldigen Sie.« Er lacht nervös auf. »Ich bin Direktor Ludwigshof. Vom Pergamonmuseum. Hier geht es drunter und drüber. Die neue Ausstellung wird übermorgen eröffnet. The Art of Artefacts. Eine exklusive Sammlung manifestierter Gegenstände. Sie haben bestimmt davon in der Zeitung gelesen.«

»Da können Sie sicher sein.« Er muss nicht wissen, dass ich den Kulturteil nur dafür nutze, um meine Schuhe zu trocknen. »Ich würde Ihnen gerne helfen. Doch ich müsste andere Termine absagen, und …«

»Es würde nur etwa zwei Stunden beanspruchen«, unterbricht er mich. »Die Artefakte sind mit technischen Scannern überprüft. Wir wissen, dass sie echt sind. Aber heute Abend sind die Sammler zu einem Vorabempfang eingeladen. Wichtige Persönlichkeiten, die uns mit ihrer Leihgabe einen großen Gefallen erweisen. Für sie sollte Professor Hafke vom Nationalarchiv eine Führung halten. Leider fällt er aus. Die Führung übernehme ich, doch wir brauchen jemand, der sozusagen«, er zögert, »für die menschliche Note sorgt?« Es klingt, als wäre ihm sein Anliegen ein bisschen peinlich. Zu Recht.

»Ich bin Ermittlerin«, sage ich. »Keine Darstellerin, die irgendwelchen Gegenständen die Hände auflegt.«

»Das verstehe ich, Frau Wayne.« Er seufzt. »Wir entschädigen Sie selbstverständlich. Das übliche Sachverständigenhonorar beträgt bei uns fünfundneunzig Euro pro Stunde. Plus Anfahrt.«

Fünfundneunzig? Ich ächze. Was er prompt falsch versteht.

»Aufgrund der Kurzfristigkeit können wir auf hundertdreißig erhöhen«, sagt er eilig. »Zwei Stunden Vorbereitung müssten Sie vielleicht auch noch einplanen …«

»Einverstanden«, sage ich ebenso eilig wie er.

Er redet weiter, doch ich höre nicht mehr hin. Über fünfhundert Euro für vier Stunden Arbeit. Das deckt die Büromiete vom November und meine Ausgaben für die nächsten zwei Wochen. Wenn ich nur Reis esse, sogar für drei.

»Schicken Sie mir die Details bitte per E-Mail«, sage ich.

Als ich auflege, starren mich die anderen beiden durch die Balkontür an.

Ich stoße die Tür auf und spüre selbst, wie das Grinsen mein Gesicht in die Breite zieht. »Hol den Champagner, Cosima!«, rufe ich. »Ich habe einen Auftrag.«

Sie strahlt. »Von wem?«

»Vom Direktor des Pergamonmuseums. Ich soll heute Abend für eine Ausstellung ein paar Gegenstände auf Omega-Strahlung abklopfen.«

»Wie schön für dich!« Sie freut sich mit mir.

»Welche Ausstellung?«, fragt Aki.

Als ich es ihm sage, wandern seine Augenbrauen nach oben.

»Übermorgen soll sie eröffnet werden«, sage ich. »Heute Abend ist eine Vorabveranstaltung für die Sammler. Da sind fantastische Stücke dabei!« Ich krame in meiner Erinnerung an das Telefonat. »Fliegende Teppiche, historische Glücksmedaillons, der Dreizack des Poseidon …«

»… das Schwert Excalibur«, fügt er hinzu. Eine senkrechte Falte gräbt sich in seine Nasenwurzel.

»Genau«, sage ich. »Sie haben sie technisch längst überprüft. Aber der Museumsdirektor sagte, er wolle dem Ganzen eine menschliche Note verleihen.«

»Er will eine Show.« Cosima schmunzelt. »Mit dir als Attraktion.« Damit kennt sie sich aus.

»Das ist kein Zirkus, sondern das Pergamonmuseum«, erwidere ich. »Eine seriöse Bildungseinrichtung.«

»Aber warum engagieren sie dann dich?«

Ich reiße die Augen auf. »Hältst du mich etwa nicht für seriös?«

Wir prusten. Nur Aki bleibt ernst.

»Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache«, sagt er. »Cosima hat recht. Das ist nicht dein Metier. Außerdem ist die Ausstellung unter Stifs umstritten. Einige Exponate gelten als Raubgut.«

»Würde ich bei meinen Aufträgen jedes moralische Detail abklopfen, wäre ich längst arbeitslos«, entgegne ich.

Er runzelt die Stirn. »Vorgestern hast du den Geschäftsmann weggejagt, der dich mit einem Schmiergeldkoffer nach Dahlem schicken wollte.«

»Das war etwas anderes«, sage ich. »Niemandem schadet es, wenn ich heute Abend ein paar Artefakte für echt erkläre.«

»Es geht nicht darum, wem du schadest«, sagt er. »Es geht darum, wem du damit nutzt.«

»Es geht darum, dass ich die Miete bis nächste Woche zahlen muss, sonst verliere ich mein Büro«, fauche ich. »Du bist ein verdammter Moralapostel, Aki.«

Er blickt zu Boden. Und ich beiße mir auf die Zunge.

Im Gegensatz zu mir wird er nie laut, wenn er wütend ist, sondern ganz leise. Mir wäre es lieber, er würde die Beherrschung verlieren und mir all die Dinge an den Kopf werfen, die in ihm brennen.

»Bitte.« Cosima lugt aufgeschreckt zwischen uns hin und her. »Beruhigen wir uns doch.«

Auch Trylle, der soeben mit drei Umzugskartons auf der Schulter die Küchentür aufstemmt, wirft uns irritierte Blicke zu. Ein roter Kater erkennt seine Chance und entfleucht maunzend ins Treppenhaus.

»Professor!« Cosima stürzt ihm hinterher, Aki folgt ihr. Chaos bricht unten auf der Straße aus, als die Pixies versuchen, den Kater einzufangen, der sie seinerseits für Beute hält.

Und ich nutze das Chaos, um zu verschwinden.

2

Am U-Bahnhof Kurt-Schumacher-Platz ist sonntagvormittags der Hund begraben. Eine Handvoll verkaterter Leute schlurft mit gesenkten Köpfen an mir vorbei. Die Dealer sitzen auf ihrem Stammplatz, die riesigen weißen Sneaker vor sich geparkt wie Segelschiffe, und nicken mir brüderlich zu.

Der alte Dirk an seinem Zeitungskiosk ist nicht zu sehen. Schade, er hätte mir bestimmt im Tausch gegen einen Plausch eine zerknickte Schachtel Zigaretten zugesteckt.

So sieht der neue Fünfhunderteuroschein aus, titelt die Boulevardpresse. Fälschungssicher und säurefest – sogar gegen Pixie-Speichel.

Mir ist es egal, wie ein Schein aussieht, den ich eh nie in Händen halten werde. Doch die EU setzt auf Bargeld, seit die digitalen Finanztransaktionen durch die Wirtschaftskrisen von USA und China zunehmend an Stabilität verlieren. Zumindest begründet die Regierung damit die Grundüberholung unserer Geldscheine. Dass sie auch das Wasserzeichen austauschen, erwähnen sie seltener. Das Porträt der Europa ist als Symbol nicht mehr tragbar, seit die Stif als Pornodarstellerin berühmt wurde.

Ich marschiere die kaputte Rolltreppe hinauf ans Tageslicht. Der Verkehr ist ein Brausen ohne Gesicht. Es ist halb zehn, doch der Dezemberhimmel hängt so tief, als ob sich der Tag schon wieder verabschieden will.

Die Ampel winkt mich rüber auf den winzigen Platz. Eine Lichterkette blinkt an einem zerfledderten Weihnachtsbaum, über der Tür des DPD-Shops flattern rot-goldene Zipfelmützen.

Noch acht Tage bis Weihnachten.

Eine frostige Bö braust mir auf der Scharnweberstraße entgegen. Die Stifs haben ihre eigenen Feste. Letztes Jahr tanzte ich mit Aki und Lore in diversen Clubs den 21. Dezember hindurch: die Wintersonnenwende, die längste Nacht des Jahres. Ab da beginnen die Raunächte, die Zeit der Geister und Hexen, der Dämonen und der Wilden Jagd.

Ich hüpfe über zugefrorene Schlaglöcher. Das L der ARAL-Tankstelle grüßt mich mit dem üblichen Wackelkontakt, hundertfünfzig Meter weiter schickt die Dönerbude meines Freunds Ali ihr warmes Licht in die Dämmerung. Der Gedanke an meinen leeren Geldbeutel verdrängt den Hunger.

Seufzend schließe ich die Tür neben Manfreds KFZ-Werkstatt auf. Darüber befindet sich mein Detektivbüro. Fünfundzwanzig Quadratmeter Bürofläche mit mintblauer Tapete, leidenden Grünpflanzen, meerblauem Sofa und einer Ozeanwelle auf Leinwand. (Lore hat mein Büro eingerichtet.) Mein ganzer Stolz ist das antike Ungetüm von Schreibtisch, das mir Tante Greta vererbt hat. Außerdem gibt es eine Küche mit einer Kaffeemaschine und einem Schrank voller leerer Weinflaschen, und ein Bad, das so beengt ist, dass ich mich hinters Waschbecken zwängen muss, um die Tür zu öffnen.

Ich werfe mich auf den Schreibtischstuhl und schalte den PC an. Direktor Ludwigshof hat mir bereits eine Mail mit allen Unterlagen für heute Abend geschickt: ein Beratervertrag über vier Stunden, den bebilderten Ausstellungskatalog der Exponate und eine Liste weiterer Hintergrundinformationen.

Bevor ich die Unterlagen durcharbeite, gehe ich allerdings Akis Warnung nach und wühle mich online durch die Gerüchteküche der Stifs. Manifestierte oder Monster – sie haben viele Namen, doch Stif hat sich durchgesetzt, abgeleitet vom englischen Wort Superstitionists. Abergläubige.

Die meisten Menschen haben sich mit ihnen arrangiert, wie mit dem merkwürdigen Nachbarn, den sie im Treppenhaus ab und zu grüßen, aber niemals zu einer Party einladen würden. Außer die Stoupies natürlich – so nennen die Berliner abschätzig die Groupies von Stifs. Was die einen fürchten, verzückt die anderen. Es gibt ganze Untergrund-Clubs mit Fetischen für Kobolde, Zwerge oder Nixen, was für die Stifs nicht unbedingt schmeichelhaft ist.

Manche behaupten, auch ich ginge lieber mit Stifs auf Partys als mit Menschen, und hätte mich deshalb auf übernatürliche Fälle spezialisiert. Aber das stimmt nicht. Ich gehe gar nicht mehr auf Partys. Und mit meinem Job fülle ich eine Marktlücke. Zugegeben, es ist eine ziemlich kleine Lücke, doch sie ist meine, und ich hüte sie wie einen Schatz. Anscheinend bin ich nämlich der einzige Mensch auf der Welt, der die Omega-Strahlung der Stifs wahrnehmen kann – und sie daher zuverlässig erkennt.

Außerdem fiel es mir immer schon leichter, zu helfen, als selbst Hilfe anzunehmen. Und sei es nur, weil ich dumm genug bin, um eine Schuld tilgen zu wollen, die ich niemals werde tilgen können: die Schuld meines Vaters.

Vor dreißig Jahren und drei Monaten explodierte eine Bombe in Tegel, im Institut für Psychotronik. Mein alter Herr – Amerikaner, groß, elegant, Schwarz und angeblich mit dem IQ von Einstein – arbeitete dort als führender Wissenschaftler für die CIA.

Es war die Zeit im Kalten Krieg, als alle in der Politik paranoid waren und neben einem Nuklearanschlag den einzigen Ausweg in transzendentalen Waffen suchten. In Berlin forschten die Amerikaner an der Omega-Drüse, einer winzigen Einheit in unserem Stammhirn, in der ganz bestimmte neuromagnetische Impulse geformt werden: unsere abergläubischen Ängste. Jahrelang arbeiteten sie daran, diese Impulse mittels einer Maschine in Materie umzuwandeln und damit den Feind zu verwirren. Nun, der Feind war verwirrt genug, um inmitten eines der Experimente die Bombe zu zünden – auch wenn er das bis heute leugnet.

Die Explosion pulverisierte meinen Vater innerhalb einer Millisekunde. Meine deutsche Mutter traf die Druckwelle einen Bruchteil später und zwei Kilometer entfernt. Sie lebte gerade noch lange genug, um mich auf die Welt zu bringen. Mein Leben begann, während um mich herum in den Ruinen des einstigen Tegels beinah zweihunderttausend Menschen starben.

Doch im CIA-Labor hatte die Explosion nicht nur alles Leben ausgelöscht, sondern eine Kettenreaktion erzeugt: Die radioaktiven Neutronen der Bombe und die manifestierten Photonen der Maschine traten in Wechselwirkung – und erschufen eine gänzlich neue Strahlung. Sie war kaum noch radioaktiv, hatte jedoch eine andere bahnbrechende Wirkung. Wie eine Flutwelle jagte sie um unseren Planeten und verlieh den Omega-Drüsen der Menschen für wenige Minuten Superkräfte. Die Omega-Strahlung.

Abergläubische Ängste und Vorstellungen, die in genug menschlichen Gehirnen herumspukten, manifestierten sich plötzlich. Kobolde plumpsten aus irischen Hügeln, Heilige stolperten an bayrischen Wallfahrtsorten herum, Bigfoot verirrte sich heillos in den Rocky Mountains.

Und manche Menschen veränderten sich. Frauen, die von ihren Nachbarn für Hexen gehalten wurden, wurden zu ihrem eigenen Schreck wirklich zu Hexen, indische Sadhus konnten tatsächlich durchs Feuer gehen. Und mein Neugeborenen-Gehirn mutierte zum Strahlungsdetektor. Zumindest glaube ich das.

Tante Greta, die Schwester meiner Mutter, hielt nichts davon, irgendwelche medizinischen Fachkräfte in meinen Kopf gucken zu lassen. Sie zog mich auf, bis ich dreizehn war, dann starb sie an unbehandeltem Lungenkrebs. Ich vermisse sie heute noch.

Ich habe ihr Misstrauen gegenüber medizinischem Personal übernommen, gemeinsam mit ein paar Möbeln und einem echten Artefakt. Einer Hasenpfote, die ich an einer Kette um meinen Hals trage. Ich weiß nicht, ob sie mir je wirklich Glück gebracht hat. Doch auf dem Schwarzmarkt wäre sie einiges wert, denn der Besitz von magischen Gegenständen ist streng reglementiert.

Vor dreißig Jahren befeuerten die Artefakte den Tumult. Beispielsweise manifestierte sich der Stein der Weisen in London und entfesselte einen Mafiakrieg, der erst endete, als sich die Tochter des russischen Clanchefs mitsamt dem Stein in die Luft sprengte. Das gigantische Graffito von Banksy am Trafalgar Square, das ein Mädchen mit einem goldenen Stein und einem Luftballon zeigt, ist heute ein Londoner Wahrzeichen.

Die Welt hat sich angepasst. Es gibt inzwischen eine Vielzahl globaler Abkommen. Die Wissenschaft entwickelte technische Omega-Scanner. Jemanden zu verfluchen wird mit hohen Strafen geahndet, die Zucht schwarzer Katzen ist verboten, und die Zahl Dreizehn nur noch in der höheren Mathematik erlaubt. Außerdem gibt es vorgeschriebene Gefahrkennzeichen, die etwa an Leitern angebracht werden, damit niemand aus Versehen darunter hindurchgeht.

Und alle, die reisen, kennen die regionalen Informationstafeln und Hinweise auf Google Maps: Wer in dieser Quelle badet, wird drei Jahre Pech haben. Wer bei Überquerung dieses Gipfels schmutzige Schuhe hat, trägt das Verderben mit nach Hause.

Stifs, die für Menschen gefährlich waren und sich nicht anpassen wollten oder konnten, wie Vampire oder Werwölfe, wurden massakriert. Die überlebenden Stifs bleiben bis heute ein Rätsel. Die meisten sind stärker als wir, und ihre Wunden heilen schneller. Außerdem altern sie nicht. Aki kam in der gleichen Nacht auf die Welt wie ich. Damals wie heute sieht er aus wie Anfang dreißig. Bald werde ich ihn äußerlich überholen – aber darüber will ich nicht nachdenken.

Die meisten Stifs in Berlin wohnen in der ZONE – dem Gebiet rund um den verstrahlten Einschlagkrater in Tegel, das die Regierung in den Neunzigern als vorübergehendes Auffanglager deklarierte. Zum einen brummten die Vereinten Nationen Deutschland auf, alle übernatürlichen Flüchtlinge aufnehmen zu müssen. Zum anderen heißt es, dass die Strahlung der ZONE sie anzieht. Vor allem, wenn der Rest der Welt sie abstößt. Fünfzigtausend Stifs sind es inzwischen. Und noch immer kommen mehr.

Wenn der Wind von Nordwesten kommt, kann ich die ZONE von meinem Büro aus hören. Ein pulsierendes Summen und Zischen, wie ein Kraftwerk voller Elektrizität. Und auch wenn ich es nie zugeben würde, mich zieht die Strahlung ebenfalls an. Manchmal, wenn ich aus meinem Bürofenster starre, wünschte ich mir, ich wäre dort. Als eine von vielen, die ich nicht bin. Genau deshalb bleibe ich lieber allein.

3

Es ist siebzehn Uhr, als ich die U-Bahn an der Friedrichstraße verlasse und mich durch dämmriges Schneegestöber Richtung Museumsinsel kämpfe.

Auf einem vorbeibrausenden Bus wirbt der gelbe Schriftzug der BVG mit Ungeheuerlich günstig – das Tagesticket für die Metropole des Übernatürlichen.

Die Fußwege in Berlin-Mitte sind länger als in jedem anderen Viertel. Ausladende Bauwerke erheben sich an den Straßen wie eine Sammlung von Statussymbolen, zwischen ihnen veröden tot betonierte Plätze. In Kreuzberg würden sich die Investoren um so viel Freifläche duellieren. In Mitte gilt Platzverschwendung als schick.

Ich ziehe die Kapuze des Parkas in die Stirn und trotte vorsichtig am Flussufer entlang. Der Gehsteig ist eisglatt. Auf der anderen Seite der Spree erhebt sich das Pergamonmuseum wehrhaft wie eine Burg gegen den Winterhimmel, dahinter folgt der weiße Kolonnadengang der Simon-Galerie.

Eine Gestalt kommt mir entgegen, genauso vermummt wie ich. Das Surren von Omega eilt ihr ein paar Schritte voraus. Ein Stif. Es macht einen Schritt zur Seite, um mir auszuweichen.

In dem Moment, als wir aneinander vorübergehen, Schulter an Schulter, trifft mich ein Stoß. Ich pralle gegen das Geländer und halte mich gerade noch fest.

»He, was soll das?«

Als Antwort ein weiterer Stoß. Meine Finger krampfen um das eisige Metall, meine Füße rutschen über das Pflaster.

Ein Zischen. »Geh nach Hause, Lucy.«

Ich ahne den nächsten Stoß, bevor er kommt. Er wird mich über die Brüstung katapultieren. Das Spreewasser wogt unter mir, ein schwarzer, wartender Schlund.

Ich trete mit den Fersen nach hinten, so fest ich kann.

Treffer. Jemand keucht auf. Ich schwinge mich halb herum, ein Drehkick mit dem linken Fuß. Ich erwische das Stif an der Hüfte. Es weicht zurück, rutscht aus und geht zu Boden.

»Was soll das?«, schreie ich. Mein Puls galoppiert wie ein wild gewordenes Pferd. »Wer bist du?«

Wortlos steht das Stif wieder auf. Mütze, Daunenmantel und Schal verdecken alles bis auf die Augen. Es kommt auf mich zu.

Ich will weg von der Brüstung, doch ich komme nicht los. Meine Finger krampfen sich um das Metall wie festgefroren.

»Aufhören!«, rufen zwei Passantinnen, die den Gehsteig entlangkommen. »Lass sie in Ruhe!«

Die Gestalt wendet sich ab, sprintet und schlittert in halsbrecherischem Tempo über die Straße. Bremsen quietschen, Reifen gleiten ohne Halt über die Fahrbahn. Im letzten Moment schlüpft das Stif zwischen den Autos hindurch.

Ich stehe gekrümmt und halte mich immer noch fest.

»Brauchen Sie Hilfe?« Eine der Passantinnen beugt sich zu mir. »Kannten Sie Ihren Angreifer? War es ein Mensch?«

Ich schüttle den Kopf. Hole Luft. »Keine Ahnung. Es geht schon.«

»Diese verdammte Stadt«, murmelt die Frau. »Die macht die Leute verrückt.«

»Danke für Ihre Hilfe.« Endlich kriege ich die Finger vom Geländer. Während die Frauen davongehen, reibe ich meine aufgerissenen Hände, bis sie wieder warm sind.

Was zum Teufel war das? Dieses Stif war nicht verrückt. Es war ziemlich entschlossen. Hätte ich mich nicht gewehrt, hätte es mich ins Wasser katapultiert. Umgebracht hätte mich das kalte Bad in der Spree wahrscheinlich nicht, aber der Abend wäre gelaufen gewesen.

Geh nach Hause, Lucy. Ich kannte die Stimme nicht, doch sie kannte mich. Allerdings nicht besonders gut, sonst wüsste sie, dass mich jeder Widerstand nur noch entschlossener macht.

Wachsam lege ich die letzten Hundert Meter zur Brücke zurück. Dort erwartet mich das Surren von Omega. Vielleicht dreißig oder vierzig Gestalten harren auf dem Grünstreifen rechts von der Freitreppe aus, Streifenwagen blockieren die Straße.

Zwei Frauen mit Pelzumhängen und Flechtfrisuren wirken, als seien sie einem russischen Wintermärchen entstiegen. Wahrscheinlich sind sie das auch. Sie diskutieren mit einem Faun. Der Anblick seines nackten Oberkörpers lässt mich frösteln.

Unsere Kunst gehört uns, steht auf dem flatternden Banner, das über ihnen zwischen den Eichen vertäut ist. Daneben lümmeln ein paar Trolle, und unter einem Dach aus Planen sitzen zwei Harpyien mit mürrisch eingezogenen Flügeln. Einige Stifs halten die leuchtend roten Standarten ihrer Bürgerrechtsbewegung in den Wind, darauf der Hashtag #WAAP – We Are All People.

Die WAAP ist ein Netzwerk, das sich ursprünglich gegen Gewalt an Stifs einsetzte – und inzwischen auch dafür, dass sie die vollen Staatsbürgerrechte erhalten. Obwohl sie von vielen Menschen unterstützt werden, hält sich ihr Erfolg bisher in Grenzen. Ihre letzte Kundgebung im Herbst bekam zwar internationale Aufmerksamkeit, aber vor allem wegen der Ausschreitungen.

Eine der Harpyien war damals ganz vorne dabei. Ich kenne sie. Sie heißt Harpy, und das Voodoo-Skelett mit dem Panamahut, das neben ihr an der Säule lehnt und so tut, als würde es eine Zigarre paffen, heißt Jim.

Vielleicht war der Spree-Schubser gerade noch hier, um mit ihnen zu demonstrieren. Bis er oder sie die Sinnlosigkeit einsah – und seinen Frust an mir abließ.

Doch ich glaube es nicht. Wir alle wählen unsere Rollen, mehr oder weniger unbewusst. Meine war noch nie die eines zufälligen Opfers.

Ich ziehe den Kopf zwischen die Schultern und eile die breite weiße Freitreppe zur Simon-Galerie hinauf, dem offiziellen Drehkreuz, das die Museen der Insel miteinander verbindet.

»Jeschlossene Jesellschaft«, grunzt der Sicherheitsmann. Als ich ihm meinen Ausweis unter die Nase halte, hakt er mich nur unwesentlich freundlicher auf einer Liste ab.

Die Glastür vor mir ist genau vier Meter zwanzig hoch – die normierte Größe eines Riesen. Auf dem Schild steht, dass die Renovierungsarbeiten abgeschlossen sind. Der ganze Bau wurde grunderneuert, unter anderem wegen der Bestimmungen zur Barrierefreiheit für Stifs. Heute dürfen sie trotzdem nicht hinein.

Drinnen empfängt mich die Leere von Glasfronten und anthrazitfarbenen Betonwänden. Hinter einem weißen Tresen steht eine Empfangsdame und lächelt mich an, flankiert von vier Wachleuten, die nicht lächeln. Auf ihren Blazern haben alle vier das gleiche Emblem aufgedruckt; es sieht aus wie ein doppelt durchgestrichenes Dreieck.

Einer durchsucht meinen Turnbeutel, ein anderer prüft meinen Ausweis, dann winken sie mich durch die Körperscanner. Der Omega-Detektor piepst wegen meiner Hasenpfote, und nachdem ich sie vorgezeigt habe – samt dem offiziellen Vermerk in meinem Ausweis, der mich als seine Besitzerin ausweist –, darf ich passieren. Brav folge ich den Anweisungen und trage Parka und Turnbeutel zur Garderobe, dann stehe ich in meinem in Ehren gealterten Nadelstreifenanzug herum und studiere fröstelnd die Inschriften an den Wänden. Die Häufung von Jahreszahlen sind neben einem Steinlöwen der einzige Hinweis, dass ich mich in einem Museum befinde.

Irgendwann klappert ein Paar Pumps heran. Sie gehören zu einer kleinen Frau in einem Seidenanzug, der so stark glänzt, dass ich mich fast darin spiegeln kann. Der Blick der Frau spiegelt allerdings nichts als Missbilligung.

»Frau Wayne?« Sie verzieht ihr Mausgesicht, wegen dem sie sicherlich oft unterschätzt wird. »Ich bin Uta Koralewksi, Leiterin der Sicherheitsabteilung.« Sie reicht mir nicht die Hand. Hat sie gehofft, dass ich nicht auftauche? Weil sie jemanden engagiert hat, um mich in die Spree zu schubsen?

»Folgen Sie mir.« Schon stöckelt sie los, ihre silbernen Armkettchen klirren.

Ich eile an ihre Seite. Ihre Armkettchen klirren schneller, ich halte mit.

»Das ist sehr beeindruckend«, merke ich an, als wir vor einer weiteren Riesentür aus Glas stehen bleiben, die Koralewski mit einem Handabdruckscanner öffnet. »Sie haben eine zentrale Sensoriksteuerung und automatisch verriegelnde Türen. Wie im Metropolitan. Verfügen Sie auch über Lichtschranken?«

»Natürlich.« Sie wirft mir einen scharfen Blick zu. »Und über ein eigenes Evakuierungssystem.«

»Wie haben Sie das hinbekommen, all die Technik in ein Weltkulturerbe zu stopfen?«

»Nur das Ensemble ist geschützt«, sagt sie herablassend. »Wir konnten bei der Renovierung der Einzelgebäude die weltweit modernsten Sicherheitsstandards etablieren. Deshalb ist die Ausstellung auch bei uns.« Sie rümpft die Nase. »Und nicht im Metropolitan.«

»Ich dachte, die Artefakte wären in Berlin ausgestellt wegen der besonderen Stadtgeschichte?«

Sie hebt die Augenbrauen.

»Na, die Explosion«, sage ich. »Die ZONE, die Stifs …«

Sie wirft mir einen vernichtenden Blick zu. »Genau deshalb brauchen wir die Sicherheitstechnik.«

Hinter dem nächsten Durchgang wird das Licht weicher und die Schatten länger, als wäre die Uhr ein ganzes Stück weitergedreht worden. Hier endet die Moderne und es umfängt mich der Geruch des Altertums – trocken und staubig, ein kaum wahrnehmbarer Duft wie von Weihrauch.

Wir durchschreiten ein prächtiges Monument, eine Burgpforte aus einer anderen Zeit. Blau glasierte Fliesen leuchten von den Wänden, bemalt mit jahrtausendealten Löwen und Symbolen: das Tor von Ischtar, das nördliche Stadttor von Babylon. Als Kind war ich mit Tante Greta ein paarmal hier. Sie nannte das Tor ein Mahnmal. Da könnten sich die Berliner mal ’ne Scheibe Weltgeschichte abschneiden, spottete sie. Wie es begann, und wo es endete.

Babylon, der Hort der Sünde und Dekadenz, und Berlin, die Stadt der Monster. Greta zog sicher nicht als Einzige den Vergleich. Ich mochte Museen noch nie – zu viel fremdartige Vergangenheit, in der es keine Stifs gab, dafür umso mehr Aberglaube. Manche Menschen sehnen sich nach dieser Zeit zurück. Mir schwant, Frau Koralewski ist eine von ihnen.

Marmor klackert unter ihren Absätzen, sie kläfft Anweisungen in den Knopf in ihrem Ohr.

»Es heißt, Sie sind eine Mutierte«, sagt sie über die Schulter. Ich brauche einen Augenblick, um zu merken, dass sie mich meint. »Ist das so eine afrikanische Voodoosache?«

»Nicht im Geringsten.«

»Woher kommen Sie ursprünglich?«

»Aus Berlin.«

»Ach.« Sie klingt skeptisch.

Ich spare mir die Erklärung. Es ist sinnlos, mit Leuten zu diskutieren, deren Horizont nicht über den eigenen Tellerrand hinausreicht.

Wir kommen an einem dämmrigen Saal vorbei, in dem halb nackte Frauenstatuen mit blinden Gesichtern Richtung Oberlicht starren, dann halten wir am Fuß einer Treppe.

»Wer auch immer Sie Doktor Ludwigshof empfohlen hat«, sagt Koralewski. »Mich können Sie mit Voodoo-Sprüchen nicht täuschen.«

Sie eilt, ohne eine Erwiderung abzuwarten, die Treppe empor.

»Es bringt Unglück«, rufe ich hinter ihr her. »Die letzte Stufe zu überspringen. Habe ich in meiner Ausbildung als Polizistin gelernt.«

Sie ignoriert mich. Doch beim nächsten Treppenabsatz überspringt sie keine Stufe mehr.

Reingelegt. Meine Laune hebt sich wieder etwas.

Im ersten Stock folgen wir einem breiten Flur voller Fresken, dann halten wir vor einem Flügeltor an.

»Sie warten hier.« Ein strenges Nicken zum postierten Sicherheitsmann, der das gleiche Emblem trägt wie seine Kollegen, dann verschwindet sie durch den Torspalt.

Drinnen murmelt irgendein Vortragsredner, abgelöst von Applaus. Ein alter Mann kommt heraus. Pergamenthaut, Hornbrille. Früher war er hochgewachsen, aber jetzt sind seine Schultern gebeugt und der Anzug schlottert um die dünnen Gliedmaßen.

»Frau Wayne?« Sein Blick gleitet über mich hinweg und kehrt dann wieder zurück.

Ich erkenne die Stimme vom Telefon. »Direktor Ludwigshof.«

»Schön, dass Sie da sind.« Seine Hand ist kalt wie ein Fisch. »Soeben hat der Bürgermeister ein paar Worte gesprochen. Nun wird die Staatsministerin für Kultur reden – und dann sind wir dran. Ich erläutere die Exponate, und Sie setzen Ihre Fähigkeiten ein.« Er redet hastig. »Bestätigen Sie die magische Kraft unserer Stücke, und finden Sie ein paar schöne Worte.«

»Was ist mit dem Professor, der eigentlich die Führung machen sollte?«

»Er kam heute Morgen mit einer Lebensmittelvergiftung ins Krankenhaus. Das ist so ein Pech.«

Fast so viel Pech, wie in die Spree geschubst zu werden. Ja, ich bin paranoid, das bringt mein Berufsstand mit sich.

»Wie kamen Sie so kurzfristig auf mich?« Das hätte ich schon beim Telefonat fragen sollen.

»Ihr Ruf eilt Ihnen voraus, Frau Wayne.« Ludwigshof blinzelt hinter seiner Hornbrille, dann schaut er mich zum ersten Mal richtig an. »Unter uns Artefaktisten erscheint Ihre Fähigkeit, Strahlung zu spüren, äußerst beneidenswert.«

»Artefaktisten?«, wiederhole ich. »Meinen Sie damit die Gruppe der Sammler?«

»Nun, manche von uns sind Sammler, manche sind historisch Interessierte und andere sind Wissenschaftler.« Er lächelt. »Wir sind vielfältig, doch uns eint die Faszination an der Welt der magischen Materie. Ich leite eine kleine, bescheidene Gruppe, die sich hier im Museum regelmäßig trifft. Professor Hafke ist ebenfalls Teil davon. Vielleicht wollen Sie eines Tages zu einem unserer Treffen stoßen?«

»Das klingt sehr ehrenvoll«, sage ich unverbindlich. Ich kann mir bessere Hobbys vorstellen, als mit einer Gruppe älterer Herren Konversation über tote Dinge zu betreiben. Aber vielleicht bezahlt er mich ja dafür.

Im Saal klingelt jemand mit seinem Sektglas.

»Kommen Sie«, sagt Ludwigshof nervös. »Gesellen wir uns zu den Gästen.«

Galant bittet er mich vor sich durchs Tor. Ich trete in den Saal – und bleibe jäh stehen, weil die Wucht der Omega-Strahlung mir ins Gesicht prallt wie eine unsichtbare Wand.

Marmorsäulen, Deckengewölbe, Bogenfenster. Der Saal erinnert mich an eine Kirche. In seiner Mitte liegen sie aufgebahrt: die Artefakte.

Ihr Omega dröhnt so tief, dass mein Brustkorb vibriert.

So viel Macht in einem Raum.

Ich merke kaum, wie Ludwigshof davoneilt. In meiner Vorstellung lege ich einen Riegel vor meinen Geist, mache meine mentalen Schotten dicht, bis das Dröhnen zu einem erträglichen Brummen herabsinkt.

Drei Dutzend Exponate präsentieren sich königlich auf rotem Samt, arrangiert in Glaskästen und bewacht von einem Dutzend Sicherheitsleuten. Ich sehe ein prunkvolles Schwert neben einer Lederscheide. Excalibur. Sein Foto war im Ausstellungskatalog. Daneben ein Bogen aus Holz und ein goldener Speer, der in seinem Kasten zu flimmern scheint. Reliquien und Heiligtümer, zum Leben erwacht.

Der zweite Teil der versammelten Macht gruppiert sich im hinteren Teil des Raumes. Dort glänzen Manschettenknöpfe und Seidenkleider kaum weniger königlich. Etwa dreißig Menschen stehen dort herum. Nur wenige Namen im Dossier kenne ich, doch sie alle haben Geld und Einfluss genug, um Artefakte zu sammeln wie andere Leute Autogramme.

Die Kulturministerin bedankt sich gerade in wohlfeilen Worten dafür, dass sie ihre Schätze für kurze Zeit mit dem Plebs teilen. Links flüstert der Bürgermeister mit dem Stif-Minister und einigen anderen Herren. Ludwigshof steht etwas verloren daneben.

Ich stelle mich neben einen der Stehtische, an dem sich zwei Damen vor allem ihren Getränken widmen, und spähe nach einem freien Sektglas für mich.

Applaus folgt den Worten der Ministerin. Zugleich schieben drei Kellner im Frack Büfettwagen mit Abdeckhauben herein. Ein Knistern in der Luft schreckt mich auf. Sind die Kellner Stifs?

Ich will näher treten, als mich eine der Frauen am Tisch aufhält. Sie drückt mir ihr leeres Sektglas in die Hand. »Bringen Sie mir ein neues.«

Perplex sehe ich sie an; ihre glatt gebügelte Haut, den stahlgrauen Bob, der genauso perfekt sitzt wie ihre Perlenkette. Sie schaut gleichgültig durch mich hindurch.

»Wir beginnen mit der Führung«, ruft Ludwigshof mit einem aufgeregten Tremolo in der Stimme. »Frau Wayne, kommen Sie bitte zu mir.«

Ich drücke der Frau das Glas zurück in ihre Hand und mache mich auf den Weg nach vorn.

»Frau Wayne ist Sachverständige der Sonderpolizei für Übernatürliches«, liest der Direktor von einem Zettel ab. »Außerdem arbeitet sie als private Sicherheitsberaterin. Sie verfügt neben ihren fachlichen Qualifikationen über einen angeborenen Biosensor für Omega-Strahlung, vom BMSMODG-Ministerium zertifiziert.«

Das Publikum mustert mich, als wäre ich eines ihrer Exponate. Ich habe Mühe, mein Lächeln aufrechtzuerhalten, während Ludwigshof weitere hochgestochene Worte von sich gibt.

Unter Applaus nimmt er schließlich meinen Arm und führt mich zu den Artefakten. Eigentlich führe ich ihn. Seine Hand bebt auf meinem Ärmel wie ein ängstliches Tierchen.

Jemand von der Technik dimmt das Licht. Leuchtspots bestrahlen die Artefakte. »Ahs« und »Ohs« ertönen, auch ich halte den Atem an.

Hinter der ersten Glasscheibe ruht der Dreizack von Poseidon. Sein rohes Metall hat etwas Gewalttätiges. An der Spitze der Zacken schimmern Wassertropfen. Ich atme ein und öffne meine Schotten. Das Dröhnen der Artefakte schwillt an, der Klang des Dreizacks schält sich aus dem Chor. Sein Rauschen erinnert mich an die Brandung des Ozeans.

Und da ist es wieder – das Rascheln und Knistern einer Omega-Strahlung, die irgendwo hinter mir unbemerkt vor sich hin schwelt.

Ich wirble herum. Über den Köpfen des Publikums zischen bunte Fontänen senkrecht in die Luft. Dutzende Pixies sind es, die aus den offenen Hauben der Büfettwagen emporsteigen.

»Passen Sie auf!«, rufe ich.

Ein Feuerwerk aus Lachen und hysterischem Johlen antwortet mir. Schon surren sie im Zickzackflug über uns, handtellergroß, die Libellenflügel in allen Farben schillernd. In ihren Händen sehe ich rote Beutel. Verdammt.

Ich reiße die Arme über den Kopf, als das Bombardement auf uns herabgeht. Kleckse platzen um mich herum auf wie Blutrosen bei einer Schießerei.

Leute schreien. Neben mir sinkt die Ministerin dem Bürgermeister in die Arme, ihre Locken triefen rot. Ludwigshof stolpert gegen mich. Ich packe ihn an den Armen, damit er nicht umfällt. Er keucht, sein Pergamentgesicht ist voller roter Spritzer.

Nur Farbe. Das Hämmern in meiner Brust behauptet das Gegenteil. Ich gehe hinter dem Glaskasten des Dreizacks in Deckung, ziehe Ludwigshof mit mir.

»Mörder, Mörder!«, kreischen die Pixies. Ein Beutel klatscht über uns ans Glas, Farbe regnet auf uns herab. Wären wir nicht in Deckung gegangen, hätte er Ludwigshof voll an der Brust erwischt.

»Das ist ein Überfall«, wimmert er.

»Das ist eine Protestaktion«, widerspreche ich. »Sehen Sie!«

Die Pixies haben ihre Munition verschossen und entrollen Transparente in der Luft.

Unser Erbe, unsere Kultur, lese ich auf den wogenden Stoffbahnen. Die Artefakte gehören den Stifs.

Zwei Kellner streifen ihre Haare ab und präsentieren kahle Schädel mit Hörnern. Der dritte Kellner verzieht den Mund zu einem Grinsen, das weit auseinanderstehende Zähne zeigt, tänzelt auf Zehenspitzen hin und her und richtet sein Handy auf uns. Er filmt.

»Blut an euren Händen!«, skandieren die Pixies. Ein Wachmann springt hoch, sie weichen johlend seinem Griff aus. »Blut an euren Händen!«

Menschen rennen und rutschen auf den Farbschlieren Richtung Tür. Koralewski schreit irgendwas. Ihr Anzug sieht aus, als hätte sie einen Schlachthof geschrubbt.

Ein Trupp Sicherheitsleute rückt auf die Büfettwagen zu. Weitere Stifs kraxeln dort heraus. Zwei davon laufende Meter im Quadrat, die bärtigen Gesichter wie grob behauener Stein. Zwerge. Neben ihnen purzeln spitznasige Gnome hervor – und aus dem letzten Wagen krabbelt Inka. Sie ist schmal, kaum größer als ein Meter sechzig, doch ihr Gesicht ist Gestalt gewordener Albtraum. Einer der Sicherheitsmänner brüllt bei ihrem Anblick auf und schlägt einen Haken wie ein Kaninchen.

Berlins Schundblatt lichtete sie kürzlich auf einer Kundgebung ab und brachte das Bild unter dem Titel: Diese Bestien wollen unsere Bürgerrechte.

An ihrer Stelle würde ich uns alle hassen.

»Wir fordern unsere Artefakte zurück!«, hallt ihre Stimme wie aus einem Brunnenschacht. Der Kellner mit dem Handy tritt neben sie. Sicher streamt er live. »Sie sind unser Vermächtnis, unsere Identität. Ihr habt unsere Leute massakriert, und dann habt ihr euch ihr Erbe unter den Nagel gerissen!«

»Mein Gott«, flüstert Ludwigshof. Seine Augenlider flattern. »Was für eine Kreatur ist das?«

»Eine altdeutsche Drude«, flüstere ich. »Stammt aus Gutenachtgeschichten.«

Inka schaut zu mir herüber. Verdammt, sie hat mich gehört.

»Diese Ausstellung ist mit unserem Blut bezahlt worden«, dröhnt sie. »Auch von dir, Lucy Wayne, alte Freundin.«

Ihre Augäpfel sind pechschwarz, und sie fletscht Zahnstummel, die aussehen wie abgefaulte Leichenfinger. Sie grinst. Ich hasse es, wenn sie das tut.

»Sie kennen sie?« Der Direktor greift sich an die Brust.

Koralewski, die sich hinter Excaliburs Kasten verschanzt hat, starrt mich an, dann schreit sie nach vorne: »Zugriff!«

Schon packt ein Sicherheitsmann einen Zwerg und drückt ihn zu Boden. Die anderen Stifs weichen zurück. Inka streckt die Hände aus, posiert mit düsterem Blick für den Livestream der Kamera.

Wahrscheinlich wäre es gewaltfrei ausgegangen. Wäre Ludwigshof nicht umgekippt. Sein langer Körper klappt zusammen wie ein Zollstock, er prallt gegen das Glas mit dem Dreizack.

Klirren zerreißt die Luft. Tausend Scherben von Sicherheitsglas prasseln um ihn zu Boden. Und das Sicherheitssystem erweist sich als zuverlässig. Ohrenbetäubend schrillt der Alarm los. Am Fenster rasseln Gitterstäbe nach unten, rotes Licht beginnt zu rotieren.

»He!« Ich packe Ludwigshof an der Schulter und drehe ihn um. Seine Augen sind ins Weiße verdreht. »Direktor, hören Sie mich?«

Mein Herz poltert. Bei all dem Lärm und dem Licht erkenne ich nicht, ob er atmet.

»Raus hier«, brüllt irgendwer. »Die Türen schließen sich automatisch!«

»Dann helfen Sie mir«, schreie ich. Doch niemand hört mich. Leute rennen, das rotierende Licht lässt mich schwindeln. Ich reiße Ludwigshofs Hemd auf und presse meine Handballen auf seine Brust. Stocke. Höre ihn stöhnen. Er schnappt nach Luft. Ein Betonklotz hätte nicht schwerer von meinem Herz plumpsen können. Ich packe ihn unter den Armen und schleife ihn Richtung Tor.

Noch wenige Meter. Pixies schwirren, die beiden Dämonenkellner setzen mit riesigen Sprüngen an uns vorbei. Ich bin zu langsam. Die Torflügel schieben sich unaufhaltsam aufeinander zu. Dann sind zwei Sicherheitsleute bei uns. Und Koralewski.

Die Wachmänner reißen mir Ludwigshof so heftig aus den Armen, dass ich stolpere. Das Tor ist nur noch eine Armlänge offen. Koralewski fluppt hindurch, als wäre ihr Anzug aus Gummi. Ich folge ihr. Und stolpere erneut. Über einen ausgestreckten Fuß.

Ich gehe zu Boden. Meine Ellbogen und Knie schrammen über die Marmorfliesen. Das Letzte, was ich im Türspalt sehe, ist Koralewskis gehässiger Blick.

Der Mensch ist gut, nur die Leute sind schlecht. Das schrieb einst einer von Berlins größten Dichtern. Er hatte keine Ahnung, als wie schlecht sich der Mensch entpuppt, wenn er seine Welt mit anderen Spezies teilen muss.

Stöhnend reibe ich mir die Knie. Als die Tür geschlossen ist, erlischt der Alarm und das Standardlicht schaltet sich wieder ein. Immerhin.

»Wayne also.« Eine hohle Stimme über mir.

»Ich bin keine alte Freundin«, murmele ich.

Sie schnaubt. »Ich weiß. Was machst du hier?«

»Einen Auftrag erledigen.«

»Du arbeitest für diese Leute? Warum wundert mich das nicht?« Inka bringt ihre schwarzen Augen ganz nah an mein Gesicht. Lila Äderchen verästeln sich auf ihren Wangen, ihr Haar sieht aus wie ein Eintopf aus Würmern. Ich halte ihrem Blick stand, bis mir ein Rudel Schauer den Rücken hinunterjagt. Sie kann nichts für ihr Aussehen. Trotzdem schaue ich weg.

»He!« Ich richte mich auf und hämmere an das massive Holz des Tors. »Hier ist Lucy Wayne. Lasst mich raus!«

Stille auf der anderen Seite. Höhnische, lauschende Stille. Sie werden nicht öffnen, bevor die Polizei angerückt ist. Nicht für mich. Und außer mir ist kein Mensch mehr da.

Langsam drehe ich mich um. Um Inka haben sich inzwischen die Gnome und Zwerge geschart. Ihre Blicke sind alles andere als freundlich.

»Mitgefangen, mitgehangen, heißt es so schön.« Mein Grinsen verhungert auf halber Strecke, als sich einer der Zwerge bückt und eine große Scherbe aufhebt.

»Ganz ruhig, okay?«, sage ich. »Ich hab mit dem Ganzen hier nichts zu tun.«

Glaube ich zumindest. Manchmal denke ich, dass ich den Ärger anziehe. Oder der Ärger mich. Das Ergebnis ist das Gleiche.

»Kein einziger Balken mehr«, schreit der Kellner und wirft das Handy zwischen uns auf den Boden. »Die Liveübertragung ist abgebrochen.«

»Das liegt am Störsender«, sage ich. »Der unterbricht jedes Signal.«

»Woher weißt du so was?«, mault er und tänzelt dabei auf den Zehen. Aus der Nähe haben sein blondes Wuschelhaar und die auseinanderstehenden Zähne etwas Kindliches, und die Art, wie er den Kopf in den Nacken legt, wirkt schlitzohrig. Neben mir könnte er als Einziger hier als Mensch durchgehen. Aber das Surren um ihn herum verrät ihn.

»Ich bin Privatdetektivin«, sage ich. »Das gehört zu meinem Job. Dieses Museum ist der feuchte Traum eines jeden Sicherheitsexperten. Seht ihr die Kameras?«

Ich zeige auf die Glitzerpunkte in den Ecken des Saales. Wenn ich mich nützlich mache, lässt der Zwerg die Scherbe vielleicht sinken. Tatsächlich, er tut es. Außerdem schwirren ein paar Pixies nach oben und treten auf die Kameralinsen ein.

»Wenn ihr mich jetzt entschuldigt? Ich brauch was zu trinken.« Ich humple los, über zersplittertes Glas, blutrote Schlieren. Hinter mir diskutieren sie, doch zum Glück folgt mir niemand.

Ich komme am zerstörten Schrein von Poseidons Dreizack vorbei. Auch einige andere Glaskästen wurden bei der Flucht der Leute demoliert. Sorgfältig steige ich über einen Revolver hinweg, der inmitten der Scherben am Boden liegt. Sein Omega ist ein dunkles, metallisches Scheppern.

Ich hasse Schusswaffen. Diese hier ist ein Colt 44 mit verschrammtem Griff, sie nennen ihn auch den Peacemaker. Er gehörte Jesse James – und schießt niemals daneben. Im Ausstellungskatalog stand, das Museum wolle ihn als eine der Hauptattraktionen präsentieren.

Übermorgen wird es allerdings keine Eröffnung geben. Und mein Honorar ist sicherlich auch futsch. Mal wieder.

An den Tischen schnappe ich mir eine Sektflasche und nehme einen selbstmitleidigen Schluck. In der Ferne ertönen Sirenen. Ein Rettungswagen für Ludwigshof?

Die gepanzerten Wagen der ÜSG 9 rollen für gewöhnlich ganz still an. Ein schaler Geschmack macht sich in meinem Mund breit, der erst verschwindet, als ich fast die ganze Flasche getrunken habe.

Inka kniet sich ein Stück entfernt von mir vor einen Büfettwagen. Sie holt einen Rucksack heraus, schüttet Stahlketten in allen Größen auf den Boden. Der Kellner tänzelt um sie herum.

»Hättet ihr nicht einfach nur ein paar Plakate schwenken können?«, frage ich. »Das mit den Farbbeuteln war nicht nur Landfriedensbruch, sondern Sachbeschädigung. Und wenn ihr Pech habt, auch Körperverletzung. Dafür könnt ihr ins Gefängnis wandern.«

»Du hast noch nie was für eine andere Sache riskiert als deine eigene, oder?«, zischt sie.

Ich rülpse als Antwort. Sie hat keine Ahnung.

»Kettet euch fest«, weist sie die anderen Stifs an. »So schnell werden sie uns nicht los. Till, hüpf nicht so. Mach lieber Fotos. Und wo zum Teufel sind Belial und Asasel?«

»Eure Dämonen sind abgehauen«, sage ich.

Sie fletscht die Zähne. »Feiglinge. Wie du, Wayne.«

Trotzdem bleibt sie bei mir stehen. Wir schauen zu, wie sich die anderen im Saal verteilen. Till turnt zwischen ihnen herum und schießt Bilder. Die Pixies schrauben in fünf Metern Höhe an den Lüftungsschächten herum. Scheppernd kracht einer der Schachtdeckel zu Boden. Ein Zwerg springt gerade noch beiseite und reckt fluchend die Fäuste. Im Gewölbe gähnt jetzt ein Loch, aus dem die Pixies feixend herunterwinken. Die Feuerwehrleute werden einen Kran hereinschaffen müssen, um sie dort oben wieder loszusägen. Ihre Gesichter würde ich zu gerne sehen.

»Ich kann Tills Handy rausbringen«, biete ich an und beiße mir sofort auf die Lippen. Warum habe ich das gesagt? »Ihn werden sie durchsuchen, mich vielleicht nicht.«

Inka starrt mich an. Ich hoffe, sie sagt Nein. Leider nickt sie.

»Aber erst hilfst du mir, mich anzuketten.« Sie schultert mühelos die schwerste der Ketten und geht zu den Glaskästen.

Draußen vor der Tür rumpelt etwas. Die schweren Jungs bringen sich in Stellung. Fünf Minuten noch, schätze ich. Mein Herz poltert, als ich hinter Inka herstolpere.

Vor Poseidons Dreizack bleibt sie stehen.

»Fass ihn nicht an«, warne ich. »Sonst können sie dich wegen versuchten Raubes anklagen.«

Sie zuckt mit den Schultern und geht weiter. Unverwandt starrt sie in die Glaskästen, und könnte ich in ihren Augen etwas lesen, schwöre ich, es wäre Ehrfurcht. Vor einem Paar abgetretener Lederstiefel hält sie erneut inne.