Berlin Monster - Nachts sind alle Mörder grau - Kim Rabe - E-Book
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Berlin Monster - Nachts sind alle Mörder grau E-Book

Kim Rabe

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Beschreibung

Berlin. Hip und historisch, multikulti und politisch, altbekannt und doch ganz anders. Denn vor dreißig Jahren ließ die Strahlung einer Bombe den Aberglauben der Menschen lebendig werden. Heute brüten Dschinns in Kreuzberger Shisha-Cafés, Feen tanzen die Nächte in Friedrichshainer Clubs durch, und Hipster-Kobolde sind die Herren der Kneipen von Neukölln. In dieser Stadt der Monster bekommt es die Privatdetektivin Lucy mit einer Mordserie zu tun, die nicht nur den mühsam errungenen Frieden bedroht, sondern auch jene, die ihr am nächsten stehen.

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Seitenzahl: 518

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressum1234567891011121314151617181920212223242526272829

Über das Buch

Privatdetektivin Lucy hat sich auf übernatürliche Fälle spezialisiert. Und von denen gibt es so einige in Berlin, wo es von übersinnlichen Phänomenen nur so wimmelt. Denn vor dreißig Jahren ließ die Strahlung einer Bombe den Aberglauben der Menschen lebendig werden. Heute brüten Dschinns in Kreuzberger Shisha-Cafés, Feen tanzen in Friedrichshainer Clubs, und Hipster-Kobolde sind die Herren der Kneipen von Neukölln. Während Lucy eine Fee aufspüren soll, erschüttert eine Mordserie die Stadt. Hat ihr Verschwinden etwas damit zu tun? Immer tiefer taucht Lucy in den Fall ein, und bald schwebt nicht nur sie in Gefahr, sondern auch jene, die ihr am nächsten stehen …

Über die Autorin

Kim Rabe wurde Weihnachten 1981 im verschneiten Alpenvorland geboren. Heute lebt und schreibt sie in der schönen Stadt Nürnberg. Sie arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in einem Forschungsinstitut und nutzt jede freie Minute, die ihr neben Arbeit und Familie bleibt, zum Schreiben von magischen Geschichten. Ihr neuster kreativer Ausflug führt die Leser nach Berlin.

KIM RABE

ROMAN

NACHTS SINDALLE MÖRDER GRAU

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Dieser Titel ist auch als Hörbuch-Download erschienen

Originalausgabe

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Ulrike Brandt-Schwarze

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock: Marco Richter | alamella | KConstantine | Sabphoto

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-0396-3

www.luebbe.de

www.lesejury.de

1

Leg dich nicht mit Vermietern an, lautete Tante Gretas Glaubenssatz. Das sind nichts als Aasgeier. Sie hatte sonst nie Probleme, sich mit jemandem anzulegen. Greta ist mein Vorbild und seit fünfzehn Jahren tot. Ich hätte auf sie hören sollen.

Mein heutiger Klient ist ein Vermieter. Und ein Aasgeier der ersten Stunde. Nichts hatte mir das verraten, als ich den Auftrag annahm. Vielleicht wollte ich es auch nicht wahrhaben, weil ich das Geld so dringend brauche. Die meisten Leute sehen nur das, was sie sehen wollen, und auch ich bin nicht dagegen gefeit.

Dr. Mirnoff ist mittelalt, mittelschlank und mittelclever. Sein grauer Anzug ist zerknittert und passt zu seinem grauen Schnurrbart. Beim Lächeln bleckt er schiefe Zähne, die wohl zeigen sollen, dass ihm Äußerlichkeiten nicht wichtig sind. Als er mir den Auftrag erteilte, hatte er ständig gelächelt – ein solider Familienarzt vom Prenzlauer Berg, dem es ein bisschen peinlich war, dass er bei einer heiklen Mietsache meine Hilfe brauchte.

Jetzt lächelt er nicht mehr. Er stützt seine Fäuste auf die Mahagoniplatte und beugt sich zu mir herüber. Doch egal, wie sehr er sich aufplustert, er kommt nicht an mich heran. Mein Schreibtisch ist ein prächtiges Ungetüm, antik mit seinem vom Alter polierten Holz und den gedrechselten Beinen. Ein Erbstück von Greta, in meinem Büro so deplatziert wie ein Kreuzfahrtschiff.

»Ihr Auftrag war es, die Geister zu entfernen«, fährt er mich an. »Dafür habe ich Sie bezahlt!«

Ich lehne mich auf meinem Bürostuhl zurück. »Wie ich schon sagte.« Je mehr er herumkrakeelt, desto ruhiger werde ich. Zumindest äußerlich. »Die Geister haben einen gültigen Mietvertrag. Seit zwei Jahren. Und zwar nicht mit Ihrem dementen Großvetter, der Ihnen das Haus letzten Monat geschenkt hat, sondern mit Ihnen.«

»Unfug! Sie glauben doch nicht den Stifs mehr als mir.«

Ich seufze. »Ich glaube niemandem.«

Ich habe Lust, mir eine Zigarette anzuzünden, aber ich habe Aki versprochen, nicht mehr so viel zu rauchen.

Pfeif darauf. Ich ziehe die Schachtel aus meiner Jeanstasche und werfe sie auf den Tisch. Mirnoff starrt sie an wie einen Handschuh, der ihn zum Duell fordert. Endlich nimmt er die Hände von meinem Möbel.

»Die Stifs haben einen Zeugen«, sage ich und klopfe mir das Jackett nach einem Feuerzeug ab.

Poltergeister haben es schwer bei Vertragsunterzeichnungen. Sie können durchaus einen Gegenstand in Bewegung setzen oder eine Glühbirne zum Platzen bringen, aber ihre Finger sind nicht körperhaft genug, um einen Stift über Papier zu führen. Wenn sie nicht aufpassen, flutschen sie durch Gegenstände hindurch. Deshalb schließen Geister ihre Verträge mündlich – was Menschen wie Dr. Mirnoff glauben lässt, leichtes Spiel zu haben.

»Was für ein Zeuge soll das sein?«, schnaubt er. »Ein anderer Stif? Die stecken doch alle unter einer Decke!«

Meine Finger wandern über den Tisch zur Zigarettenschachtel, zucken wieder zurück. Stattdessen nehme ich mein Handy. »Der Zeuge ist ein Pixie. Er hat mir einen Videobeweis geschickt.«

Ich öffne die Datei und drehe das Handy so, dass Mirnoff es sehen kann. Er beißt die krummen Zähne zusammen, während er sich selbst dabei zusieht, wie er den schwebenden, halb transparenten Gestalten dreihundert Piepen pro Woche abknöpft. Für ein schimmeliges Zimmer im Keller eines halb verrotteten Plattenbaus in Pankow, dessen Lage nur einen Vorteil für die Stifs hat – nah an der ZONE zu sein.

»Wer hat denen erlaubt, mich zu filmen? Unternehmen Sie gefälligst was dagegen.«

Ich seufze. »Und was?«

»Himmel noch mal. Sie sind hier die Spezialistin für Stif-Fälle.«

»Ach ja?« Ich ziehe mein Handy wieder zurück. »Soll ich dem Pixie das Video mit Gewalt abknöpfen? Ihn für immer zum Schweigen bringen? Warten Sie, ich hole noch schnell meine Bleikanone aus dem Keller.«

Er kneift die Augen zusammen. »Wollen Sie mich auf die Schippe nehmen? Sind Sie eine Freundin von denen?«

»Ich bin eine Freundin von Recht und Gesetz«, sage ich.

Zumindest, wenn beides mit meinem eigenen Gerechtigkeitsempfinden übereinstimmt.

»Jetzt müssen Sie mir etwas erklären, Doktor. Wie kommt es, dass Sie seit Jahren Zimmer schwarz vermieten, die Ihnen gar nicht gehörten? Und jetzt, da Sie sich das Haus unter den Nagel gerissen haben, wollen Sie es plötzlich leer räumen? Die Geister haben mir erzählt, Sie hätten letzte Woche schon zwei Trollfamilien auf die Straße gesetzt.«

Die meisten Trolle sind nicht besonders schlau. Sie können oft weder lesen noch schreiben, und die wenigsten von ihnen kennen ihre Rechte.

Während der Doktor nach Luft schnappt, rede ich weiter. »Dass Sie das Haus jetzt leer räumen, hat nicht zufällig etwas mit einer internationalen Kapitalgesellschaft zu tun? Die dort einen Hotelpark für Stif-Tourismus hochziehen will?«

Mein Job ist es, die Wahrheit aufzudecken, und darin bin ich gut. Manchmal sogar besser, als es sich meine Klientinnen und Klienten wünschen.

»Solche Unterstellungen muss ich mir von Ihnen nicht bieten lassen!«, schreit er los. »Sie nichtsnutzige Dilettantin, Sie! Ihr Auftrag ist hiermit gekündigt.«

Er springt auf und eilt Richtung Tür.

»So nicht.« Mit einem Satz bin ich über den Schreibtisch und vor ihm dort. Ich bin es gewohnt, dass mich meine Kundschaft vorzeitig entlässt, leider nicht unbedingt wegen guter Führung. Aber ich bin es leid, dass sie ohne Bezahlung abhauen.

»Lassen Sie mich durch!« Er baut sich vor mir auf. Mit meinen einssiebenundsiebzig bin ich allerdings ein Stück größer als er.

»Sie haben mich unter falschen Voraussetzungen beauftragt.« Ich klopfe mir innerlich auf die Schulter für meinen sachlichen Tonfall. »Im Vertrag steht, dass mir auch bei Nichterfüllung des Auftrags der zweite Teil des Honorars zusteht. Bar zu leisten, per Überweisung oder mit PayPal.«

»Und wenn ich nicht zahle?«

»Dann sehe ich mich gezwungen, das Video dem Berliner Mieterschutzbund zuzuleiten.«

Wäre ich mehr in Übung, hätte ich seinen Schwinger von rechts eher kommen sehen. Gerade rechtzeitig drehe ich den Kopf. Er trifft nicht die Nase, sondern die Schläfe. Schon legt er mit einem linken Haken nach. Ich stoße die Arme nach vorn und schlage seine Faust beiseite, dann ramme ich ihm mein Knie in die Weichteile.

Mit einem Aufschrei geht er zu Boden. Bevor er Luft holen kann, bin ich über ihm und drehe ihm die Arme auf den Rücken. Alter Reflex.

Ich hätte nicht gedacht, dass der Doktor genug Schneid hat für eine Attacke. Aasgeier warten normalerweise ab, bis ihre Opfer tot sind. Aber dumm ist er doch. Hätte er sich die Mühe gemacht, mich zu googeln, wüsste er, dass ich Polizistin war – vor meiner bescheidenen Karriere als Privatermittlerin. Und einige Zeit davor norddeutsche Jugendmeisterin im Kickboxen. Außerdem bin ich ausgebildet in einer speziellen Variante der iranischen Kampfkunst Varzesch-e Pahlavani, aber das ist nur was für Eingeweihte.

»Lassen Sie mich los«, jault er. »Das ist Freiheitsberaubung. Und Folter!«

Folter? Er hat keine Ahnung, was er da redet.

»Sie haben damit angefangen«, zische ich. »Und jetzt zahlen Sie mir, was mir vertraglich zusteht.« Ich halte ihn mit einer Hand fest, mit der anderen angele ich sein Handy aus seiner Jackentasche. »Sie sind doch mit Onlinebanking vertraut, oder?«

Seine rechte Hand lasse ich los, um das Handy hineinzudrücken. Die Linke drehe ich ihm noch etwas höher auf den Rücken, sodass er erneut aufjault.

»Das ist Erpressung. Ich werde Sie anzeigen!«

»Halten Sie den Mund, sonst lege ich Schmerzensgeld obendrauf.« Mein Schädel brummt von seinem Treffer, aber vor allem bin ich wütend. Auf mich selbst, weil ich zu solchen Mitteln greifen muss. Und auf ihn, der mir das eingebrockt hat. Adrenalin braust in meinen Adern. Früher hätte eine solche Aktion meinen Puls nicht über achtzig getrieben. Aber früher wäre mir das gar nicht erst passiert.

Ich halte ihn im Zangengriff und buchstabiere ihm meine Bankdaten zwei Mal, bis er sie richtig eingetippt und die Überweisung abgesandt hat. Dann schubse ich ihn ins Treppenhaus, schließe die Tür und lehne mich dagegen.

Mein Puls beruhigt sich allmählich. Ich lausche. Mirnoff poltert zeternd die Stufen hinunter. Verflucht er mich? Wünscht er mir die Pest auf den Hals oder anderes Unheil? In der heutigen Zeit kann das Folgen haben. Tatsächlich höre ich ein Summen, das zu einem wohlvertrauten Surren hinter meiner Stirn anschwillt. Als stünde ich direkt unter einer Hochspannungstrasse. Omega-Strahlung.

So ein Mistkerl! Ich taste nach der Hasenpfote, die ich unter der Bluse an einer Halskette trage. Ein weiteres Erbstück meiner Tante, und mein wertvollstes. Der Besitz echter Glücksbringer und Talismane ist streng reglementiert, ihr Erwerb auf legalem Weg nahezu unmöglich. Gretas Hasenpfote hat mir zwar bisher kaum Glück gebracht – andererseits, wer kann das so genau sagen? –, doch sie schützt mich verlässlich vor einfachen Flüchen und dem bösen Blick.

Unten im Treppenhaus klappt die Haustür, dann kehrt endlich Stille ein.

Ich atme tief durch und lasse das abgegriffene Fellstück los, streife das Jackett ab und schlüpfe aus den Riemchenschuhen. In dem winzigen Badezimmer, das zu meinem Büro gehört, blicke ich in den Spiegel. Über den marmorierten Siebzigerjahre-Kacheln blicken mich zwei grimmige schwarze Augen an. Verschmierte Wimperntusche, eine Beule über der linken Augenbraue, die sich bereits bläulich färbt. Bis morgen früh wird der Bluterguss nach unten wandern, und ich werde ein ordentliches Veilchen haben.

Ich knöpfe die Bluse auf und wasche mir Hände und Wangen, einmal, zweimal, bis meine Haut brennt. Dann tauche ich den ganzen Kopf unter den eisigen Wasserstrahl.

Nichtsnutzig hat Mirnoff mich genannt. Eine Dilettantin. Es ist mir egal, was der Mann von mir hält. Was ich von mir selber halte, ist eine andere Geschichte.

Immerhin wird mir das Honorar für die nächsten Tage etwas Luft verschaffen.

Ich stelle den Hahn ab und schüttele das Wasser aus meinem krausen Haarschopf. Als ich das Fenster öffne, dringt der Straßenlärm von Scharnweberstraße und Müllerstraße zu mir herein. Es ist windstill und der Himmel grau wie Beton. Berliner Stadtsommerduft aus Abgasen, Grillkohle und Essensdunst aus der Nachbarschaft. Wer zum Henker kocht bei der Schwüle Königsberger Klopse? Und da ist noch ein Geruch, scharf wie verkohltes Chili, aber auch süßlich. Obst, das im Hinterhof des Spätis zwei Häuser weiter verfault? Oder etwas anderes. Manche Dinge will man heutzutage nicht so genau wissen.

Ich lasse das Fenster offen und paffe eine Zigarette, während ich mich langsam auf meinem Bürostuhl im Kreis drehe.

Vertrocknete Grünpflanzen, mintblaue Tapete und eine Leinwand mit abstrakten Ozeanwellen hinter dem Schreibtisch. Lore hat mein Büro eingerichtet. Sie behauptet, Wasser wirke auf potenzielle Kundschaft beruhigend. Immerhin konnte ich sie daran hindern, ein Aquarium aufzustellen. Ich wette, Dr. Mirnoff hat eines in seinem Wartezimmer stehen.

Ich kann seinen Fall nicht so schnell abschütteln, wie ich gern gewollt hätte. Das Wispern der Geister, ihr hektisches Flattern wie Vorhänge, die mit der nächsten Sturmböe davonwehen. Sie hatte den Arzt für den Besitzer ihrer Unterkunft gehalten, weil er monatlich auftauchte, um die Miete abzukassieren. Kein Mensch setzt ansonsten freiwillig einen Fuß in so einen maroden Plattenbau.

Die ganze Sache stinkt zum Himmel. Vielleicht sollte ich mal im Altersheim dieses Großvetters anrufen, der Mirnoff das Haus so plötzlich geschenkt hat. Andererseits ist mein Auftrag abgeschlossen.

Ich begnüge mich damit, dem Pixie, der mir das Video geschickt hat, die Kontaktdaten von Andrej zu texten. Andrej arbeitet für den Mieterschutzbund, und er ist ein Stoupie – also ein Groupie für Stifs. In meiner Laufbahn als Polizistin bei der ÜSG 9 hatte ich eine ganze Kartei solcher Leute, die nichts lieber tun, als in der Nähe von Übernatürlichen abzuhängen. Die meisten haben einen Lieblings-Stif. Bei Andrej sind es die Kobolde, er ist richtig besessen von den kleinen Kerlen. Ich habe ihn in Neukölln bei einem Einsatz kennengelernt – die meisten Spelunken in der Weserstraße sind fest in der Hand der Hauswichte.

Ich bitte den Pixie, Andrejs Kontaktdaten an die Poltergeister weiterzugeben. Auch wenn sie keine Kobolde sind, wird er begeistert sein, ihnen zu helfen. Und als Gegenleistung wahrscheinlich nur eine Einladung zu einer Stif-Party oder ein paar Selfies mit ihnen verlangen, die er auf Instagram posten kann. Verrückte Stoupies. Ich schließe das Fenster, gieße alibimäßig die Zimmerpflanzen, hänge das Jackett in den Schrank für morgen und mache mich auf den Weg nach Hause.

Unten auf der Straße packt mich die Schwüle des Spätnachmittags mit ihrem feuchten Maul und kaut die nächsten dreihundert Meter auf mir herum. Busse und Lkw rauschen die Scharnweberstraße entlang. An der ARAL-Tankstelle sind die Benzinpreise wieder gestiegen, dafür gibt es Currywurst im Sonderangebot. Mietskasernen und Lagerhallen kauern hinter Drahtzäunen, Werkstätten und Betonkästen, ebenso grau wie der Himmel. Die Neonreklamen vom Vodafone-Handyking und der Merkur-Spielothek blinken um die Wette, als mich die Hitze über die Fahrbahn spült und schweißüberströmt am U-Bahn-Eingang Kurt-Schumacher-Platz wieder ausspuckt.

Aufatmend trete ich unters Vordach. Wartende drängen sich auf den Schattenplätzen und verstellen den Durchgang zur U-Bahn. Zwei blond bezopfte Frauen ragen dabei wie Türme aus der schwitzenden Mauer. Ihre leeren Gesichter sind bis zur Unkenntlichkeit geschminkt und die Schenkel in Miniröcke aus Polyester gezwängt. Mein Omega-Sensor springt an.

Walküren. Die im Gewühl auf der Suche nach Kundschaft sind.

Die meisten Sexarbeiterinnen arbeiten für ihr Geld genauso hart wie ich. Aber mitten am Tag hier am Kutschi, zwischen Schulkindern und Alkis, das ist ein neues Zeugnis des Elends.

Ich ziehe den Kopf ein und tauche ab ins Gewühl. Jemand rempelt gegen meine Schulter, ich remple zurück, eine genuschelte Entschuldigung. Der Geruch nach Schweiß, nach Schnaps und Fast Food. Der Kurt-Schumacher-Platz hat den Charme eines Wohnklos an einer Autobahnauffahrt. Die Quote an Stifs ist in keinem Teil vom Wedding höher als hier – außer in der ZONE. Deren nächster Eingang ist nur achthundert Meter östlich von hier am Ende der Scharnweberstraße, auf der ehemaligen Autobrücke über die A 111. Der Rest der ZONE liegt verborgen hinter Barrikaden und dem Stacheldraht, der vor der Bombe den Flughafen Tegel einzäunte.

Ich hatte meine Gründe, mein Büro ausgerechnet in dieser Gegend zu eröffnen. Aber jetzt bin ich froh, für den Rest des Abends hier rauszukommen. Die beigen Fliesen verströmen wohltuende Kühle, als ich die Treppen des U-Bahn-Eingangs hinuntereile.

Ich winke dem alten Dirk zu, der wie immer im Rollstuhl vor seinem unterirdischen Kiosk Hof hält, während die Massen an ihm vorbeiströmen. Er salutiert mit der Hand an seiner Schirmmütze.

»Komm rüber auf ’n Schnack, Lucy«, ruft er. Sein Gesicht ist so bleich wie das eines Höhlenfischs, der nur einmal im Quartal an die Oberfläche schwimmt. »Ick hab wat Neues für dich!«

Niemand weiß besser als er, was im Wedding los ist. Wenn er nicht gerade auf der Pritsche hinten im Kiosk schläft, manövriert er seinen Rolli blitzschnell zwischen den Passanten hin und her, klönt mit jedem, der bei ihm hält und verkauft dabei Snacks, Zeitungen, Zigaretten und überzuckerten Kaffee. Unter dem Tresen vertickt er außerdem ein bisschen Gras und allerlei Glücksbringer – die für gewöhnlich gefälscht sind. Zumindest ist mein Omega-Sensor bei seinen Artefakten noch nie angesprungen.

Nach Dr. Mirnoff und dem Anblick der zwei zugedröhnten Walküren bin ich nicht mehr in der Stimmung für einen Plausch. Mit einem bedauernden Blick nimmt Dirk die Hand wieder runter. Bevor ich zur nächsten Treppe komme, fliegt mein Blick über die Überschriften auf seiner Zeitungsauslage.

Syrien. Nachbarstaaten fürchten neue Flüchtlingswelle nach Massaker, titelt der Tagesspiegel.

Die Morgenpost schreibt: Island. Historische Karriere – Elfe Hjördis Ragnarsdóttir kurz vor der Wahl zur ersten Stif-Premierministerin.

Und die Schlagzeile unserer Boulevardzeitung, deren Inhalt zu gleichen Teilen aus Sensationsjournalismus, Werbung und Promiklatsch besteht: Berlin. Blutige Werwolf-Morde gehen weiter.

Der Boden beginnt zu schwingen – das tiefe Brummen einer einfahrenden U-Bahn. Ich reihe mich zwischen den Leuten ein, die sich die Treppen hinunterschieben. Niemand würdigt meine Beule eines zweiten Blicks. Seit Berlin zum internationalen Sammelpunkt der Stifs geworden ist, sind wir alle geübter denn je darin, uns zu ignorieren. Je auffälliger jemand ist, desto demonstrativer wird er von der Menge übersehen. Ich finde das durchaus angenehm. Manche neu zugereiste Stifs sind allerdings völlig verunsichert, weil sie glauben, plötzlich unsichtbar zu sein. Dabei sind sie nur dabei, in dieser Stadt die wichtigste Lektion zu lernen: Das Äußere sagt heutzutage rein gar nichts mehr über eine Person aus.

**

»Wer ist so ein Aasgeier, dass du ihn gern aus dem Fenster geworfen hättest, um zu sehen, ob er fliegt?«

Aki. Er öffnet mir die Tür und blickt mir entgegen, seine Augenbrauen zwei Bögen sanften Spotts. Akaman Div.

Er ist der Erzdämon der schlechten Gedanken. Das ist er wirklich. Er ist gestaltgewordener persischer Mythos, manifestiert aus dem uralten Volksglauben einiger Wüstenstämme. So wie die Poltergeister aus ein paar hinterwäldlerischen Dörfern in Polen kommen und die Pixies natürlich aus Irland.

Weltweit leben wir seit knapp dreißig Jahren mit den Folgen unseres Aberglaubens. Nacht der Offenbarung, so nennen die Gläubigen die dunklen Stunden, als in Berlin-Tegel die Bombe explodierte und von dort die Omega-Strahlung um die Erde raste. Manifestationszeitpunkt, schreiben die Historiker. Die meisten Leute nennen sie einfach die Nacht, in der die Monster kamen.

Für mich sind die Stifs keine Monster. Am allerwenigsten Akaman, der am besten aussehende und ehrenhafteste Dämon, den sich Menschen ausdenken konnten.

Mit einem Seufzen drücke ich mich an ihm vorbei, durch unseren vollgestopften Flur ins Wohnzimmer.

Keine Bücherregale – unsere Lesegeschmäcker klaffen zu weit auseinander. Dafür ein paar Drucke an den Wänden, die ich als gemütlich empfinde, Schwarz-Weiß-Porträts von Boxhandschuhen und vernebelten Großstadtsilhouetten. Die rechte Wand hat Lore in einem Anfall von Heimweh mit einer Fototapete von der Ostsee beklebt. Direkt gegenüber lasse ich mich auf einen der Ohrensessel fallen. Ich habe sie letztes Jahr nach einem lukrativen Auftrag für uns gekauft. Der Schwarze gehört Aki, meiner ist der Gelbe und Lore nutzt den Türkisen. Gäste haben wir so selten, dass sie keine Sitzgelegenheit brauchen.

»Der Aasgeier war mein Klient«, schnaube ich auf Akis Frage. »Lies nicht immer meine Gedanken.«

»Ich kann keine Gedanken lesen«, stellt er richtig, während er lautlos hinter mir herkommt. In seiner Nähe ist die Omega-Strahlung weniger ein Surren als ein wohliges Schnurren in meinem Kopf – das Geräusch von Zuhause.

»Nur böse Wünsche, Pläne und Flüche«, redet er weiter. »Und auch nicht bei jedem. Du allerdings, Lucy, bist wie ein offenes Buch für mich.«

Er lässt sich vor mir auf die Knie nieder, seine Hand streicht prüfend über meine Stirn. Trocken wie Wüstenwind sind seine Finger auf meiner Beule, nur kühler. »Woher hast du das?«

Ich schließe die Augen. »Bin gegen eine Tür gerannt.«

»Nicht eher in die Faust dieses Aasgeiers, auf den du so sauer bist?«

Ich streife seine Hand ab, dann meine Schuhe von den Füßen. »Keine Moralpredigt, Aki. Dass ich mich serviceorientiert und professionell verhalten müsste, den Auftrag gar nicht hätte annehmen dürfen, bla, bla.«

Er lächelt. »Hör auf zu quengeln, Azizam. Ich habe für dich gekocht. Safranreis mit überbackener Aubergine und Hühnchenspieß.«

Azizam. Mein Schatz. Ich mag es, wenn er mich so nennt. Dabei sind wir kein Paar. Freunde? Wohnungspartner? Familie? Ich habe seit Langem aufgehört, den richtigen Begriff zu suchen.

»Hmm«, murmele ich. »Klingt gut. Heißt das, du hast heute nicht geschrieben?«

Aki ist Schriftsteller. Er schreibt Psychothriller, die so melancholisch anmuten wie ein Rendezvous mit deiner einstigen Liebe – nur dass sie dir statt einem Kuss ein Messer ins Gesicht rammt. Niemand kennt das menschliche Böse besser als er. Wenn er in seinen Manuskripten nicht vorankommt, schlendert er über die Wochenmärkte am Maybachufer oder Winterfeldtsplatz und experimentiert in der Küche. Da er kaum Nahrung braucht, bedeutet jede seiner Schreibblockaden, dass ich in kulinarischen Exzessen schwelgen darf.

»Ich denke, ich habe die Szene endlich gelöst«, sagt er.

Ich seufze. »Das heißt, ab morgen gibt es wieder nur Pizza.«

»Oder du kochst selbst.«

Wir lachen beide über diese verrückte Idee, als sich ein Schlüssel in der Haustür dreht und Lore hereinkommt.

Ihr üppiger Körper ist zusammengesunken, ihre Haut fleckig und grau, und unter die Brille haben sich Augenringe gegraben. Sie sieht fast so schlimm aus wie damals, als wir sie aus dem See zogen.

»Habt ihr das gesehen?« Sie lässt die Zeitung vor uns auf den Wohnzimmertisch fallen. »Der Werwolf. Er hat Hilde erwischt.« Ihre Stimme klingt schrill. Schon schluchzt sie los, Tränenbäche stürzen über ihre Wangen.

Aki reagiert als Erster. Er schnellt in die Höhe und auf Lore zu.

»Schscht.« Er streicht über ihre Stirn, so wie er es vorhin bei mir gemacht hat. »Beruhige dich.«

Ihr Schluchzen wird zum Glück etwas leiser. Über ihre Schulter wirft er mir einen besorgten Blick zu und nickt zur Zeitung. Ich greife nach dem Schmierblatt, das ich vorhin in Dirks Auslage gesehen habe.

Blutige Werwolf-Morde gehen weiter. Das Bild einer Hand unter einem Leichentuch, darauf ein graues Abzeichen. Natürlich, ein Fall für meine alte Abteilung. Polizeiliche Sondereinheit für Ermittlungen zu manifestierten Subjekten, so heißt sie offiziell. Der Volksmund nennt sie seit jeher ÜSG 9.

Der Text des Artikels ist nichtssagend. Ein paar schaurige Details – allen Opfern fehlen die Herzen –, ein mitternächtlicher Tatort in Kreuzberg, das Opfer von Kneipengängern entdeckt.

»Ganz ruhig.« Aki streicht der schluchzenden Lore immer noch über die Stirn. Seine dunklen Augen fixieren mich. Ich schüttele den Kopf und werfe die Zeitung zurück auf den Tisch.

»Lore«, sagt er. »Wer ist Hilde?«

»Hilde war meine Freundin«, schnieft sie. »Eine Wiesennymphe, eine ganz zauberhafte Person. Wir haben uns über die Arbeit kennengelernt. Letztes Jahr war sie auf unserer Party. Wisst ihr das nicht mehr? Heute Mittag waren wir verabredet. Aber sie war nicht da und nicht zu erreichen. Ich hab Marlene angerufen, ihre Schwester. Und die war gerade bei der Polizei.« Sie weint lauter. Ihre Tränen bilden bereits Pfützen auf dem Parkett. Als Wasserwesen kann sie wahre Gießbäche davon erzeugen. »In der Gerichtsmedizin! Da liegt Hildes Leiche. Der Werwolf hat sie zerfleischt wie ein rohes Steak, sagt Marlene. Er hat ihr Herz gefressen!«

Ihre Stimme gellt in meinen Ohren. Aki presst ihr die Hand auf den Mund, doch die Töne dringen hindurch. Ihre Haut leuchtet auf, ihr Haar brandet golden gegen ihre weichen Schultern. So begehrenswert. Ich seufze vor Entzücken, gehe einen Schritt auf sie zu, noch einen.

»Lucy!« Akis Schrei schneidet durch meine Entrückung wie ein Messer. »Reiß dich zusammen!«

Ich presse mir die Hände auf die Ohren. Obwohl mein Körper immer noch zu Lore will, sprinte ich in die andere Richtung und stoße mit dem Ellbogen die Fenster zu.

Lore erhebt selten ihre Stimme, und das hat einen Grund. Sie klingt nicht nur wie eine Sirene, sie ist eine. Eine Kreatur mit betörender Stimme und manchmal auch mit Fischschwanz, die laut Legende Schiffer in den Tod lockt. Hinter dieser Stimme ist Lore ein sensibles Wesen, das, als es aus Dänemark nach Berlin zog, sich als Erstes ihre Schuppen hat wegoperieren lassen, seither als Archivarin arbeitet und um keinen Preis auffallen will. Während sich manche ihrer Schwestern mit Telefonsex eine goldene Nase verdienen, leidet sie daran, dass Männer und Frauen mit ihr vögeln wollen, sobald sie etwas lauter spricht.

In Akis Umarmung wird sie allmählich ruhig, ihre Tränen verebben zu einem Rinnsal.

Ich riskiere es, die Hände von den Ohren zu nehmen. Lores Wirkung auf mich ist schwächer als bei den meisten. Wahrscheinlich, weil ich seit Jahren mit ihr zusammenlebe.

Es klingelt. Der Türspion zeigt mir zwei Kerle, die mit entrückten Blicken im Treppenhaus herumlungern. Mist, sie müssen Lore noch gehört haben, bevor ich die Fenster geschlossen hatte.

Ich reiße die Tür auf.

»Zischt ab«, blaffe ich. »Hier gibt’s für euch nichts zu holen.«

Sie weichen zurück, gaffen verwirrt und zugleich enttäuscht, als hätte ich sie aus einem feuchten Traum gerissen.

»He, Olle. Wo is …« Der Kerl stockt. Er reibt sich über die Stirn. Ich starre ihn an, bis er sich abwendet. »Keene Panik. Wir machen ja schon ’n Abjang.«

Sie tappen zurück zur Treppe.

»Weeßt du, warum wir herjekommen sind?«, murmelt der eine.

»Nee, verflixt«, sagt der andere, und ich kann hören, dass er lügt. »Det hab ick mir ooch jrad jefragt.«

Ich schlage die Tür zu und gehe zu den anderen zurück, einen unflätigen Kommentar auf den Lippen, doch ich schlucke ihn hinunter. Lore kauert in ihrem türkisen Sessel, Aki sitzt auf der Lehne. Sie hat ihren Kopf an seine Brust gelehnt. Ihre Gesichter einander so nah, das eine hell, das andere dunkel, zu makellos für Sterbliche. Leise will ich mich in die Küche davonmachen, aber Akis Blick hält mich fest. Weil er immer zuerst an andere denkt, erwartet er das Gleiche von mir.

»Kann ich etwas für dich tun, Lore?«, sage ich. Was für eine lahme Frage. »Einen Tee vielleicht?«

»Danke«, schnieft sie. »Es tut mir leid, dass ich so durch den Wind bin.« Sie nimmt ihre Brille ab und wischt sich über die Augen. »Alle reden nur noch über den Werwolf. Du bekommst das vielleicht nicht mit, weil du …«

Weil ich ein Mensch bin.

»Das ist nur Panikmache von diesem Schundblatt.« Ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme genervt klingt. »Werwölfe sind längst ausgerottet. Das waren Raubüberfälle, nichts anderes. Etwas brutaler als sonst, das stimmt. Aber mit so einer Meldung können sie keine Auflage machen.«

»Es wurde aber bis auf die Herzen nichts geraubt«, flüstert sie. »Und die armen Opfer waren alle Stifs.«

»Was beides gegen einen Raubüberfall spricht«, gebe ich zu. »Aber auch gegen einen Werwolf, oder? Der würde sich auf alles stürzen, was sich bewegt, nicht nur auf eine Spezies. Außerdem würde er nicht nur die Herzen verschlingen, sondern seine Opfer komplett auffressen.«

Lore zuckt zusammen. Aki straft mich mit einem finsteren Blick.

»Wer tut so was?«, flüstert sie. »Und warum?«

Ich zucke mit den Schultern. »Es gibt Verrückte da draußen. Vorsichtig zu sein ist immer gut. Aber Panik bringt dich nicht weiter. Und irgendwelche Mythen über Werwölfe spielen Täterin oder Täter nur in die Hände.«

Aki nickt. »Hör auf Lucy«, sagt er und streicht Lore übers Haar. »Wenn jemand weiß, was für Gefahren auf den Straßen lauern, dann sie.«

Sie ringt sich ein Seufzen ab, das klingt wie das Jaulen eines Babyseehunds. Die meisten Leute wären an einer Vergangenheit wie der ihren zerbrochen. Oder hätten sich ein Das-Leben-ist-hart-aber-ich-auch-Schulterzucken zugelegt. Lore bleibt einfach Lore. Weiche Schale, weicher Kern, wie ein Softball, der vom Leben ständig geknautscht wird und sich trotzdem immer wieder von selbst in Form bringt.

»Kannst du dich nicht erkundigen, Lucy?«, fragt sie. Für meinen Geschmack kuschelt sie sich bereits etwas zu lang an Aki. »Bei deinen alten Kollegen? Vielleicht haben sie schon was herausgefunden.«

Auf gar keinen Fall. »Über laufende Ermittlungen dürfen sie mit mir nicht reden.«

»Versuch’s wenigstens mal«, flüstert sie. »Du hast bestimmt noch Kontakte zu deiner Einheit. Dieser Ben, der ist doch ein Stif. Ihr habt von ihm gesprochen, als …«

»Du meinst Bláinn«, schnappe ich. »Der wird mir gar nichts erzählen.«

Ich wende mich ab und starre aus dem Fenster in die Dämmerung. Wenigstens hat sie Tom nicht erwähnt. Aber Bláinn ist schlimm genug.

Der Tag auf Streife, an dem mein Funkgerät losging. Ein Mann am anderen Ende, der mich aufforderte, mich zügig in der JVA in Moabit einzufinden. Meine Bewerbung lag schon seit Monaten bei der ÜSG 9, und ich hatte längst nicht mehr daran geglaubt, dass sie sich melden würden, aber da waren sie. In Gestalt von Bláinn, dem nordischen Zwerg, nur einen halben Kopf kleiner als ich. Ein bärtiger, grimmiger Bär, dessen Händedruck mir fast die Finger brach. Er stellte sich als Kommissar vom Dezernat V der ÜSG 9 vor, und dann führte er mich zu einer Reihe von Zellen und forderte mich auf, die Stifs unter den Gefangenen zu identifizieren. Ausnahmslos Männer, auf den ersten Blick alle menschlich. Doch mein Omega-Sensor sprang verlässlich an. Ich pickte einen gut aussehenden Incubus heraus und einen unauffälligen alten Schwarzen, der sich nachher als Baron Samedi höchstpersönlich herausstellte – ein mächtiger Voodoo-Geist aus Haiti.

Bláinn reagierte für seine Verhältnisse fast enthusiastisch – was heißt, dass sich seine Mundwinkel für drei Sekunden gegen die Schwerkraft zur Wehr setzten. Tom, Oberkommissar und Bláinns Teamleiter, stellte mich auf der Stelle als menschlichen Stif-Detektor ein. Soweit ich weiß, hat kein Mensch außer mir diese Fähigkeit. Selbst Stifs sind nicht in der Lage, ihre Gegenüber auf den ersten Blick in die richtige Kategorie einzuordnen. Es gibt zwar mechanische Omega-Scanner, die von Polizei, öffentlichen Ämtern und Flughäfen eingesetzt werden, aber die schlagen nur bei Hautkontakt aus, und dann ist es für die Beamtin, die einem wütenden Übernatürlichen gegenübersteht, schon mal zu spät. Meine Reichweite ist wesentlich besser, zeigten die Tests. Ich registriere die Strahlung bei reinblütigen Stifs auf sechs Meter Entfernung, bei Mutierten auf drei Meter.

Mit vierundzwanzig war ich die Jüngste meiner Einheit – und die meiste Zeit die einzige Frau. Bláinn und Tom nahmen mich unter ihre Fittiche. Lucy Lämmchen nannten sie mich erst spöttisch, dann liebevoll. Tom flüsterte mir den Namen bald auch nachts ins Ohr, nackt, lachend, verschwitzt. Anfangs fand ich das sogar sexy. Später habe ich mich als schwarzes Schaf entpuppt.

Die Arbeit vermisse ich nicht. Aber den Zusammenhalt. Die Jungs vom Dezernat V stehen Schulter an Schulter. Aus Sicherheitsgründen dürfen sie sich niemals über ihre Einsätze äußern, ihre Arbeit bleibt für alle anderen im Dunkeln. Das schweißt sie zusammen. Sie waren meine Brüder. Mein Lover. Familie.

Die ich aus eigener Schuld verloren habe. Ich balle die Fäuste. Bláinns steinerner Grimm, als ich vor dem Dezernatsleiter zugab, was ich angerichtet hatte. Noch schlimmer, die Traurigkeit in Toms Blick, als ich ihm meinen Dienstausweis auf den Tisch knallte, mich umdrehte und das Dezernat für immer verließ. Ich spüre diesen Blick manchmal immer noch wie ein Brennen im Nacken. Nein, ich werde keinen von beiden anrufen.

Ich wende mich vom Fenster ab, von der gräulich-gelben Abenddämmerung, die über den Dächern vom Wedding hängt wie ein versifftes Laken. »Ich habe Hunger. Wer noch?«

Aki und Lore schütteln die Köpfe. Sie kennen mich gut genug, um nicht nachzuhaken.

Die Küche ist vollgestopft und gemütlich. Auf dem Fensterbrett blühen Lores Orchideen, und auf dem Gewürzregal stapelt sich ihre Sammlung exklusiver Meersalze. Von Aki stammen die handbemalten persischen Fliesen, deren Ornamente die Wand hinter der Spüle verzieren, und natürlich der Stoß eng beschriebener Notizblätter auf dem Tisch. Überall sind Spuren von den beiden, mehr als von mir.

Ich hätte es vorgezogen, in meiner schlechten Laune brütend, allein zu essen, aber nach einer Weile gesellt sich Aki zu mir. Schweigend sieht er mir zu, und als ich eine Flasche Wein entkorke und auf den Balkon gehe, um zu rauchen, folgt er mir. Ich rechne ihm hoch an, dass er sich einen Kommentar zu meiner Zigarette verkneift.

Wir starren auf die abgeblätterte Hauswand gegenüber, als wäre sie die Leinwand eines spannenden Films, den nur wir sehen können.

»Ich mache mir Sorgen um Lore«, murmelt er. »Sie ist nicht stabil.«

»Sie ist ein Softball«, sage ich.

»Ein was?«

»Nichts. Sollen wir ihre Therapeutin anrufen? Nur zur Sicherheit.«

Er nickt. »Ich übernehme das. Was ist mit deinem Fall?«

»Ein Reinfall.« Ich seufze. »Frag mich was anderes.«

Er lächelt. »Für September ist es immer noch ziemlich warm, oder?«

»Und wie.«

Bei den meisten Stifs ist das Empfinden für Wärme und Kälte gering ausgeprägt. Und auch sonst unterscheiden sich ihre Körper von unseren. Sie werden weder krank noch altern sie.

Superstitionists. Die Briten nannten sie als Erste so – Abergläubige. Als hätten sich die Manifestierten mit ihrem Glauben in jener Nacht selbst erzeugt, so wie sich Münchhausen am Schopf aus dem Sumpf gezogen hat. Bald wurden sie zu Superstifs abgekürzt – und schließlich zu Stifs. Das Wort steht heute sogar im Duden, als könnten wir etwas besser begreifen, wenn wir ihm einen knackigen Namen geben.

Die Wissenschaft tarnt ihre Unwissenheit mit einem Reservoir neuer Fremdwörter. Der Rest der Menschheit folgt dem Grundsatz: Was ich nicht verstehe, dem gehe ich lieber aus dem Weg.

Zu den angeblichen Werwolf-Morden, die durch die Presse gejagt werden, hat bisher bestimmt noch niemand aus der Stadtpolitik öffentlich Betroffenheit bekundet.

Akis Gedanken scheinen in eine ähnliche Richtung zu gehen. »Ich hoffe, sie bemühen sich, Täterin oder Täter bald zu finden«, murmelt er.

Ich schaue zu ihm hinüber. »Du glaubst, es ist ein Mensch?«

Er nickt. »Fünf Opfer bisher. Alle waren unauffällig, alle gut Integrierte.« Politikersprech für Stifs mit einem Job in der Menschenwelt und einem Wohnsitz außerhalb der ZONE.

»Warum sollte sich ein Stif ausgerechnet auf diese Zielgruppe konzentrieren?«, fragt er. »Außerdem geschehen die Morde zu rasch hintereinander. Stifs hätten keine Eile.«

Weil sie die Ewigkeit vor sich haben. Ich mustere sein Profil, sanft vom Abendlicht nachgezeichnet. Seine Strategie gegen den Stillstand kenne ich. Er sammelt Masterabschlüsse wie andere Leute Taschenuhren, und er ergründet die Welt und ihre Lebewesen in einer Eindringlichkeit, als suche er nach etwas. Manchmal verschwindet er plötzlich für Tage oder Wochen, und ich weiß nicht, ob er etwas jagt oder vor etwas davonläuft. Alle von uns haben ihre Geheimnisse, und die meisten sind eher peinlich als finster. Doch vor seinen habe ich Angst. Genauso vor der Traurigkeit, die er bei seiner Rückkehr im Gepäck hat, den müden, zahnlosen Blick alter Menschen. Sein Äußeres wirkt allerdings kaum älter als dreißig.

Bald werde ich ihn überholen. Der Gedanke erschreckt mich. »Du hast dich über die Morde informiert«, sage ich.

»Du nicht?«, erwidert er schroff. »Die Internetforen der Stifs kochen über vor Gerüchten. Der Metabote schreibt über fast nichts anderes mehr.« Das Tagblatt der Stifs. Durchaus seriös, mit einer findigen Redaktion, die meisten lesen es online.

»Und die Blutrünstigkeit der Morde?«, frage ich. »Die Zahnabdrücke, Krallenspuren? Die herausgerissenen Herzen?« Das Schundblatt hat nicht mit Details gespart.

Er hebt die Schultern. »Deshalb glauben viele die Werwolf-Geschichte. Aber so was lässt sich inszenieren.«

»Warum sollte man das tun?«

»Um Angst zu schüren. Sieh dir Lore an. Mit dieser Strategie ist die Person bisher so erfolgreich, dass sie nicht aufhören wird.«

Ich mag mich auf den Straßen auskennen, aber Aki kennt das Böse. Ich nehme einen großen Schluck aus meiner Weinflasche, die schon halb leer ist.

»Die kriegen ihn schon.« Ruckartig stehe ich auf, unterdrücke ein Taumeln. »Die ÜSG 9 hat ihre Fehler, aber für Stifs hat sich meine Einheit immer noch genauso eingesetzt wie für Menschen.«

Ich bin auf dem besten Weg, betrunken zu werden, und um das zu verhindern, muss ich ins Bett.

Bevor ich die Balkontür aufstoße, nimmt Aki meinen Arm. Sein Blick wandert über mein Gesicht, wie um zu prüfen, ob mit mir alles in Ordnung ist. Aufmerksam wie immer.

Ich sage nichts, und er lässt mich los. Ich drücke ihm die Weinflasche in die Hand, obwohl ich weiß, dass er sie nicht leeren wird, und lasse ihn allein im Dunkeln zurück.

2

Heute ist es genauso schwül wie gestern. Ich sitze an meinem Ungetüm von Schreibtisch, die nackten Füße auf die Mahagoniplatte gelegt, und lese in der neuesten Ausgabe vom Metaboten. Ich habe die Zeitung bei Dirk am Kiosk gekauft und noch ein Schwätzchen mit ihm gehalten, bei dem er mir von einer Schlägerei zwischen Orks erzählt hat, und davon, dass diesen Monat bereits die zweite Eckkneipe am Rand der ZONE schließt. Stifs zählen kaum zur Stammkundschaft in solchen Lokalen – sie müssen sich schon einen Eimer Schnaps auf ex hinter die Binde kippen, wenn sie mal für fünf Minuten betrunken sein wollen. Aber offenbar haben selbst die Menschen hier im Viertel nicht mehr genug Geld für einen Rausch.

Die Klingel übertönt mein Zeitungsrascheln. Zunächst bewege ich mich nicht. Die Lehrlinge aus der Kfz-Werkstatt im Hinterhof spielen mir manchmal Klingelstreiche. Allerdings liegen die Bengel um diese Zeit schraubend unter den Autos. Als es ein zweites Mal klingelt, lege ich die Zeitung beiseite und luge aus dem Fenster.

Gegenüber vergilben die Plakate im Schaufenster von Utes Waschsalon und einer Europcar-Autovermietung, Satellitenschüsseln wachsen auf Sichtbeton und Primeln vertrocknen in ihren Balkonkästen. Blechkarossen hupen im Stau. Auf dem Gehweg hat die Müllabfuhr zwei Tonnen aneinandergelehnt wie ein Liebespaar. Lebende Wesen sind nicht zu sehen.

Es klopft an die Tür. Da meint es jemand ernst.

Ich schlüpfe in meine Ballerinas und schlurfe los. Nicht, dass ich es weit hätte vom Büro zum Flur, doch ich gebe meinem Sensor Zeit, anzuspringen. Hinter meiner Stirn beginnt es zu summen. Im Treppenhaus steht ein Stif. Ich spähe durch den Türspion. Auf Augenhöhe ist niemand, mein Blick wandert nach unten. Hellblondes Haar, dunkelroter Samt. Auch das verrät den Stif – kein Mensch trägt bei dieser Hitze eine Jacke.

Ich öffne einen Spalt. »Ja bitte?«

Ein elegantes Wesen, klein wie ein elfjähriges Kind. Gebräunte Haut, mit Make-up in Form zementiert, dunkle Augen unter einem schwarzen Wimpernvorhang, darüber ein weißer, akkurat geschnittener Bubikopf. Der flauschige Samtanzug mit dem Mandarinkragen könnte aus dem Pick’n Weight stammen, wäre er nicht eindeutig auf die schmale Taille maßgeschneidert.

Mein Instinkt sagt mir, das Wesen ist weiblich. Wobei ich mich hüte, das am Äußeren festzumachen. Manche Stifs lehnen es auch ab, sich den binären Geschlechtern zuzuordnen.

»Lucy Wayne?« Ein skeptischer Blick gleitet an mir hoch, dann wieder hinunter. »Ich möchte Sie engagieren.«

Eilends mache ich die Tür auf und lasse das Wesen herein. Mit sanftem Hüftschwung spaziert es an mir vorbei. Wegen dieser Art zierlicher Feenhaftigkeit werden jedes Jahr unzählige Mädchen in Essstörungskliniken behandelt.

Ich hüte mich allerdings, von dem kindlichen Äußeren auf kindliche Unschuld zu schließen. Nach meiner einladenden Geste lässt es sich auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch nieder und mustert etwas abschätzig mein Büro. Bist wohl was Besseres gewöhnt, Schätzchen.

Ich wische die Zeitung in den Korb mit Altpapier und setze mich auf meine Seite des Schreibtischs.

»Entschuldigen Sie.« Das Wesen deutet mit sorgfältig manikürten Fingern in Richtung meiner Augenbraue. »Sie haben da etwas.«

»Ich weiß.« Ich unterdrücke den Impuls, mir an das Veilchen zu fassen. »Eine der unerwünschten Nebenwirkungen meiner Arbeit.«

Mein Gegenüber schweigt einen Augenblick. »Heißt das, Sie sind gerade ausgebucht?«

Ich werfe einen Blick in Richtung meines Terminkalenders, von dem ich genau weiß, dass er leer ist.

»Das kommt auf den Umfang Ihres Anliegens an.« Mit einem, wie ich hoffe, geschäftsmäßigen Lächeln falte ich meine Hände. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee, Tee, gefiltertes Wasser?«

Noch nie hat ein Stif in meinem Büro etwas getrunken, und auch dieses schüttelt eilig den Kopf.

»Okay«, sage ich. »Möchten Sie sich mir dann vielleicht vorstellen?«

»Natürlich.« Mit diesem Augenaufschlag braucht man keinen Fächer, um sich Luft zuzufächeln. »Mein Name ist Anna Alvarez, ich bin die Rose von Sevilla.« Sie spitzt ihre Lippen zu einer schimmernden Kirsche. »Manifestado en España. Aus einem andalusischen Mythos.«

Aha. Ich nicke, als würde ich verstehen, was sie meint. »Eine Göttin?«

Anna zögert. Dabei reicht mir ein Blick in das Melderegister des BMSMODG (Bundesministerium für Manifestierte Subjekte, Manifestierte Objekte, Determinierungen und Glaubenssätze), und ich wüsste alles über sie – Ursprung, zugeordnete Rasse, sogar ihre Schuhgröße.

Offenbar kommt sie zum gleichen Schluss.

»Pero no«, sagt sie und zieht einen Schmollmund. Es ist eine eingeübte Bewegung, die nicht zu ihrem bohrenden Blick passt. »Manche Menschen ordnen mich der Gruppe der Faeries zu. Doch ich stehe lieber für mich allein.«

»Aha. Und wie kann ich Ihnen helfen, Frau Alvarez?«

Ihr Mund verzieht sich, und aus ihren Augen quellen zwei Tränen. Die meisten Stifs verbergen ihre Gefühle sorgsam vor den Menschen – aber sie sind auch selten verzweifelt genug, um sich an eine Privatdetektivin zu wenden.

»Es geht um meine Freundin«, flüstert sie. Ich krame in meiner Schublade nach einem Papiertaschentuch.

»Lia. Sie ist verschwunden.«

»Das tut mir leid.« Ich reiche ihr das Tuch. Sie hält es sich unters Kinn und fängt damit die zwei perlenden Tränen auf, als wären es Edelsteine. Auch diese Bewegung wirkt einstudiert. Vielleicht ist sie Schauspielerin. Schätzungsweise trägt sie auch deshalb so viel Make-up.

An ihrer Rechten fällt mir ein Siegelring auf, viel zu wuchtig für ihre zarten Finger. Eine Hieroglyphe ist ins Gold graviert – oder vielleicht auch eine Rune. Ehe ich genauer hinschauen kann, legt sie die Hand auf den Schoß.

»Gilt Ihre Freundin ebenfalls als eine Art Fee?«, frage ich behutsam.

Sie schüttelt hinter dem Tuch den Kopf.

»Sie ist eine Sidhe.«

Faeries, Sidhe, Elfen, Alben – die Unterscheidung dieser Gruppierungen ist ein Trampelpfad aus Fettnäpfchen, deshalb gehe ich lieber nicht darauf ein.

»Lassen Sie sich Zeit. Und dann berichten Sie mir, was genau geschehen ist.«

Anna tupft sich ein letztes Mal die Augenwinkel, faltet das Tuch samt Edelsteintränen zusammen und steckt es in ihr Handtäschchen.

»Lia meldet sich normalerweise täglich bei mir«, sagt sie. »Vorgestern wollten wir uns treffen, zum gemeinsamen Lernen.« Ihre Stimme ist so fest und sachlich, dass sie das kurze Weinen wie einen Lapsus dastehen lässt. »Ich bringe ihr Spanisch bei und sie mir Keltisch. Aber sie ist nicht gekommen. Und ihr Telefon ist ausgeschaltet. Ich bin gestern bei ihr vorbeigefahren, doch es hat keiner geöffnet. Ich mache mir Sorgen.«

»Seit wann haben Sie nichts mehr von ihr gehört?«

»Seit fünf Tagen.«

»Ist das schon mal vorgekommen? Dass sie ohne Ankündigung verreist?«

»Nein, noch nie. Sie ist sehr zuverlässig.«

»Hat sie weitere Freunde außer Ihnen? Eine Arbeitsstelle, bei der man nachfragen könnte?«

Sie schüttelt den Kopf. »Lia lebt sehr zurückgezogen, ich glaube nicht, dass sie privat noch jemanden trifft außer mir. Viele Leute würden anderes vermuten, weil sie als Tänzerin arbeitet. Und als Sängerin. Warten Sie«, sie öffnet ihre Handtasche wieder und zieht ein zusammengefaltetes Papier heraus, streckt sich über mein Schreibtischungetüm, um es mir zu geben, »das ist sie. Meine Lia. Sie ist etwas Besonderes. Das Künstlerleben ist nicht leicht für sie.«

Ich falte das Papier auseinander, das sich als Autogrammkarte entpuppt. Eine blauäugige Schönheit blickt mir entgegen. Beinahe durchscheinend wirkt ihr herzförmiges Gesicht, sanfter als das von Anna. Ihr blondes Haar ist im Retrostil einer Hollywooddiva zu einer kunstvollen Lockentolle drapiert. Wenn Anna auf Lolita macht, so ist Lia die Marilyn Monroe unter den Elfen. Nur, dass es in den Fünfzigerjahren noch keine Elfen gab.

Seit die Stifs bei uns aufgetaucht sind, verschwinden sie ständig. Berlin verschluckt sie einfach, ein gieriger Schlund, der wenig wählerisch ist. Manche spuckt die Stadt wieder aus, andere nicht. Meist juckt es keinen. Warum dieser Fall anders sein soll, weiß ich noch nicht.

»Wo arbeitet Frau Fay derzeit?«, frage ich.

»In zwei Nachtclubs«, sagt Anna. »Im Berghain und im Elite.«

Fast hätte ich durch die Zähne gepfiffen. Das Berghain ist eine Ansage – einer der berühmtesten und zugleich mysteriösesten Technoclubs in Berlin, vielleicht sogar weltweit. Außerdem ist er fest in der Hand der Faeries.

»Das Berghain beschäftigt Tänzerinnen?«

»Aber nein«, sagt Anna. »Für Faeries wäre es eine Beleidigung, wenn ihnen jemand etwas vortanzt. Lia arbeitet dort als Musikerin. Sie singt.« Sie verzieht beim letzten Wort den Mund, als fände sie Gesang deutlich obszöner als Tanzen. »Im Elite tanzt sie. Mehr weiß ich nicht. Ich war nie dort, um sie mir anzusehen. Diese Nachtclubs sind nicht meine Welt.« Sie rümpft ihr Näschen in perfekter Geringschätzigkeit. »Ich habe im Berghain angerufen. Ihr letzter Auftritt war vor fünf Tagen. Im Elite verweigern sie mir die Auskunft.«

Das erstaunt mich nicht. Das Elite ist ein deutlich gediegenerer Club als das Berghain und Terrain des menschlichen Geldadels. Es würde mich wundern, wenn sie Stif-Gästen überhaupt Einlass gewähren.

»Haben Sie mit irgendwem gesprochen, der seit dem Auftritt im Berghain mit ihr noch einmal Kontakt hatte?«

Sie schüttelt den Kopf. »Eine Nachbarin sagt, sie hätte sie das letzte Mal vor fünf Tagen abends das Haus verlassen sehen, wahrscheinlich auf dem Weg zum Berghain. Während sie in der U-Bahn dorthin fuhr, haben wir miteinander telefoniert. Seither habe ich nichts mehr von ihr gehört.«

Ich ziehe mir einen Block heran und notiere mir die Zeitschiene. »Waren Sie bei der Polizei?«

»Was würden die schon unternehmen!«, stößt sie aus.

Nichts. Da sind wir uns einig. Nach Krankenhäusern frage ich gar nicht erst. Stifs haben keine Krankenversicherung, dafür enorme Selbstheilungskräfte. Hätte Lia vor fünf Tagen einen Unfall gehabt, wäre sie inzwischen entweder tot oder längst wieder auf den Beinen.

»Das Melderegister?«

Erneut schüttelt Anna den Kopf. »Keine Änderung ihres Status.«

Nachdenklich kaue ich auf meinem Stift herum.

»Was wissen Sie noch über Ihre Freundin? Hobbys, Interessen, vielleicht doch eine weitere Beziehung, die sie vor Ihnen geheim gehalten hat?«

Anna starrt mich an. »Weshalb hätte sie das vor mir geheim halten sollen? Sie meinen, wir wären ein Paar? Trauen Sie Stifs keine Freundschaften zu?«

Es stimmt, Faeries gelten als oberflächlich und zänkisch. Sex ist für sie angeblich wie Shopping, in Ehen betrügen sie sich ständig, echte Verbindungen kennen sie nicht. Und ich bin ganz offensichtlich nicht gefeit gegen Vorurteile.

»Sorry«, sage ich. »Erzählen Sie mir von Ihrer Freundschaft.«

»Lia und ich, wir sind Vertraute, und zwar für immer«, sagt Anna. »Wir haben uns vor zwei Jahren kennengelernt und seither nie einen Tag verbracht, ohne einander wenigstens anzurufen. Ich kann nicht ohne sie leben!« Sie schluchzt trocken auf. »Wie erwähnt, sie wohnt sehr zurückgezogen. So wie ich. Zwei ruhige Leben. Uns Stifs wird das selten gegönnt.« Sie presst die Lippen aufeinander. »Lia hätte sich mir anvertraut, wenn sie Probleme gehabt hätte, oder einen Grund, um wegzugehen. Por favor, Sie müssen mir helfen, sie zu finden. Wir müssen sie retten. Es sind unruhige Zeiten. Dieser Werwolf …«

Sie blickt zum Altpapierkorb neben dem Schreibtisch, dann prüfend zu mir. Offenbar hat sie vorhin noch die Schlagzeile lesen können, bevor ich die Zeitung beiseitegewischt habe.

»Es tut mir sehr leid«, sage ich so sanft wie möglich. »Aber dieser angebliche Werwolf steckt bestimmt nicht dahinter.«

»Wie können Sie das wissen?«

»Die Zeitungen verbreiten Schauermärchen. Es gibt keine Werwölfe mehr.«

Ihre dunklen Augen verengen sich. Sie glaubt mir nicht. Ich zucke mit den Schultern.

»Das heißt nicht, dass diese Mordserie nicht ernst zu nehmen ist«, sage ich. »Wäre Ihre Freundin Lia eines der Opfer, wüssten Sie das jedoch längst. Nein, Menschen und Stifs verschwinden aus den profansten Gründen. Wegen eines neuen Liebhabers oder eines Schuldenbergs. Weil sie im Lotto gewinnen oder einfach nur ihr altes Leben satthaben. In den seltensten Fällen steckt ein tragisches Ereignis dahinter.«

Die nächste Frage fällt mir schwer. »Wirkte Lia in letzter Zeit manchmal betrübt, war sie stiller als sonst?«

Sie wäre nicht das erste Stif, das die Aussicht auf die Unendlichkeit nicht länger ertrug.

Annas Schultern zucken in die Höhe, als hätte ich sie gebissen. »Sie hat sich nicht umgebracht!«, ruft sie. »Ohne Abschied, ohne jede Andeutung. Das würde sie mir niemals antun.«

Ich bin mir nicht so sicher wie sie. Die meisten meiner Klientinnen und Klienten sind Koryphäen im Verdrängen. Eigentlich kennen sie die Antwort auf ihre Frage bereits. Sie beauftragen mich gar nicht, um ihren Fall zu lösen. Sie beauftragen mich, um sich bestätigen zu lassen, wie schlecht die Welt ihnen mitspielt.

»Ich glaube Ihnen«, sage ich trotzdem. »Aber bei Ermittlungen darf ich keinen Sachverhalt außer Acht lassen.«

»Das heißt, Sie nehmen den Auftrag an?«

Ich zögere. Eine Detektei darf eine Personensuche nur durchführen, wenn die Mandanten ein berechtigtes Interesse dargelegt haben – Unterhaltszahlungen, Mahnbescheide oder Fahrerflucht. Stifs zählen im deutschen Recht jedoch nicht als volle Personen. Außerdem brauche ich das Geld.

»Ich nehme den Fall an. Sofern Sie mit meinen Honorarvorstellungen einverstanden sind.«

Ich greife in eine Schublade und ziehe ein Blatt hervor, auf dem alle Kosten aufgelistet sind. Es gibt verschiedene Versionen davon, je nachdem, wie ich mein Gegenüber einschätze. Stifs erhalten bei mir meistens die niedrigeren Stundensätze.

»Fünfundfünfzig Euro pro Stunde«, sage ich. »Der Nacht- und Feiertagszuschlag beträgt zehn Euro. Ich verfüge über kein eigenes Auto. Falls längere Fahrten über Berlins Stadtgrenzen hinaus einen Mietwagen oder eine Hotelübernachtung erfordern, müsste ich Ihnen diese gesondert in Rechnung stellen. Eine Anzahlung von hundertfünfundsechzig Euro ist im Voraus fällig. Ich werde Sie alle zwei Tage telefonisch über meine geleisteten Stunden und Fortschritte informieren. Außerdem kann ich Ihnen nicht garantieren, dass ich exklusiv allein an Ihrem Fall arbeite. Sind Sie damit einverstanden?«

Anna wirft kaum einen Blick auf die Liste. »Aber natürlich.« Sie zieht aus ihrer Tasche ein strasssteinbesetztes Etui und blättert ein Bündel Geldscheine auf den Tisch. »Ich zahle Ihnen gern einen größeren Vorschuss, wenn das die Abläufe erleichtert.«

Fünfhundert Euro. Das reicht, um die Miete für mein Büro für einen ganzen Monat zu bezahlen.

»Ja, das geht in Ordnung.« Ich widerstehe gerade noch dem Impuls, das Geld sofort an mich zu reißen. Ich hätte doch den höheren Satz verlangen sollen.

»Anna«, sage ich. »Was glauben Sie denn, ist Lia passiert?«

»Wäre ich hier, wenn ich es wüsste?«, stößt sie hervor. »Ich habe keine Ahnung.«

Ihre Hände beben. Vor Angst oder Ärger? Sie verschweigt etwas. Entweder sie hält es für unwichtig, oder sie vertraut mir nicht genug.

Und sie weiß, dass ich es gemerkt habe. Ihre Miene verschließt sich, als würde sie einen Rollladen herunterlassen. Sie zieht einen Umschlag aus der Tasche und legt ihn neben die Scheine auf den Tisch.

»Darin finden Sie Lias Adresse und ihre Telefonnummer, außerdem meine Telefonnummer, meine Mailadresse und eine Kopie meines Ausweises, falls Sie Zweifel an meiner Identität haben.«

Sie ist nicht nur wohlhabend und gut organisiert, sondern auch an Misstrauen gewöhnt. Welcher Arbeit sie wohl nachgeht? Um das herauszufinden, muss ich sie nicht fragen.

»Abgemacht.« Ich strecke ihr meine Hand hin. »Ich setze einen Vertrag auf und schicke ihn per Mail. Es reicht, wenn Sie ihn elektronisch signieren.«

Sie ergreift meine Hand wie einen Fremdkörper, ein kurzer, kaum spürbarer Druck.

»Gehen Sie ins Berghain«, sagt sie plötzlich. »Reden Sie mit den Faeries. Wenn die mit Ihnen reden. Mit mir tun sie es nicht. Deren Gemeinschaft – nun, Sie wissen, wie sie sind. Lia und ich wollten nie Teil davon sein. Aber ihre Musik war ihr sehr wichtig. Sie – wenn jemand sie – also …« Sie beißt sich auf die Lippen. Was auch immer sie sagen wollte, es kommt nicht heraus.

»Wann rufen Sie mich an?«, fragt sie stattdessen.

»Morgen wahrscheinlich. Spätestens, wenn ich etwas herausgefunden habe. Und natürlich, wenn ich weitere Fragen habe.«

»Melden Sie sich zwei Mal täglich.« Sie starrt mich an. »Enttäuschen Sie mich nicht, Frau Wayne. Auch wenn Sie ein Mensch sind.«

Sie spricht es aus wie eine Krankheit, und plötzlich ist mein Mitleid mit ihr wie weggewischt. Ihre Augen sind nicht dunkelbraun, sondern schwarz und so stumpf, dass sie jede Spiegelung verschlucken. Ihre Rosenlippen dagegen schimmern, als wären sie in Blut getaucht. Manchmal vergesse ich, wie fremd die Stifs trotz allem sind. Ich schenke ihr mein reizendstes Lächeln. »Ich werde mein Bestes geben.«

Sie nickt und lässt meinen Blick endlich los. Ihr Aufbruch hat trotz der Eleganz, mit der sie sich durch mein Zimmer bewegt, etwas von einer Flucht.

Während ich unten die Haustür zuschlagen höre, spüre ich dem Abflauen ihres Omega-Summens nach. Es schwingt etwas Dunkles, Nervöses darin, bebend wie unterdrückte Emotionen. Vielleicht das Geheimnis, das sie mir nicht anvertrauen will. Die Rose von Sevilla ist jedenfalls eine Blume mit Dornen.

Ich widme mich meinen Notizen. Fünf Tage sind eine lange Zeit. Liasriel Fay könnte inzwischen am anderen Ende der Welt sein – oder am Grund des Ozeans. Anna scheint das nicht zu glauben, sonst hätte sie mich nicht engagiert. Obwohl ich ein Mensch bin. Sie muss ihre Freundin wirklich sehr mögen. Ich starte meinen Computer und setze den Vertrag auf.

Endlich mal wieder ein Auftrag nach meinem Geschmack. Mit einer eigenwilligen, aber vor allem zahlungswilligen Klientin. Als ich den Umschlag aufreiße, blickt sie mir vom Foto ihres Ausweises entgegen. Ihr Haar ist schwarz und lockig, was sie ein wenig natürlicher wirken lässt, doch ihr Blick ist genauso dunkel wie heute.

Mal schauen, ob ich mehr über ihre Dornen herausfinde. Ich logge mich mit meiner Privatermittler-Kennung ins Melderegister des BMSMODG – des Ministeriums für Manifestiertes und so weiter – ein und tippe Annas Ausweisnummer ins Suchfeld. Schon taucht ihr Ausweisbild erneut vor mir auf.

Anna, die Rose von Andalusien. Manifestiert im Oktober 1989 in Sevilla, offiziell registriert in einer spanischen Behörde ein halbes Jahr später. Angenommener Nachname: Alvarez.

Annas Legende geht auf typische Sagen aus dem Mittelalter zurück: Herrin der Schatten in den andalusischen Hügeln, Wegweiserin der Verirrten, Geheimnishüterin, jungfräuliche Verführerin von Hirten. Nimmt Gestalt an, wenn sich in Vollmondnächten die Rosenknospen vor Jungfernzimmern öffnen … und so weiter und so fort.

Außerdem erfahre ich, dass die Rose von Andalusien Hauptfigur einer populären spanischen Romanreihe war. Die kitschigen Buchtitel wie Schicksalsnächte, Das Herz der Rose und Tränen aus Silber lassen mich grinsen. Sogar ein Cover ist abgebildet, deren sehnsüchtig blickende Titelheldin Anna tatsächlich ein bisschen ähnlich sieht – in der rassigen Schwarze-Locken-Version. Wahrscheinlich haben unzählige spanische Hausfrauen die Bücher verschlungen – und Anna hat in ihren Köpfen konkret genug Gestalt angenommen, um am dritten Oktober 1989 ins Leben katapultiert zu werden.

Spezies: Faerieähnlich.

Aktueller Wohnort: Eine gehobene Adresse in Berlin-Charlottenburg.

Beschäftigungsstatus: Arbeitslos.

Ich runzle die Stirn. Wie kann sie sich dann mein Honorar leisten? In der Kategorie Einkommen werde ich fündig: Anna ist Erbin.

Ein lukrativer Weg für die Verführerinnen und Verführer unter den Stifs, um an Geld zu kommen. Wobei ich nicht ausschließen will, dass auch mal Liebe im Spiel ist.

Anna lebte mit einem spanischen Adligen in einer eingetragenen Lebensgemeinschaft zusammen, die ihr bei seinem Tod mehrere Millionen Euro einbrachte. Es gab ein paar Streitigkeiten mit seinen Verwandten um das Testament, doch das Gericht gab ihr recht. Danach zog sie nach Berlin und hat seither einige Masterabschlüsse in Wirtschaftsfächern erworben, unter anderem in Finanzwissenschaften. Ich seufze. Ich hätte bei ihr wirklich ein höheres Honorar veranschlagen sollen.

Unter Kontakte mit anderen Stifs ist bei Anna nichts angegeben. Ansonsten enthält ihr Profil keine weiteren interessanten Angaben.

Was verschweigt sie mir? Ich werde es herausfinden. Ein Fall steht und fällt mit den Klientinnen. Dankbar sind am Ende allerdings die wenigsten, wenn ich ihnen die Wahrheit präsentiere.

Als Nächstes widme ich mich Annas Freundin Liasriel. Angenommener Nachname: Fay. Das irische Faerie-Äquivalent zum deutschen Mayer, Müller, Schmidt.

Auf ihrem offiziellen Ausweisfoto sieht sie der Marilyn-Version ihrer Autogrammkarte kaum ähnlich. Sie wirkt bleich, zerbrechlich wie Glas. Und so bezaubernd schön, dass ich schlucken muss.

Laut ihres Profils ist sie eine von sieben Leanan sídhes, die sich in Irland nach der Omega-Welle manifestierten: Betörende Frauen des Aos Sí (Feenvolks), die sich dem irischen Volksglauben nach stets einen Menschen als Geliebten erwählten, um ihm als Muse zu dienen. Die Geliebten der Leanan sídhes waren Dichter und Künstler – diese führten daraufhin ein Leben voller Inspiration und Kreativität, lebten allerdings nur noch kurz.

Für mich persönlich kommt das ziemlich nah an Vampire ran. Und die sind so gar nicht mein Fall. Offensichtlich sind die Leanan sídhes jedoch harmloser, sodass sie nicht den Stif-Säuberungen der Neunziger zum Opfer gefallen sind.

Wohnort: Eine Adresse in Steglitz, die mit der übereinstimmt, die Anna mir gegeben hat.

Beruf: Sängerin und Tänzerin.

Beschäftigungsstatus: Freiberuflich.

Eine Kopie ihrer Abrechnungen mit dem Club Berghain ist verfügbar, Auftraggeber: Fatua Corporation GmbH. Zum Elite finde ich nichts. Wahrscheinlich beschäftigt der Club Lia unter der Hand.

Unter Kontakte tauchen auch bei ihr keine Personen auf, nur erneut die Fatua Corporation. Eine internationale Firma mit Sitz in Grunewald und verschiedensten Geschäftszweigen in der Unterhaltungsindustrie, die sich bis Hollywood erstrecken. Wer sich mit Faeries befasst, stößt früher oder später auf sie – kein Wunder, Haupteigentümer der Firma ist die F.A.E., der weltweit wichtigste Feen-Verbund.

Im Gegensatz zu Annas weist Lias Profil keine Bildungsabschlüsse auf, dafür ein kleines Minus von fünfhundert Euro Schulden. Unter Kreditkartenabrechnungen finde ich nur kleine Beträge, keine in den letzten fünf Tagen. Entweder ist sie tot oder vorsichtig, oder sie zahlt wie viele Stifs lieber anonym per Bitcoins.

Ich schicke Lias Profil auf den Drucker. Während das Gerät ratternd Seite um Seite ausspuckt, genehmige ich mir eine Zigarette.

Welche tiefe Verbindung besteht zwischen den so verschiedenen Frauen, dass Anna sogar eine Privatdetektivin beauftragt, um ihre Freundin zu finden? Ich schnappe mir mein Notizbuch und entwerfe einen Plan für den heutigen Tag.

Nachdem ich eine Stunde lang ergebnislos alle sozialen Plattformen nach Lia durchforstet und Mails an die zuständigen Stif-Gefängnisse, Obdachlosenunterkünfte und die Gerichtsmedizin geschickt habe, habe ich genug von den Internetrecherchen.

Ich rufe die Handynummer an, die Anna mir gegeben hat. Sofort geht Lias Mailbox dran.

»Guten Tag, Frau Fay«, flöte ich. »Hier ist Hannelore Krüger vom Finanzamt Steglitz-Zehlendorf. Wir haben, wie bereits postalisch angekündigt, eine größere Steuerrückzahlung für Sie. Ihre angegebenen Kontodaten scheinen jedoch fehlerhaft zu sein. Rufen Sie mich bitte zurück, damit wir Ihnen den Betrag ordnungsgemäß überweisen können.«

Dann hinterlasse ich ihr meine Festnetznummer. Der Trick funktioniert immer. Wenn Lia wohlauf ist und ihre Mailbox abhört, wird sie sich melden, darauf verwette ich mein Honorar.

Zufrieden gönne ich mir erst mal eine Pause.

Ali’s Dönerbude ist an der ersten Ecke Müllerstraße und damit nur einen Steinwurf von meinem Büro entfernt. Ich gehe meistens dorthin, wenn ich ein paar Euro übrig habe und ein rasches Essen brauche. Ali steht wie immer hinter der Theke mit seinem braunen Pullunder und dem imposanten grauen Schnurrbart.

»Das Übliche, Lucy?«

Ich nicke und suche mir einen Tisch. Neonröhren, Plastikstühle und pissefarbene Wandkacheln, die mit türkischen Fußballplakaten zugepflastert sind – einen Preis in Innenarchitektur wird Ali nicht gewinnen. Viel, scharf und billig sind seine Markenzeichen, und das war mir immer schon wichtiger als Stil.

Wenig später bringt er mir einen Teller mit dampfendem Pilav und einem kunstvoll aufgeschichteten Haufen Fleischfetzen mit Joghurtsoße. Ich kippe den Schwarztee hinunter und widme mich mit Inbrunst meinem Essen, als die Tür aufgeht. Die beiden Walküren kommen herein, die mir gestern schon am Kutschi aufgefallen waren. Sie lassen sich zwei Tische von mir entfernt nieder und zupfen bald zurückhaltend am Blätterteig des Böreks herum, den sie sich teilen. Habe ich schon erwähnt, dass ich ungefähr dreimal so viel esse wie ein Stif?

Die beiden Frauen tragen die gleichen abgetragenen Miniröcke wie gestern und sehen noch hohlwangiger aus. Obwohl sie deutlich größer sind als ich und aufgrund ihrer Legende als nordische Kriegergöttinnen doppelt so kräftig, widerstehe ich dem Impuls, sie zu füttern wie zwei Küken.

Ali scheint es ähnlich zu gehen. Unaufgefordert bringt er ihnen zwei seiner zuckrigen Tees. »Geht aufs Haus.«

Kurz darauf wecken sie die Aufmerksamkeit von drei Teenagern, die hereinkommen, um sich an der Theke Döner zu bestellen. Möchtegern-Stylos, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt. Undercut-Frisuren, schwarzer V-Ausschnitt, hochgekrempelte Chinos und Ledersneaker, dazu ein Geruch nach zu viel billigem Aftershave. Erst gaffen sie ungeniert, dann knuffen sie sich mit Rippenstößen Mut zu, bis einer von ihnen scheinbar zufällig nach hinten stolpert, mit rudernden Armen den Börek der Walküren von ihrem Tisch wischt und bei einer von ihnen auf dem Schoß landet. Tellerscherben schlittern über den Boden.

»Sexy Ladys«, schnurrt der Kerl und klimpert übertrieben mit den Augenlidern. Während die Walküre noch vor Schreck japst, drückt er sein Gesicht in ihre Brüste und schmatzt dabei. Seine Kumpels klatschen sich gröhlend ab.

Die Walküren wechseln über ihn hinweg einen Blick. Die Resignation, die ich darin lese, bestürzt mich mehr als das Verhalten der Jungs.

Ich stehe, bevor ich weiß, was ich tue, und packe den Kerl an seiner Haartolle. Unter der halben Tube Gel ist sie weich und wellig wie Kinderhaar.

»Lass die Stifs in Ruhe.« Er jault, als ich ihn von ihr wegreiße und zu Boden schubse.

Er rappelt sich auf, wischt sich erst die Haartolle aus der Stirn, dann wandert seine Hand an den Hosenbund. Messer, denke ich und nehme instinktiv die Fäuste hoch, doch es ist nur ein Handy. Offenbar kontrolliert er, ob es beim Sturz etwas abbekommen hat. Hat es – eine wunderschöne große Spider-App.

»Bitch!«, brüllt er. »Was fällt dir ein?«